- The Project Gutenberg EBook of Sämmtliche Werke 6: Arabesken,
- Prosaschriften, Rom, by Nikolaj Gogol
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- Title: Sämmtliche Werke 6: Arabesken, Prosaschriften, Rom
- Author: Nikolaj Gogol
- Editor: Otto Buek
- Translator: Charlotte Lolly Koenig
- Otto Buek
- Release Date: November 3, 2017 [EBook #55881]
- Language: German
- *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 6: ***
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- Nikolaus Gogol
- Arabesken
- Nikolaus Gogol
- Sämmtliche Werke
- In 8 Bänden
- Herausgegeben
- von
- Otto Buek
- Band 6
- München und Leipzig
- bei Georg Müller
- 1912
- Nikolaus Gogol
- Arabesken, Prosaschriften, Rom
- Herausgegeben
- von
- Otto Buek
- München und Leipzig
- bei Georg Müller
- 1912
- Inhalt des sechsten Bandes
- Arabesken (Erster Teil) 1
- Vorwort 3
- Skulptur, Malerei und Musik 5
- Über das Mittelalter 15
- Ein Kapitel aus einem historischen Roman 37
- Über den Unterricht in der Weltgeschichte 57
- Ein Überblick über das Werden Kleinrußlands 83
- Einige Worte über Puschkin 103
- Über die Architektur unserer Zeit 115
- Al-Mamun 151
- Arabesken (Zweiter Teil) 163
- Das Leben 165
- Schlözer, Müller und Herder 173
- Der Newsky-Prospekt 183
- Über die kleinrussischen Lieder 243
- Gedanken über Geographie 259
- Der letzte Tag von Pompeji 275
- Der Gefangene 289
- Über die Völkerwanderung am Ende des V. Jahrhunderts 301
- Memoiren eines Wahnsinnigen 349
- Aufsätze aus Puschkins »Zeitgenossen« 387
- Über die Strömungen in der Zeitschriftenliteratur der Jahre 289
- 1834-1835
- Petersburger Skizzen 427
- Italienische Sommernächte 453
- Rom 459
- Anhang 533
- Arabesken
- I
- 1835
- Erster Teil
- Deutsch von _Charlotte Lolly Koenig_
- Diese Sammlung enthält eine Reihe von Schriften, die zu sehr
- verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Epochen meines Lebens
- entstanden sind. Sie sind nicht auf Bestellung geschrieben. Sie waren
- ein Ausdruck meiner Seelenstimmung, und ich wählte mir nur solche
- Gegenstände, die einen starken Eindruck auf mich machten. In diesen
- Stücken werden die Leser sicherlich viel Jugendliches finden. Ich
- gestehe, daß ich einige von diesen Schriften vielleicht garnicht in
- diese Sammlung aufgenommen hätte, wenn ich sie ein Jahr früher
- herausgegeben hätte, als ich mich noch viel strenger gegen meine älteren
- Arbeiten verhielt. Aber statt gar zu streng mit seiner _Vergangenheit_
- ins Gericht zu gehen, ist es weit besser, unerbittlich gegen seine
- _gegenwärtigen_ Leistungen zu sein. Das, was man früher einmal
- geschrieben hat, zu vernichten, scheint mir ebenso ungerecht, wie die
- vergangenen Tage seiner Jugend zu vergessen. Und außerdem: wenn ein Werk
- zwei oder drei noch nicht ausgesprochene Wahrheiten enthält, so hat der
- Verfasser schon nicht mehr das Recht, sie dem Leser vorzuenthalten, und
- um zweier oder dreier richtiger Gedanken willen, kann man wohl schon die
- Unvollkommenheit des Ganzen verzeihen.
- Sodann muß ich noch einiges über diese Ausgabe selbst sagen: als ich die
- gedruckten Bogen las, erschrak ich selbst an vielen Stellen über die
- Unkorrektheit des Stils, über vieles Überflüssige und Unzureichende, das
- eine Folge meiner Unvorsichtigkeit war. Aber der Mangel an Muße und
- andre nicht immer freundliche Lebensumstände erlaubten es mir nicht,
- meine Manuskripte ruhig und aufmerksam durchzusehen, und so wage ich
- denn zu hoffen, daß mich der Leser großmütig entschuldigen wird.
- I
- Skulptur, Malerei und Musik
- Dank sei dem Schöpfer der Welten für seine Güte und sein Mitleid mit den
- Menschen! Drei hehre Schwestern hat er entsandt, die Welt zu verschönen
- und zu erquicken; ohne sie wäre die Welt eine Wüste, die klanglos ihre
- Kreise zöge. Laßt uns unsere Wünsche enger, inniger zusammenschließen
- und unsern ersten Becher der Skulptur weihn. Sie, die schöne Sinnenkunst
- war es, die zuerst in diese Welt trat. Sie ist ein völlig ursprüngliches
- Gebilde, die Spur jenes Volkes, das sich ganz, mit seiner ganzen Seele,
- seinem ganzen Leben in ihr verkörpert hat. Sie ist das klare Abbild
- jener leuchtenden, griechischen Welt, die vor uns im tiefen Abgrund der
- Jahrhunderte entschwunden, schon vom Nebel verhüllt wird und nur noch
- von dem Gedanken des Dichters erreicht werden kann: jene von Weinranken
- und Olivenzweigen, harmonischen Träumen und prunkendem Heidentum
- geschmückte Welt. Jene Welt, die sich beim Klang der Zimbeln im
- gemessenen Tanz wiegte oder in bacchantischem Wirbel dahinraste, wo das
- Gefühl des Schönen alles durchdrang: die Hütte des Bettlers, die Zweige
- der Platane, den Marmor der Säulenhallen, den von lebhaften,
- eigenwilligen Menschen bevölkerten Platz, das Relief, das den festlichen
- Becher zierte, und die sich lange schlingende Reihe anmutiger
- mythologischer Gestalten verbildlichte: wo schamhaft die Göttin der
- Schönheit dem Schaum der Wellen entsteigt, Tritonen dahinjagen und in
- die Hände klatschen und Poseidon silberklar aus der Tiefe seines
- herrlichen Elements emportaucht. Jene Welt, in der die Religion nichts
- war -- als Schönheit, als die menschliche Schönheit und die
- göttergleiche Schönheit des Weibes -- jene ganze Welt ward festgehalten
- von der holden Skulptur; nichts außer ihr konnte das leuchtende Dasein
- dieser Welt so lebendig zum Ausdruck bringen. Weiß wie Milch, Schönheit,
- Zartheit und Wollust atmend, bannte die Skulptur eine Idee und einen
- Gedanken -- die Schönheit, die stolze Schönheit des Menschen in den
- durchsichtigen Marmor. Selbst in der Glut der Leidenschaft und im
- stärksten Affekt -- stets bleibt bei ihr der Mensch stolz und schön und
- fordert unsere Bewunderung heraus durch seine freie athletische Pose.
- Hier fließt alles in sinnlicher Schönheit zusammen; nie lassen wir beim
- Anblick einer schmerzerfüllten Gruppe die bittere Klage unseres Herzens
- mit ihrer Klage zusammenklingen; ja, man könnte fast sagen, wir genießen
- den Anblick ihrer Qualen, so sehr wird der Drang unserer Seele durch die
- plastische, ruhige Schönheit überwältigt. Die Skulptur drückt nie ein
- anhaltendes, tiefes Gefühl aus, sie gibt nur schnelle spontane
- Empfindungen wieder: den wilden Zorn, einen rasenden Schmerzensschrei,
- das furchtbare Grauen, einen plötzlichen Schreck, Tränen, Stolz,
- Verachtung und endlich die in sich selbst versunkene Schönheit. Sie
- wandelt alle Gefühle des Beschauers in Genuß, den ruhigen Genuß, der
- stets mit der Wonne und der Selbstzufriedenheit der heidnischen Welt
- verbunden ist. Ihr fehlen jene geheimen, schrankenlosen Gefühle, die
- endlose Träume mit sich führen. In ihr suchen wir umsonst nach dem
- langen, von Umwälzungen und Erschütterungen erfüllten Leben. Ihre
- Schönheit hat etwas Momentanes, wie die einer schönen Frau, die einen
- Blick in den Spiegel wirft, ihrem Bilde freundlich zulächelt und
- frohlockend weiter eilt, triumphierend eine Schar stolzer Jünglinge nach
- sich ziehend. Sie ist bezaubernd wie das Leben, wie die Welt, wie die
- Sinnenschönheit, der sie als Altar dient. Sie wurde zugleich mit der
- scharf umrissenen und klar gestalteten heidnischen Welt geboren, sie
- stellte sie dar und ist mit ihr gestorben. Vergeblich versuchte man es,
- mit ihrer Hilfe die hohen Gestalten des Christentums zu verkörpern, sie
- stand ihnen so fern, wie der heidnische Glaube.
- Nie konnten die erhabenen stürmenden Gedanken des Christentums auf der
- wollüstigen Außenseite des Marmors Platz finden. Sie wurden ganz von
- seiner Sinnlichkeit aufgesogen.
- Nicht so ihre beiden andern Schwestern, die Malerei und die Musik, die
- das Christentum aus ihrer Niedrigkeit erhob und ins Gigantische
- steigerte. Durch seine mächtige Triebkraft blühten sie erst recht empor
- und sprengten die Fesseln der sinnlichen Welt. Wehmütig gedenke ich
- meiner herrlichen, wolkenhaften, marmornen Skulptur! Doch ... erklinge
- heller, mein Becher, kling' heller in meiner bescheidenen Zelle -- und
- es lebe die Malerei. Erhaben und herrlich wie der Herbst, der reich
- geschmückt durch das weinlaubumrankte Fenster blickt, fromm und gewaltig
- wie das Weltall -- ja du bist schön, du herrliche Musik der Augen. Nie
- hat die Skulptur es gewagt, deine himmlischen Offenbarungen
- darzustellen. Nie hat sie uns jene feinen geheimnisvollen irdischen Züge
- sehen lassen, bei deren Anblick wir das Gefühl haben, als erfülle der
- Himmel unsere Seele, und bei denen wir das Unaussprechliche zu empfinden
- meinen. Wie aus wolkigem Nebel treten die langen Reihen der Bilder
- hervor, und aus altertümlichen, vergoldeten Rahmen blickst du lebendig,
- wenngleich die unbarmherzige Zeit deine Leuchtkraft verdunkelte, und
- wortlos und stumm steht mit gefalteten Händen vor dir der Beschauer.
- Doch es ist nicht Sinnenglück, was aus seinen Augen strahlt, nein, sein
- Antlitz ist von einer überirdischen Lust verklärt. Du warst nie der
- Ausdruck einer bestimmten Nation und ihres Lebens, nein, dazu standest
- du zu hoch, du warst der Ausdruck alles dessen, was die christliche Welt
- an erhabenen Geheimnissen in sich birgt. Blickt hin auf das nachdenklich
- auf die Hand gestützte Haupt; wie begeistert und tief bohrend ist ihr
- Blick! Sie ergreift nicht nur einen kurzen Augenblick wie der Marmor,
- sie zieht diesen Augenblick in die Länge, sie setzt das Leben fort bis
- über die Grenzen des Sinnlichen, sie entreißt einer andern unendlichen
- Welt Erscheinungen, für die es uns an Worten und Namen fehlt. All jenes
- Unbestimmbare, was kein vom wuchtigen Meißel des Bildhauers
- durchfurchter Marmorblock auszudrücken vermag, gewinnt Gestalt unter dem
- begeisterten Pinsel des Malers. Gewiß weiß auch sie die allen
- verständlichen Leidenschaften auszudrücken, allein die Sinnlichkeit
- pulsiert nicht mehr so gewaltig in ihnen, und ein geistiges Element
- scheint alles zu durchdringen. Das Leiden findet in ihr einen
- unmittelbareren lebendigeren Ausdruck und ruft nur Mitleid hervor -- sie
- appelliert an unsere Sympathie und nicht an unsere Genußfähigkeit. Sie
- nimmt sich auch nicht den Menschen allein zum Vorwurf -- ihre Grenzen
- sind weiter: sie umfaßt das ganze Weltall, alles Herrliche, was den
- Menschen umgibt, ist ihrer Macht erreichbar. Die geheimnisvolle
- Harmonie, das wunderbare Band zwischen Mensch und Natur -- in ihr allein
- ist sie zu finden. Sie bindet das Sinnliche an das Geistige.
- Aber schäume noch feuriger, mein dritter Pokal! Noch heller funkle und
- perle über den goldenen Rand, du schäumendes Blut! -- Du funkelst zum
- Preis der Musik! Denn sie ist noch weit feueriger und stürmischer als
- ihre beiden Schwestern. Sie ist ganz Leidenschaft! sie entreißt den
- Menschen plötzlich und wie mit einem Schlage der Erde, betäubt ihn durch
- den Donner ihrer gewaltigen Töne und versenkt ihn ganz in ihre Welt. Wie
- in die Saiten des Instrumentes, so greift sie herrisch an seine Nerven,
- an sein gesamtes Sein und läßt sein ganzes Wesen erbeben. Er genießt
- schon nicht mehr, er fühlt keine Teilnahme, nein, er selbst wird ganz
- Leiden; seine Seele betrachtet keine unfaßbare Erscheinung, sie _lebt_,
- lebt ihr eigenes Leben, gewaltsam, leidenschaftlich zerstörend.
- Unsichtbar hat sie auf ihren süßen Klängen die ganze Welt durchdrungen,
- strömt sie breit dahin und atmet und lebt in tausend verschiedenen
- Gestalten. Qualvoll und rebellisch ist sie -- am mächtigsten und
- herrlichsten wirkt sie jedoch in den unendlichen Kuppelgewölben eines
- dunklen Domes, wo sie tausend kniende Gläubige zu _einer_ harmonischen
- Empfindung verschmilzt und mit sich fortreißt, ihre tiefsten
- Herzensregungen bloßlegt, ihre Sinne betört und sich mit ihnen in
- unabsehbare Höhen emporschwingt -- ein langes Schweigen und einen lang
- nachzitternden Ton hinter sich lassend, der in den Tiefen des hohen,
- spitzen Turmes verklingt. Wie könnte man euch miteinander vergleichen,
- ihr herrlichen Königinnen der Welt! Der sinnliche Zauber der Skulptur
- erfüllt uns mit hohem Genuß, die Malerei -- mit stiller Begeisterung und
- Träumereien -- die Musik mit Leidenschaft und innerer Unruhe. Wenn wir
- ein plastisches Kunstwerk aus Marmor betrachten, gerät unser Geist
- unwillkürlich in Entzücken, vor einem Gebilde der Malerei versinkt er in
- Betrachtung -- beim Klange der Musik -- macht er sich Luft in einem
- Schmerzenslaut -- als sei die Seele von einem einzigen Wunsch ergriffen
- -- sich vom Körper loszureißen. Sie -- ist unser! Sie ist das Eigentum
- der neuen Welt! Sie blieb uns, als die Skulptur, die Malerei und die
- Baukunst uns verlassen hatten. Nie dürsteten wir so nach Begeisterung,
- die die Seele erhebt, wie in der heutigen Zeit, wo alle die zahllosen
- kleinen Launen und Genüsse, an deren Erfindung unser XIX. Jahrhundert
- sich den Kopf zerbricht, uns überwältigen und erdrücken. Alles
- verschwört sich gegen uns; diese ganze verführerische Kette raffinierter
- Erfindungen des Luxus sucht unsere Sinne immer mehr und mehr zu betäuben
- und einzuschläfern. Wir lechzen darnach, unsere arme Seele zu retten,
- diesen furchtbaren Versuchern zu entfliehen und -- so stürzen wir uns in
- die Musik. O sei unser Schutzengel, unser Heiland, Musik, verlaß uns
- nicht! rüttle unsere kleinliche habgierige Seele immer häufiger auf!
- greife mit deinen Tönen kräftiger in unsere schlummernden Gefühle! Rege,
- wühle sie auf und verscheuche, wenn auch nur für Augenblicke, diesen
- fürchterlichen kalten Egoismus, der mit aller Gewalt unsere Welt erobern
- will. O laß bei dem machtvollen Strich deines Bogens die verwirrte Seele
- des Räubers, wenn auch nur für kurze Momente, von Gewissensbissen
- gemartert werden, laß den Spekulanten seine Rechnungen vergessen und die
- Frechheit und Schamlosigkeit vor den Schöpfungen des Genies eine
- ungewollte Träne vergießen. O verlasse uns nicht, du, die du unsere
- Gottheit bist. Der große Baumeister der Welt hat uns in seiner
- unergründlichen Weisheit in stummes Schweigen gebannt, aber dem wilden
- unentwickelten Menschen pflanzte er den Gedanken der Baukunst ein. Mit
- einfachen Mitteln, ohne Hilfe des Mechanismus richtet er Berge von
- Granit auf, türmt sie steil zum Himmel empor und sinkt vor ihrer
- formlosen Größe in die Knie. Der alten heiteren Sinnenwelt sandte er die
- herrliche Skulptur, die uns die reine keusche Schönheit brachte, und die
- ganze antike Welt ward zu einem Loblied auf die Schönheit. Das
- ästhetische Schönheitsgefühl einte sie zu einem harmonischen Ganzen und
- hielt sie fern von rohen Gelüsten! Den finsteren, unruhigen
- Jahrhunderten, wo oft nur die Lüge und die rohe Kraft triumphierten, und
- wo der Dämon des Aberglaubens und der Unduldsamkeit alle Lebensfreude
- verscheuchte, schenkte er die begeisternde Malerei, die die Welt die
- überirdischen Erscheinungen und die himmlischen Genüsse der Heiligen
- sehen ließ. Aber unserem jungen und zugleich altersschwachen Jahrhundert
- sandte er die gewaltige Musik -- um uns im Sturme zu ihm zu führen. Doch
- wenn uns auch die Musik noch verläßt, was soll dann aus unsrer Welt
- werden!?
- 1831.
- II
- Über das Mittelalter
- Niemals haben die Ereignisse der Weltgeschichte eine solche
- Gewichtigkeit und Bedeutsamkeit angenommen, nie hat sie eine so große
- Zahl von individuellen Erscheinungen gezeitigt, wie im Mittelalter. Alle
- Weltbegebenheiten strömen, je näher sie diesen Jahrhunderten liegen,
- nach langer Unbeweglichkeit mit gesteigerter Geschwindigkeit wie in
- einen Strudel, in einen wildbrodelnden Wirbel zusammen, um, nachdem sie
- von diesem in Umschwung gebracht, sich untereinander vermischt haben,
- neugeboren in frischen Wellen wieder emporzutauchen. In diesen
- Jahrhunderten fand eine große Umwandlung der ganzen Welt statt. Sie sind
- der Knoten, in dem die alte und die neue Welt zusammentreffen. Man kann
- dem Mittelalter in der Geschichte der Menschheit dieselbe Bedeutung
- anweisen, wie sie das Herz im menschlichen Körperbau einnimmt, in das
- alle Adern einmünden und von dem sie alle ausgehen. Wie ging diese
- vollständige Umwandlung vor sich? Welches sind die ursprünglichen
- Elemente, die sich in ihr erhielten? Was kam Neues hinzu? In welcher
- Weise vermengte sich Altes und Neues? Was entstand aus dieser
- Vermengung? Wie bildete sich das majestätische, stolze Gebäude der
- Neuzeit? Dies sind so schwerwiegende Fragen, wie es wohl in der ganzen
- Geschichte kaum wichtigere gibt. Alles, was wir besitzen, dessen wir uns
- bedienen, was wir vor den früheren Jahrhunderten voraushaben, der ganze
- Bau und die kunstvolle Zusammensetzung unserer Administration, die
- Beziehungen der verschiedenen Stände untereinander, ja diese Stände
- selbst, unsere Religion, unsere Rechte und Privilegien, unsere Sitten
- und Gebräuche, selbst unser ganzes Wissen, das sich in so schnellem
- Fortschritt vorwärts bewegt -- dies alles hat entweder seinen Keim und
- Ursprung in dem dunklen geheimnisvollen Mittelalter oder hat sich doch
- aus ihm entwickelt und herausdifferenziert. In ihm ruhen die
- ursprünglichen Elemente und das Fundament alles Neuen; ohne ein
- eingehendes, aufmerksames Studium dieser Epoche bleibt die neue
- Geschichte unzulänglich und unklar, der Forscher, der von ihr ausgeht,
- gleicht dem Besucher einer Fabrik, der sich über die schnelle
- Herstellung der Produkte wundert, da sie beinahe vor seinen Augen
- entstehen, und dabei vergißt, in das finstre Erdgeschoß hinabzusehen, wo
- die großen mächtigen Schwungräder verborgen sind, die den Anstoß zum
- Ganzen geben; solch eine Geschichte gleicht der Statue eines Künstlers,
- der keine Anatomie studiert hat.
- Warum aber hat man sich trotz der großen Bedeutung dieser merkwürdigen
- Epoche immer so ungern mit ihrer Erforschung beschäftigt? Warum beeilt
- man sich, wenn man zum Mittelalter kommt, stets, es so schnell wie
- möglich durchzunehmen und abzutun? Und warum haben sich nur wenige, sehr
- wenige Menschen, ergriffen von der Größe des Gegenstandes, die Mühe
- genommen, einige von den angeführten Fragen zu beantworten? Mir scheint,
- es liegt daran, weil man dem Mittelalter stets den letzten Platz
- angewiesen hat. Man hielt diese Epoche eben für gar zu barbarisch und
- unkultiviert, und infolgedessen blieb sie in der Tat immer dunkel und
- unerforscht und wurde nie richtig in ihrem Werte erkannt und in ihrer
- genialen Größe dargestellt. Barbarisch kann man nur ihren Anfang nennen,
- aber selbst diese finstre Zeit birgt schon mancherlei, was unsere
- Neugierde zu reizen geeignet wäre. Schon der Prozeß der Vereinigung
- zweier Welten, der antiken und der neuen, der grelle Widerspruch in
- ihren Formen und ihren Eigentümlichkeiten, diese altersschwachen,
- absterbenden Elemente der Antike, die sich durch die neue Umgebung
- hindurchziehen, wie Flüsse, die ins Meer strömen, aber noch lange ihr
- süßes Wasser nicht mit den salzigen Wellen vermengen, sind
- _interessanter_ -- diese rohen, mächtigen Kräfte der neuen Zeit, die
- hartnäckig allen fremden Einflüssen widerstehen, um sie endlich doch
- unfreiwillig in sich aufzunehmen, die mühevolle Anstrengung, mit der
- diese europäischen Wilden die römische Kultur für sich zurechtschneiden,
- diese Bruchstücke, oder besser gesagt Fetzen römischer Formen und
- Gesetze inmitten der neuen noch unbestimmten, denen es noch an Gestalt,
- Grenze und Ordnung fehlt, dieses ganze Chaos, in denen die Elemente der
- furchtbaren Majestät des heutigen Europas und seiner tausendfältigen
- Kraft ungegliedert durcheinanderbrodeln: dies alles ist _fesselnder_ für
- uns und regt unsere Neugierde mehr an, als die starre Zeit des römischen
- Weltreiches unter der Herrschaft kraftloser Imperatoren.
- Ein zweiter Grund, warum man sich so ungern mit der Geschichte des
- Mittelalters beschäftigt, ist -- die angebliche Trockenheit, die man mit
- ihr zu verbinden geneigt ist. Man betrachtet sie wie eine Menge
- verschiedener ungeordneter Ereignisse, wie einen Haufen
- unzusammenhängender und sinnloser Begebenheiten, die kein gemeinsames
- Band umschließt, das sie alle zu einem Ganzen vereinigt. In der Tat,
- ihre schreckliche und ungewöhnliche Kompliziertheit muß im ersten
- Augenblick chaotisch erscheinen; aber wenn man nur aufmerksamer und
- tiefer hineinblickt, so findet man bald Zusammenhang, Zweck und Richtung
- darin. Übrigens leugne ich nicht, daß man den Instinkt und das
- Verständnis haben muß, das nur wenigen Historikern verliehen ist, um
- dies alles zu entdecken. Einigen freilich ward die beneidenswerte Gabe
- zuteil, alles in bewunderungswürdiger Klarheit und Folgerichtigkeit zu
- sehen und darzustellen. Von ihrem Zauberstab berührt, beleben sich die
- Ereignisse und bekommen ihr eigenes Gepräge und Interesse; ohne sie
- dagegen erscheinen sie einem jeden noch lange trocken und sinnlos.
- Abgesehen etwa von einem stumpfsinnigen Dahinvegetieren der Völker ist
- alles, was immer geschehen mag, interessant, sofern es nur in
- wahrheitsgemäßen Chroniken aufgezeichnet ist. Überall gibt es einen
- durchgehenden Faden, wie jedes Gewebe seine Struktur hat, obwohl diese
- häufig vollständig in dem Einschlag verschwindet; und wie ein jeder
- Edelstein eine unsichtbare Lichtquelle enthält, die erstrahlt, wenn er
- der Sonne zugewendet wird so verliert sich dieser Faden nur da, wo die
- Überlieferung aufhört. So zieht sich auch in den ersten Jahrhunderten
- des Mittelalters durch die Masse der Ereignisse das unaufhörliche
- Erstarken der päpstlichen Macht und die Entwicklung des Feudalismus wie
- ein unsichtbarer Faden hindurch. Fast könnte es scheinen, als kämen die
- Tatsachen ganz unabhängig voneinander zustande und drängten mit ihrem
- Glanz den einsamen, noch unbedeutenden römischen Erzbischof in den
- Schatten; ein mächtiger Herrscher oder sein Vasall tut sich hervor,
- scheint nur in eigenem Interesse zu handeln, und doch strömten alle
- wesentlichen Vorteile daraus unbemerkt nach Rom. Alles, was geschah,
- schien absichtlich und zum Vorteil des Papstes zu geschehen. Hildebrandt
- hat den Vorhang ein wenig gelüftet und uns die Macht gezeigt, die die
- Päpste schon frühzeitig errungen hatten. Die Geschichte des Mittelalters
- verdient am wenigsten den Vorwurf der Langenweile. Nirgends finden wir
- so viel Buntheit, so viel Handlung und Leben, solch krasse Gegensätze,
- so viel grelles Licht, wie in diesen Jahrhunderten: man könnte es mit
- einem gewaltigen Gebäude vergleichen, dessen Fundament aus festem, für
- die Ewigkeit gefügtem jungem Granit, und dessen dicke Mauern aus
- allerhand neuem und altem Material zusammengesetzt sind, so daß der eine
- Ziegelstein gotische Runen, der andere eine römische Vergoldung trägt;
- arabisches Schnitzwerk, griechische Karniese, gotische Fenster -- alles
- ist hier vereinigt zu einem Turm von außergewöhnlicher Buntheit und
- Mannigfaltigkeit. Aber man kann wohl sagen, diese Grellheit sei nur ein
- äußeres Kennzeichen der mittelalterlichen Vorgänge; ihre innere
- Bedeutung besteht in ihren ungeheuren, gigantischen Dimensionen, in
- ihrer geradezu unerhörten Kühnheit, wie sie wohl nur der Jugend eigen
- ist, und ihrer Originalität, die sie zu einer einzigartigen Erscheinung
- macht; in der Tat treffen wir weder in der alten noch in der neuen
- Geschichte etwas an, was ihnen gleich oder auch nur ähnlich wäre.
- Werfen wir einen Blick auf die Ereignisse, die einen so mächtigen
- Einfluß ausübten. Das wichtigste Thema der mittelalterlichen Geschichte
- ist der Papst. Er ist der mächtige Beherrscher dieser frühen
- Jahrhunderte, er bewegt alle ihre Kräfte und lenkt, wie der Donnergott,
- mit einem Wink seiner Hand ihre Schicksale. Mit einem Wort, die ganze
- Geschichte des Mittelalters ist die Geschichte der Päpste. Ihre
- unüberwindliche Herrschsucht, ihre nie versagenden Mittel voller
- Scharfsinn und Weisheit -- Folgen ihres hohen Alters -- ihr Despotismus
- und der Despotismus der zahllosen Legionen einer mächtigen Geistlichkeit
- -- dieser eifrigen Untertanen des geistlichen Oberhaupts, die alle Enden
- der Welt, wo das Zeichen des Kreuzes eingedrungen war, mit stählernen
- Fesseln an sich banden -- das ist eine so ungeheure Erscheinung, die
- einzig in ihrer Art ist und die sich niemals wiederholt hat. Ich will
- nicht von den Mißbräuchen und der unerträglichen Schwere dieser Fesseln
- des geistlichen Despoten sprechen. Wenn wir tiefer in diese großartige
- Erscheinung eindringen, werden wir in ihr die wunderbare Weisheit der
- Vorsehung erkennen, hätte diese allbezwingende Macht nicht alles in ihre
- Hände gebracht, hätte sie die Völker nicht nach ihrem Willen gelenkt und
- angetrieben, so wäre Europa zerbröckelt, und das gemeinsame Band hätte
- gefehlt; wahrscheinlich wären einzelne Staaten zu Macht und Ansehen
- gelangt und dann plötzlich wieder in Verfall geraten und zugrunde
- gegangen, andere hätten ihre Unkultur zum Schaden ihrer Nachbarn nicht
- aufgegeben, die Bildung und die Entwickelung der Volksseele hätte sich
- ungleichmäßig vollzogen; an einem Ende hätten Kultur und Sitte Fuß
- gefaßt, während am anderen barbarische Finsternis ihr Wesen getrieben
- hätte. Europa hätte sich nicht in sich festigen, und nie in ein
- Gleichgewicht kommen können, durch das es sich heute so wunderbar
- erhält. Es wäre weit länger in einem chaotischen Zustande verblieben und
- hätte sich nie durch die stählerne Macht des Enthusiasmus zu einem
- gewaltigen Bollwerk erhoben, das den Eroberern aus dem Osten durch seine
- Festigkeit standzuhalten vermochte; ohne diese großartige Erscheinung
- hätte Europa vielleicht ihrem Ansturm nachgegeben, und statt des Kreuzes
- wäre der mohammedanische Halbmond auf seinen Zinnen aufgepflanzt worden.
- Wenn wir die wunderbaren Wege der Vorsehung betrachten, so beugen wir
- unwillkürlich unsere Knie. Es ist, als sei den Päpsten die Macht eigens
- dazu gegeben worden, damit sich die jungen Staaten während dieser Zeit
- kräftigen und befestigen könnten; damit sie erst lernen sollten, sich
- selbst unterzuordnen, um dann später, als sie das notwendige Alter
- erreicht hatten, auch andere zu beherrschen, und damit sie ihre Energie
- entwickeln konnten, ohne die das Leben der Völker farblos und kraftlos
- ist. Kaum waren die Völker imstande, sich selbst zu regieren, da begann
- auch die Macht des Papstes plötzlich zu schwanken und zu zerfallen, als
- hätte sie ihre Mission erfüllt und wäre überflüssig geworden, ungeachtet
- aller Anstrengung und des heißen Wunsches, die sinkende Macht
- festzuhalten. In dieser Beziehung war die päpstliche Macht dem Gerüst,
- den Tragbalken eines Gebäudes vergleichbar; anfänglich sind sie höher
- und erscheinen wichtiger als der Bau selbst, aber sobald dieser eine
- gewisse Höhe erreicht hat, werden sie als überflüssig abgetragen.
- Der Gedanke an das Mittelalter verbindet sich unwillkürlich mit dem an
- die Kreuzzüge -- diese außerordentliche Erscheinung, die sich wie etwas
- Gigantisches von den anderen wunderbaren und ungewöhnlichen
- Begebenheiten abhebt. Wo und in welcher Zeit finden wir etwas, was ihnen
- an Originalität und Größe gleichkäme? Das ist kein Krieg um ein
- geraubtes Weib, kein Erzeugnis des Hasses zweier unversöhnlicher
- Nationen, nicht der blutige Kampf zwischen zwei habsüchtigen Herrschern,
- zwei unersättlichen Eroberern um eine Krone oder einen Fetzen Landes, ja
- nicht einmal ein Krieg für die Freiheit und Unabhängigkeit eines Volkes
- -- o nein -- keine Leidenschaft, kein egoistischer Wunsch, kein
- persönlicher Vorteil ist die Triebfeder dieser Kämpfe; alles ist nur von
- dem einzigen Gedanken erfüllt: das Grab des göttlichen Heilandes zu
- befreien. Von allen Enden Europas strömen die Völker, Kreuze vor sich
- hertragend, zusammen, Könige und Grafen in schlichten Bußgewändern
- stellen sich an die Spitze, bewaffnete Mönche treten in die Reihen der
- Krieger, Erzbischöfe und Einsiedler befehligen, das Kreuz in Händen,
- zahllose Truppenmengen -- und alle stürmen sie fort zum Kampf für ihren
- Glauben. Die Macht einer Idee umfaßt alle Völker. Liegt nicht etwas ganz
- Großes in diesem Gedanken? Mit Unrecht nennt man die Kreuzzüge ein
- sinnloses Unternehmen. Wäre es nicht merkwürdig, wenn der Jüngling schon
- gleich die Sprache des reifen Mannes spräche? Sie waren das Produkt der
- damaligen Zeit, und des damaligen Zeitgeistes. Dies Unternehmen war die
- Tat eines Jünglings -- aber eines Jünglings, der ein geborenes Genie
- war. Was für unzählige, wunderbare, unvorhergesehene Folgen haben die
- Kreuzzüge gezeitigt! Die ganze Masse mußte erzogen und gebildet werden,
- sie mußte die Welt kennen lernen, die ihr zum Teil verborgen blieb, weil
- die Geistlichkeit davor stand, und die ganze Masse stürzt sich in einen
- andern Weltteil, dorthin, wo die erlöschende arabische Kultur danach
- strebt, ihr ihre Flamme zu übergeben: ganz Europa streift in Asien
- herum. Sind wir nicht berechtigt, uns zu wundern! Gewöhnlich ist es
- irgendein Fremder, der aus einem kultivierten Lande kommt und die
- Aufklärung und die ersten Kenntnisse in ein unbekanntes Land trägt, er
- bringt den Wilden allmählich eine gewisse Bildung bei -- doch dieser
- Prozeß vollzieht sich langsam und ungleichmäßig. Hier dagegen sehen wir
- das Gegenteil; hier kommt das Volk als ganze Masse, um sich die Bildung
- zu holen, und obgleich es lange im fremden Lande verweilt, verschmilzt
- es nicht mit seinen Lehrern, nimmt weder deren Luxus noch deren Laster
- an, bewahrt seine Ursprünglichkeit und kehrt auch nach Aneignung vieler
- asiatischer Gebräuche nicht als Asiate sondern als Europäer nach Europa
- zurück. Ich will mich gar nicht einmal über die anderen Folgen, wie z.
- B. die Veränderungen in der feudalen Verwaltung und Regierung auslassen,
- die ohne andauernde Entfernung vieler kräftiger Männer aus dem Lande
- nicht möglich gewesen wären.
- Aber werfen wir einen Blick auf die anderen Ereignisse, die die
- mittelalterliche Geschichte ausfüllen. Wenn sie auch im Vergleich mit
- den Kreuzzügen nur Erscheinungen zweiten Ranges sind, so sind sie doch
- nichtsdestoweniger von wunderbarem Reiz und verleihen dem Mittelalter
- einen gewissen phantastischen Glanz -- sie sind ein Produkt einer
- herrlichen Jugend, die noch von ganz großen und starken Hoffnungen
- erfüllt ist, einer unvernünftigen Jugend vielleicht, die aber auch in
- ihrer Unvernunft etwas Bezauberndes hat. Wir wollen die Begebenheiten in
- chronologischer Reihenfolge betrachten.
- Beginnen wir mit jener glanzvollen Zeit, als die Araber -- diese Zierde
- der morgenländischen Völker -- auf dem Schauplatz erschienen. Sie
- verdanken ihre ganze glorreiche Existenz einem einzigen Menschen und der
- von ihm gestifteten Religion, einer Religion, so reich wie die Nächte
- und Abende des Orients, so üppig wie die Natur an den Ufern des
- Indischen Ozeans, so erhaben und grüblerisch, wie nur die gewaltigen
- Wüsten Asiens sie hervorbringen konnte. Mit unerhörter Schnelligkeit
- errichten diese braunen Turbanträger ihre Kalifate an drei verschiedenen
- Enden des Mittelländischen Meeres. Ihre Phantasie, ihr Geist und alle
- ihre Fähigkeiten, mit denen die Natur die Araber so reichlich
- beschenkte, entwickeln sich vor den Augen des erstaunten Okzidents und
- prägen sich in verschwenderischer Fülle in ihren Palästen, Moscheen,
- Gärten, und Fontänen aus, und zwar ebenso plötzlich wie in ihren
- Märchen, die nur so von Perlen und Edelsteinen orientalischer Poesie
- strotzen. Noch ein Jahrhundert, und schon ist es verschwunden, dieses
- außergewöhnliche Volk, so daß wir uns staunend fragen: hat es wirklich
- gelebt und existiert oder war es nur eine Schöpfung unserer Phantasie?
- Wie wunderbar und voll von Widersprüchen ist ferner das Erscheinen der
- Normannen, dieses Volkes, das der zürnende Norden wütend aus seinen
- Eisfeldern hervorschleuderte! Eine Handvoll kühner Männer, denen der
- düstre Odin und die Schneeberge Skandinaviens auf den Fersen zu folgen
- scheinen, breiten panischen Schrecken über ganze gewaltige Staaten und
- Reiche aus. Geführt von ihren Königen, kommen ihre beweglichen
- Königreiche auf dem nördlichen Eismeer dahergeschwommen und alles sinkt
- nieder vor diesen wenigen, im Strom, im Wellengang, in der furchtbaren
- Armut Skandinaviens und ihrer wilden Religion gestählten Fremdlingen.
- Auch die gewaltigen Eroberungszüge und die weite Verbreitung der
- mongolischen Völker war beinah etwas Übernatürliches. Die inneren
- grenzenlosen Gefilde Asiens, bis dahin den Augen aller Völker verborgen,
- leuchteten plötzlich in schrecklicher Majestät auf, diese endlosen
- Steppen, Seen und ungeheuren Wüsten, wo sich alles in einer
- unermeßlichen Breite und in unendlichen Ebenen verläuft, wo der
- gewaltige Flächenraum durch das vereinzelte Auftreten von Menschen nur
- noch riesenhafter und elementarer wirkt. Diese Steppen, die von
- baumhohem Gras oder flutenden Kornfeldern bedeckt sind, die keines
- Menschen Hand je gesäet und geschnitten hat, diese Steppen, wo Rinder
- und Roßherden weiden, die von Urzeiten her noch niemand gezählt hatte
- und deren wahre Anzahl selbst ihren Besitzern unbekannt blieb, diese
- Steppen erblickten eines Tags einen Tschingis-Chan, der angesichts
- seiner kleinen, schlitzäugigen, plattnasigen und breitschulterigen
- Mongolen das Gelübde ablegte: die Welt zu erobern -- und das
- menschenreiche Peking wird im Lauf eines Monats ein Raub der Flammen,
- ein Millionenvolk wird von mongolischen Pfeilen niedergestreckt, und der
- König der Tungusen geht mit Hunderttausenden seiner Untertanen auf einem
- festgefrorenen See zugrunde, die Rinderherden werden bis an die Grenzen
- Indiens getrieben, und ganze Scharen von Roßherden irren an den Ufern
- der Wolga herum. Mit einem Worte: es ist, als ob sich in diesen
- Eroberungszügen die ganze ungeheure Größe Asiens spiegelte. Eine so
- rapide Überflutung hat weder die alte noch die neue Geschichte je
- gesehen.
- Ich will hier nicht von dem bedeutenden Handelszentrum Venedig reden,
- diesem kleinen Fleckchen Erde, das von einer einzigen Stadt eingenommen
- wurde; eine Stadt, eine einzige Stadt, die keinem Reich angehörte,
- preßte der ganzen Welt ihr Gold aus, und ihre königlichen Kaufleute
- übertrafen mit ihren Schiffen, die stolz alle Meere durchkreuzten, mit
- ihren Palästen am Adriatischen Meere den Ruhm so manches Monarchen.
- Diese Erscheinung halte ich nicht für außergewöhnlich und einzig
- dastehend. Sie wiederholt sich häufig in der Geschichte, wenn auch mit
- Abweichungen und in mancherlei anderer Form. Unvergleichlich viel
- origineller ist das Leben in Europa während der Kreuzzüge und nach
- ihnen, in jener Zeit, wo die Grenzen der Staaten noch unklar und
- unbestimmt waren; wo der Königstitel noch ein Name ohne viel Bedeutung
- war und wo es noch Millionen von Grundbesitzern gab, die in ihren
- Ländern wie kleine Selbstherrscher regierten, wo ganz Europa von
- uneinnehmbaren Schlössern mit Türmen und Zinnen und von trotzigen
- Festungen übersäet war, wo sich die Kraft der Ritter durch den
- beständigen Kampf und die ewigen Fehden ins Übermenschliche, Löwenhafte
- steigerte, als sie sich vom Kopf bis zu den Füßen in Eisen hüllten,
- dessen Last trugen, die vordem kein Mensch hätte heben können, und wo
- Stolz und Trotz sich zu einem rohen Unabhängigkeitsgefühl entwickelte.
- Man sollte glauben, dieser rohe Mut hätte die Seele abhärten und
- erstarren lassen und sie ebenso gefühllos machen müssen, wie ihre
- undurchdringlichen Panzer. Aber wunderbarerweise wurden diese wilden
- Männer gezähmt und gebändigt durch eine Erscheinung, die in schroffstem
- Widerspruch zu ihren Sitten stand: durch die allgemeine und grenzenlose
- Verehrung der Frauen. Die Frau wird im Mittelalter zur Gottheit; ihr
- zuliebe werden Turniere veranstaltet und Lanzen zerbrochen, ihr rotes
- oder blaues Band flattert am Helm oder Panzer und flößt übernatürliche
- Kräfte ein; um ihretwillen bezwingt auch der wildeste Ritter seine
- Leidenschaften und bändigt sie machtvoll wie seinen arabischen Hengst;
- ihr zuliebe legt er sich wundersame Gelübde auf, die an Strenge und
- Härte gegen sich selbst nicht ihresgleichen haben, und dies alles nur um
- der hohen Würde teilhaftig zu werden, vor seiner Gottheit in die Knie
- sinken zu dürfen. Noch bewunderungswürdiger aber als diese begeisterte
- Liebe ist ihre Wirkung auf die Sitten. Die Vornehmheit der europäischen
- Gesinnung ist die Folge dieser Liebe. Das Wanderleben, das jedem
- einzelnen Tausende von Erfahrungen und Abenteuern eintrug und ganz
- Europa in eine bewegte auf und ab wogende Hauptstadt verwandelte, hat
- später in den Europäern den Durst nach Entdeckung neuer Welten rege
- gemacht. Die immerwährenden Fehden und Kriege, die ständige Unsicherheit
- der Lebensverhältnisse, haben nicht etwa wie das gewöhnlich in den
- Geschichtsperioden zu geschehen pflegt, in denen der Luxus die Wunden
- sittlicher Gebreste der Völker zerfrißt, wo die Unersättlichkeit des
- persönlichen Vorteils, Gemeinheit, Schmeichelei und die Sucht nach
- verfeinerten Lastern hervorruft, den allgemeinen Geisteszustand und die
- Spannkraft der Europäer geschwächt, nein, sie haben sie noch gestählt
- und entwickelt.
- Die Laster der kultivierten Völker wagten es nicht, den europäischen
- Ritterstand anzutasten. Fast scheint es, als hätte die Vorsehung
- ununterbrochen über ihn gewacht und ihn mit der Sorgfalt eines treuen
- Erziehers unablässig behütet und geschützt. Zugleich mit dem Aufkommen
- des neuen Luxus und Lebenskomforts, der durch Venedig und die Hansa in
- Europa eingeführt wurde und die Ritter immer mehr ihren Gelübden und
- ihrem strengen Leben entfremdete, ihre Genußsucht schürte und ihren
- religiösen Enthusiasmus schwächte, begannen sich merkwürdige Verbände,
- wie man sie nie vorher gekannt hatte, zu bilden, die als strenge
- Richter, als unerbittliches Gewissen über die Völker Europas wachten.
- Nie weiß die Geschichte von Gesellschaften zu berichten, die
- untereinander mit so unlösbaren Banden verknüpft waren, wie diese
- geistlichen Ritterorden. Jede Tätigkeit um des eigenen Vorteils oder der
- eigenen Existenz willen, die doch sonst immer der Zweck aller Verbände
- ist, lag ihnen fern. Allem entsagen, was dem einzelnen wünschenswert
- ist, und nur für die ganze Menschheit leben; -- als strenge Hüter der
- Welt leben, allein zum Schutz des christlichen Glaubens -- sich ihm
- allein widmen, ihm alles zum Opfer bringen und alles von sich werfen,
- was im entferntesten dem eigenen Vorteile dient -- ist das nicht eine
- wunderbare Erscheinung! Nur aus dem Mittelalter konnte solch eine Kraft
- und solche Energie entspringen. Kaum aber fingen die Ritterorden an, von
- ihren ursprünglichen Zielen abzuweichen und ihre Augen auf andere Zwecke
- zu lenken, angelockt durch die Habsucht und die Beutegier, da ließen sie
- Üppigkeit und Luxus immer mehr Gefallen am persönlichen Leben finden,
- und so wurden sie denen immer ähnlicher, deren Überwachung sie sich
- selbst zur Aufgabe gemacht hatten, und es entstehen die furchtbaren
- unerbittlichen Femgerichte, die unabwendbar waren, wie die göttlichen
- Anordnungen, und nicht mehr die Züge des Gewissens gegenüber der
- leichtsinnigen Welt trugen, sondern eine furchtbare und grausige
- Darstellung des Todes und des Gerichtes bildeten. Keine Macht, kein
- Landbesitz, ja, selbst nicht die Krone auf dem Haupt konnte ihre
- Urteilsprüche abwenden oder mildern. Unbekannt und unsichtbar wie das
- Schicksal, irgendwo im Waldesdickicht, in tiefen, feuchten
- unterirdischen Gewölben wogen und prüften diese Richter das ganze Leben
- und das Vergehen dessen, der inmitten seiner unermeßlichen Ländereien,
- im Kreise seiner nach Hunderten zählenden ergebenen Vasallen sich's
- nicht einmal träumen ließ, daß es auf der Welt eine höhere Macht geben
- könnte als die seine. Wenn diese unterirdischen Richter einmal den
- Urteilsspruch gefällt hatten, -- dann war alles verloren. Vergebens
- versuchten es die Herrscher mit ihrer drohenden Macht, die Annäherung an
- ihre Person zu erschweren, umsonst schloß ihr Gold die Lippen und zwang
- alle, ihr Lob zu singen -- der unerbittliche Dolch erreichte sie am Ende
- der Welt, stahl sich durch die glänzende Schar ihrer Höflinge und traf
- sie hinterrücks an der Seite ihrer Freunde. Mutet es uns nicht wie ein
- fast märchenhaftes Wunder an! Nur da sind die Handlungen eines Menschen
- so unabwendlich, so übernatürlich, so ungewöhnlich, wo er außerhalb der
- Gesellschaft steht, jedes Schutzes einer gesetzlichen Macht entbehrt und
- nicht weiß, was das Wort »Unmöglichkeit« bedeutet.
- Auch die ganze Art der Tätigkeit, wie sie in der Mitte und am Ende des
- Mittelalters herrschte -- dieses allgemeine Streben nach der
- geheimnisvollen Wissenschaft, dieser Wunsch nach Erkenntnis und
- Erforschung der rätselhaften Naturkräfte, diese Unersättlichkeit, mit
- der sich alle der Zauberei und der Magie hingeben, in alledem gärt und
- brodelt jene europäische Neugierde, ohne die die Wissenschaft sich nie
- so entwickelt und die jetzige Vollkommenheit erreicht hätte. Selbst der
- naive Geisterglaube und die Beschuldigung des Umgangs mit Geistern haben
- für uns ein ganz besonderes Interesse. Die Beschäftigung mit der
- Alchimie, der Krone mittelalterlicher Gelehrsamkeit, der Schlüssel alles
- Wissens, entsprang dem kindlichen Wunsch, das vollkommene Metall zu
- entdecken, das dem Menschen die Macht über alles verleihen sollte. Man
- stelle sich nur ein kleines deutsches Städtchen im Mittelalter vor:
- diese schmalen, unregelmäßigen Straßen, diese hohen, bunten, gotischen
- Bauten und dazwischen ein uraltes baufälliges Häuschen, das allgemein
- für unbewohnt gilt und auf dessen von Rissen durchzogenen Mauern Moos
- und Alter ihre Wohnstätte aufgeschlagen haben; diese zugenagelten
- Fenster -- das ist die Behausung des Alchemisten. Nichts läßt auf die
- Gegenwart eines lebenden Wesens schließen -- aber in dunkler Nacht
- steigt ein bläulicher Rauch aus dem Schornstein auf und verrät das
- unermüdliche Wachen des Greises, der über seinem Problem grau ward, aber
- die Hoffnung noch immer nicht sinken lassen will -- scheu schleicht der
- fromme, mittelalterliche Handwerker an dieser Stätte vorbei, wo seiner
- Meinung nach Geister ihr Heim aufgeschlagen haben, in Wahrheit aber
- wirkt dort an Stelle der Geister der ewige Wunsch und der
- unüberwindliche Wissensdrang, der nur von sich selbst lebt, sich stets
- von neuem an sich selbst entzündet und selbst durch Mißerfolge noch
- mächtiger angefacht wird -- dieses Urelement des ganzen europäischen
- Geistes -- das von der Inquisition, die bis in die tiefsten Gründe der
- menschlichen Gedanken eindrang, vergeblich verfolgt wird; aber er reißt
- sich immer wieder los und er gibt sich trotz Furcht und Schrecken nur
- noch mit größerem Genuß seinem Studium hin.
- Und die Inquisition! Welch düstere, furchtbare Erscheinung! Diese
- grausige, blinde Inquisition, die über unzählige Gewölbe und
- unterirdische Klöster gebot, die an nichts anderes glaubte als an ihre
- furchtbaren Folterwerkzeuge, in deren Erfindung der Mensch einen
- geradezu höllischen Scharfsinn an den Tag legte. Diese Inquisition, die
- unter der Mönchskutte ihre eisernen Krallen hervorstreckte und alle ohne
- Unterschied ergriff, die einer seltsamen oder ungewöhnlichen
- Beschäftigung nachgingen, sie liefert wieder einen Beweis für die große
- Wahrheit, daß, wenn auch die physische Natur des Menschen durch Qualen
- dazu gezwungen wird, die Stimme der Seele zum Schweigen zu bringen, doch
- in der großen Masse der ganzen Menschheit der Geist noch immer über den
- Körper triumphiert hat.
- Sind das nicht alles ganz einzigartige Erscheinungen? Geben sie uns
- nicht das Recht, das Mittelalter eine wunderbare Epoche zu nennen? Das
- Wunderbare bricht sich hier bei jedem Schritte Bahn und gewinnt während
- dieser jugendlichen zehn Jahrhunderte die Herrschaft über alles! Ich
- nenne sie jugendlich, weil in ihnen alles Junge lebendig ist: alles, was
- Mut, Leidenschaft, Begeisterung atmet, was nicht an die Folgen denkt,
- nie die kalte Berechnung zur Hilfe ruft und noch keine Vergangenheit
- besitzt, auf die es zurückblicken könnte. Alles am Mittelalter -- ist
- Poesie und Willkür! Man merkt sofort den Umschwung, wenn man das Gebiet
- der neuen Geschichte betritt. Der Unterschied ist zu auffallend; und
- unser Seelenzustand gleicht dann den Meereswellen, die sich anfänglich
- in Bergen und Tälern aufbäumen und senken, um gleich darauf wieder als
- unendliche Fläche still und ruhig dahinzufließen. Im Mittelalter
- erscheinen die einzelnen Handlungen und Taten der Menschen ganz
- unüberlegt, die wichtigsten Ereignisse widersprechen einander in jeder
- Beziehung und bilden große Kontraste. Fassen wir sie jedoch alle zu
- einem Ganzen zusammen -- so erkennen wir die bewunderungswürdige
- Weisheit, die darin waltet! Wenn man das Leben des einzelnen Menschen
- mit dem Leben der Menschheit vergleichen könnte, so müßte man das
- Mittelalter die Schulzeit des Menschen nennen. Da flossen seine Tage
- fast unbemerkt von der Welt dahin, seine Taten sind noch nicht so
- kraftvoll und reif, wie dies für die Welt erforderlich ist, und niemand
- erfährt etwas von ihnen. Dafür aber entspringen alle seine Handlungen
- einer triebartigen Leidenschaft und enthüllen mit einem Schlage alle
- inneren Regungen der Menschen; ohne sie wäre auch seine spätere
- Wirksamkeit in der Gesellschaft unmöglich.
- Sehen wir ferner zu, welch ungeheure Ereignisse das Mittelalter
- umrahmen: das große Kaiserreich, das die ganze Welt beherrschte, eine
- zwölf Jahrhundert alte Nation, geht an Erschöpfung und Gebrechlichkeit
- zugrunde, und mit ihr versinkt die halbe Welt, stürzt das ganze Altertum
- mit seiner halbheidnischen Denkungsart, seinen geschmacklosen
- Schriftstellern, seinen Gladiatoren, Statuen, seinem überladenen Luxus
- und seinen raffinierten Lastern zusammen. Dies ist der Anfang des
- Mittelalters, und sein Abschluß wird durch ein ungeheures Ereignis
- gekennzeichnet, eine allgemeine Explosion, die alles in die Luft
- sprengte und alle jene furchtbaren Gewalten, die bis dahin die Welt so
- despotisch umklammerten, vernichtete. Die Macht der Päpste wird
- erschüttert und fällt zusammen, und ebenso geht es mit der Unwissenheit
- und Unkultur. Die Schätze und der Welthandel Venedigs werden
- unterminiert, und wenn das allgemeine Chaos nach dieser großen Umwälzung
- sich klärt und entwirrt, erscheint folgendes Bild vor den erstaunten
- Augen der Nachwelt: Könige, die ihr Zepter mit kräftiger Hand
- festhalten; Schiffe, die mit mächtig geblähten Segeln das Mittelmeer
- durchschneiden und die Wogen des unendlichen Ozeans befahren; statt des
- ohnmächtigen Schwerts hält der Europäer die Feuerwaffe in den Händen;
- gedruckte Bogen fliegen von einem Ende der Welt zum andern: und das
- alles ist ein Ergebnis des Mittelalters. Der ungeheure Druck der
- Mächtigen und die unerträgliche Knechtung des Volks waren scheinbar nur
- dazu da, um den allgemeinen Ausbruch hervorzurufen. Nur indem die
- menschliche Vernunft all ihre Kräfte zusammennahm, konnte sie die harte
- Rinde, die sie umgab, durchbrechen. Vielleicht hat auch nur daher kein
- Jahrhundert so viele riesengroße Erfindungen aufzuweisen, wie das
- fünfzehnte, das das Mittelalter in so glänzender Weise beschließt: diese
- gewaltige Zeit, die an einen mächtigen, majestätischen gotischen Dom
- erinnert, finster und dunkel wie die sich durchkreuzenden Gewölbe, bunt
- wie seine vielfarbigen Fenster und die Menge des ihn schmückenden
- Zierates, und erhaben und voller Leidenschaft, wie die zum Himmel
- strebenden Mauern und Türme, die in eine in den Wolken verschwindende
- Spitze auslaufen.
- III
- Ein Kapitel aus einem historischen Roman[1]
- [Fußnote 1: Dieser Abschnitt ist dem Roman »Der Hetman« entnommen,
- dessen erster Teil vom Autor verbrannt wurde, weil er ihn nicht
- befriedigte. Wir bringen an dieser Stelle die zwei einzigen Kapitel, die
- überhaupt im Druck erschienen sind.]
- Unterdessen überschritt unser Abgesandter die Grenze, die heute den
- Pirjatinsker Kreis von dem Lublinschen Kreise trennt. Damals gab es in
- Kleinrußland noch keine allgemeine Landstraßen, dafür aber kannte ein
- jeder irgendeinen kleinen Weg, der nach seiner Meinung der allerkürzeste
- war. Diese Wege waren meistens recht uneben, liefen zwischen Gräben
- dahin oder an einer Böschung entlang, überschritten eine Schlucht, und
- nur die von den Pferdehufen hinterlassenen Spuren bezeichneten ihre
- Richtung. Man brauchte nur eine Reise anzutreten, um sogleich mit jedem
- Nachtlager vorliebnehmen zu müssen. Die größte Unbequemlichkeit für den
- Reisenden, der mit der Gegend unbekannt war, bestand aber darin, daß er
- sich im Umkreise von 25 bis 30 Schußweiten bei den Bewohnern nach dem
- Wege erkundigen mußte und daß die Aussagen sich fast immer
- widersprachen.
- Unser Reiter ritt in Gedanken versunken dahin, hielt die Zügel nur
- schlaff in Händen und ließ den Kopf hängen, bisweilen nur stolperte das
- feurige Roß, sein treuer Kamerad, über Erdhügel und Baumstümpfe und riß
- ihn aus seinen Träumereien, die sich aber bald wieder wie eine
- Perlenschnur um sein Haupt schlangen. Zum erstenmal hatte er solch einen
- Auftrag auszuführen. Er war hinausgesandt in die weiten Steppen der
- Ukraine! Gott allein nur wußte, wohin ihn der Weg führen würde! Wer war
- nur dieser Gletschik? ... Und was hatte Kasimir mit dem Anführer einer
- Bande, der sich Oberst des Mirgorodschen Regiments nannte, zu tun? ...
- Man hatte ihm keine genügenden Erklärungen gegeben, weder über seinen
- Charakter, noch seine Stärke, noch darüber, was für Beziehungen er
- hatte, noch auch zu wem ... Wozu also diese Vorsicht, die man im
- Gespräch mit ihm beobachten sollte? Warum sollte er so weit reiten --
- nur um ihm Nachricht von den Ereignissen zu bringen, die Warschau so
- beunruhigten? Welchen Nutzen hätte auch ein so weit entfernter
- Verbündeter bringen können? Er schalt innerlich auf sich selbst, weil er
- Brigitte nicht genauer nach allem ausgefragt hatte; ihr waren sicherlich
- die Gründe für diese merkwürdige Botschaft mehr oder weniger bekannt.
- Die Sonne nahm langsam Abschied von der Erde. Malerische Wolken, deren
- Ränder von feurigen Strahlen vergoldet wurden, zogen, fortwährend ihre
- Gestalt ändernd und sich wieder auflösend, am Himmel hin. Die Dämmerung
- breitete mürrisch einen grauen Nebel über alles und schloß die Läden vor
- den Fenstern, aus denen noch soeben ein Licht auf Gottes Welt gefallen
- war. Nach einem langen Ritt durch die Steppe gelangte unser Reisender in
- einen Wald. Die vom Herbst unbarmherzig ihres grünen Laubes beraubten
- Bäume erinnerten an ein großes Sieb und schienen in der nächtlichen
- Kühle zu zittern. Gelbe Blätter lagen unordentlich am Boden wie
- Speisereste und zerbrochene Scherben nach einem Gelage, und nur ihr
- Rascheln unter den Hufen des Rosses ließ die Gegenwart unseres Reiters
- erkennen. Zwischen den kahlen Wipfeln der Bäume lugte der dunkle Himmel
- hervor. Ein scharfer Wind erhob sich im Felde und entsandte trübselige
- Seufzer bis in das Waldesdickicht.
- Unwillkürlich stutzte der Reiter und hemmte unschlüssig sein Roß; was
- sollte er beginnen, der Weg war vollkommen verschwunden, und vor ihm lag
- nichts wie dichter Wald und das Ungewisse; da drang plötzlich ein lautes
- »Zop, zop« an sein Ohr, ein schwer beladener Wagen kam knarrend
- dahergefahren, und ein paar Stiere tauchten hinter den Bäumen auf. Man
- muß sich in die Lage unseres Reisenden hineinversetzen, um seine Freude
- über eine solche Begegnung zu verstehen. In diesem Augenblick erschien
- auch der Mond am Himmel. Ein silbernes Licht, von furchtsamen Schatten
- der Bäume durchkreuzt, fiel wie ein Gitter auf die Erde, erleuchtete
- weithin die Umgegend, und Laptschinsky sah einen kräftigen ältlichen
- Bauer vor sich. Der graue herabhängende Schnurrbart saß ihm stolz in dem
- gebräunten, scharf geschnittenen, muskulösen Gesicht, und ein Zug
- asiatischer Sorglosigkeit lag gutmütig darüber. Durch die schwarzen
- Brauen zog sich schon manch silbernes Fädchen hindurch; die kleinen
- braunen Augen sprühten Feuer, und zuweilen leuchtete etwas wie
- Schlauheit oder Treuherzigkeit daraus hervor. Er hatte eine schwarze
- Kosakenmütze mit einem blauen Dach auf dem Kopfe. Ein kurzer Pelz ohne
- Tuchüberzug diente ihm als undurchdringlicher Schutz gegen die Kälte und
- wurde von einem hellen, farbigen Gürtel festgehalten. Zum Überfluß hatte
- er sich noch einen gewöhnlichen Mantel aus dickem, schmutziggrauem Stoff
- übergeworfen, wie ihn noch heute die kleinrussischen Bauern tragen. Im
- Gürtel staken eine Flinte und ein krummer tatarischer Säbel, -- denn in
- jenen unruhigen Zeiten hielt jeder Kosak -- ob Krieger oder Bauer, es
- für unumgänglich notwendig, immer eine Waffe bei sich zu tragen.
- »Gott helf!« sagte er, hielt seine Stiere an und entblößte zum Zeichen
- der Hochachtung, die die einfachen Bauern zu jener Zeit noch den
- Kriegern zu erweisen pflegten, seinen Kopf, der nur noch ganz oben mit
- einem Haarbüschel geschmückt war. Hier müssen wir uns erinnern, daß
- Laptschinsky gezwungen gewesen war, sein schmuckes Kostüm mit der
- bescheidenen Kleidung eines Kosakenführers zu vertauschen, um allen
- Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehen, die er sich seitens der
- Einwohner zugezogen hätte, weil diese alles haßten, was den Namen Pole
- trug oder auch nur zu ihnen gehörte.
- Unser Reiter dankte mit einem leichten Nicken des Kopfes für den Gruß.
- »Weißt du nicht, Landsmann, ob es von hier noch weit bis zur
- Ramodanowschen Landstraße ist?« fragte er mit freundlicher Miene.
- »Das kann ich nicht so ohne weiteres sagen, Euer Gnaden, warten Sie
- mal!« Und er begann zu rechnen, was man aus den mechanisch
- zusammengedrückten Fingern entnehmen konnte. »Bis zur Ramodanowstraße?
- ... Wie soll ich Euch sagen? ... sie ist nicht gerade sehr nahe. Ich muß
- gestehen, daß unsere Kosaken ein wenig Angst gekriegt haben: jemand hat
- das Gerücht verbreitet, daß die ganze polnische Schlachta uns an der
- Ssula einen Besuch abstatten wolle. In ihrem blinden Eifer haben sie
- alle Brücken zerstört, da werden Euer Gnaden vielleicht einen großen
- Umweg machen müssen. Übrigens, der Himmel mag's wissen, ich wiederhole
- nur, was die anderen sagen ... es kann ja auch sein, daß Ihr einen
- kürzeren Weg findet ... aber Sie wissen, jetzt ist es Herbst ... da kann
- es auch recht weit werden ... Aber wenn man recht bedenkt, so scheint es
- doch wieder viel näher. Ja, es wäre eine andere Sache, wenn es Wegweiser
- gäbe, wie Euer Gnaden sie gewiß auf den Straßen in Polen gefunden haben,
- wenn Sie dort gewesen sind.«
- Man muß sich nicht über die Widersprüche, die den Monolog unsers
- Landmanns auszeichneten, wundern. Abgesehen von der tatsächlichen
- Unkenntnis, liebten es die Kleinrussen stets, auch an den
- allerbekanntesten Dingen zu zweifeln. Ein Kleinrusse wird euch auch noch
- heutzutage nie eine kurze, klare Antwort geben, er wird sich erst
- zehnmal verbessern und manchesmal seinen Partner mit Absicht so in
- Verwirrung bringen, daß jener zu seinem Staunen erfahren wird, daß es
- bis zu einem bestimmten Ort sehr weit und zugleich sehr nahe ist.
- »In welcher Richtung muß ich denn nun aber weiterreiten?« fragte unser
- Reisender und blickte prüfend auf seinen Lehrmeister.
- Unser Bauer sah sich den Mann von Kopf bis zu Fuße an.
- »Euer Gnaden wollen jetzt gleich weiterreiten?«
- »Und warum nicht?«
- »Gott bewahre! jetzt würde sogar unsereiner, d. h. ein Hiesiger, sich's
- sehr überlegen, ehe er weiterreiten würde. Weißt du, Mosjpane, wir
- brauchen ja nur noch eine kleine Weile zu fahren, -- nicht länger als
- ein tüchtiger Bauer dazu braucht, eine halbe Fuhre Getreide zu
- zermahlen, dann hören wir schon die Hunde auf meinem Hofe bellen. Es ist
- immer besser, in einer warmen Hütte zu schlafen -- morgen magst du dann
- mit Gott weiterreiten.«
- Diesen Vorschlag konnte unser Reisender nicht von der Hand weisen, ja es
- schien fast, als ob er ihn erwartet hätte.
- »Und wohin führt Sie der Weg, Mosjpane?« fragte der Bauer unterwegs
- seinen zukünftigen Gast.
- »Ich reise weit, bis an das andere Ufer der Worskla zu dem Mirgoroder
- Oberst, Gletschik. Hör' mal, Landsmann, kennst du ihn vielleicht?«
- »Wie sollte ich diesen alten Hund nicht kennen! Und woher kommt ihr?«
- »Aus dem großen Lager bei Lochwitza.«
- »Wie kommt denn das, Euer Gnaden; wir haben doch gar nicht gehört, daß
- bei Lochwitza ein Lager aufgeschlagen ist.«
- Hierbei durchbohrte er den Fremden mit seinen Augen, als wolle er ihn
- auf Herz und Nieren prüfen. »Ja, natürlich, wie soll ein Bauer etwas von
- Kriegssachen verstehen; es sind noch keine Gerüchte bis in unsere Einöde
- gedrungen.«
- Unser Gesandter stutzte und überlegte sich's, daß man auch im Gespräch
- mit einem simplen Bauer die Vorsicht nicht außer acht lassen dürfe,
- dachte eine Weile nach und fuhr dann fort: »Sieh mal Landsmann, mit
- Bestimmtheit kann ich es dir freilich nicht sagen. Ich selbst bin nicht
- im Lager gewesen, aber der Saporoger Hauptmann, Schljaiko, dem ich bei
- Lochwitza begegnet bin, hat mir einen Brief an den Mirgoroder Oberst
- mitgegeben, als er vernahm, daß ich nach jener Gegend reite. Er jagte
- dahin wie ein Verrückter, trotz aller Fragen konnte ich nichts
- Zuverlässiges erfahren ... Ich war erst vor kurzem aus Warschau
- zurückgekehrt ... Sieh mal, möglicherweise hatte er Grund, mir zu
- mißtrauen ... d. h. ... er ... nun ich glaube, du verstehst mich.«
- »Was reden Euer Gnaden, kann denn ein Bauer verstehn, was die Herren
- untereinander sprechen! Bei Gott, nein, wie soll unsereiner das
- verstehen. Unsere Schädel sind ja ganz anders gebaut als die Köpfe der
- Herrn ... weiß der Teufel, was das ist! ... sie haben mehr Ähnlichkeit
- mit einem Kohlkopf als mit einem Menschenkopf ...«
- »Oh, du bist mir ein Schlauer!« dachte Laptschinsky und nahm sich vor,
- seine Worte so bedächtig wie möglich zu setzen.
- Er ritt die ganze Zeit im Schritt und paßte den leichten Gang seines
- stolzen Rosses den langsamen Schritten der schwerfälligen Stiere an,
- denen der Bauer mit phlegmatischer Würde, den Stock schwenkend und seine
- Pfeife rauchend, voranschritt. Der Rauch hüllte sein braunes Gesicht wie
- in eine Wolke ein; zuweilen, wenn es von der aufflackernden Flamme
- beleuchtet wurde, erinnerte es an einen Vampir, der hie und da aus dem
- undurchdringlichen Sumpfnebel auftauchte und von dem ein wundersamer
- Funkenstrom ausging. Dies veranlaßte Laptschinsky, ihm immer wieder in
- die Augen zu sehen, um sich zu vergewissern, ob es wirklich noch
- derselbe Mann sei, den er soeben getroffen hatte.
- Aber unser Bauer verscheuchte selbst alle Zweifel und ließ seinem Gast
- keinen Augenblick Zeit zum Grübeln.
- »Haben Euer Gnaden schon von solch einem Wunder gehört?« fragte er, ohne
- die Pfeife aus dem Munde zu nehmen; »siehst du dort im Dunkeln weit vor
- uns die Tanne?«
- Zu seinem großen Erstaunen sah der Reisende wirklich eine Tanne. Wie
- hatte die ihren Weg hierher gefunden? denn hier zu Lande, d. h. in
- Kleinrußland, hätte das Auge wohl selbst im Umkreise von hundert Werst
- keine dieser Bewohnerinnen des Nordens entdecken können. Unwillkürlich
- starrte er sie an: sie allein schien sich inmitten dieser kahlen Bäume
- etwas wie Leben erhalten zu haben. Aber konnte man das Leben nennen? Es
- war eine Mumie, die man nur mit Verwunderung unter nackten Skeletten
- entdeckt, und die allein der Verwesung Trotz geboten hatte. Man gewahrt
- an ihr dieselben Züge und dieselbe herrliche menschliche Form, aber,
- Gott, in welchem Zustande! Ein unbeschreibliches, unbegreifliches Gefühl
- von Wehmut und Grauen erfaßt die Seele beim Anblick dieses elenden
- Betruges, durch den die geschäftige Kunst etwas dem Leben Ähnliches zu
- ergreifen und festzuhalten versucht.
- »Das ist noch kein großes Wunder, daß da eine Tanne steht. Wunderbar ist
- nur dieses: Jetzt wo wir miteinander plaudern, sind es wohl fünfzig
- Jahre her, daß hier, wohl gar an diesem selben Platze, in prächtigen
- Gemächern ein großer, vornehmer Herr hauste. Ob er nun ein Woiwode, ein
- Hauptmann oder ein einfacher Gutsbesitzer gewesen ist, weiß ich Euch
- nicht zu sagen; ich weiß nur, daß er Pole war und nicht unserer Religion
- angehörte. Er lebte, wie alle die unsaubern polnischen Herren leben;
- sein Haus war von früh bis zum Abend von Wein und Gesang erfüllt, ein
- Zittern überlief jeden ehrlichen Christenmenschen, wenn er die Schreie
- vernahm, die aus dem Walde drangen. Die Gutsknechte ritten alle Gehöfte
- ab und plünderten deren arme Bewohner. Aber mehr noch. Sie fingen bald
- an, auch noch die heiligen Kirchen zu plündern und zu bestehlen, und
- trieben es so schlimm, ... hol' sie der Teufel, ich mag gar nicht sagen,
- was sie alles verübten. Man hätte sie alle erschlagen sollen ... Euer
- Gnaden ... Aber das ging nicht, denn es waren ihrer vielleicht
- hundertfünfzig Knechte, und jeder war mit einer Hellebarde, einem
- Luntengewehr und einer ganzen Kriegsrüstung bewaffnet. Da erbot sich ein
- Kirchensänger, -- wie er hieß und aus welchem Kirchspiel er stammte, das
- weiß ich bei Gott nicht, Euer Gnaden, -- der also erbot sich, in den
- Wald zu gehen. Wenn es jetzt nicht Nacht und der Boden nicht mit
- Blättern bedeckt wäre, könnte ich Ihnen vielleicht noch die Reste von
- diesem Teufelsnest zeigen. Um diese Zeit, -- offenbar hatte Gott es
- schon so bestimmt -- feierten sie gerade irgendeinen ihrer verfluchten
- Feiertage. Der Kirchensänger war aufs Schlimmste gefaßt und sagte zu
- sich: >Gott, steh mir bei!< und schob sich mutig durch das Tor, das von
- dem sich drängenden Volk versperrt wurde. Zimbeln und Trommeln
- erschallten und dröhnten wie bei einer Hochzeit, und die betrunkenen
- Herren und ihre Knappen tanzten einen wilden Krakowiak. Als sie nun den
- Kirchensänger erblickten, Euer Gnaden, da riefen sie alle: >Was will der
- Pope hier!< Der Herr aber sprach: >He, ihr Knappen, schenkt dem Popen
- etwas Schnaps ein! mag er doch mit uns braven Christen einen Krakowiak
- tanzen, und helft ihm ordentlich mit dem Stock auf die Beine!< Der
- Sänger fing nun, offenbar des Heiligen Geistes voll, an, den Ketzern
- ihre Sünden und ihr gottloses Leben vorzuhalten, ihnen die Qualen des
- Jenseits zu schildern und ihnen klarzumachen, wie sie einmal in der
- Hölle tanzen würden, dann aber nicht mehr freiwillig, sondern
- angetrieben von den glühenden Gabeln der Teufel! >Ah, du willst uns hier
- auch noch was vorpredigen? He, Knappen! bringt den Popen auf den Chor
- und legt ihm eine Binde um den Hals, damit er sich nicht erkältet!< Da
- packten die Knechte den unglücklichen Sänger und schleppten ihn mit
- unmenschlichem Gelächter und Gejohle zu der Tanne, an der uns unser Weg
- vorbeiführt. Seht, Euer Gnaden, das war nun eben die Sache. Die Tanne
- stand gerade vor dem Hause und wie mit Absicht unmittelbar vor dem
- Fenster des herrschaftlichen Schlafzimmers. Als nun die Nacht alle
- verscheucht und der eine auf seiner Latte, der andere darunter lag, kam
- es unserem Herrn plötzlich so vor, als ob etwas Kaltes auf ihn
- heruntertropfe. >Hol's der Teufel,< dachte der Herr, >was tropft denn da
- herunter?< Er erhob sich von seinem Lager und sah plötzlich, wie die
- stachlichten Tannenzweige die Mauer durchdrangen und sich -- als wären
- sie lebendig, -- immer weiter und weiter ausstreckten, bis sie ihn
- erreicht hatten. Unser Pan bekreuzigte sich vielleicht zum erstenmal in
- seinem Leben, als er sah, daß Menschenblut von den Zweigen herabtropfte.
- Erst war es kalt wie Eis, dann aber verbrannte es ihn so heftig, daß er
- aufsprang und zum Fenster lief. Seine Beine drohten ihm den Dienst zu
- versagen, als er hinausging. Die Tanne war ganz blau wie eine Leiche und
- sie nickte ihm fürchterlich mit ihrem schwarzen, sich hochaufbäumenden
- Barte zu. Anfänglich glaubte unser Herr, daß ihm der Wein in den Kopf
- gestiegen wäre; in der folgenden Nacht aber war es ebenso und das ganze
- Hausgesinde wußte wie aus einem Munde zu erzählen, wie der ganze Wald
- widerhallte von Grabesliedern, die schreckliche Stimmen zu Ehren der
- Toten sängen, so daß einem ein Schauder über den Rücken laufe und die
- Haare zu Berge stünden. Was taten sie nicht alles? Sie begruben den Leib
- des Sängers mit allen Ehren, dann wollten sie die Tanne umhaun, aber die
- Axt konnte ihr nichts anhaben. Bei jedem Schlag, den das Beil tat, wurde
- es schartig, der Baum aber stöhnte wie ein ungetauftes Kind. Endlich
- entschlossen sie sich, diesen verfluchten Ort zu verlassen. Tag für Tag
- versammelte sich das Gesinde, sattelte die Pferde, lud alles Hausgerät
- auf und brach frühmorgens auf, eh noch die Teufel sich den Sand aus den
- Augen gerieben hatten, sie ritten und ritten bis zum späten Abend; man
- könnte meinen, sie müßten weiß Gott wie weit gekommen sein -- doch nun
- schlagen sie ihr Nachtlager auf, und blicken um sich; was sie sehen,
- sind lauter bekannte Dinge: derselbe finstre Wald, dasselbe Haus, die
- verfluchte Tanne; sie streckt ihre Äste aus, wie ein Paar Arme, ergreift
- den Pan, übergießt ihn mit Blut und der schwarze zerwühlte Bart nickt
- ihm unheimlich zu, wie ehemals.«
- Hier warf der Erzähler seinem Zuhörer einen herausfordernden Blick zu,
- seine funkelnden Augen blitzten in der dunklen Nacht noch heller, und er
- stellte mit Wohlgefallen den Eindruck fest, den seine Erzählung auf
- jenen gemacht hatte. In der Tat, unser Reisender konnte ein gewisses
- Gefühl des Schreckens nicht loswerden, das sich heimlich in seine Seele
- schlich, und er sah sich unruhig um.
- Indessen kamen sie an der Tanne vorüber. Der silberne Mondschein fiel
- gerade auf ihre traurigen Äste, ihre langen Schatten, die sich fast wie
- eine Fortsetzung der Zweige ausnahmen, brachen sich an denen der anderen
- Bäume und legten sich wie eine unendliche Leiter auf den Erdboden.
- Nachdem der Reiter vorübergeritten war, wandte er seinen Kopf noch
- einmal um. Sanft schaukelte der Wind die Wipfel der Tanne, da aber
- schien es ihm, daß ein böser Geist von schrecklicher majestätischer
- Gestalt ihm langsam folgte, traurig mit dem schaurigen Bart nickte und
- seine dunkelgrünen Arme ausstreckte, um ihn zu ergreifen.
- »Nun, und was geschah weiter?« fragte er den Mann, der plötzlich stumm
- geworden war, und er versuchte es, sich die Angst nicht merken zu
- lassen, die ihn unwillkürlich erfaßt hatte.
- »Was? Nun dem Herrn erging es schlecht; er entließ sein ganzes Gesinde
- und wurde ein Einsiedler; erst nachdem er zweiundfünfzig Seelenmessen
- für den verstorbenen Kirchensänger gelesen hatte, verschwand der Spuk.
- Was dann weiter aus dem Einsiedler geworden ist, das wird Ihnen wohl
- niemand sagen können. Drei Tage vor Johannisnacht aber tropft Tag und
- Nacht ein feuchter Tau von diesem Baume herab. Ja, man behauptet sogar,
- daß eine verlorene Seele hier im Walde umherirrt. Meine Schwiegermutter
- erzählte mir noch vor vier Jahren, als sie noch bei Verstande war, daß
- sie dem Teufel einmal im Walde begegnet sei; und er hätte eine rote
- Jacke getragen, gerade so wie der verstorbene Pan es zu tun pflegte.
- Zop, zop, zop! Hüh! Na, da wären wir, Euer Gnaden.«
- Laptschinsky erblickte tatsächlich eine kleine Pforte, die aus wenigen
- quer übereinanderliegenden Brettern zusammengefügt war, wie man sie auch
- jetzt noch bei allen kleinrussischen Bauern finden kann. Hundegebell
- erfüllte den Wald, und ein altes Weib, das sich schnell einen Pelz
- übergeworfen hatte, trat heraus, um das Tor zu öffnen. Unser Reiter sah
- einen kleinen Hof vor sich, den ein Zaun aus Schilfrohr einfaßte, im
- Hintergrunde sah man ein paar Scheunen und Ställe, die gleichfalls mit
- Dächern aus Schilfrohr gedeckt waren und eine gewöhnliche kleinrussische
- Hütte.
- Auf dem Hof lagen eine Menge Bienenkörbe herum, viele von ihnen hingen
- auch an den Bäumen, die ihre eigentümlich geformten Zweige von allen
- Seiten in den Hof herabhängen ließen, als könnte diesen Riesen das
- einfache, bukolische Leben ein anziehendes Schauspiel darbieten. Hinter
- dem Hof zog sich noch ein Gebäude hin, das man in der Dunkelheit nicht
- recht erkennen konnte. All dieses ließ darauf schließen, daß das Gut
- einem recht wohlhabenden Kosaken gehörte; denn zu jener Zeit konnte man
- nicht bei jedem soviel Pracht und Überfluß finden.
- Während der Hausherr mit dem Abladen seiner Säcke beschäftigt war, hatte
- Laptschinsky vollauf Zeit, das Innere seiner Behausung zu betrachten. Es
- war fast alles genau so, wie man es heute noch bei den kleinrussischen
- Bauern findet: der Tür gegenüber befanden sich einige Fenster und vor
- ihnen stand ein Tisch, auf dem er ein Roggenbrot und etwas Salz
- bemerkte; dieses wird nie fortgenommen zum Zeichen, daß hier jeder Gast
- stets einer freundlichen Aufnahme gewärtig sein kann. Um die ganze Stube
- zogen sich breitere und schmälere Bänke aus Lindenholz hin; neben der
- Tür stand ein mächtiger Ofen, der unten eine große Öffnung hatte; diese
- war von einem dichten Gitter umschlossen, hinter dem Hühner, Gänse,
- Truthähne und Hauskaninchen hervorguckten. Jeder von diesen der Sprache
- beraubten Hausgenossen machte sich auf seine Art bemerkbar, piepte,
- gackerte, schnatterte und gab zu verstehen, daß er durchaus keines von
- den Geringsten unter Gottes Geschöpfen sei. Auf dem Fußboden saß ein
- vierjähriger Knabe und schlug mit dem mächtigen Stengel einer
- Sonnenblume auf einen umgestülpten Topf; während ein anderer, der ein
- Jahr älter sein mochte, einen Kater an der Kehle hielt und ein Lied dazu
- sang, das sich ihm wohl, weil er es so oft von seiner Mutter gehört, für
- sein ganzes Leben eingeprägt hatte. Vor einer großen eisenbeschlagenen
- Kiste saß ein elfjähriges Mädchen, sie hielt einen Säugling auf dem
- Schoß, der aus vollem Halse schrie, obgleich sie zu seiner Unterhaltung
- mit einem großen Hängeschloß klapperte und das Kind mit dem neuen
- Ankömmling schreckte. An der Wand hingen: eine Sichel, ein Säbel, eine
- Flinte, deren Hahn abgeschraubt war und in der Nähe auf einem Regal lag,
- wohin man ihn wahrscheinlich gelegt hatte, weil er reparaturbedürftig
- war, ferner ein Beil, eine türkische Pistole, noch eine Flinte, eine
- Sense ohne Stiel und eine kurze Nagaika -- alles Waffen, die seit
- undenklichen Zeiten miteinander im Streite liegen und die der
- unbegreifliche Mensch zwingt, trotz ihres so unverträglichen Charakters
- miteinander in Frieden zu leben.
- »Bitte nehmt mirs nicht übel, daß ich Euch etwas warten ließ, Euer
- Gnaden!« sagte der eintretende Hausherr, »der verfluchte Jahrmarkt hat
- mir so sehr den Kopf verwirrt, daß er mir noch immer brummt. Ein wahres
- Glück, daß meine Alte nicht zu Hause ist, sonst hätte sie ihn mir
- tüchtig gewaschen. Nur meine Schwiegermutter und ich sind zu Hause.«
- Bei diesen Worten trat dieselbe Alte herein, die ihnen vorhin das Tor
- geöffnet hatte. Der Reisende betrachtete sie mit einem eigentümlich
- wehmütigen Gefühl. Es war ihm so, als sähe er ein dem Grabe verfallenes
- Wesen vor sich, in dem eine starke Natur noch einen Rest von Leben
- festzuhalten suchte, um dem Menschen die ganze Nichtigkeit eines langen
- Lebens, nach dem er so gierig strebt, vor Augen zu führen. Auf ihren von
- Runzeln durchfurchten Zügen lag die Gleichgültigkeit des Todes. Kein
- Funken von Leben oder Interesse war in ihren Augen zu entdecken; nur hie
- und da richteten sie einen ihrer trüben Blicke auf ihn; doch der hätte
- sich sehr geirrt, der irgend etwas wie Neugierde in ihnen zu lesen
- geglaubt hätte. Sie blieben an keinem Gegenstande haften, und alles
- erschien ihnen in Nebel gehüllt, wie einem Menschen, der sich den Schlaf
- noch nicht ganz aus den Augen gerieben hat.
- Während Laptschinsky solchen Gedanken nachhing, kletterte die Alte auf
- den Ofen; dies war ihr gewöhnlicher Aufenthalt, ihre ganz Welt, die ihr
- ebenso geräumig und belebt schien, wie die anderer Menschen; der
- Hausherr wandte sich seinen Kindern zu. »Sieh mal an, Fedot!« sagte er
- und hob den Jungen mit der Sonnenblume mit einem Griff bis an die Decke,
- »wo hast du diesen fürchterlichen Stengel her? Damit kannst du ja einen
- Menschen totschlagen! Was machst du da, Karpo? Du erwürgst ja den Kater!
- Ich habe dir was Süßes mitgebracht! Komm doch her, du Hundesohn, was
- stehst du da und hältst Maulaffen feil? Seht, Euer Gnaden, so geht's,
- hundertmal habe ich ihm schon gesagt, daß ich sein Vater bin, aber er
- will's immer nicht glauben, der Taugenichts! Und du Schreihals, wirst du
- noch lange brüllen? Reich' mir mal den Stock, ich will's ihm schon
- zeigen. Reich' ihn nur mal her, Marjusja; ich werf' ihn gleich aus dem
- Fenster, da können ihn die Wölfe fressen, oder die Polen ...«
- »Gott hat dich reich mit Kindern gesegnet, Landsmann!« sagte unser Gast
- zum Hausherrn.
- »Ja, 's sind ihrer nicht wenige, Mosjpane, ich habe ihrer sieben. Zwei
- sind in der Fremde, die sind schon verheiratet, aber der Teufel mag
- wissen, was die für eine Mitgift bekommen haben: je ein paar Fuß Land,
- wo nichts außer Steppengras und Beifuß wächst. Nun Fedot, sagst du
- nicht, danke? Der Herr gibt dir einen Pfefferkuchen, und du verbeugst
- dich nicht einmal? Bitte küssen Sie ihn nicht, seine ganze Fratze ist ja
- voller Asche. Als er hörte, daß ich zum Jahrmarkt fahre, da gab es ein
- Geschrei! Nimm mich mit, Vater! -- Ja, was soll ich denn mit dir? Wie
- soll ich dich mitnehmen, man wird dich dort totdrücken! -- Nein, man
- wird mich schon nicht totdrücken! Nimm mich mit, nimm mich mit! -- Ja,
- aber es gibt doch so viele Zigeuner, die stehlen dich mir noch am Ende
- weg, -- dann heißt's auf Nimmerwiedersehn! -- Nein, nimm mich mit, so
- ging's in einem fort weiter. Was sollte man da machen? Er fing so an zu
- heulen, daß Gott erbarm'. Endlich gelang es mir, ihn zu beruhigen, ich
- versprach ihm, ein Lebkuchenpferd mit einem goldenen Kopf mitzubringen.
- Nun, Marjusja, auf die Mutter wollen wir nicht warten, bring' uns das
- Abendbrot. Großmutter schläft sicher schon. Also Euer Gnaden,« fuhr er
- fort und wandte sich plötzlich, sich am Tisch niederlassend, an den Gast
- »zu wem sagtest du, willst du reiten? Jetzt wo ich alt bin, da gleicht
- mein Kopf einem Sieb, man mag noch so viel reingießen, er ist immer
- leer; sprich so klug, wie du willst, ich vergesse doch alles.«
- »Wie Landsmann? ich sagte dir doch -- zu Gletschik,« antwortete der
- Gast, etwas erstaunt über diese merkwürdige Vergeßlichkeit.
- »Zum Mirgoroder Oberst? Da hast du gar nicht nötig, weit zu reiten; kein
- anderer als er selbst in eigener Person sitzt vor dir, Mosjpane!«
- Wenn in diesem Augenblick eine Flintenkugel an Laptschinskys Ohr
- vorbeigesaust wäre, er hätte nicht mehr erstaunt sein können. Ihm so
- plötzlich und unerwartet, so unvorbereitet zu begegnen, wo seine
- Gedanken ganz anderswo umherschweiften -- wo er -- doch nein -- es
- konnte nicht sein, sicherlich hatte er falsch verstanden. Und seine
- Augen richteten sich starr auf seinen Wirt, als wollte er sich
- vergewissern, daß sein Gehör ihn betrogen hätte.
- 1830.
- IV
- Über den Unterricht in der Weltgeschichte
- I
- Die Weltgeschichte in ihrer wahren Bedeutung ist nicht die besondere
- Geschichte der einzelnen Völker und Reiche, ohne allen Zusammenhang,
- ohne allgemeinen Plan und allgemeinen Zweck, sie ist keine Reihe von
- Begebenheiten ohne alle Ordnung, in lebloser, trockener Form
- vorgetragen, wie man sie sehr häufig darzustellen pflegt: ihr Gegenstand
- ist etwas ganz Großes: sie soll _die ganze Menschheit_ umfassen und zwar
- mit einem Blick und in einem vollständigen Bilde, sie soll zeigen, wie
- sie sich aus ihrer ursprünglichen armseligen Kindheit entwickelt hat,
- sich allmählich in verschiedenen Richtungen vervollkommnete und endlich
- die Epoche der Jetztzeit erreichte. Diesen ganzen gewaltigen Prozeß, den
- der freie Menschengeist durchgemacht hat, der von seiner Wiege an mit
- ungeheurer Anstrengung und mit blutigen Mitteln gegen die Roheit, die
- Natur und gegen furchtbare Hindernisse aller Art ankämpfen mußte,
- darzustellen -- das ist der Zweck der Weltgeschichte. Sie soll alle
- Völker der Erde, die durch Zeit, Zufall, Gebirge oder Meere getrennt
- sind, sammeln, in ein geordnetes Ganzes vereinigen und ein großartiges,
- vollkommenes Epos daraus formen; Ereignisse, die keinen Einfluß auf die
- Welt ausgeübt haben, gehören nicht in sie hinein. Alle Weltereignisse
- müssen so fest ineinandergefügt sein, so eng ineinander eingreifen, wie
- die Glieder einer Kette; wenn nur ein Glied springt, zerreißt die ganze
- Kette. Dieses Band muß man natürlich nicht in buchstäblichem Sinne
- verstehen: das ist kein sichtbares, greifbares Band, durch das man oft
- Geschehnisse oder Systeme, wie sie häufig ganz unabhängig von den
- Tatsachen in den Köpfen zustande kommen, und die man nachträglich mit
- den Weltereignissen künstlich verbindet, gewaltsam zusammenfügt. Dieses
- Band darf nur in einer allgemeinen Idee in dem ununterbrochenen
- Entwicklungsgang der Menschheit bestehen, im Verhältnis, zu dem die
- Reiche und die Ereignisse nur temporäre Formen und Gleichnisse sind. Die
- Welt muß in ihrer ungeheueren Majestät dargestellt werden, in der sie
- sich uns darbietet, durchdrungen von den geheimnisvollen Wegen der
- Vorsehung, die sich in ihr in so wunderbarer unbegreiflicher Weise
- kundgeben. Das Interesse muß durchaus und zwar in so hohem Maße angeregt
- werden, daß die Zuhörer vom Wunsche gequält werden, immer mehr zu
- erfahren, sie müssen unfähig sein, sich den Vortrag nicht bis zum Schluß
- anzuhören oder das Buch zu schließen; -- und wenn sie das doch tun, so
- nur zu dem Zweck, um wieder von vorn anzufangen; es muß ihnen klar
- werden, wie das eine Ereignis ein anderes gebiert und wie ohne das
- Vorhergehende auch das Folgende nicht da wäre. Nur so kann eine
- Weltgeschichte geschaffen werden.
- II
- Alles, was in der Geschichte vorkommt: die Völker und die Ereignisse
- müssen lebendig dargestellt werden, und sozusagen den Zuhörern oder
- Lesern vor Augen stehen; jedes Volk, jedes Reich muß seine eigene Welt,
- seine eigene Farbe bewahren, jedes Volk muß sich mit all seinen Taten,
- seinem Einfluß auf die Welt und so, wie es war, gleichsam in dem Kostüm,
- in dem es ehemals auf Erden wandelte, klar und deutlich von den übrigen
- Völkern abheben. Allein um das zu erreichen, muß man nur ganz wenige
- Züge zusammenfügen -- aber es müssen die eigenartigsten Züge sein, die
- ein Volk vor allen anderen auszeichnen. Um die charakteristischen Züge
- ausfindig zu machen, dazu gehört ein klarer Verstand, der imstande ist,
- alle unauffälligen Nuancen, die dem gewöhnlichen Auge entgehen, zu
- entdecken, und dazu eine große Geduld, die notwendig ist, um eine Menge
- häufig ganz uninteressanter Bücher zu durchstöbern. Allein was einer
- entdeckt hat, kann er andern leicht mitteilen, und so können die Zuhörer
- es erfahren, ohne selbst die Archive zu durchforschen.
- III
- Der Lehrer muß auch die Geographie zu Hilfe nehmen, aber nicht in jener
- kläglichen Gestalt, wie das häufig geschieht, d. h. indem man nur den
- Ort, wo etwas vorgefallen ist, auf der Karte aufweist. Nein, die
- Geographie soll uns so manches erklären, was uns ohne sie unbegreiflich
- erscheinen würde. Sie soll uns lehren, wie die Bodenbeschaffenheit und
- Lage eines Landes ihren Einfluß auf das Leben ganzer Nationen ausübte;
- wie sie ihnen einen besonderen Charakter aufdrückte; wie häufig Gebirge,
- die ewigen von der Natur selbst aufgerichteten Grenzen, den Ereignissen
- eine gewisse Richtung gaben und das Weltbild veränderten, indem sie die
- weitere Ausbreitung eines Volkes, das verwüstend durch die Länder zog,
- aufhielten, oder ein kleines Volk wie in einer uneinnehmbaren Festung
- einschlossen; wie diese starke Position, die Tatkraft eines Volkes zu
- wunderbarer Entfaltung brachte, während sie ein anderes zur Starrheit
- verdammte; die Geographie kann uns Aufschluß geben über den Einfluß der
- Lage eines Landes auf dessen Sitten, Gebräuche, seine Verwaltung und
- seine Gesetze; hierbei kann der Schüler erfahren, wie die Staaten
- entstehen, und daß es nicht allein die Menschen sind, die sie errichten,
- sondern daß die geographische Lage des Landes die Staatsform unmerklich
- herbeiführt und entwickelt; daß daher die Staatsformen etwas Heiliges
- sind und daß ihre Abschaffung unfehlbar das Unglück eines Volkes zur
- Folge haben muß.
- IV
- Die großen, universalen Ereignisse müssen in ein klares Licht gestellt
- und mit all ihren weltumwälzenden Folgen in den Vordergrund gerückt
- werden, nicht so wie das viele Lehrer tun, die sich damit begnügen zu
- erklären, dies oder jenes sei ein bedeutendes Ereignis, und nur die
- nächsten Folgen anführen, wie wenn sie abgehackte Äste aufschichteten,
- statt die Vorgänge in ihrer ganzen Breite zu entwickeln, alle geheimen
- Ursachen einer bedeutsamen Erscheinung ans Tageslicht zu ziehen um zu
- zeigen, wie ihre Folgen gleich gewaltigen Zweigen in die folgenden
- Jahrhunderte hineinragen, sich immer mehr verästeln, um endlich ganz zu
- verschwinden, oder aber kaum merklich bis in unsere Zeit fortwirken und
- verklingen, wie ein mächtiger Ton in der Felsschlucht, der gleich nach
- seiner Geburt wieder erstirbt aber noch lange in seinem Echo widerhallt.
- Solche Ereignisse müssen in dieser Weise dargestellt werden, damit jeder
- klar erkennt, daß sie die mächtigen Leuchttürme der Weltgeschichte sind,
- daß diese auf ihnen ruht, wie die Erde auf dem ursprünglichen
- Granitgestein oder wie das Tier auf seinem Knochengerüst.
- V
- Jetzt noch ein Wort über die Art und Weise des Vortrags. Der Vortrag des
- Professors muß hinreißend und feurig sein. Er muß die Aufmerksamkeit der
- Zuhörer im höchsten Grade fesseln. Wenn auch nur einer von ihnen
- imstande wäre, seine Gedanken während der Vorlesung umherschweifen zu
- lassen, fällt die ganze Schuld auf den Professor: er hat es dann eben
- nicht verstanden, interessant zu sein und den Willen wie die Gedanken
- seiner Zuhörer zu meistern. Es ist schwer, sich es vorzustellen, wenn
- man es nicht an sich selbst erprobt hat, was für einen schlechten
- Einfluß es hat, wenn der Vortrag eines Professors matt und trocken ist
- und wenn ihm die Lebhaftigkeit fehlt, die es dem Hörer unmöglich macht,
- seine Gedanken, und sei es auch nur für einen Augenblick, auf andre
- Dinge zu richten. Dann wird ihm auch die größte Gelehrsamkeit nichts
- helfen, man wird ihn nicht anhören, ja, selbst die größten Wahrheiten
- werden, von ihm vorgetragen, ohne jeden Einfluß auf die Hörerschaft
- bleiben, denn ihr Alter ist das Alter der Begeisterung und der starken
- seelischen Erschütterungen; dann kann es häufig geschehen, daß die
- unwahrsten Gedanken, die ihnen anderswo in glänzender und anmutiger Form
- dargeboten werden, sie augenblicklich begeistern und ihrer Entwickelung
- eine ganz falsche Richtung geben. Was aber geschieht erst, wenn der
- Professor noch dazu an der alten Schulmethode mit ihren toten
- scholastischen Regeln festhält, ohne doch selbst die dazu nötige
- geistige Überzeugungskraft zu besitzen; wenn den jugendlichen, noch in
- Entwickelung begriffenen Geistern dieser Mangel klar wird und sie sich
- darüber erheben, so fangen die Zuhörer an, ihren Lehrer zu verachten.
- Dann reizen sie sogar die richtigen Bemerkungen, die er zuweilen macht,
- zum Lachen, und in den jungen Seelen regt sich in Denken und Handeln der
- Widerspruch gegen den Lehrer. In seinem Munde erhalten die
- allerheiligsten Worte: wie Anhänglichkeit an die Religion,
- Vaterlandsliebe und Kaisertreue für sie etwas Banales. Leider können wir
- gar nicht selten beobachten, was das für furchtbare Folgen hat, und
- daher sollte man nie außer acht lassen, daß das Alter der Hörer das
- Alter der starken Eindrücke ist; man muß einen hinreißenden Schwung und
- eine begeisternde Kraft besitzen, um diesen Enthusiasmus auf das Schöne
- und Gute zu richten; und daher muß der Vortrag des Professors selbst von
- Enthusiasmus durchdrungen sein. Seine Überzeugungen müssen so fest, so
- natürlich sein und so sehr aus seinem tiefsten Wesen hervorquellen, daß
- die Zuhörer die Wahrheit schon erkennen lernen, noch ehe er sie ganz vor
- ihren Augen enthüllt hat. Der Vortrag des Professors muß sich zeitweise
- ins Erhabene steigern, er muß hohe Gedanken enthalten und erwecken,
- dabei aber muß er doch einfach und für jeden verständlich bleiben:
- wahrhafte Größe erscheint stets in erhabener Schlichtheit; denn wo Größe
- ist -- da ist auch Einfachheit! Der Professor darf sich nicht damit
- begnügen, nur von einzelnen verstanden zu werden, nein, alle sollen ihn
- verstehen. Um sich leicht verständlich zu machen, muß er nicht mit
- Gleichnissen geizen. Wie oft wird das Klare durch ein Gleichnis noch
- weit klarer.
- Diese Gleichnisse muß er stets einem Gebiet entnehmen, das seinen
- Zuhörern gut bekannt ist. Dann wird sowohl das Ideale wie das Abstrakte
- verständlich. Er muß nicht zuviel reden; dadurch ermüdet er die
- Aufmerksamkeit seiner Hörer, denn eine allzu große Kompliziertheit der
- Gegenstände, ihr Übermaß erschwert es dem Zuhörer, alles in seinem
- Gedächtnis festzuhalten. Jede Vorlesung eines Professors muß unbedingt
- ein Ganzes bilden und den Eindruck des Abgeschlossenen machen, sie muß
- sich dem Geist des Zuhörers als eine wohlgeordnete Dichtung darstellen,
- und sie müssen von vornherein erkennen, was dies Ganze enthalten soll
- und was es tatsächlich enthält; dann werden auch sie bei der
- Wiedererzählung immer das Ziel und das Ganze im Auge behalten. Dies ist
- besonders notwendig in der Geschichte, wo kein Ereignis ziel- und
- planlos eintritt.
- VI
- Auf Grund vieler Beobachtungen und einer langen Prüfung meiner selbst
- wie meiner Zuhörer halte ich folgenden Lehrplan für den besten:
- Vor allem halte ich es für unbedingt notwendig, den Hörern eine
- vollständige Skizze von der Geschichte der Menschheit zu geben, und zwar
- in wenigen, aber starken Worten und in ununterbrochener Reihenfolge,
- damit sie das Ganze dessen, wovon die Vorlesungen handeln sollen, mit
- einem Blick überschauen; sonst werden sie den ganzen Mechanismus der
- Geschichte nicht so klar und nicht so schnell erfassen, wie es ja auch
- unmöglich ist, eine Stadt vollständig kennen zu lernen, indem man nur
- durch all ihre Straßen hindurchgeht, dazu muß man einen erhöhten
- Standpunkt einnehmen, von dem aus die Stadt wie auf der Handfläche vor
- einem liegt. Ich will hier einen Entwurf dieser Skizze geben, um zu
- zeigen, in welcher Art und in welchem Zusammenhang die Geschichte
- dargestellt werden muß.
- Vor allem muß ich darlegen, wie die Menschheit im Orient ihren Ursprung
- nimmt. Ich muß zuerst den Orient mit seinen alten patriarchalischen
- Staaten, mit seinen in ein tiefes Geheimnis gehüllten und dem einfachen
- Volke noch unverständlichen Religionen schildern; die hebräische
- Religion bildet hierin eine Ausnahme, denn in ihr hat sich die reine und
- ursprüngliche Kunde von dem wahrhaftigen Gott erhalten. Ich würde
- schildern, wie diese alten Reiche durch Intoleranz und chinesische
- Ängstlichkeit, gleich unübersteiglichen Mauern, voneinander getrennt
- waren, wie nur das Volk der Phönizier, dieses erste Seevolk der Alten
- Welt, diese starren Reiche durch seinen Handel und seine Industrie
- unfreiwillig miteinander in Berührung brachte, und wie der erste
- Welteroberer Cyrus mit seinem frischen, starken Perservolk den ganzen
- Osten seiner Macht unterwarf und so viele verschieden geartete Völker
- gewaltsam zusammenschweißte; doch blieben die Sitten, die Religionen und
- die Staatsformen in all diesen Reichen unverändert; die Könige
- verwandelten sich nur in Satrapen, und der ganze Orient beugte sich
- unter eine höchste Gewalt, den König der Könige, den Beherrscher
- Persiens. Ich würde darstellen, wie diese Völker durch den
- gemeinschaftlichen Verkehr allmählich ihre Besonderheiten und ihre
- Nationalität verloren und zusammen mit dem König der Könige, der, fast
- wie ein Gott verehrt, dem Volke unsichtbar blieb, dem asiatischen Luxus
- verfielen. -- Hier mache ich halt und wende mich dem anderen Teil der
- Alten Welt, d. h. Europa zu. Ich muß nun schildern, wie sich hier das
- griechische Volk, diese höchste Blüte der Antike entfaltete; sein
- lebhafter Verstand, seine Wißbegierde, sein republikanischer Geist,
- seine so anders gearteten Staatsformen, seine poetische Religion, seine
- klaren, lebendigen Ideen widersprachen in jeder Beziehung dem
- gewichtigen, geheimnisvollen Wesen des Orients; ich würde nun schildern,
- wie die Kultur Griechenlands sich zu ungewöhnlichem Glanz entwickelte,
- wie endlich ein ehrgeiziger Grieche das ganze Land der monarchischen
- Gewalt unterwarf, und wie dieser große Mann den gigantischen Plan faßte,
- den Orient mit Europa zu vereinigen und die griechische Kultur überall
- hinzutragen. Um nun die drei Weltteile fester miteinander zu verbinden,
- wird die Stadt Alexandrien gegründet, der Held stirbt und mit ihm stürzt
- auch das Weltreich in Trümmer. Aber seine Taten bleiben lebendig, und
- ihre Früchte reifen; das berühmte alexandrinische Zeitalter bricht an,
- die ganze Alte Welt drängt sich in den Häfen Alexandriens, die
- griechischen Gelehrten weilen in allen Städten, die Nationalitäten
- verschwinden aufs neue, und die Völker schmelzen wieder zusammen.
- Unterdessen aber reift in Italien fast unbemerkt die eherne Gewalt der
- Römer heran.
- Ich würde nun schildern, wie dieses wilde kriegerische Volk sich ein
- Reich nach dem anderen unterwirft, sich an den zusammengeraubten Gütern
- bereichert und den ganzen Orient verschlingt. Seine Legionen dringen
- selbst bis in die Länder Europas, deren Besitz den Menschen nichts mehr
- zu bieten vermag. Schon Cäsar setzt seinen Fuß auf Britanniens Boden,
- und der römische Adler weht über den Felsen von Albion ... Während
- dessen speien die unbekannten Steppen Mittelasiens ganze Massen fremder
- Völker aus, die andere Stämme verdrängen und vor sich herjagen und sie
- nach Europa treiben, sie folgen ihnen auf den Fersen durch die Wälder
- Germaniens, und durch unpassierbare Sümpfe gegen die Römer gedeckt,
- machen sie erst im Norden halt, drohend wie ein furchtbares Ungetüm, das
- des ihm verfallenen Opfers harrt. Allmählich haben alle Reiche ihre
- Unabhängigkeit verloren. Die ganze Welt ist in römische Provinzen
- eingeteilt. Die Römer eignen sich alles von den unterworfenen Völkern an
- -- erst ihre Laster, dann auch die Kultur -- wieder mischt sich alles
- durcheinander. Alle Menschen werden Römer -- und doch gibt es keinen
- wahren Römer mehr. Und während lasterhafte Imperatoren,
- Prätorianerheere, freigelassene Sklaven und Veranstalter grausiger
- Schauspiele die Welt tyrannisieren, findet in ihrem Schoße unbemerkt ein
- gewaltiges Ereignis statt: inmitten der Alten Welt wird eine neue
- geboren. Von niemand erkannt, vollzieht sich die Fleischwerdung des
- göttlichen Heilandes -- und das ewige Wort ertönt, unverstanden von den
- Großen der Welt, in den Gefängnissen und Wüsten und erwartet
- geheimnisvoll die neuen Völker. Endlich senkt sich ein rätselhafter
- lethargischer Schlaf auf die ganze antike Welt, jene schreckliche
- Starrheit und jenes furchtbare Absterben des Lebens, während dessen die
- Kultur weder vorschreitet noch sich zurückentwickelt, Kraft und
- Charakter verschwinden, und sich alles in eine elende, armselige
- Etikette und in jämmerliche, lasterhafte Charakterlosigkeit verwandelt.
- Unterdessen erfolgt in Asien ein neuer Stoß, der wie ein elektrischer
- Funke die ganze Kette durchläuft: ein Volk drängt und jagt das andere
- vor sich her, dieses treibt das dritte vorwärts, und die am meisten
- vorgeschobenen Nationen erscheinen schon an den Grenzen des römischen
- Reiches, während die armseligen Welteroberer ihre letzten Kräfte
- zusammenraffen, um sich zu retten; erst versuchen sie sich mit Gold
- loszukaufen, dann dingen sie ein Heer von Verteidigern; sie treten den
- Eindringlingen eine Provinz nach der anderen ab, bis auf die letzte und
- endlich auch Rom, alle Gebildeten, die sich noch eine Spur von
- Kenntnissen bewahrt haben, fliehen nach Osten, und der Rest, die
- Ungebildeten und Schwachen, geht in der Masse des neuen Volkes unter.
- Ich würde schildern, wie in Europa ein neues Leben beginnt, wie
- barbarische Reiche innerhalb der ihnen von der Natur gezogenen Grenzen
- entstehen und das Christentum annehmen. Ich würde die feudalen Rechte,
- die Vasallenstaaten schildern, und darstellen, wie der mächtige Papst,
- der ursprünglich nur römischer Bischof war, zu einem gewaltigen
- Herrscher wird und seiner großen geistlichen Macht allmählich auch die
- weltliche hinzufügt. Unterdessen wird im Osten der Rest der Römer von
- einem neuen starken Volk bedrängt und unterworfen, das ganz plötzlich
- und in beinahe phantastischer Weise auf der steinigen arabischen
- Halbinsel geboren, von dem halb wahnsinnigen Enthusiasmus Muhammeds und
- seiner echt orientalischen Religion fast bis zur Raserei getrieben wird.
- Ich würde schildern, wie dieses Volk mit dem krummen asiatischen Säbel
- in der Hand durch den Islam die Überbleibsel früherer griechischer
- Kultur verdrängt, und wie überraschend schnell diese herrliche Nation
- aus einem Eroberer zu einem Kulturträger wird, sich zu vollem Glanz
- entfaltet, und wie dieses Volk mit seiner herrlichen Phantasie, seinen
- tiefen Gedanken und seiner lebendigen Poesie plötzlich erlischt und von
- den Nomaden, die vom Kaspischen Meere herkommen, verdunkelt wird, indem
- es ihnen den Islam als Erbe hinterläßt. Fast um dieselbe Zeit tauchten
- in Europa die Normannen, diese Korsaren der nördlichen Meere, auf: mit
- unerhörter Kühnheit kommen sie, trotz ihrer geringen Zahl, plündernd
- dahergezogen, erobern ganze Reiche, vertauschen ihre barbarische
- Religion gegen das Christentum und führen Europa ihre Kraft und ihre
- Sitten zu.
- Indessen wird der Papst allmählich der unumschränkte Beherrscher
- Europas, und selbst der von allen Völkern geachtete deutsche Kaiser wagt
- es nicht, sich wider ihn zu erheben; auf seinen Wink verlassen ganze
- Völker, Vasallen und Könige ihr Land und ihre Besitztümer, nähen das
- rote Kreuz auf ihre Achseln und ziehen begeistert nach Palästina. Ich
- würde erzählen, wie ganz Europa sich aufmacht und nach Asien zieht --
- wie der Osten und der Westen und die beiden großen Mächte Islam und
- Christentum aufeinandertreffen und wie dieses Ereignis das Rittertum
- erzeugt, das in ganz Europa zur Herrschaft gelangt; es entstehen die
- Ritterorden, die ihre Mitglieder zu einem ehelosen Leben in der
- Einsamkeit verdammen, nur um dem einen Ziel zu dienen, und so beginnt
- das tiefreligiöse christliche Zeitalter. Ich würde darlegen, wie dann
- die religiöse Begeisterung die Grenzen, die ihr die Hand des göttlichen
- Heilands gezogen hatte, überschreitet und wie um dieselbe Zeit, ganz
- ohne daß Europa es bemerkt, eine große, weltgeschichtliche Episode
- anbricht. Um diese Zeit entsteht das nach seiner Größe unermeßliche
- Reich des Dschingis-Chan und verschlingt alle Länder Asiens, die den
- Europäern unbekannt waren. In Europa besaßen nur die Klöster eigenes
- Land und feste Wohnsitze; alles verwandelt sich in fahrendes Rittertum,
- alles nomadisiert, alles irrt unruhig hin und her; jeder ist zugleich
- Krieger und Befehlshaber, Vasall und Herrscher, jeder gehorcht und
- gebietet zugleich -- es ist das Jahrhundert der größten Zersplitterung
- und zugleich der größten Einheit. -- Jeder unterwirft sich nur dem
- eigenen Willen, und doch sind alle in einem Ziel, in einem Gedanken
- verbunden. Nachdem die armen Landleute viel Ungemach erlitten,
- beschließen sie, sich von ihren Unterdrückern unabhängig zu machen und
- in Städten zu vereinigen. Es bildet sich der Mittelstand, die Städte
- fangen an, reich zu werden, und im Norden Europas entsteht die Hansa,
- als Schutzwall gegen die Raubritter, diese verbindet bald durch ihren
- Handel allmählich alle nordeuropäischen Staaten. Im Süden aber erblüht
- als Frucht der Kreuzzüge das durch seine Handelsgewalt so imponierende
- Venedig, diese Königin des Meeres, diese herrliche Republik, mit ihrer
- außerordentlich komplizierten und merkwürdigen Verfassung. Alle
- Reichtümer Europas und Asiens gehen unmerklich in ihre Hände über. So
- wie der Papst Europa durch seine religiöse Macht beherrscht, ebenso
- beherrscht es Venedig durch seinen unermeßlichen Reichtum. Der
- geistliche Despot ließ kein Mittel unversucht, den venezianischen Handel
- zu zerstören, aber alles war vergeblich, bis endlich ein Bürger Genuas
- durch seine Entdeckung der Neuen Welt ihn vernichtete. Schließlich müßte
- ich schildern, wie sich der Aktionskreis der Geschichte plötzlich
- erweitert und der Handel des Mittelmeers zurückgeht. Die Europäer eilen
- habgierig nach Amerika und führen von dort Berge von Gold ein. Der
- Atlantische und der Große Ozean sind in ihrer Macht, um dieselbe Zeit
- dringen die päpstlichen Missionare bis in das nordöstliche Asien und
- Afrika vor, und die Welt tut sich fast plötzlich in ihrer unendlichen
- Größe auf. Jetzt aber beginnt man in Europa allmählich, an der
- Rechtmäßigkeit der päpstlichen Gewalt zu zweifeln, und wie ehemals ein
- armer Genueser den Handel Venedigs vernichtete, so erschütterte jetzt
- ein Augustinermönch, Luther, die Macht des Papstes. Ich würde erzählen,
- wie dieser Gedanke in dem Kopf des bescheidenen Mönches entstand, und
- wie er seine Thesen kraftvoll und trotzig verteidigte; wie dann der
- Papst bei seinem Sturz noch furchtbarer und erfinderischer wurde, wie er
- die schreckliche Inquisition und den, durch seine unsichtbare Macht
- Schrecken verbreitenden Jesuitenorden schuf, wie letzterer sich über die
- ganze Welt verbreitete, überall eindrang und einschlich und geheime
- Verbindungswege mit allen Enden der Welt herstellte.
- Aber je härter der Papst wurde, um so eifriger arbeiteten die
- Druckerpressen. Ganz Europa teilte sich in zwei Parteien, und diese
- feindlichen Lager griffen endlich zu den Waffen, ein langer, harter
- Krieg innerhalb und außerhalb der Staaten entbrannte plötzlich in ganz
- Europa. Jetzt wurde nicht mehr mit Pfeil und Bogen gekämpft, sondern mit
- Kanonen und Kugeln, mit Donner und Blitz; dieser furchtbare Streit wurde
- mit Hilfe der schrecklichen und unheilvollen Erfindung eines Mönchs und
- Alchimisten ausgefochten. Die geistliche Macht sinkt immer mehr, und die
- weltlichen Herrscher erstarken. Dann müßte man darstellen, wie sich
- Europa nach diesen Kriegen veränderte. Die einzelnen Staaten und Völker
- schließen sich immer inniger zu unteilbaren Massen zusammen. Die frühere
- Teilung der Gewalten, die im Mittelalter vorherrschte, hat aufgehört.
- Die ganze Macht konzentriert sich nunmehr in einer Person. Hierdurch
- kommen die starken Charaktere mehr zur Geltung, der Wirkungskreis der
- Herrscher, ihrer Minister und Feldherrn erweitert sich. Ganz von selbst
- entsteht in Europa ein Völkerbund, der mit Waffengewalt die
- Unantastbarkeit eines jeden Reiches verteidigen will. Unterdessen
- ergreifen unermüdliche holländische Kaufleute, die ihr Land mit Gewalt
- dem Meere abgerungen, Besitz von den Inseln des Indischen Ozeans und
- verdienen Millionen durch die Kultur der kostbaren, exotischen Gewächse,
- sie reißen, wie einstmals Venedig, den Handel der ganzen Welt an sich,
- bis ein hervorragender Fürst, die Unantastbarkeit der Staaten
- mißachtend, auch diesen Handel wieder vernichtet. Ich würde das
- glänzende Zeitalter schildern, das dieser König (Ludwig XIV.)
- herbeiführte; Frankreich strotzte förmlich von Erzeugnissen des Luxus,
- die französischen Fabriken, die französischen Gelehrten taten sich
- überall hervor, Paris wurde die Hauptstadt der Welt, wo sich ganz Europa
- ein Rendezvous gab, und französische Sprache, französische Sitten und
- französische Etikette verbreitete sich über die europäische Welt. Aber
- indem dieser ehrgeizige König die Unantastbarkeit fremden Besitzes
- mißachtete und den holländischen Handel zugrunde richtete, zerstörte er
- auch seinen eigenen Staat und vernichtete seine eigene Größe. Schnell
- macht sich das britische Inselvolk, das bis dahin sein Ziel langsam aber
- sicher verfolgt hatte, diesen Umstand zunutze und steht plötzlich als
- Beherrscher des ganzen Welthandels da, bald setzt es in Indien Millionen
- um, besteuert Amerika, und wo es ein Meer gibt, da weht die britische
- Flagge. Ihr tritt Napoleon, dieser Riese des XIX. Jahrhunderts, in den
- Weg, und er bedient sich dabei einer anderen Waffe -- eines absoluten
- militärischen Despotismus; mit seinen stürmischen Bewegungen bringt er
- ganz Europa außer Fassung und legt ihm sein eisernes Protektorat auf.
- Umsonst wettert Pitt im englischen Parlament gegen ihn, umsonst bringt
- er seine schrecklichen Bündnisse zustande. Niemand hat den Mut, Napoleon
- zu widerstehen, bis er selbst sich ins Verderben stürzt, indem er einen
- Vorstoß nach Rußland macht, wo ihn ein unbekanntes Land, die Härte des
- Klimas und ein durch eine rauhe Taktik gestähltes Heer zugrunde richten.
- Rußland, das diesen Riesen an seiner uneinnehmbaren Feste zerschellen
- ließ, hält nun im weiten Nordosten in drohender Majestät die Wacht; die
- befreiten Staaten nehmen wieder ihr früheres Aussehen und ihre alten
- Formen an und schließen von neuem einen Bund zum Schutz ihres Besitzes.
- Die Bildung und die Kultur, die sich durch nichts hemmen läßt, beginnt,
- sich allmählich auch in den unteren Klassen zu verbreiten, die
- Dampfmaschinen lassen die Industrie eine bewunderungswürdige
- Vollkommenheit erreichen, leisten den Menschen, gleich unsichtbaren
- Geistern, Hilfe und lassen seine Kraft immer schrecklicher, zugleich
- aber auch wohltätiger werden: mit heiligem Schaudern erkennt er, wie das
- Wort aus Nazareth endlich sich über die ganze Welt ergießt.
- Wenn die Weltgeschichte in eine so kurze aber vollständige Skizze gefaßt
- wird, und alle Ereignisse in dieser Weise untereinander verbunden
- werden, dann wird nichts dem Gedächtnis der Zuhörer entschwinden, und in
- ihren Köpfen wird sich unwillkürlich ein Ganzes bilden. Und schließlich
- wird diese Skizze sich nach allen Seiten hin erweitern und eine
- vollständige Geschichte der Menschheit darstellen.
- VII
- Nach der Darstellung der ganzen Menschheitsgeschichte würde ich die
- Geschichte der einzelnen Staaten und Völker, die den großen Mechanismus
- der Weltgeschichte bilden, behandeln. Natürlich muß auch hier bei der
- Betrachtung jedes Einzelnen die Fülle und Abgeschlossenheit gewahrt
- werden. Ich muß die Geschichte jedes Staates mit einem Blick von ihrem
- Anfang bis zu ihrem Ende umfassen, muß zeigen, wie ein Reich gegründet
- wurde, wann es seine höchste Macht und seinen höchsten Glanz erreichte,
- wann und warum es unterging (wenn es überhaupt unterging) und wie es die
- Gestalt annahm, die es noch heutzutage besitzt; wenn ein Volk vom
- Angesicht der Erde verschwunden ist, dann müßte man aufzeigen, wie ein
- neues an seine Stelle trat und was dies letztere von dem früheren
- übernommen hat.
- VIII
- Damit das Vorgetragene sich dem Gedächtnis noch tiefer einprägt, ist
- nach Beendigung des Kursus noch eine wiederholende Übersicht notwendig.
- Damit aber diese Wiederholungen ihren Zweck besser erfüllen, muß man
- sich bemühen, ihnen das Interesse und die Anziehungskraft der Neuheit zu
- geben. Nach der Geschichte der Welt im allgemeinen und der eines jeden
- Landes und Volkes im besonderen ist es ratsam, eine Übersicht über alle
- Erdteile zu geben und hierbei auf ihre Verschiedenheiten und die
- Besonderheiten der sie bewohnenden Völker hinzuweisen, damit die Zuhörer
- selbst ihre Schlüsse daraus ziehen können.
- Zuerst müßte man mit Asien anfangen, dieser großen Wiege der jungen
- Menschheit, des Kontinents der ungeheuren Umwälzungen, wo plötzlich
- ganze Völker von furchtbarer Größe auftauchen und ebenso plötzlich
- wieder von anderen verschlungen werden; wo so viele Nationen eine nach
- der anderen für immer verschwinden, während die Regierungsformen und der
- Geist der Völker dieselben bleiben; noch heute ist der Asiat immer
- gleich hochmütig und stolz, schnell begeistert und von Leidenschaft
- ergriffen; und ebenso schnell verfällt er wieder der Trägheit und dem
- tatenlosen Genußleben; zugleich ist dieser Erdteil der Schauplatz der
- großen Widersprüche und einer gewaltigen Unordnung; noch immer wandert
- ein Volk von unübersehbarer Menschenzahl mit unzähligen Roßherden
- sorglos von Ort zu Ort, während am anderen Ende, irgendwo in der Wüste,
- ein rasender Fanatiker, ganz blaß und abgemagert vom beständigen Fasten,
- über einer neuen Religion brütet, die einmal ganz Asien erfassen, das
- ganze Volk in eine leidenschaftliche Begeisterung versetzen, gleichsam
- in einen undurchdringlichen Panzer hüllen und es seinem Verderben
- entgegenführen soll; zugleich aber ist es möglich, daß dicht daneben ein
- anderes Volk lebt, das, von Luxus umgeben und angefressen von
- asiatischer Übersättigung, schon alle diese Phasen und Krisen längst
- hinter sich hat. Nur hier können diese merkwürdigen Gegensätze
- existieren, die wir an den Bäumen des Südens beobachten, wo sich an
- demselben Zweige eine Blüte entfaltet, eine andre schon eine Frucht
- ansetzt, eine dritte reift und zugleich eine vierte überreif zu Boden
- fällt.
- Dann muß man zu Europa übergehen, dessen Geschichte einen ganz
- entgegengesetzten Charakter hat, wo das Leben der Völker im Gegensatz zu
- Asien viel länger und viel großartiger ist und alles Ordnung und
- Regelmäßigkeit atmet; hier bewegen sich die Völker Schritt für Schritt
- und in gemessenem Takte wie reguläre europäische Truppen; fast alle
- Staaten wachsen und entwickeln sich hier zu gleicher Zeit. Trotz aller
- Verschiedenheiten der einzelnen Nationen beobachtet man hier eine
- allgemeine Einheitlichkeit, sie sind alle so wunderbar miteinander
- verflochten, daß sie nur im Zusammenhang mit dem ganzen Europa
- verstanden werden können, und so erscheint Europa selbst fast wie ein
- einziger geeinigter Staat. In diesem kleinen Teil der Welt kam ein alter
- Prozeß zum Austrag: der Mensch erhob sich über die Natur, und die Natur
- ward zur Kunst; ja ihre Armut und ihre Sprödigkeit brachte erst die
- unendliche Welt ans Licht, die im Menschen verborgen lag, ließ ihn
- fühlen, wie hoch er über allem Irdischen stand, und ließ das Sein der
- Welt als ein ewiges Leben des Geistes erscheinen. Nur in diesem Erdteil
- entfaltete sich der hohe Genius des Christentums ganz, und schwebt der
- unermeßliche Gedanke, beschattet vom himmlischen Zeichen des Kreuzes
- über ihm, wie über seiner Heimat.
- Dann folgt Afrika, das im Gegensatz zu Europa den geistigen Tod
- darstellt, wo die Natur stets despotisch über den Menschen herrscht, wo
- sie ihn in ihrer königlichen Majestät immer wieder in seinen Urzustand,
- das sinnliche Leben, zurückstieß; wo kein einziges einheimisches,
- eingeborenes Volk sich zu vollem Leben entwickelte, und einen hellen
- Lichtstrahl in die Welt sandte, und wo selbst die Kolonisten aus andern
- Ländern vergeblich den Kampf mit der glühenden, afrikanischen Natur
- aufnahmen, denn je tiefer sie in das Innere Afrikas eindrangen, desto
- mehr verfielen sie den sinnlichen Trieben.
- Und endlich -- Amerika, -- diese Weltkolonie, dieses Babel aller
- möglichen Nationen, wo sich drei verschiedene Erdteile trafen, sich
- miteinander mischten, aber noch zu keinem Ganzen verschmolzen und daher
- auch bis heute noch keine Einheit, nicht einmal die der Religion
- erreicht haben. Trotzdem es in seinen Teilen so manches
- Charakteristische an sich hat, hat es doch noch keinen allgemeinen
- Charakter ausgebildet; noch immer besteht es trotz der großen Massen,
- die es umfaßt, noch aus unorganisierten Urkräften und Urelementen und
- gleicht, obwohl es aus lauter unabhängigen Staaten besteht, noch immer
- einer Kolonie.
- Ein flüchtiger Überblick über die Geschichte eines jeden Erdteils in
- seinen am stärksten ausgeprägten Charakterzügen, die Darstellung der
- tiefsten Ergebnisse der Jahrhunderte und der sich in ihnen abspielenden
- Begebenheiten, nicht etwa nur ihrer oberflächlichen Resultate, sind
- _darum_ eine Notwendigkeit, weil sie die Zuhörer zum Nachdenken
- veranlassen und Gedanken bei ihnen auslösen. Ihr Geist arbeitet
- schneller, wenn er sich Fragen von echter und poesievoller Größe
- gegenübersieht. Solch ein Überblick ist schon deshalb so notwendig, weil
- er dieselben Objekte häufig in einem andern Lichte zeigt. Denn um einen
- Gegenstand ganz zu verstehen, muß er von allen Seiten beleuchtet werden,
- oder, wie Schlözer einmal sagt, man kennt die Geschichte nur dann gut,
- wenn man sie von vorn bis hinten, von rechts nach links und in allen
- Richtungen kennt.
- IX
- Daher ist es gut, nach Beendigung des Kursus die ganze Weltgeschichte
- noch einmal nach einzelnen Jahrhunderten gleichsam in Form eines Epilogs
- zu überblicken. Dann wird die Weltgeschichte wie eine Stufenfolge der
- Jahrhunderte vor uns stehen. Dabei muß man unbedingt darauf hinweisen,
- wodurch der Anfang, die Mitte und das Ende eines jeden Jahrhunderts
- gekennzeichnet sind, und ferner -- seinen Geist und seine
- hervorstechenden Züge darstellen. Um jedes Jahrhundert genauer zu
- charakterisieren und eine gewisse Monotonie der Jahreszahlen zu
- vermeiden, würde ich es nach dem Namen des Volkes oder des Mannes
- bezeichnen, die sich in dem betreffenden Zeitraum weit über die andern
- emporschwangen und sich am intensivsten auf der Weltenbühne betätigten.
- Eine solche Stufenleiter der Jahrhunderte ist das beste Mittel, dem
- Gedächtnis der Zuhörer den Synchronismus der Ereignisse, der
- Erscheinungen und der Personen einzuprägen.
- X
- Mir scheint, daß solch eine Art des Unterrichts natürlicher wäre und der
- Wahrheit mehr entsprechen würde. Jedenfalls wird der, der die
- Erhabenheit der Geschichte im Tiefsten erfaßt hat, einsehen, daß sie
- nicht das Erzeugnis einer plötzlichen Eingebung, sondern die Frucht
- einer sorgfältigen Überlegung und Erfahrung ist; daß hierbei kein
- Epitheton, und kein einziges Wort nur aus Stilrücksichten oder eitler
- Schönrednerei verloren wurde, sondern daß es das Resultat eines langen
- Studiums der Weltchroniken ist; daß selbst der Entwurf einer allgemeinen
- und vollständigen Skizze der allgemeinen Weltgeschichte, der selbst,
- wenn er so kurz ist, wie das hier geschildert wurde, nicht anders
- möglich ist, als indem man die allerfeinsten und verwickeltsten Fäden
- der Geschichte aufgespürt und entwirrt hat, und daß nur die Liebe zur
- Wissenschaft, die einem zum Genuß ward, einen dazu bewegen konnte, seine
- Gedanken darzustellen, daß unser Zweck dabei die Herzensbildung der
- jungen Zuhörer durch jene gründliche Erfahrung ist, wie sie uns durch
- die Geschichte vermittelt wird, sofern wir sie nur in ihrer wahren Größe
- erkennen.
- Sie sollen erkennen, daß wir nur einen Zweck im Auge haben, in unseren
- Zuhörern feste und männliche Grundsätze zu entwickeln, die fortan kein
- leichtsinniger Fanatiker und keine vorübergehende Erregung zu
- erschüttern vermögen -- sie zu bescheidenen, demütigen, vornehmen
- Charakteren und zu nützlichen und notwendigen Mitarbeitern des großen
- Königs zu machen, auf daß sie weder im Glück noch im Unglück ihre
- Pflicht, ihren Glauben, ihre unantastbare Ehre und ihr Gelübde, treue
- Diener des Vaterlandes und des Kaisers zu sein, verletzen.
- 1832.
- V
- Ein Überblick über das Werden Kleinrußlands[2]
- [Fußnote 2: Diese Skizze bildet die Einleitung zu einer Geschichte
- Kleinrußlands; da aber der ganze erste Teil dieser Geschichte
- vollständig umgearbeitet wurde, so lassen wir diesen Teil als besonderen
- Aufsatz hier folgen.]
- I
- Welch furchtbar armselige Rolle spielt doch das XIII. Jahrhundert in der
- Geschichte Rußlands. Hundert kleine Staaten, die einer Rasse entstammen,
- einen Glauben bekennen, eine Sprache sprechen, gemeinsame
- Charaktereigentümlichkeiten haben und -- fast möchte es scheinen, gegen
- ihren Willen, durch Blutsverwandtschaft untereinander verbunden sind --
- alle diese kleinen Reiche waren so miteinander verfeindet, wie dies
- selbst unter verschiedengearteten Völkern nur selten vorkommt. Nicht Haß
- (denn einer wirklich starken Leidenschaft waren sie nicht fähig), auch
- nicht eine stetige Politik als Folge eines unbeugsamen Sinnes oder
- reifer Lebenserkenntnis waren es, die sie trennten: es war ein Chaos von
- Kämpfen um vorübergehender, momentaner Vorteile willen, und diese
- Streitigkeiten waren um so verderblicher, weil sie den Volkscharakter,
- der unter den starken normannischen Fürsten angefangen hatte, eine
- eigenartige Physiognomie anzunehmen, allmählich zersetzten. Die
- Religion, die die Völker mehr denn alles andere miteinander verbindet
- und erzieht, hatte nur wenig Einfluß auf sie; denn sie war damals noch
- nicht mit den Gesetzen und mit dem Leben verwachsen. Die Mönche, die
- Lehrer, ja sogar die Metropoliten waren Einsiedler, die sich in ihre
- Zellen zurückzogen und ihre Augen vor der Welt verschlossen; sie beteten
- zwar für alle Menschen, aber verstanden es nicht, mit Hilfe ihrer
- gewaltigen Waffe: des Glaubens -- Macht über das Volk zu erringen und
- mit diesem Glauben die kleine Flamme des Glaubenseifers bis zum
- Enthusiasmus zu schüren, der doch allein imstande ist, junge Völker zu
- verbinden und sie für große Taten zu begeistern. Das war der große
- Unterschied gegenüber dem Westen, wo der allmächtige Papst ganz Europa
- mit seiner geistlichen Macht umspann, wie mit einem unsichtbaren
- Spinngewebe, wo sein allmächtiges Wort Streitigkeiten schlichtete oder
- entfachte, und wo die Bedrohung mit seinem furchtbaren Fluch die
- Leidenschaften und die noch halbwilden Völker bändigte. Hier waren die
- Klöster noch Zufluchtsstätten für die Menschen, die sich durch ihre
- Sanftmut und Güte von dem allgemeinen Charakter des Jahrhunderts
- abhoben. Nicht selten redeten die Geistlichen von ihren Höhlen und
- Klöstern aus den Teilfürsten ins Gewissen; aber ihre Ermahnungen blieben
- erfolglos, die Fürsten verstanden es nur, zu fasten und Kirchen zu
- bauen, damit glaubten sie, den Anforderungen des Christentums Genüge
- geleistet zu haben: es als ein Gesetz zu achten und sich seinen Geboten
- zu fügen, verstanden sie nicht. Die geringfügigsten Ursachen hatten
- endlose Kriege zur Folge. Das waren keine Kriege zwischen dem König und
- seinen Lehnsmännern oder der Vasallen untereinander -- nein -- das waren
- Zwistigkeiten zwischen Blutsverwandten, zwischen leiblichen Brüdern,
- Vätern und Kindern. Nicht Haß oder starke Leidenschaft fachten sie an --
- nein -- der Bruder erschlug seinen Bruder um eines Stückes Land willen,
- oder auch nur um Mut und Kühnheit an den Tag zu legen. Welch
- schreckliches Beispiel für das Volk! Blutsverwandtschaft galt für
- nichts, denn die Bewohner zweier benachbarter Teile, die alle
- untereinander verwandt waren, waren jeden Augenblick bereit, mit der Wut
- von Wölfen übereinander herzufallen. Es war nicht ererbte Zwietracht,
- die sie antrieb, denn der Freund von heute wurde zum Feinde von morgen
- und umgekehrt. Das Volk hatte eine kaltblütige Bestialität angenommen:
- es mordete, ohne recht zu wissen warum. Kein starkes Gefühl, weder
- Fanatismus, noch Aberglaube, ja nicht einmal ein Vorurteil konnten es
- begeistern, und es schien, als seien alle starken und hohen menschlichen
- Leidenschaften in ihm erloschen; wenn zu jener Zeit ein Genie erschienen
- wäre, das den Wunsch gehabt hätte, mit diesem Volk etwas Großes zu
- vollbringen, es hätte keine Saite gefunden, bei der er es hätte fassen
- können, um diesen gefühllosen Körper aufzurütteln; es sei denn etwa die
- eiserne physische Kraft. Damals schien die »Geschichte« gleichsam
- erstarrt zu sein und sich in »Geographie« verwandelt zu haben: das
- einförmige Leben, das sich in den einzelnen Teilen regte, aber als
- Ganzes starr und unbeweglich dalag, konnte als geographisches Zubehör
- des Landes gelten.
- II
- Da nun trat ein wunderbares Ereignis ein. In Asien, im Herzen dieses
- Erdteils Asien, in diesen Steppen, die schon so viele Völker über Europa
- ausgegossen hatten, erhob sich jetzt das furchtbarste und zahlreichste
- von allen, dessen Eroberungszüge eine Ausdehnung annahmen, wie nie
- vorher. Die fürchterlichen Mongolen, mit ihren zahllosen Roßherden und
- Zeltwagen, wie sie in Europa noch nie gesehen worden waren, überfluteten
- Rußland, und mit echt asiatisch-barbarischer Freude bezeichneten sie
- ihren Weg durch flammende Rauchsäulen und Feuersbrünste. Diese Invasion
- unterwarf Rußland einer zweihundertjährigen Sklaverei und entzog es den
- Blicken Europas. War dies nun eine Rettung, indem es Rußland seine
- Selbständigkeit wahrte, da doch die Teilfürsten seine Integrität
- gegenüber den litauischen Eroberern kaum aufrecht erhalten hätten, oder
- war es eine Strafe für die fortwährenden Streitigkeiten -- genug, dieses
- furchtbare Ereignis zog gewaltige Folgen nach sich: es erlegte den
- Fürstentümern Nord- und Mittelrußlands ein schweres Joch auf, schuf aber
- zugleich im Süden ein neues slawisches Geschlecht, ein Geschlecht dessen
- ganzes Leben in einem beständigen Kampf bestand und dessen Geschichte
- ich hier schildern will.
- III
- Am meisten hatte Südrußland unter den Tataren zu leiden gehabt.
- Niedergebrannte Städte und Felder, verkohlte Wälder, das alte Kiew in
- Trümmern, menschenleere Wüsten -- das war der Anblick den dies
- unglückliche Land darbot. Die erschrockenen Einwohner flohen nach Polen
- oder nach Litauen; zahlreiche Edelleute und Fürsten wanderten nach dem
- Norden Rußlands aus. Schon früher war die Zahl der Bevölkerung in dieser
- Gegend sichtlich zurückgegangen. Kiew war längst nicht mehr die
- Hauptstadt, und die bedeutenderen Fürstentümer hatten sich nach Norden
- hinaufgezogen. Es schien, als hätte das Volk seine eigene Nichtigkeit
- erkannt, denn es verließ die Plätze, wo die bunte Natur ihre
- Erfindungskraft zu entfalten beginnt; herrliche, unübersehbare Steppen
- breiten sich hier aus und die verschiedenartigsten Gräser von
- gigantischer Höhe bedecken sie; hie und da steigen unvermittelt ganz mit
- wilden Kirschbäumen und Edelkirschen übersäte Hügel auf, oder es tut
- sich ein blumengeschmückter Abgrund vor uns auf, viele rauschende Flüsse
- schlängeln sich durch das Land und bilden entzückende Landschaftsbilder,
- gewaltig gleitet der Dnjepr wie ein leuchtendes Band mit seinen
- unersättlichen Stromschnellen zwischen großartigen, steilabstürzenden
- Ufern und durch unübersehbare Wiesen dahin -- und dies alles erwärmt der
- milde Odem des Südens. -- Das Volk verließ diese Gegenden und drängte
- sich nach den Teilen Rußlands, wo die Oberfläche der Erde einförmig
- glatt und eben, fast immer sumpfig ist, und wo ein paar elende Kiefern
- und Fichten aus dem Boden ragen; hier gibt es kein frischpulsierendes
- Leben voller Bewegung, sondern nur ein dumpfes Vegetieren, das wie ein
- schwerer Druck auf dem Geiste lastet. Es ist, als wäre damit die
- Wahrheit des Satzes bewiesen, daß nur ein starkes, lebens- und
- charaktervolles Volk Gegenden von großartiger Naturbeschaffenheit
- aufsucht, oder daß nur gewaltige und großartige Naturszenerien ein
- kühnes, leidenschaftliches, charaktervolles Volk hervorbringen können.
- IV
- Als der erste Schreck vorüber war, begannen allmählich Auswanderer aus
- Polen, Litauen und Rußland sich in diesem Lande, der eigentlichen Heimat
- der Slawen, niederzulassen; hier war die Wiege der alten Poljanen und
- Ssewerjanen, dieser rein slawischen Stämme, die sich in Großrußland
- schon mit finnischen Völkerschaften zu vermischen begannen, aber sich
- hier in ihrer Reinheit erhielten, mit all ihren heidnischen
- Glaubenslehren, ihren kindlichen Vorurteilen, ihren Sagen und Gesängen
- und ihrer slawischen Mythologie, die bei ihnen so naiv mit dem
- Christentum verschmolz. Den in ihre alte Heimat zurückkehrenden
- Einwohnern folgten auch Auswanderer aus anderen Ländern auf den Fersen,
- mit denen sie sich durch längeres Beisammenleben allmählich vermischt
- hatten. Diese Einwanderung vollzog sich furchtsam und zaghaft, weil das
- schreckenverbreitende Wandervolk nicht weit entfernt war: sie waren nur
- durch die Steppe voneinander getrennt, oder besser gesagt, miteinander
- verbunden. Trotz der bunten Bevölkerung fehlte es hier an jenen
- Zwistigkeiten, die im Innern Rußlands nie aufhörten. Die von allen
- Seiten drohende Gefahr ließ den Menschen keine Zeit zum Streit. Das von
- den furchtbaren Herdenbesitzern übel zugerichtete Kiew, die
- altehrwürdige Mutter der russischen Städte, blieb noch lange verarmt und
- konnte sich kaum mit so mancher unbedeutenden Stadt des nördlichen
- Rußlands messen. Alle Menschen hatten es verlassen, selbst die Mönche
- und Chronisten, die es immer wie ein Heiligtum verehrt hatten, zogen
- fort. Die Kunde von Kiew hört plötzlich auf, und obwohl dort eine Linie
- des russischen Fürstengeschlechts zurückblieb, geriet es für ein halbes
- Jahrhundert vollständig in Vergessenheit. Nur hin und wieder sprechen
- noch die Chronisten wie im Traum von Kiew, sie erzählen, daß es in der
- schrecklichsten Weise zerstört wurde, und daß die Beamten der Chane dort
- residierten -- dann aber ist's als hätte sich ein undurchdringlicher
- Vorhang darüber gebreitet.
- V
- Während so Rußland durch die Tataren zur Untätigkeit und Erstarrung
- verurteilt war, führte der große Heide Gedimin ein neues Volk auf den
- Schauplatz der Geschichte herauf -- ein armes Volk, arm an Kultur und
- arm an Lebensmitteln --, es bewohnte die wilden Fichtenwälder im
- heutigen Weißrußland, hüllte sich in Tierfelle statt in Kleider, betete
- den Gott Perun an und beugte sein Knie in noch nie von der Axt berührten
- Hainen vor dem altehrwürdigen Feuer; dies Volk, das unter dem Namen der
- Litauer bekannt war, hatte ehemals den russischen Fürsten Tribut
- gezahlt. Nun aber wurde es unter seinem Fürsten Gedimin zu der
- bedeutendsten Macht in dem gewaltigen Nordosten Europas! Damals glichen
- die Städte, die Fürstentümer und die Völker des westlichen Rußland noch
- Stücken und Fetzen, die jenseits der Grenze des Tatarenjoches lagen. Sie
- bildeten kein Ganzes, und daher konnte auch der litauische Eroberer fast
- durch einen einzigen Angriff seines von ihm selbst geschaffenen
- heidnischen Heeres den ganzen Flächenraum zwischen Polen und dem
- tatarischen Rußland seiner Macht unterwerfen. Dann führte er sein Heer
- nach Süden in das Gebiet der wolhynischen Fürsten. Es ist nur natürlich,
- daß der Erfolg ihn überall begleitete. In Luzk stellte sich ihm der
- Fürst Leo entgegen und leistete ihm harten Widerstand, war aber doch
- nicht imstande, ihn zurückzuschlagen und sein Land zu behaupten. Gedimin
- setzte Gouverneure und Gemeindeälteste ein und zog weiter nach Süden,
- mitten ins Herz des südlichen Rußlands, nach Kiew. Dem Fürsten Leo von
- Luzk gelang es auf der Flucht, den Fürsten von Kiew, Stanislaus, zu
- überreden, dem furchtbaren Eroberer mit seiner wenig zahlreichen
- Streitmacht entgegenzutreten. Seine Truppen wurden noch durch verbündete
- Tataren verstärkt; aber alle ergriffen die Flucht vor dem mächtigen
- Litauer. Nachdem Gedimin den Feinden am Flusse Irpenj eine furchtbare
- Niederlage bereitet, zog er im Triumph in Kiew ein, das noch unter dem
- frischen Eindruck eines Einfalls der Tataren stand, und setzte dort den
- Fürsten Mindow Oljschansky, der eben den griechischen Glauben angenommen
- hatte, als Regenten ein. So entriß der litauische Eroberer den Tataren
- ein Stück Land, das fast vor ihren Augen gelegen war. Man sollte
- glauben, dies hätte einen Kampf zwischen den beiden Völkern zur Folge
- haben müssen, aber Gedimin war ein klarer und politischer Kopf, trotz
- seiner scheinbaren Wildheit und trotz des barbarischen Zeitalters. Er
- verstand es, sich die Freundschaft der Tataren zu erhalten, obwohl er
- über Länder herrschte, die er ihnen entrissen hatte, ohne ihnen Tribut
- zu zahlen. Dieser urwüchsige Politiker, der weder schreiben noch lesen
- konnte und einen heidnischen Gott anbetete, rührte nicht an die Sitten
- und die alten Regierungsformen der unterworfenen Völker, alles blieb
- beim alten, er bestätigte alle Privilegien und befahl seinen
- Gemeindevorstehern, die Landesgebräuche streng zu achten, und hinterließ
- bei seinem Zuge durchs Land nirgends Spuren der Verwüstung. Die absolute
- Bedeutungslosigkeit der herumliegenden Völker und seiner Zeitgenossen
- lassen seine Gestalt zu ungeheuren Dimensionen emporwachsen. Er starb im
- Jahre 1340, seine Leiche wurde auf ein Pferd gesetzt, und er wurde nach
- der heidnischen Sitte der Litauer mitsamt seinem Waffenträger, seinen
- Jagdhunden und Falken verbrannt. Ihm folgten Oljgerd und Jagello auf dem
- Thron, zwei ebenso starke Charaktere, die noch weiter zum Aufschwung
- Litauens beitrugen, indem sie den angegliederten Ländern gegenüber
- dieselbe Politik verfolgten wie er.
- VI
- So trennte sich das südliche Rußland unter dem mächtigen Schutz der
- litauischen Fürsten ganz von dem Norden. Jede Verbindung zwischen ihnen
- hörte auf; es bildeten sich zwei Reiche, die einen und denselben Namen
- Rußland führten, das eine unter dem Joch der Tataren -- das andere unter
- demselben Zepter wie Litauen. Aber alle näheren Beziehungen zwischen
- ihnen hörten auf; andere Gesetze, andere Sitten, andere Ziele, andere
- Verhältnisse und andere Taten schufen mit der Zeit ganz verschiedene
- Charaktere. Zu ergründen, in welcher Weise dies geschah, bildet den
- Zweck unserer Geschichte. Aber vor allem müssen wir einen Blick auf die
- geographische Lage dieses Landes werfen, damit müssen wir durchaus
- beginnen, denn von der Beschaffenheit des Bodens hängt die Lebensweise,
- ja sogar der Charakter eines Volkes ab. Gar vieles in der Geschichte
- läßt sich durch die Geographie erklären.
- Dieses Land, das später den Namen der »Ukraine« erhielt, erstreckt sich
- im Norden bis zum fünfzigsten Grad nördlicher Breite und ist eher flach
- als gebirgig. Hier begegnen wir häufig kleinen Hügeln, aber keiner
- zusammenhängenden Gebirgskette. In dem nördlichen Teil gibt es
- zahlreiche Wälder, die ehemals ganze Herden von Bären und Wildschweinen
- beherbergten. Der südliche Teil liegt ganz offen da und stellt ein
- weites Steppenland von üppiger Fruchtbarkeit dar, das aber nur hie und
- da mit Getreide bestellt ist. Dieser herrliche, jungfräuliche Boden
- bringt aus sich selbst eine verschwenderische Fülle der
- mannigfaltigsten, verschiedenartigsten Gräser hervor. Hier trieben sich
- ganze Scharen von Steppenantilopen, Hirschen und wilden Pferden herum.
- Vom Norden nach Süden zieht sich der mächtige Dnjepr durch das Land,
- umsponnen von einem ganzen Netze kleinerer Nebenflüsse, die in ihn
- münden. Sein rechtes Ufer ist gebirgig und bietet anmutige und zugleich
- wilde Landschaftsbilder dar; das linke besteht ganz aus Wiesen, die mit
- kleinen Wäldern bedeckt sind und meist unter Wasser stehen. Unweit der
- Mündung des Dnjepr ins Meer bilden schroff aus dem Flußbett aufsteigende
- Felsen zwölf Stromschnellen, sie unterbrechen die Strömung und machen
- die Schiffahrt sehr gefährlich. In ihrer Nähe gab es viele sogenannte
- Sugaken, wilde Ziegen mit weißlich-glänzenden Hörnern und atlasweichem
- Fell. Früher war der Wasserstand des Dnjepr höher, sein Flußbett
- breiter, und er überschwemmte die Wiesen an seinem Ufer auf größere
- Strecken hin. Wenn das Wasser sinkt, ist das Bild überraschend schön:
- alle Bodenerhöhungen treten hervor und bilden unzählige, grüne Inseln
- inmitten der unabsehbaren Gewässer des Ozeans. Nur ein einziger
- schiffbarer Fluß, die Desna, mündet in den Dnjepr, sie fließt durch die
- nördliche Ukraine, mit ihren bewaldeten Ufern, die fast immer
- überschwemmt sind; aber auch dieser Fluß ist nur stellenweise befahrbar.
- Außerdem gibt's im Norden noch den Oster und einen Teil des Sseim, im
- Süden die Ssula, den Psjoll mit einer Reihe schöner Landschaftsbilder,
- den Chorol und andere; aber keiner von all diesen Flüssen ist schiffbar.
- Verkehrswege gibt es nicht; die Produkte konnten nicht ausgetauscht
- werden, und daher konnte sich hier auch kein handeltreibendes Volk
- ansiedeln. Alle Flüsse verzweigen sich in der Mitte; keiner von ihnen
- bildete durch seinen Lauf eine natürliche Grenze zwischen den
- benachbarten Völkern. Im Norden lag Rußland, im Osten hausten die
- Kiptschatskischen, im Süden die Krimschen Tataren, im Westen lag Polen
- und überall offenes Land -- die Grenzen wurden durch Steppen und weite
- Ebenen gebildet. Hätte es auch nur von einer Seite eine natürliche
- Grenze in Form eines Gebirges oder eines Meeres gegeben, so hätte das
- hier wohnhafte Volk sich sicherlich sein politisches Wesen bewahrt und
- ein selbständiges Reich gebildet. Aber das offene, unbeschützte Land
- wurde die beständige Beute von Überfällen und Verwüstungen, -- es wurde
- ein Platz, auf dem drei feindliche Nationen aufeinanderstießen, den
- Boden mit Knochen düngten und mit Blut tränkten. _Ein_ Überfall der
- Tataren zerstörte die ganze Arbeit des Landmanns; die Wiesen und Felder
- wurden von den Hufen der Rosse zerstampft oder niedergebrannt, die
- leichtgebauten Hütten bis auf den Grund niedergerissen und die Einwohner
- vertrieben oder mitsamt ihrem Vieh in die Gefangenschaft geführt. Das
- war ein Land des Schreckens; und daher konnte hier nur ein
- kriegerisches, durch Zusammenschluß starkes Volk erstehen -- ein
- tollkühnes Volk, dessen ganzes Leben von Kriegen erfüllt, und das in
- Krieg und Schlachten gesäugt und aufgezogen war. Freiwillige und
- unfreiwillige Auswanderer, heimatlose Wanderer, die nichts zu verlieren
- hatten, Menschen, deren Leben keinen Heller wert war, deren zügelloser
- Wille sich keiner Macht und keinem Gesetz fügen wollte, und denen
- überall der Galgen drohte, zogen in dies Land und wählten diesen äußerst
- gefährlichen Ort, in unmittelbarer Nähe der asiatischen Eroberer der
- Tataren und Türken, zu ihrem Aufenthalt. Diese zusammengewürfelte
- Menschenmenge wuchs immer mehr an, vermehrte sich und bildete
- schließlich ein ganzes Volk, das seinen Charakter, ja, ich möchte sagen,
- sein Kolorit der ganzen Ukraine mitteilte -- es vollzog sich ein Wunder
- -- die friedlichen slawischen Stämme verwandelten sich unter seinem
- Einfluß in ein kriegerisches Volk, das unter dem Namen Kosaken bekannt
- ist und eine der merkwürdigsten Erscheinungen in der Geschichte Europas
- bildet; vielleicht war nur dies Volk imstande, die verheerende
- Überschwemmung durch die beiden mohammedanischen Stämme, die Europa zu
- verschlingen drohte, zurückzudämmen.
- VII
- Das erste Auftauchen der Kosaken fällt, wenn nicht ins Ende des XIII.,
- so doch in den Anfang des XIV. Jahrhunderts, in das Jahrhundert, wo der
- starke Glaubenseifer in Europa noch nicht erloschen war, und wo sich
- plötzlich fast an allen Orten Brüderschaften und Ritterorden bildeten,
- ganz im Widerspruch zu der damaligen allgemeinen Zersplitterung; diese
- Genossenschaften legten sich mit bewunderungswürdiger Selbstverleugnung
- alle möglichen Opfer auf, entsagten den gewöhnlichen Lebensgewohnheiten
- der Ehe und wurden zu unbeugsamen Hütern der geistigen Güter der Welt,
- und zu ehernen Beschützern des christlichen Glaubens. Je schwächer der
- Zusammenhang der damaligen Staaten untereinander war, desto mächtiger
- wuchs die furchtbare Macht dieser Verbindungen an. Die Verbreitung des
- Islam und das Erstarken der jungen, mächtigen mohammedanischen Völker,
- die schon in Europa eingedrungen waren, trugen auch zu ihrem Wachstum
- bei. Der Geist dieser Brüderschaften drang überallhin -- er faßte nicht
- nur unter den Rittern Fuß -- aber allerdings waren ihre Ziele und Zwecke
- nicht immer dieselben. Um diese Zeit entstand in der Nähe der
- Stromschnellen ein Städtchen, oder eine Ansiedlung mit Namen
- Tscherkassy, die von kühnen Einwanderern gegründet war; ihr Name
- erinnert an Bewohner des Kaukasus, denen auch von vielen die Gründung
- des Städtchens zugeschrieben wird, denn dies war der Hauptsammelplatz
- und Aufenthaltsort der Kosaken. Anfänglich zwangen die häufigen Einfälle
- der Tataren in den nördlichen Teil der Ukraine die Bewohner, sich durch
- die Flucht zu retten, sich den Kosaken anzuschließen und ihre Zahl zu
- vergrößern. Das war ein bunter Haufen der allerverwegensten Vertreter
- der angrenzenden Nationen. Wilde Bergbewohner, verarmte Russen,
- polnische Leibeigene, die sich dem Despotismus ihrer Herren entzogen
- hatten, ja sogar abtrünnige Mohammedaner oder Tataren haben vielleicht
- den ersten Grund zu dieser merkwürdigen Gesellschaft am anderen Ufer des
- Dnjepr gelegt, die sich später, gleich den Ordensrittern, den
- beständigen Kampf mit den Ungläubigen zum Ziel setzte. Dieser
- Menschenhaufen besaß keine Befestigungen und keine einzige Burg.
- Erdhütten, Höhlen und allerhand Schlupfwinkel zwischen den Felswänden
- des Dnjepr, die häufig unter dem Wasser, oder auf den Inseln, oder im
- dichten Steppengras gelegen waren, dienten ihnen zum Versteck für sich
- selbst und die zusammengeraubten Schätze. Die Nester dieser Räuber waren
- unsichtbar; sie kamen plötzlich herangeflogen, bemächtigten sich ihrer
- Beute und verschwanden dann wieder. Sie bekämpften die Tataren mit deren
- eigenen Waffen, das heißt, sie wandten dabei die Kriegsführung der
- Asiaten an und führten Überfälle auf sie aus. Da ihr Leben unter dem
- beständigen Druck der Angst stand, wollten auch sie ihrerseits ein
- Schreckbild für ihre Nachbarn sein. Die Tataren und Türken mußten jeden
- Augenblick eines Überfalls seitens dieser unerbittlichen Bewohner der
- Stromschnellen gewärtig sein. Die mohammedanischen Nachbarn wußten
- nicht, welchen Namen sie diesem verhaßten Volk geben sollten. Wenn einer
- dem anderen seine tiefste Verachtung ausdrücken wollte, so nannte er ihn
- einen Kosaken.
- VIII
- Ein großer Teil dieser Gesellschaft bestand aus den ursprünglichen
- autochthonen Bewohnern des südlichen Rußland. Ein Beweis dafür ist ihre
- Sprache, die, obwohl sie viele tatarische und polnische Worte in sich
- aufgenommen, immer ihren reinen südslawischen Charakter bewahrt hat, der
- dem damaligen russischen sehr ähnlich war, und ein fernerer Beweis ist
- ihr Glaube, der immer der griechisch-katholische blieb. Jeder hatte
- freien Zutritt zu dieser Gemeinschaft, nur mußte er unbedingt den
- griechischen Glauben annehmen. Diese Gesellschaft trug alle Merkmale,
- die einer Räuberbande eigen sind, an sich; aber wenn wir näher zusehen,
- so finden wir hier Keime eines politischen Organismus und eines
- charaktervollen Volkes, das sich gleich zu Anfang seiner Existenz ein
- wichtiges Ziel gesetzt hatte, -- den Kampf mit den Ungläubigen und die
- Reinerhaltung der eigenen Religion. Das waren jedoch keine strengen
- katholischen Ritter, sie erlegten sich weder Gelübde noch Fasten auf;
- sie kasteiten sich nicht durch Enthaltsamkeit und Abtötung des
- Fleisches; sie waren unbändig wie die Stromschnellen ihres Dnjepr und
- vergaßen die ganze Welt bei ihren wilden Gelagen und wüsten Festen. Die
- enge Verbrüderung, die unter den Mitgliedern einer Räuberbande herrscht,
- verband auch sie miteinander. Alles war Gemeingut -- der Wein, das Geld
- und ihre Wohnstätten. Die ewige Angst, die ewige Gefahr flößte ihnen
- eine eigentümliche Lebensverachtung ein. Der Kosak kümmerte sich mehr um
- sein volles Maß Wein, als um sein Schicksal. Aber bei ihren Überfällen
- bewiesen sie Gewandtheit, Schärfe des Geistes und eine große
- Geschicklichkeit, aus jedem Umstande Nutzen zu ziehen. Man mußte diesen
- Bewohner der Stromschnellen in seiner halb tatarischen und halb
- polnischen Tracht, die so recht den Grenzbewohner verrieten, sehen, wenn
- er mit asiatischer Gewandtheit auf seinem Roß dahinsprengte, im dichten
- Steppengras verschwand, dann wieder mit der Schnelligkeit eines Tigers
- aus seinem unsichtbaren Schlupfwinkel hervorstürzte oder ganz in
- Schlingpflanzen und Schlamm gehüllt als Schreckgespenst aus dem Sumpf
- oder Fluß vor dem fliehenden Tataren auftauchte. Nach solch einem
- Überfall bummelte und zechte derselbe Kosak mit seinen Kameraden herum,
- vergeudete und verschleuderte die erbeuteten Schätze, war sinnlos
- betrunken und lebte sorglos dahin, bis zu einem neuen Kriegszug, wenn
- nicht die Tataren ihn überrumpelten, die Sorglosen im betrunkenen
- Zustand auseinandertrieben und ihre Ansiedlung bis auf den Grund
- zerstörten. Doch bald entstand, wie durch ein Wunder, die Ansiedlung
- aufs neue, und ein verheerender, furchtbarer Ausfall gegen die Tataren
- rächte die erlittene Schmach. Und wieder begann das alte sorglose und
- zügellose Leben.
- IX
- Es schien fast, als sollte die Existenz dieses Volkes ewig sein. Es
- verminderte sich nie, die Ausscheidenden, die Erschlagenen und
- Ertrunkenen wurden immer wieder ersetzt. Dieses fröhliche Leben übte
- seine Anziehungskraft auf jedermann aus. Das war ja noch jene poetische
- Zeit, wo man mit dem Säbel in der Hand alles erreichen konnte, und wo
- jeder einzelne nicht Zuschauer, sondern handelnde Person sein wollte.
- Die Kolonie nahm allmählich einen ganz eigenartigen, allgemeinen
- Charakter an, aus ihr bildete sich eine eigene Nationalität heraus, und
- je näher das XV. Jahrhundert herankam, desto mehr vergrößerte sie sich
- durch neuen Zuzug. Allmählich entstanden ganze Flecken und Dörfer mit
- Häusern, die von Familien bewohnt wurden, und sich in der Nähe dieses
- trotzigen Bollwerks ansiedelten, um unter der Bedingung gewisser
- Verpflichtungen ihren Schutz zu genießen. So geschah es, daß das Land um
- Kiew herum verödete, und sich dagegen am jenseitigen Ufer des Dnjepr
- immer mehr und mehr bevölkerte. Durch die Berührung und den Verkehr mit
- den Kosaken wurden auch die verheirateten Männer, die Familienväter,
- allmählich immer kriegerischer gesinnt. Der Säbel und der Pflug
- schlossen Freundschaft untereinander und fanden sich bei jedem Landmann
- zusammen. Verwegene Hagestolze fingen an, nicht nur Gold, Geld und
- Rosse, sondern auch Tatarenfrauen und -töchter zu rauben, die sie
- nachher heirateten. Durch diese Vermischung erhielten die Gesichter, die
- ehemals einen recht verschiedenartigen Völkertypus aufwiesen, eine mehr
- gleichartige asiatische Physiognomie. Und so entstand ein Volk, das
- seinem Glauben und seinem Wohnort nach zu Europa gehörte, aber nach
- seinen Sitten, nach seiner Tracht und Lebensweise vollkommen asiatisch
- war, ein Volk, in dem zwei verschiedene Weltteile zusammentrafen, und
- zwei völlig anders geartete Elemente sich untereinander mischten:
- europäische Vorsicht und asiatische Sorglosigkeit, Treuherzigkeit und
- Verschlagenheit, kräftige Aktivität und grenzenlose Trägheit und
- Verzärtelung, das Streben nach Fortschritt und Vervollkommnung -- und
- zugleich der Wunsch sich den Anschein zu geben, als verachte man
- jeglichen Fortschritt und jede Vervollkommnung.
- 1832.
- VI
- Einige Worte über Puschkin
- Bei dem Namen Puschkin steigt sofort der Gedanke an Rußlands nationalen
- Dichter auf. Und in der Tat -- es gibt keinen unter unseren Dichtern,
- der höher stände, keiner kann mit mehr Recht national genannt werden,
- als er. Daher gebührt dieser Titel vor allem _ihm_, wie keinem andern.
- In ihm ist, wie in einem Wörterbuch, der ganze Reichtum, die ganze Kraft
- und Geschmeidigkeit unserer Sprache niedergelegt. Er hat mehr, denn je
- ein anderer, ihre Grenzen erweitert und uns ihre gewaltigen Dimensionen
- offenbart. Puschkin ist eine ganz außerordentliche Erscheinung, ja
- vielleicht die erste und einzige, die der russische Geist hervorgebracht
- hat, das ist der russische Mensch in seiner höchsten und letzten
- Ausprägung, wie er sich uns vielleicht erst in zwei Jahrhunderten
- darstellen wird. In ihm spiegelt sich die russische Natur, die russische
- Seele, die russische Sprache und der russische Charakter in einer solch
- reinen sublimen Schönheit, wie eine Landschaft auf der konvexen
- Oberfläche eines optischen Glases.
- Schon sein Leben war echt russisch. Die freie Ungebundenheit und Fülle,
- nach der es den Russen verlangt, wenn er sich für einen Augenblick
- selbst vergißt, und die eine so starke Anziehungskraft auf die frische
- russische Jugend besitzt, sind auch für die ersten Jahre
- charakteristisch, während der er die große Welt betritt. -- Wie mit
- Absicht führte ihn das Schicksal gerade dorthin, wo die Grenzen Rußlands
- durch Schroffheit und charaktervolle Majestät der Natur bezeichnet
- werden, wo die grenzenlose russische Ebene vom Südwind umfächelt und von
- steil in die Wolken ragenden Bergen unterbrochen wird. Der gigantische,
- mit ewigem Schnee bedeckte Kaukasus, der mitten aus der heißen südlichen
- Ebene emporsteigt, machte einen tiefen Eindruck auf ihn, man kann sagen,
- er erweckte die Kräfte seiner Seele und sprengte die letzten Ketten, die
- den freien Gedanken noch beschwerten. Das poesievolle, zügellose Leben
- der verwegenen Bergbewohner, ihre ständigen Zusammenstöße und ihre
- plötzlichen unwiderstehlichen Überfälle entzückten ihn. Und seit jener
- Zeit erhielt sein Pinsel jenen wunderbaren Schwung und jene Kühnheit,
- die das ganze Rußland, das erst eben zu lesen begonnen hatte, so tief
- ergriff. Wenn er den Kampf eines Tschetschenzen mit einem Kosaken
- schildert, dann sind seine Worte wie Blitze; sie funkeln wie eine blanke
- Säbelklinge und stürmen schneller dahin, als die Wogen der Schlacht. Nur
- er versteht es, den Kaukasus zu besingen; er ist mit seiner ganzen
- Seele, mit allen seinen Sinnen in ihn verliebt; er ist ganz erfüllt,
- ganz durchdrungen von der Schönheit seiner Landschaft, vom südlichen
- Himmel, von den herrlichen, Grusischen Ebenen, von den berauschenden
- Nächten und Gärten der Krim. Das macht wohl, daß er in all seinen Werken
- da am wärmsten und feurigsten ist, wo seine Seele vom Hauch des Südens
- getroffen wird. Unwillkürlich setzt er hier seine ganze Kraft ein, und
- daher übten auch seine Schöpfungen, die, vom Kaukasus handelnd, vom
- freien Leben der Tscherkessen und den Nächten der Krim erfüllt sind,
- jenen herrlichen magischen Zauber aus; selbst die, denen es an Geschmack
- fehlte, und deren geistige Fähigkeiten nicht ausreichten, um ihn zu
- verstehen, waren von ihnen entzückt. Das Kühne ist am leichtesten
- verständlich, es weitet die Seele mächtig und gewaltig aus, vor allem
- die der Jugend, die es immer nach Ungewöhnlichem dürstet. Kein einziger
- Poet in ganz Rußland hatte ein so beneidenswertes Schicksal wie
- Puschkin. Der Ruhm keines einzigen hat sich so schnell verbreitet, wie
- der seine. Alle fühlten sich verpflichtet, bei jeder passenden oder
- unpassenden Gelegenheit einige von den herrlichen, glänzenden
- Stellen aus seinen Werken zu zitieren, oder doch wenigstens zu
- verballhornisieren. Schon sein Name allein hatte etwas Elektrisierendes;
- ein müßiger Tintenkleckser brauchte ihn nur in einer seiner Arbeiten zu
- erwähnen, und sie wurde überall gelesen[3].
- Schon bei seinem ersten Auftreten war er durch und durch national; denn
- die wahre Nationalität besteht ja nicht in der Beschreibung eines
- russischen Sarafans, sondern in dem Geist eines Volkes. Ein Dichter kann
- auch dann noch national bleiben, wenn er ganz fremde Welten darstellt,
- nur muß er sie mit seinen Augen durch sein nationales Element hindurch,
- mit den Augen seines Volkes anschauen, er muß so reden und fühlen, daß
- seine Landsleute meinen, sie seien es selbst, die so fühlten und
- redeten. Wenn man von den Eigenschaften sprechen will, die die Vorzüge
- Puschkins im Vergleich mit anderen Schriftstellern bilden, so muß man
- sagen, daß sie in der außergewöhnlichen Kürze seiner Schilderungen und
- in der seltenen Kunst liegen, einen Gegenstand mit ein paar Strichen zu
- zeichnen. Seine Epitheta sind so kühn und treffend, daß sie oft eine
- lange Umschreibung ersetzen, sein Pinsel stürmt förmlich dahin. Ein
- kleines Werk von ihm ist stets ebensoviel wert, wie eine ganze große
- Dichtung. Man kann kaum von einem anderen Dichter sagen, daß bei ihm in
- einem kleinen Stücke so viel Größe, Schlichtheit und Kraft enthalten
- sei, wie bei Puschkin. Aber seine letzten Werke, die er in der Zeit
- verfaßte, als der Kaukasus mit seiner schroffen Majestät, mit seinen
- mächtigen in die Wolken ragenden Gipfeln seinen Blicken entschwunden
- war, als er sich ins Herz Rußlands zurückzog und sich tiefer in die
- schlichte Ebene, in das Studium des Lebens und der Sitten seiner
- Landsleute versenkte, als er ein echt nationaler Dichter sein wollte --
- diese seine letzten Dichtungen überraschten nicht mehr durch die
- Farbenpracht und die blendende Kühnheit, die all seine Werke erfüllte,
- wenn er vom Elbrus, von den Bergvölkern des Kaukasus, von der Krim und
- Grusien erzählte.
- [Fußnote 3: Unter Puschkins Namen wurden auch eine Reihe abgeschmackter
- Verse verbreitet. Das ist das gewöhnliche Los des Talents, dessen Name
- bekannt und berühmt ist. -- Anfangs lacht man darüber, aber später fängt
- man an, sich zu ärgern, wenn man über die erste Jugend hinaus ist und
- sieht, daß diese Torheiten kein Ende nehmen. Schließlich schrieb man
- Puschkin sogar Werke wie »Das Cholera-Mittel«, »Die erste Nacht« und
- ähnliche zu.]
- Ich glaube, diese Erscheinung ist nicht schwer zu erklären. Alle Leser,
- die gebildeten und ungebildeten waren von seiner kühnen Pinselführung
- und dem Zauber seiner Bilder entzückt und verlangten stürmisch, er solle
- volkstümliche und historische Themata zum Gegenstand seiner Poesie
- machen, sie vergaßen, daß man doch unmöglich das ruhige und weniger von
- Leidenschaften erfüllte russische Leben mit denselben Farben malen
- konnte, wie die Berge des Kaukasus und seine freien Bewohner. Die Masse
- des Publikums, die sozusagen die Nation ausmacht, ist sehr seltsam in
- ihren Anforderungen und Wünschen; sie schreit: »Schildere uns, so wie
- wir sind, völlig wahrheitsgetreu, stelle die Taten unserer Ahnen dar,
- und zwar so, wie sie sich wirklich vollzogen haben.« Aber, wenn es der
- Dichter dann versucht, ihrem Ruf Folge zu leisten, und alles
- wahrheitsgetreu, d. h. ganz so wie es sich abspielte, zu schildern, dann
- heißt es gleich: »Das ist matt, das ist schwach, das ist schlecht, es
- entspricht durchaus nicht der Wahrheit.« Die Masse des Volkes gleicht in
- dieser Hinsicht einer Dame, die bei einem Maler ein Porträt bestellt,
- und den Wunsch äußert, er solle es so ähnlich wie möglich machen; aber
- weh ihm, wenn er es nicht versteht, alle ihre Fehler zu verhüllen! Die
- russische Geschichte nimmt erst in ihrer letzten Epoche unter den Zaren
- eine große Lebhaftigkeit an; bis dahin war der Charakter des Volkes
- meist recht farblos, die verschiedenen Abstufungen der Leidenschaften
- waren ihm unbekannt. Den Poeten trifft keine Schuld; aber auch dem Volk
- kann man sein Gefühl nicht übelnehmen, das es verleitet, den Taten
- seiner Vorfahren größeren Wert beizulegen. Daher hat der Poet zwei
- Möglichkeiten: entweder sein Pathos höher emporzuschrauben, dem
- Schwächlichen größere Kraft einzuflößen, mit Feuer von Dingen zu reden,
- die in sich selbst keine starke innere Wärme haben, dann ist die Masse
- seiner Verehrer, die Masse des Volks auf seiner Seite und zugleich mit
- ihr das Geld; oder er muß der Wahrheit treu bleiben, groß sein, wo auch
- das Thema groß ist, kühn und schroff sein, wo wahrhafte Kühnheit und
- Schroffheit sich zeigt, ruhig und still bleiben, wo auch die Ereignisse
- nicht sieden und brodeln. Dann aber kann er der Masse »Lebewohl« sagen.
- Sie wird ihm nicht zujubeln, es sei denn, daß der Gegenstand, den er
- darstellt, schon an und für sich so groß und gewaltig ist, daß er einen
- allgemeinen Enthusiasmus entfachen muß. Der Dichter vermied den ersten
- Weg, eben weil er Dichter bleiben wollte, und weil ein jeder, der nur
- einen Funken des heiligen Berufes in sich fühlt, ein so feines Empfinden
- hat, das es ihm nicht erlaubt, sein Talent durch solche Mittel zu
- offenbaren. Niemand wird leugnen, daß ein wilder Bergbewohner mit seiner
- kriegerischen Tracht, der so frei wie die Freiheit selbst, der sein
- eigener Herr und Richter ist, einen viel stärkeren Eindruck macht, als
- irgendein Assessor; und obgleich der erstere seinen Feind getötet,
- nachdem er ihm in einer Felsspalte auflauerte, oder ein ganzes Dorf
- niedergebrannt hat, so erscheint er uns doch viel bedeutender und
- interessanter und erweckt immer in weit höherem Grade Mitleid, als unser
- Beisitzer in seinem fadenscheinigen, mit Tabakflecken beschmutzten
- Frack, der, ohne es zu wollen, nur auf dem Wege von allerhand
- Nachforschungen und Nachprüfungen eine Reihe von allen möglichen
- Leibeigenen und Freien ins Elend gebracht hat.
- Aber der eine wie der andere sind beides Erscheinungen, die unserer Welt
- angehören; sie haben beide ein Anrecht auf unsere Aufmerksamkeit, obwohl
- aus einem ganz natürlichen Grunde das, was wir seltener sehen, unsere
- Phantasie weit stärker erregt, und so ist der Umstand, daß der Dichter
- das Gewöhnliche dem Ungewöhnlichen vorzieht, nichts anderes als eine
- falsche Rechnung des Dichters -- eine falsche Rechnung gegenüber seinem
- zahlreichen Publikum -- aber freilich nicht gegenüber sich selbst.
- Dadurch verliert er nicht, nein, er gewinnt vielleicht sogar noch an
- Wert, allerdings wohl nur in den Augen einiger weniger Sachkundiger. Bei
- dieser Gelegenheit fällt mir eine Geschichte aus meiner Kindheit ein.
- Ich hatte immer eine gewisse Leidenschaft für die Malerei. Ich
- interessierte mich besonders für eine Landschaft, die ich gemalt hatte,
- und in deren Vordergrunde sich ein verdorrter Baum erhob. Ich lebte
- damals auf dem Lande, die Kunstkenner und die Richter, die über mich zu
- urteilen hatten, waren meine Nachbarn. Einer von ihnen warf einen
- prüfenden Blick auf das Bild, schüttelte den Kopf und sagte: -- »Ein
- guter Künstler wählt sich immer einen schönen, schlanken Baum mit
- jungen, frischen Blättern und nicht einen vertrockneten.« In meiner
- Kindheit verdroß es mich, solche Urteile zu hören, aber später habe ich
- daraus eine Lehre gezogen: man muß wissen, was der Masse gefällt und was
- ihr nicht gefällt. Die Werke Puschkins, die aus der russischen Natur
- herauswachsen, sind ebenso still und leidenschaftslos, wie die russische
- Natur. Nur der kann sie ganz verstehen, dessen Seele wahrhaft russische
- Elemente in sich trägt, der Rußland seine Heimat nennt, dessen Geist so
- zart organisiert ist und dessen Gefühl so fein zu empfinden gelernt hat,
- daß er die scheinbar unbedeutenden russischen Lieder und den russischen
- Geist nachempfinden kann; denn je alltäglicher der Gegenstand ist, desto
- höher muß der Dichter stehn, um aus ihm das Ungewöhnliche an die
- Oberfläche zu ziehen, und zwar so, daß dieses Ungewöhnliche zugleich die
- lauterste Wahrheit darstellt. In der Tat: sind Puschkins letzte Werke
- auch in ihrem ganzen Werte erkannt worden? Hat auch nur einer den Boris
- Godunow richtig verstanden und seine Bedeutung begriffen, dieses große
- und tiefe Werk, voll innerer, unnahbarer Poesie, das jeden groben,
- bunten Schmuck verschmäht, der der Masse ins Auge sticht. Jedenfalls ist
- nie ein richtiges Urteil über diese Werke gedruckt worden, und sie sind
- bis heute so gut wie unbeachtet geblieben.
- In seinen kleinen Schriften, dieser herrlichen Anthologie ist Puschkin
- außerordentlich vielseitig, hier erscheint er noch umfassender und
- bedeutender als in seinen Dichtungen. Einzelne von diesen kleinen Werken
- haben etwas so Packendes und Blendendes, daß sie ein jeder verstehen
- kann, aber der weitaus größte Teil unter ihnen, und zwar die
- allerschönsten erscheinen der großen Masse unbedeutend und gewöhnlich.
- Um sie zu verstehen, muß man einen ganz besonderen Spürsinn und einen
- viel feineren Geschmack haben, als ihn ein Mensch besitzt, auf den nur
- die allergrößten und hervorstechendsten Züge wirken. Hierzu muß man der
- groben, schweren Speisen längst überdrüssig, man muß in gewissem Maße
- Sybarit sein, dem nur kleine Vögel von der Größe eines Fingerhuts oder
- solche Gerichte Genuß gewähren, deren Geschmack dem fade, seltsam und
- unangenehm erscheinen muß, der an die Gerichte seines Kochs, eines
- Leibeigenen vom Lande, gewöhnt ist. Diese Sammlung seiner kleinen
- Gedichte stellt eine Reihe blendender Bilder dar. Es ist jene klare
- Welt, erfüllt von jenen Zügen, die nur den Alten bekannt waren, jene
- Welt, in der die Natur so lebendig zu uns spricht und sich so hell
- wiederspiegelt, wie in der silbernen Flut eines Flusses, aus dem
- plötzlich ein blendendweißer Nacken, schneeweiße Hände und ein
- Alabasterhals, umschattet von nachtschwarzen Locken -- oder kristallene
- Trauben, Myrten und schattige Haine leuchtend emportauchen, als wären
- sie für das Leben geschaffen. Hier ist alles beisammen: Genuß, Einfalt
- und ein plötzlicher Höhenflug des Gedankens, der die begeisterte Seele
- des Lesers plötzlich mit heiligem Schaudern umfängt.
- Das sind keine Kaskaden einer Rhetorik, die nur durch Wortreichtum
- gefällt und in denen ein jeder Satz nur deshalb so wuchtig wirkt, weil
- er sich mit andern verbindet und durch das Getön der ganzen Masse
- betäubt, aber einzeln betrachtet, schwach und inhaltsleer erscheint.
- Hier fehlt jede Beredsamkeit, hier gibt es nur Poesie. Es fehlt jeder
- äußere Glanz, alles ist einfach, anständig, von nur innerer Klarheit
- erfüllt, die sich jedoch nicht sofort offenbart. Hier ist alles
- lakonisch, wie die wahre Poesie es immer ist. Es sind immer nur wenige
- Worte, aber sie sind so treffend, daß sie alles sagen. In jedem Worte
- liegt ein ganzer unendlicher Abgrund beschlossen, jedes Wort ist so
- unerschöpflich wie der Dichter selbst. So kommt es, daß man diese
- kleinen Werke immer wieder liest, während dieser hohe Vorzug einem Werke
- fehlt, in dem der Grundgedanke allzu klar hervorleuchtet. Es war mir
- immer merkwürdig, Urteile von Männern, die den Ruf von Kunstkennern und
- Literaten hatten, über diese Werke zu hören; hatte ich ehemals doch viel
- auf sie gegeben, ehe ich ihre Ansichten über diesen Gegenstand kennen
- gelernt hatte. Man kann diese kleinen Werke einen Prüfstein nennen, an
- dem man den Geschmack und das ästhetische Gefühl des Kritikers messen
- kann. Aber seltsam! Man sollte meinen, diese Gedichte müßten jedem
- verständlich sein! Sie sind so schlicht und zugleich erhaben, so glühend
- und leuchtend, so sinnlich und zugleich doch wieder so kindlich rein.
- Wie könnte man sie nicht verstehen? Aber ach, es ist eine
- unerschütterliche Wahrheit: je mehr ein Poet ein wahrer Dichter ist, je
- mehr er nur die Gefühle darstellt, die nur ein Dichter kennt und
- empfindet, um so handgreiflich kleiner wird der Kreis der ihn umgebenden
- Menge, ja er wird schließlich so eng, daß man zuletzt die Zahl seiner
- wahren Bewunderer an den Fingern abzählen kann.
- 1832.
- VII
- Über die Architektur unserer Zeit
- Ich werde immer traurig, wenn ich die neuen Bauten sehe, die
- unaufhörlich vor unseren Augen entstehen, für die Millionen
- verschleudert werden und von denen nur die allerwenigsten den erstaunten
- Blick durch Größe des Entwurfs, Eigenart und Kühnheit der Phantasie,
- oder auch nur durch die Pracht und die blendende Buntheit der Ornamente
- fesseln. Und unwillkürlich drängt sich einem der Gedanke auf: sollte die
- große Epoche der Architektur wirklich endgültig dahin sein? sollten
- wirklich Genialität und Größe nie wieder bei uns einkehren? oder sind
- das Vorzüge, die nur jungen von Energie und Enthusiasmus erfüllten
- Völkern eigen sind, die noch nichts wissen von der langweiligen und
- leidenschaftslosen Bildung? Warum erheben sich aber dann jene Völker,
- auf die wir in unserer Selbstzufriedenheit so geringschätzig herabsehen
- und denen wir kaum einen Platz in der Weltgeschichte einräumen wollen,
- durch die Schöpfungen ihres finsteren und durch keinen Funken von Wissen
- erleuchteten Verstandes so hoch über uns? Warum sind denn dann die
- kolossalen Statuen der Inder so ungeheuer und grandios, warum sind die
- Baudenkmäler der Araber so herrlich und prächtig? Und wie konnten in
- Europa während des Mittelalters so viele Bauten von so wunderbarer Größe
- entstehen? Wie ungern unterwirft man sich der Überzeugungskraft dieser
- Überlegung, aber alles spricht dafür, daß sie wahr ist. Sie sind vorüber
- -- diese Jahrhunderte, als noch der Glaube, der heiße inbrünstige Glaube
- alle Gedanken, alle Geister und alles Tun und Trachten auf _ein_ Ziel
- hinlenkte, als noch der Künstler beständig danach strebte, seine
- Schöpfungen dem himmlischen Ideal immer mehr anzunähern; zu ihm allein
- trieb es ihn und schon wenn er seiner ansichtig wurde, erhob er fromm
- die zum Gebet gefalteten Hände. Seine Gebäude strebten zum Himmel empor,
- die schmalen Fenster, die Säulen und Pfeiler und die hohen Gewölbe
- streckten sich in die Höhe, durchbrochen und durchsichtig wie ein
- Spitzengewebe, schwebte gleich einer Rauchsäule der spitze Turm darüber,
- und der majestätische Dom erschien gegenüber den Wohnhäusern der
- Menschen so gewaltig und erhaben, wie das Streben unserer Seele
- gegenüber den Trieben unseres Leibes.
- Es gab einst eine wunderbare christlich-europäisch-nationale Architektur
- -- wir aber haben sie verlassen, aufgegeben und vergessen wie etwas
- Fremdes und sie geringschätzig behandelt wie etwas Plumpes und
- Barbarisches. Ist es da ein Wunder, daß sich Europa schon nach drei
- Jahrhunderten eifrig auf alles mögliche stürzte, gierig alles Fremde
- annahm, die herrliche antike römische und byzantinische Bauart
- bewunderte und sie in seiner Weise verunstaltete; Europa wußte nicht,
- daß es mitten in seinem Herzen Wunderdinge gab, mit denen verglichen
- alles, was es bisher gesehen hatte, gering erscheint, es wußte nicht,
- daß es einen Mailänder und Kölner Dom in sich beherbergte, und daß noch
- heute die Steine des unvollendeten Turms vom Straßburger Münster
- verwittern.
- Die gotische Architektur, jener gotische Stil, der sich am Ende des
- Mittelalters herausbildete, ist eine Schöpfung, wie sie der Geschmack
- des Menschen und seine Phantasie noch niemals hervorgebracht hat. Mit
- Unrecht will man sie von dem arabischen herleiten. Die Grundzüge dieser
- beiden Stile gehen weit auseinander; von der arabischen Architektur
- entnahm die gotische nur die Kunst, der schweren Masse eines Baus eine
- gewisse Leichtigkeit zu verleihen und sie mit wunderbaren Ornamenten zu
- schmücken, aber selbst der reiche Schmuck nahm bei ihr ganz andere
- Formen an. -- Sie ist erhaben und umfassend wie das Christentum! Hier
- finden wir alles vereinigt: einen Wald von schlanken, hoch über unsere
- Häupter hinaufstrebenden Pfeilern, gewaltige, schmale Fenster in den
- verschiedenartigsten Variationen und mannigfachen Rahmen und dazu diese
- ungeheure, kolossale Masse, die durch eine bunte Menge kleiner Ornamente
- belebt wird; diese leichten Spinngewebe des Schnitzwerks, das das Ganze
- in sein Netz einhüllt, es von der Basis bis zur Turmspitze umspinnt und
- mit ihm gen Himmel zu fliegen scheint: Majestät und Schönheit, Pracht
- und Schlichtheit, Schwere und Leichtigkeit -- das sind Vorzüge, die nur
- die Architektur der damaligen Zeit zu vereinigen verstanden hat. Wenn
- man ins heilige Dunkel eines solchen Domes eintritt, wo das Licht
- phantastisch durch bunt gemalte Scheiben bricht, und seine Augen dorthin
- emporhebt, wo die mächtigen Pfeiler sich begegnen, kreuzen und
- schließlich ganz zu verlieren scheinen, daß man ihr Ende nicht absieht,
- dann ist es nur natürlich, daß man in seiner Seele unwillkürlich etwas
- von dem Schauer der Gegenwart des Heiligen verspürt, an das selbst der
- kühne Verstand nicht zu rühren wagt.
- Doch -- sie ist verschwunden, diese herrliche Architektur! Als der
- Enthusiasmus des Mittelalters erloschen war, als die Gedanken der
- Menschen sich immer mehr zersplitterten und sich auf eine Menge anderer
- Ziele richteten, als die Einheit und Ganzheit des einen Zieles
- verschwand, da verschwand zugleich mit ihnen auch Größe und Erhabenheit.
- Die Kräfte zersplitterten sich und wurden immer schwächer. Man begann
- plötzlich auf allen Gebieten eine Menge der wunderbarsten Dinge zu
- produzieren, aber etwas wahrhaft Großes, etwas Gigantisches gab es nicht
- mehr. Eine Anzahl von Bewohnern des byzantinischen Reiches waren aus
- ihrer, von den Muselmännern besetzten, lasterhaften Hauptstadt entflohen
- und verdarben nun den Geschmack der Europäer und ihre kolossale
- Architektur. Die Byzantiner hatten damals schon längst ihren klassischen
- alten attischen Geschmack verloren, ja, sie hatten sich nicht einmal den
- alten byzantinischen erhalten und brachten nur noch elende Reste ihres
- degenerierten Stiles nach Europa mit. Sie versuchten es, die runden,
- heidnischen, zauberischen, wollüstigen Formen ihrer Kuppeln und Säulen
- dem Christentum anzupassen, aber sie machten das ebenso ungeschickt, wie
- sie das Christentum ihrem heidnischen, altersschwachen und jeder
- Spannkraft entbehrenden Leben angepaßt hatten. Die Kuppel streckte sich
- empor und nahm eine fast eckige Gestalt an. Die schlanken Linien der
- Giebel erschienen merkwürdig gebrochen und führten zu nichtssagenden
- Formen. Die in dieser Weise verunstaltete byzantische Architektur
- gelangte nach Europa, wo sie ihrerseits noch weiter verändert wurde,
- weil die Europäer noch die ursprüngliche gotische Idee und Vorstellung
- in ihrer Seele trugen, die der schwächlichen Vielseitigkeit der Griechen
- so sehr widersprach. Damals entstanden jene massiven Paläste mit ihren
- sinnlosen Säulen und Halbsäulen; das alles war zaghaft und kleinlich,
- das war keine Pracht, sondern nur eine mißgestalte Schlichtheit. Eine
- Menge mythologischer Köpfe und sinnloser Verzierungen, die an der
- schweren Masse klebten, verliehen ihr darum doch keine Leichtigkeit,
- milderten keineswegs ihre schroffen Linien durch einen Zusatz von
- Zartheit und drückten keinen Gedanken aus. Das Streben nach oben, das
- den schwersten Massen Leichtigkeit und Erhabenheit verliehen hatte, war
- verschwunden. Statt dessen wuchsen sie jetzt in die Breite.
- Aber die Kirchen, die im XVII. und im Anfang des XVIII. Jahrhunderts
- gebaut wurden, lassen die Idee ihrer Bestimmung noch weniger erkennen.
- Bei ihrem Anblick hat man, wie es scheint, dasselbe Gefühl, wie wenn ein
- roher Mensch sich die Allüren eines feinen Weltmannes zu geben sucht. In
- ihnen vereinigte sich die gerade Linie in geschmackloser Weise mit der
- geschwungenen und krummen. Trotz der halbgotischen Form ihrer ganzen
- Masse haben sie den gotischen Charakter ganz eingebüßt. Die Fenster sind
- klein und stehen dicht gedrängt nebeneinander oder sie sind ohne jede
- Harmonie auf eine große Fläche verteilt. Die Pilaster ziehen sich nicht
- mehr durch die ganze Länge des Baues hin, sondern sind entweder oben
- unter der Kuppel oder aber in der Mitte der Mauer angeklebt, sie sind
- kurz, plump und tragen häufig noch ein zweites Stockwerk ebensolcher
- kleiner und häßlicher Säulenreihen. Die Linie des Daches ist gleichfalls
- gebrochen; dabei hält man häufig noch an dem gotischen Turm fest, aber
- es ist nicht mehr der leichte, durchbrochene, durchsichtige Turm, der
- unter der Hand der mittelalterlichen Künstler eine so ästhetische
- Gestalt annahm. Jetzt ist er massiv, schwerfällig und strebt auch gar
- nicht mehr zum Himmel empor. Alles, was an das längliche, aufstrebende
- gotische Detail erinnerte, wurde nunmehr als geschmacklos verworfen.
- Obgleich der Geschmack im Laufe des XVIII. Jahrhunderts etwas besser
- wurde, haben wir darum noch nichts gewonnen; denn diese Besserung
- vollzog sich innerhalb der Fesseln fremder Formen. Die gotische Schwere
- wurde mit Recht verpönt, in ihrer Mischung mit der griechischen Form war
- sie häßlich bis zur Unmöglichkeit. Jetzt begann man mit noch größerem
- Eifer die Antike zu studieren. Aber man tat es, wie es ängstliche
- Schüler tun, die die kleinsten Einzelheiten des Originals mit peinlicher
- Sorgfalt kopieren und darüber die Idee des Ganzen vergessen. Man nahm
- einzelne Teile heraus und klebte sie an die ungeheure Masse und überlud
- diese mit ihnen, die dadurch einen bis dahin geradezu unerhörten Mangel
- an Einheitlichkeit und Harmonie aufzuweisen begann. Die Säulen und
- Kuppeln, die uns ehedem am meisten entzückt hatten, wurden bei jedem
- Gebäude ganz ziel- und zwecklos und an jeder nur möglichen Stelle
- angebracht. Sie bildeten nicht mehr den Grundgedanken des Bauwerks,
- sondern nur noch seine Teile oder -- besser gesagt -- seinen Schmuck.
- Wir vergrößerten die Dimensionen des Gebäudes immer mehr, während wir
- die Kuppel im Verhältnis zum Ganzen immer kleiner werden ließen. Wir
- betrachteten das Gebäude, das wir zum Modell gewählt hatten, nicht aus
- einer gewissen Entfernung und durch das Vergrößerungsglas, sondern wir
- sahen es aus der Nähe, und die Kuppel wurde ganz klein und verschwand
- vor dem Ganzen. Und da wir nun dieses einsame Thronen hoch über dem
- Gebäude als leer empfanden, so fügten wir schnell noch ein paar weitere
- hinzu, setzten dem Gebäude noch einige Türme auf, die über sie
- hinausragten, und die Kuppeln bekamen eine gewisse Ähnlichkeit mit
- Pilzen. Die Kuppel, dieses schönste und herrlichste Produkt des
- Geschmacks, wenn sie anmutig und leicht geschwungen das ganze Gebäude
- beherrscht und strahlend mit ihrer wolkigen Oberfläche auf der ganzen
- weißen Masse ruht, verschwand vollständig. Ich liebe die Kuppel, jene
- wundervolle, gewaltige, schwach gewölbte Kuppel, die der reiche
- Geschmack der Griechen im alexandrinischen Zeitalter und nach ihm im
- Jahrhundert der Genußsucht und des Egoismus wieder erstehen ließ. Dieses
- Jahrhundert einer raffinierten Lebenszerstückelung, das Jahrhundert der
- leichten, duftigen Wollust, der Trägheit und Üppigkeit atmenden
- Anthologie, wo ein jeder nur sich selbst angehörte, für sich selbst und
- nicht für die Gesellschaft lebte, und wo über den herrlichen, prächtigen
- öffentlichen Bädern sich überall diese Kuppel erhob, kühn geschwungen
- wie das Himmelsgewölbe. Nichts kann die Masse der Häuser so selig und so
- wundervoll krönen, wie eine solche Kuppel; aber sie darf nur über einem
- Gebäude ruhn, das sich unermeßlich in die Breite dehnt und einen
- möglichst großen Flächenraum umspannt. Sie muß auf seinem ganzen großen
- Grundriß ruhn, sie muß heller als das Gebäude selbst und womöglich ganz
- weiß sein. Dieses blendende Weiß verleiht ihrer leicht geschwungenen
- Form einen unbegreiflichen Zauber und eine herrliche Fülle, und sie
- rundet sich dann noch wunderbarer und luftiger im Himmelsblau. Noch
- heute haben die Städte von Syrien und Äthiopien einen ganz
- ungewöhnlichen Reiz, weil sich in ihnen noch einzelne Kuppeln dieser Art
- erhalten haben. Und auch gegenwärtig noch kann man im Orient eine ganze
- Menge von großartigen Exemplaren finden.
- Der Portikus mit seinen Säulen, dieses leuchtende Erzeugnis des
- harmonischen, attischen Geschmacks, der keinerlei Überbau über sich
- duldete, ist uns gleichfalls verloren gegangen. Man kam nicht auf den
- Gedanken, ihn ins Kolossale zu steigern, ihn über die ganze Breite und
- Höhe des Gebäudes auszudehnen. Man hat ihn nicht in die Breite
- entwickelt und auch nicht vergrößert, sondern man wandte ihn in seiner
- gewöhnlichen Form an. Ist es da ein Wunder, daß Gebäude, die eines
- mächtigen Portikus bedurft hätten, leer erschienen, da nur über den
- Portalen einige auf Säulen ruhende Giebel angebracht wurden. Die in
- Kirchen und Palästen über ihm aufgebauten Massen und Türme, die seinem
- Charakter gar nicht entsprachen, erdrückten und vernichteten ihn
- vollends. So ist auch ein Dichter, der kein großes Genie besitzt, stets
- unzufrieden mit einem einfachen Sujet, und statt es neu zu entwickeln
- und ins Große zu steigern, verkoppelt er es mit einer ganzen Reihe
- anderer. Seine Dichtung wird durch die Buntheit der verschiedenen
- Gegenstände nur belastet, aber es fehlt ihr an einem beherrschenden
- Gedanken, und so bildet sie kein harmonisches Ganzes mehr.
- Zu Beginn des XIX. Jahrhunderts begann sich plötzlich die Idee der
- attischen Schlichtheit zu verbreiten, sie wurde -- wie das immer zu
- geschehen pflegt -- zur Mode und legte ihren Stempel auf alles, selbst
- auf die Kleider der Frauen, die sich in leichte nachlässige
- Hetärengewänder verwandelten. Man hätte meinen können, die Zeit hätte
- sich noch weiter in das Studium der Antike vertiefen und ihren Geist
- noch umfassender ergründen müssen, und doch trug alles, was nach ihrem
- Vorbild erbaut wurde, den Stempel des Kleinlichen und Miniaturhaften.
- Man lernte wohl die Kunst, die Teile miteinander zu verbinden und zu
- harmonisieren, nicht aber _die_, dem Ganzen Größe zu verleihen und ihm
- die Proportion zu geben, die das Staunen und die Bewunderung des
- Beschauers erregen konnte. Diese neue Strömung gab sich fast
- ausschließlich in der Errichtung kleiner Lauben, Gartenpavillons und
- ähnlichen Spielereien aus. Diese Dinge hatten wohl mancherlei Attisches
- an sich, aber man mußte sie durch das Mikroskop betrachten. Bei großen
- öffentlichen Gebäuden dagegen hielt man es nicht für nötig, sich von
- diesem Stil leiten zu lassen; und so wurde dieser schließlich primitiv
- und einfach bis zur Plattheit. Eine überaus schädliche Richtung in der
- Architektur führte zu der Idee der Proportion, aber nicht zu der, die
- ein Gebäude in Beziehung auf sich selbst, sondern nur zu der, die es in
- Beziehung auf die es umgebenden Bauten haben muß. Das ist fast ebenso,
- wie wenn ein Genie sich von allem Originellen und Ungewöhnlichen
- fernhalten wollte, weil die gewöhnlichen Menschen sonst gar zu armselig
- und unbedeutend erscheinen würden. Diese Proportionalität bestand auch
- darin, daß ein Gebäude, so groß seine Dimensionen an sich auch sein
- mochten, unbedingt klein erscheinen mußte. Man isolierte es und suchte
- einen so gewaltigen und breiten Platz für es aus, daß es einen noch weit
- unbedeutenderen Eindruck machen mußte. Es war fast so, als gölte es vor
- allem, den Gedanken einzuprägen, daß das Große gar nicht groß sei, und
- als wollte man die Achtung und die Andacht vor dem Großen gewaltsam in
- der Seele ersticken und den Menschen gegen alles gleichgültig machen.
- Man begann nun, allen städtischen Gebäuden eine ganz platte einfache
- Form zu geben. Die Häuser suchte man einander so ähnlich wie möglich zu
- machen, aber sie glichen mehr Scheunen und Kasernen, als heiteren
- Wohnstätten von Menschen. Ihre ganz glatte Form gewann durchaus nicht an
- Lebhaftigkeit durch die kleinen, regelmäßigen Fenster, die gegenüber dem
- ganzen Gebäude das Aussehen von zusammengekniffenen Augen annahmen. Und
- auf diese Architektur waren wir noch vor kurzem so stolz, hielten sie
- für die höchste Blüte des Geschmacks und erbauten ganze Städte in ihrem
- Stile. Wenn sich heutzutage jemand erkühnte, inmitten dieser glatten
- einförmigen Häusermassen einen Bau zu errichten, der den Stempel eines
- eigenartigen, scharf ausgeprägten Stiles trüge, oder unmittelbar neben
- ein Gebäude im attischen Geschmack ein anderes gotisches zu setzen --
- man würde ihn sicherlich für halb verrückt halten! Und darum haben ja
- auch die neuen Städte gar keine Physiognomie: sie sind alle so
- regelmäßig, so einförmig, so monoton; wenn man eine Straße kennen
- gelernt hat, fühlt man sich schon gelangweilt und verspürt durchaus
- keinen Wunsch, in eine zweite hineinzublicken. Das ist eine lange Reihe
- von Mauern und weiter nichts! Vergebens sucht das Auge nach einem Punkt,
- wo sich eine Mauer von der ununterbrochenen Reihe loslöst, in die Höhe
- schießt und in kühn geschwungener Wölbung nach den Wolken strebt oder in
- einen gewaltigen Turm ausmündet. Eine alte deutsche Stadt mit ihren
- engen Gassen, ihren bunten Häusern und ihren hohen Glockentürmen bietet
- ein Bild dar, das unserer Einbildungskraft weit mehr zu sagen hat;
- selbst die Ansicht einer morgenländischen Stadt mit ihren hohen
- schlanken Minaretts, ihren bunten orientalischen, ganz im Grün der
- Gärten ertrinkenden Kuppeln hat weit mehr Charakter und strömt mehr
- Poesie und Phantasie aus als unsere europäischen Städte mit ihrer
- modernen Architektur.
- Große und kolossale Türme gehören unbedingt zu einer Stadt, ganz
- abgesehen von der großen Bedeutung, die sie für die christlichen Kirchen
- haben -- sie bieten nicht nur einen schönen Anblick dar und dienen ihnen
- nicht nur zum Schmuck, sie sind auch darum so notwendig, weil sie einer
- Stadt ein scharfes charakteristisches Gepräge geben und die Rolle eines
- Leuchtturms spielen, der jedem den Weg weist und ihn davor bewahrt, sich
- zu verirren. Noch notwendiger sind sie für die Hauptstädte, da sie
- günstige Punkte darbieten, von denen aus man die Umgebung beobachten
- kann. Bei uns begnügt man sich gewöhnlich schon mit einer Höhe, die
- gerade ausreicht, das Stadtbild zu überblicken. Und doch wäre es für
- eine große Stadt von hervorragender Bedeutung, einen Überblick über eine
- Fläche von mindestens 150 Werst in allen Richtungen zu haben. Dazu
- würden wahrscheinlich schon ein oder zwei Stockwerke mehr genügen, und
- das Bild würde sich sofort ändern, denn bei der Erhöhung des Standortes
- nimmt die Peripherie des Horizontes in ungeheurer Progression zu. Die
- Hauptstadt gewinnt damit einen großen Vorteil, wenn ihr der Überblick
- über die Provinz gewährleistet wird und wenn sie die Dinge schneller
- vorauszusehen vermag; ein Gebäude, das das gewöhnliche Maß übersteigt,
- nimmt sogleich ein majestätisches Ansehen an. Auch der Architekt hat nur
- Vorteil davon, denn die Größe des Baues spornt seine Begeisterung zu
- höherem Fluge und regt seine Einbildungskraft lebhafter an.
- Diese Richtung in der Architektur schien dagegen ihre Größe wie mit
- Absicht verbergen zu wollen, während sie doch gerade ihre Raumwirkung um
- so stärker hätte betonen sollen. Nein, das Gesetz der Größe ist ein
- anderes: ein Gebäude muß sich fast unmittelbar über dem Haupte des
- Beschauers bis ins Grenzenlose erheben, auf daß sich ein plötzliches
- Staunen seiner bemächtige, und er muß kaum imstande sein, die ganze Höhe
- mit den Augen auszumessen. Daher ist es immer besser, wenn ein Gebäude
- auf einem kleinen Platze steht. In diesen darf eine Straße münden, so
- daß man den Bau von ferne in perspektivischer Verkürzung übersehen kann;
- in der Nähe aber muß er eine überwältigende Größe haben. Es ist auch
- gut, wenn eine Straße an ihm vorbeiführt, wenn an seinem Eingangstor
- Wagen donnernd vorüberrollen, wenn sich Menschen um ihn drängen und
- durch ihre Kleinheit seine Größe noch gewaltiger erscheinen lassen. Gebt
- nur dem Menschen mehr Raum, und er wird höher und stolzer emporblicken
- auf die vor ihm liegenden Gegenstände. Alles wird ihm klein erscheinen.
- Wir sind so seltsam konstruiert; unsere Nerven sind so merkwürdig
- eingerichtet, daß nur das Plötzliche, das uns beim ersten Blick
- Betäubende uns erschüttert. Daher muß die Höhe eines Gebäudes im
- Verhältnis zum Platze, auf dem es steht, wachsen. Wenn es vom äußersten
- Ende des Platzes aus klein erscheint und der Beschauer nicht in Staunen
- und Verwunderung versetzt wird, sondern dazu erst näher herankommen muß,
- dann ist es nichts mit dem Gebäude, und zugleich damit sind die Mühen
- und die Kosten, die es verursacht hat, dahin.
- Aber kehren wir zu der Schlichtheit des Stiles zurück, der unser XIX.
- Jahrhundert beeinflußt hat. Selbst die Griechen fühlten es, daß die
- ewigen geraden Linien und die vollkommene Schlichtheit bei einem Gebäude
- gar zu platt wirken müssen, besonders wenn eine größere Anzahl solcher
- Bauten nebeneinander stehen. Sie fühlten, daß die strenge Regelmäßigkeit
- und Einfachheit unbedingt in der nächsten Umgebung irgendeinen Gegensatz
- herausforderten, um originell zu wirken und aufzufallen. Und daher
- überwölbten sie ihre Häuser mit einem Laubdach. Und in der Tat, das
- blendende Weiß der geraden Wand oder des schlanken Giebels mit seinen
- Säulen hebt sich überaus schön von dem grünen Dunkel des Laubes ab. Denn
- es bildet einen Kontrast zu dem wolkigen Dickicht der Bäume, die ihre
- Zweige fast immer unregelmäßig, aber darum um so schöner darüber
- ausbreiten. Auch wenn ihre Gebäude von anderen Bauten umgeben waren und
- mitten in der Stadt standen, empfanden sie dies Übermaß an Schlichtheit
- und versuchten es daher, ihnen möglichst viel Abwechslung zu geben.
- Zunächst dachten sie an die Natur und an Bäume; aber in der Stadt ist
- der Baum ein teures Objekt, und so verfielen sie darauf, statt der
- glatten dorischen Säulen immer häufiger korinthische mit Kapitälen aus
- krausem Blattwerk zu verwenden; überhaupt kamen alle Völker instinktiv
- darauf, ihre Gebäude mit Blättern oder Weinranken und -trauben oder
- anderen Zieraten, die entfernt an Baumzweige erinnerten, zu schmücken.
- Sie folgten dabei blind und unwillkürlich einer dunkeln Eingehung ihres
- Geschmacks. In der gotischen Architektur spiegelt sich der Eindruck von
- einem dunklen Urwaldgestrüpp, wo seit unvordenklichen Zeiten nie der
- Schlag einer Axt ertönte, am deutlichsten wieder. Diese sich in
- unendlichen Linien verlierenden Ornamente, dieses Netz durchbrochenen
- Schnitzwerks ist nichts anderes als die ferne Erinnerung an den
- Baumstamm mit seinen Ästen, Zweigen und Blättern. Daher stelle man ruhig
- neben einen gotischen Bau eine griechische Architektur in ihrer
- schlichten Anmut. Sie wird zwischen ihnen dastehen wie in einer Umgebung
- von herrlichen, majestätischen Bäumen, und der griechische wie auch der
- gotische Bau werden dadurch noch an Reiz gewinnen. Die höchsten Effekte
- werden durch schroffe Gegensätze erzielt. Die Schönheit wirkt nie
- glänzender und auffälliger als im Kontrast; ein Kontrast wirkt nur dort
- häßlich, wo er das Produkt eines rohen Geschmacks oder richtiger des
- Mangels an jeglichem Geschmack ist; wo er dagegen unter der Herrschaft
- eines feinen und edlen Geschmackes steht, da ist er die Vorbedingung für
- alles andere und da wirkt er in gleichem Maße auf alle Menschen. Die
- einzelnen Teile stehen untereinander in einem harmonischen Verhältnis,
- nach demselben Gesetz, nach dem die hellgelbe Farbe mit der
- dunkelblauen, die weiße mit der hellblauen, die hellrote mit der grünen
- usw. harmonieren.
- Alles hängt vom Geschmack und von der Kunst der Gruppierung ab, nur muß
- man es vermeiden, bei ein und demselben Gebäude verschiedene
- Geschmacksrichtungen und Stile miteinander zu vermischen. Man lasse ein
- jedes für sich ein Ganzes und Ursprüngliches bilden, dann darf der
- Gegensatz zwischen diesen eigenartigen Individuen und ihr Verhältnis
- zueinander schroff und kraftvoll sein. Je mehr Denkmäler der
- verschiedensten Baustile eine Stadt aufzuweisen hat, um so interessanter
- ist sie, um so häufiger wird sie die Aufmerksamkeit des Beschauers auf
- sich lenken und ihn dazu veranlassen, bei jedem Schritt stehenzubleiben
- und zu genießen. Wäre es denn etwa wünschenswert, daß der Spaziergänger
- in einem englischen Garten statt der langen Reihe überraschender Bilder
- immer nur denselben Weg wiederfände oder doch immer solche Alleen, die
- durch ihre Ausblicke so sehr an schon früher Gesehenes erinnern, daß sie
- einem längst bekannt vorkommen.
- Wir bedürfen durchaus einer gewissen Toleranz; denn ohne sie ist in der
- Kunst nichts zu erreichen. Alle Stilarten sind schön, wenn sie in _ihrer
- Art_ schön sind. Jeder Stil, der glatte und massive der Ägypter, der
- kolossale und bunte der Indier, der prächtige maurische Stil, der
- finstere durchgeistigte gotische, der anmutige griechische Stil -- sie
- alle sind schön, wenn sie der Bestimmung des Baues entsprechen. Sie alle
- wirken majestätisch, wenn sie nur richtig verstanden werden.
- Wenn man jedoch von mir verlangte, ich solle einem von diesen
- verschiedenen Baustilen einen entschiedenen Vorzug geben, so würde ich
- immer den gotischen wählen. Er ist rein europäisch, ein reines Erzeugnis
- des europäischen Geistes -- und darum steht er uns auch am besten an.
- Seine wunderbare Erhabenheit und Schönheit übertrifft alle andern, aber
- ich flehe euch an, habt Mitleid mit ihm und verunstaltet und korrumpiert
- ihn nicht. Blickt häufiger hin auf den berühmten Kölner Dom, -- da habt
- ihr ihn in seiner ganzen Vollkommenheit und Majestät. Weder die Antike
- noch die Moderne haben je ein herrlicheres Denkmal erschaffen. Ich ziehe
- die gotische Architektur auch noch darum vor, weil sie den Künstlern
- mehr Spielraum gewährt. Die Phantasie strebt lebendiger und feuriger in
- die Höhe als in die Breite; daher darf man den gotischen Stil auch nur
- bei Kirchen und solchen Bauten anwenden, die sich hoch zum Himmel
- emporrecken. Die Linien und die der Gesimse entbehrenden gotischen
- Pilaster müssen eng gedrängt das ganze Gebäude durchziehen. Keinesfalls
- dürfen sie zu weit voneinander abstehen, und niemals darf die Länge des
- Gebäudes seine Breite nicht mindestens um zwei- oder sogar dreimal
- überragen. Denn dann vernichtet es sich selbst. Richtet es auf, wie es
- dies verlangt, höher, immer höher, laßt seine Mauern emporstreben und
- dicht, wie von Pfeilen, Pappeln oder Föhren, von unzähligen Eckpfeilern
- umgeben sein. Nirgends darf es Horizontale und Ruhepunkte geben,
- nirgends Gesimse, die dem Ganzen eine andere Richtung verleihen und die
- Dimension des Gebäudes verringern. Alle Linien müssen vom Fundament bis
- zur Spitze ihre Richtung bewahren. Größere Fenster, von mannigfaltigster
- Form und kolossalen Verhältnissen! Eine leichte ätherische Spitze, und
- je mehr sich der Bau in die Höhe schwingt, um so durchsichtiger,
- schwebender muß er werden. Vor allem aber vergesse man die Hauptsache
- nicht: es darf kein Verhältnis zwischen der Höhe und der Breite
- bestehen. Das Wort »Breite« muß völlig verschwinden. Hier gibt es nur
- eine gesetzgebende Idee: die Höhe.
- Ich bin überzeugt, daß mancher einwenden wird, die Errichtung eines gar
- zu hohen Baues sei nutzlos: was wir brauchen, ist mehr Raum, die Höhe
- habe keinen Wert für uns und sei ein unproduktiver Aufwand von Material.
- Aber ich rate ja auch gar nicht dazu, diesen gotischen Stil bei
- Theatern, Börsen oder Vereinshäusern, wie überhaupt bei Bauten
- anzuwenden, die die Bestimmung haben, Sammelplätze für das Amüsement,
- für Händler und Arbeiter zu sein. Jeder wird mit mir einverstanden sein,
- daß es keinen erhabeneren, großartigeren und passenderen Stil für ein
- Wohnhaus des Christengottes gibt, als den gotischen. Wem aber würden wir
- dann entsagen? was aufgeben? Alles Erhabene, alles Gewaltige, bei dessen
- Anblick alle Gedanken sich auf ein Ziel richten und den Betenden von
- seiner niederen Hütte abziehen. Hier ist es vielleicht am Platze, sich
- der alten großen Wahrheit zu erinnern, daß das Volk nicht imstande ist,
- die Religion in derselben Reinheit und Körperlosigkeit zu erfassen, wie
- ein Mensch von höherer Bildung, daß auf den gemeinen Mann die sichtbaren
- Gegenstände den stärksten Eindruck machen und daß, je geringer diese
- Wirkung auf ihn, desto schwächer auch seine Begeisterung und sein
- einfältiger Glaube ist. Die Pracht versetzt den schlichten Mann in eine
- Art von Betäubung, und sie ist die einzige Feder, die den Wilden bewegt.
- Das Ungewöhnliche macht einen Eindruck auf jeden Menschen, aber nur
- dann, wenn es von schroffer Kühnheit ist und einem in die Augen sticht.
- Hier ist keine Sparsamkeit und kein Geiz am Platze, vielmehr würde die
- Sparsamkeit an dieser Stelle in ihr Gegenteil umschlagen, und der
- Vorteil, der sich aus ihr ergäbe, käme dem eines einzelnen Menschen
- gegenüber dem der ganzen Menschheit gleich.
- Walter Scott war der erste, der den Staub von dem gotischen Stil
- entfernte und die Welt auf seine Vorzüge hinwies. Von da ab begann er
- sich rapide zu verbreiten. In England wurden alle neuen Kirchen im
- gotischen Stile gebaut. Sie sind sehr hübsch, sehr gefällig für das
- Auge, aber ach! es fehlt die wahre Größe, die uns in den großen
- Baudenkmälern der Vorzeit entgegentritt. Trotz der Spitzbögen über den
- Fenstern und trotz der Türme ist der wahrhaft gotische Charakter in
- ihnen nicht überall gewahrt, und oft entfernen sie sich zu weit von
- ihren Vorbildern. Einmal sind sie an und für sich schon nicht kolossal
- genug (ein großer Mangel bei einem gotischen Gebäude!) und ferner fehlt
- jener Wald vierkantiger, schlanker Pfeiler und Linien, die sich
- einträchtig durch den ganzen Bau hindurchziehen, oder er ist mit
- Bewußtsein beiseite gelassen worden, und die daher rührende Glätte
- verleiht ihnen unwillkürlich einen anderen Charakter.
- Durch die machtvolle Sprache Walter Scotts begann der gotische Stil sich
- schnell überall zu verbreiten und überall einzudringen. Noch ehe er Zeit
- hatte, sich zu wahrer Größe zu erheben, wurde er kleinlich und
- spielerisch. Landhäuser, Schränke, Paravents, Tische, Stühle -- alles
- wurde gotisch. Und die mächtigen und herrlichen Ornamente wurden zu
- allerhand Spielereien verwandt. Unser Jahrhundert ist so klein, unsere
- Wünsche und Neigungen sind so zersplittert, unsere Kenntnisse sind so
- enzyklopädisch, daß wir unsere Gedanken gar nicht auf einen einzigen
- Gegenstand zu konzentrieren vermögen. Und daher zerstückeln wir alles,
- was wir hervorbringen, indem wir lauter Nichtigkeiten und Nippes
- erzeugen. Wir besitzen die wunderbare Gabe, alles ins Kleinliche und
- Gewöhnliche herabzuziehen. Die ägyptische Architektur, deren ganze
- Wirkung auf ihren ungeheuren Dimensionen beruht, verwenden wir beim Bau
- von kleinen Brücken und Torbögen, deren Spitze ein vorüberfahrender
- Droschkenkutscher mit der Hand erreichen kann. Den gotischen Stil
- verwenden wir bei der Anfertigung von Ohrgehängen und Uhrgehäusen und
- den griechischen bei der Anlage von Gartenlauben. Dagegen bedienen wir
- uns bei großen öffentlichen Gebäuden einer Architektur, der man kaum
- einen eigenen Stil zuschreiben kann. Sie ist so sinnlos, stellt eine
- derartige unharmonische Verbindung von Teilen dar und verrät einen
- solchen Mangel an Phantasie, daß man sie unmöglich als einen
- eigenartigen charaktervollen Stil anerkennen kann.
- Es gibt eine Goldader, von der man jedoch kaum weiß, daß sie existiert.
- Es gibt eine ganz eigene, besondere Welt, aus der Europa noch so gut wie
- gar nicht geschöpft hat. Das ist die orientalische Architektur, dieses
- Erzeugnis der reinen Phantasie, einer wunderbaren, glühenden
- orientalischen Einbildungskraft, die sich in Hyperbeln und Allegorien
- hüllt und das Leben und seine prosaischen Nöte flieht. Das Leben der
- Asiaten konnte sich nie so vielseitig entwickeln, wie das der Europäer,
- ihre Bedürfnisse waren nie so mannigfaltig und zahlreich wie die
- unsrigen, und daher ist es nur natürlich, daß ihre einfachen Wohnhäuser
- der Buntheit, Klarheit und Anmut entbehren. Sie stehen isoliert da,
- haben etwas Monotones und wirken ebenso langweilig durch den Mangel an
- jeglicher Idee, wie der Asiate selbst, während er ruht. Aber überall, wo
- die asiatische Prachtliebe, dieser herrliche, mächtige Prunk, der in
- ihren Märchen aufleuchtet, hingedrungen ist, überall, wo diese
- perlengeschmückte Tochter der orientalischen Phantasie hingelangte, da
- stehen auch heute noch wundersame, prächtige Paläste. Ihr Bau währte
- ganze Jahrhunderte. Ein ganzes Volk, eine ganze Nation arbeitete an
- ihrer Aufrichtung, und die Vorfahren glaubten an eine Vollendung durch
- die kommenden Generationen, wie an eine unausbleibliche
- Vorherbestimmung. Überall, wo diese allmächtige massive Prachtliebe oder
- der wilde Enthusiasmus ihrer ursprünglichen Religion Boden gewann, da
- türmten sich, durch ihre Riesendimensionen furchterzeugende Denkmäler
- auf, vor denen der Gedanke staunend verstummt, wenn man bedenkt, wie
- unbedeutend ihre Mittel und ihr Wissen und wie armselig ihre Maschinen
- waren, die sie zum Heben und Befestigen dieser schrecklichen Massen
- benutzten. Aber eine noch größere Bewunderung ergreift uns, wenn wir
- sehen, wie der halbwilde und noch ganz unkultivierte Mensch sich bei der
- Errichtung dieser gigantischen Bauten plötzlich entwickelt, von der Idee
- der Gottheit durchdrungen und begeistert wird, so daß er unwillkürlich
- seinen Geist aufleuchten läßt und der allmählichen jahrhundertlangen
- Bildungsarbeit vorauseilt.
- Man werfe einen Blick auf diesen massiven, majestätischen Tempel von
- Tritschingur (Trichinopoli) der Indier, der seiner Größe nach wohl eins
- der bedeutendsten Gebäude darstellt. Diese pyramidenförmige Verjüngung
- der Masse nach oben, dieses allmähliche Kleinerwerden der Stockwerke,
- diese Unzahl indischer Säulengänge, die die Mauern umkleiden, diese
- übereinander getürmten Pilaster und Säulen, die den Eindruck machen, als
- klömmen sie aneinander hinauf, nur um so schnell wie möglich den Gipfel
- des ganzen Massivs zu erreichen -- das alles ist das Erzeugnis eines
- ganz eigenartigen Geschmacks. Aber wenn der Tempel von Tritschingur
- (Trichinopoli) allzu schwerfällig ist und einen allzu heidnischen
- Charakter hat, so sehe man sich den wunderbaren Kutub-Minar an, dessen
- sich Dehli mit Recht rühmt. Ich kenne in der ganzen Welt keinen zweiten
- Turm, der bei einer fast attischen Schlichtheit so viel tiefe Schönheit
- ausströmte und in dem die Phantasie sich so rein und erhaben
- verkörperte. Wenn wir uns diesen Stil auch nicht vollkommen aneignen
- können, so könnten die Europäer doch mit Nutzen dieses pyramidale,
- kegelförmige Streben nach oben, diese charakteristische Eigentümlichkeit
- des indischen Stils bei ihren Bauten in Anwendung bringen.
- Der orientalische Stil der Paläste ist ganz entgegengesetzter Art. Hier
- herrscht die asiatische Pracht vor. Das Gebäude dehnt sich stark in die
- Breite aus. Die gewaltige orientalische Kuppel ist entweder ganz rund
- oder sie wölbt sich wie eine wollüstige umgestülpte Vase; sie hat die
- Form einer Kugel oder sie beherrscht, reich beladen mit Schmuck und mit
- Schnitzwerk versehen, wie eine prunkvolle Mitra patriarchalisch das
- ganze Gebäude. Unten am Fuße friedigt ein ganzes Gehege von kleinen
- Kuppeln wie ein Reigen demütiger Sklaven die mächtigen Mauern ein. Auf
- allen Seiten erheben sich schmale Minarets, die durch ihre leichte,
- heitere Haltung einen wunderbaren Kontrast zu der gewichtigen
- majestätischen Form des ganzen Gebäudes bilden. So ruht der Mohammedaner
- in seinem weiten gold- und edelsteingeschmückten Gewande inmitten
- schlanker nackter Huris mit ihren blendend weißen Leibern.
- Nirgends hat die Baukunst so verschiedene Formen angenommen wie im
- Orient. Man kann wohl sagen, daß hier jedes Gebäude ohne Rücksicht auf
- schon vorhandene Stilformen seine eigene Architektur ausbildete, oder
- richtiger, es entsprang aus ganz neuen Voraussetzungen, aus der Ahnung
- eines eigenen Stilgefühls, das mit den früheren nur eine entfernte
- Ähnlichkeit hatte und stets auf religiösen und nationalen Prinzipien
- beruhte. Ganz Indien ist mit herrlichen Bauten übersät; jeder Bau hat
- eine scharf ausgeprägte Eigenart, er trägt in so hohem Grade den Stempel
- seines eigenen Wesens, daß man ihn nie in einer gemeinsamen Kategorie
- mit den anderen unterbringen kann. Diese Unzahl mannigfaltigster
- Kuppelformen, die einander nie gleichen, diese Ornamente und Zieraten,
- die immer neu und immer voneinander verschieden sind -- alles spricht
- von einer wunderbaren Phantasie, die sich niemals durch irgendwelche
- Regeln in Fessel schlagen ließ. Übrigens lag der Grund dieser
- Mannigfaltigkeit vielleicht in den zahllosen Sekten, die Indien
- erfüllten und eine ewige Opposition, eine beständige Reizsamkeit der
- Einbildungskraft zur Folge hatten. Aber von noch herrlicherer Pracht
- erfüllt, wie sie nur die orientalische Natur ausströmt, sind die
- Gebäude, die durch den arabischen Stil beeinflußt wurden. In Asien fand
- während jener verheerenden Zusammenstöße alter und neuer Völker,
- besonders aber derer, die den Islam bekannten, eine außerordentlich
- starke Vermischung der Stilarten statt, die besonders kühne Abweichungen
- zur Folge hatte. Aber niemals und nirgends hat sich die Kühnheit mit
- einer so wundersamen Pracht verbunden wie bei den Arabern; sie entnahmen
- der Natur alles, was sie an edelster Schönheit in sich birgt. Ihre
- Architektur hat nichts von dem Charakter undurchdringlicher Wälder; sie
- besteht ganz aus Blumen; sie ist mit Blumen geschmückt, sie ertrinkt in
- einem Meer von herrlichen üppigen Blüten, wie sie das zarte anmutige Tal
- Kaschmirs übersäen. Ihre geschnitzten Säulen sind mit Tulpen umwunden,
- ihr Schnitzwerk stellt Vergißmeinnicht, vierblätterige Blüten oder sich
- entfaltende Rosen dar. Ihre Galerien gleichen Palmenhainen, deren Wipfel
- sich zu Hallen wölben; alles verrät ihre außerordentliche Prachtliebe
- und ihren blühenden Geschmack. Diese Architektur scheint wie geschaffen
- für ein Leben, das dem Genuß geweiht ist, und für heitere, helle
- Wohnstätten der Menschen. Alles Finstere und Düstere ist hier restlos
- ausgestoßen. Jeder Baum ist so wunderbar und von einem zauberischen Reiz
- wie eine orientalische Schöne mit ihren schwarzen Augen, die wie Blitze
- funkeln, mit ihrem bunten Gewande, und ihrem kostbaren Halsgeschmeide.
- Die orientalische Architektur weist etwas auf, was die Europäer noch
- niemals angewendet haben; das sind ihre Säulen, die nicht glatt, sondern
- vom Sockel bis zum Kapitäl mit bunten Zieraten versehen sind. Mitunter
- sind diese Säulen ganz durchbrochen und filigranartig: das Schnitzwerk
- durchdringt sie vollständig. Es ist dies die wundersamste Erfindung des
- orientalischen Geschmacks. Ein solcher Bau mag noch so massiv sein, die
- Säulen lassen ihn trotzdem beinah ätherisch erscheinen. Man könnte sich
- fragen, warum sollen wir diesen Stil nicht auch auf unsern Boden
- verpflanzen? Aber der Geist und der Geschmack des Menschen ist ein
- seltsames Ding: ehe er die Wahrheit erreicht, macht er so viele Umwege,
- begeht er so viel Torheiten, Verkehrtheiten und Sinnlosigkeiten, daß er
- sich nachher selbst über seinen Unverstand wundert. Europa hat sich um
- all diese Baudenkmäler nicht einmal gekümmert. Nur der Stil der
- Chinesen, den man wohl als den allerarmseligsten und kleinlichsten unter
- den Stilgattungen der orientalischen Völker bezeichnen kann, wurde gegen
- Ende des XVIII. Jahrhunderts durch einen seltsamen Zufall zu uns
- herübergetragen. Es war noch gut, daß die Europäer ihn nach ihrer
- Gewohnheit sogleich beim Bau von kleinen Brücken, bei Pavillons, Vasen
- und Kaminen nachahmten, und daß es ihnen nicht in den Sinn kam, ihn bei
- großen Bauten anzuwenden. In der Tat hatte dieser Stil manche Vorzüge
- bei kleinen Nippessachen, weil die Europäer ihn sofort in ihrem Geiste
- vervollkommneten und ihm eine Anmut verliehen, die er an und für sich
- gar nicht besitzt. Fehlt es doch auch dem Volk, das ihn hervorbrachte,
- trotz seiner hohen Bildung, völlig an Energie.
- Es gibt noch eine Stilart, die sich grundsätzlich von allen bisher
- erwähnten unterscheidet; es ist dies die Architektur der indischen und
- ägyptischen Katakomben, bei denen diese zwei Völker in so wundersamer
- Weise zusammentrafen und so Anlaß dazu gaben, eine ursprüngliche
- Verwandtschaft zwischen beiden anzunehmen. Ihr Hauptmerkmal ist ihre
- Schwere; hier vereinigt sich alles zu einer plumpen Masse, zu einem
- Klumpen. Das Gebäude ruht gewichtig, wie auf Elefantenfüßen, auf kurzen
- schweren Säulen, deren Dicke fast ebenso bedeutend ist, wie ihre Höhe.
- Hier kommt die Breite und die Masse zur absoluten Herrschaft. Es ist,
- als ob das ganze Gewicht der Erde in ihr zur Darstellung käme, der Erde
- in deren Innerem sich ihre plumpe Majestät versteckt. Das, was bei
- andern Stilarten ein Fehler ist, wird hier zu einem Vorzug. Diese
- unterirdische Architektur hat auch etwas Erhabenes, obwohl sie ganz
- andere Gedanken anregt. Hier wirkt das Gewicht nicht häßlich, sondern
- großartig, weil es die Grundidee des ganzen Gebäudes darstellt. Wenn
- sich ein Künstler die Aufgabe stellt, etwas Massives und Schweres zu
- schaffen, und wenn es ihm gelingt, so ist sein Werk sicherlich gut. Aber
- wenn er die Absicht hatte, etwas Schwerfälliges hervorzubringen, und
- etwas produziert, was gar nicht schwerfällig wirkt, oder umgekehrt, wenn
- er etwas Leichtes hervorbringen will, und statt dessen etwas erzeugt,
- was schwerfällig wirkt, so ist das auf jeden Fall vom Übel. Nachdem man
- die Erde von diesen unterirdischen Bauten entfernt hatte, und diese nun
- im Lichte der Sonne dastanden, boten sie immer einen seltsamen und
- zugleich furchterregenden Anblick dar. Es schien fast, als ließe die
- Erde plötzlich ihr tiefstes Innere sehn, und als läge die Finsternis
- plötzlich von grellem Lichte beleuchtet da -- diese Finsternis, die nur
- vom Lichte erhellt, nicht aber von ihm vertrieben wird, wie eine
- ägyptische Urne oder der Kopf eines Toten auf einer festlich
- geschmückten Tafel. Mir scheint, man tat unrecht, diese Architektur
- unter die Erde zu verbannen: wenn wir sie plötzlich inmitten heiterer,
- leichtgebauter Häuser erblicken, kann sie ihren Eindruck auf uns nicht
- verfehlen, ja, sie wird sicherlich einen starken Effekt hervorbringen.
- Ein einziges solches Gebäude inmitten einer stark bevölkerten Stadt
- würde sicherlich wundervoll wirken, aber nur eins und nicht mehr. Bei
- Bauten dieser Art bestehen die Teile aus schweren Massen, aber bei
- alledem sind ihre Verhältnisse von einer inneren, wenn auch beinahe
- schrecklichen Harmonie erfüllt. Und etwas Vollendetes in diesem Stile zu
- leisten, ist sicherlich nicht ganz leicht.
- Die sich über dem Erdboden erhebenden Bauten der Ägypter weisen einen
- ganz anderen Charakter auf; sie sind gleichfalls massiv, zugleich aber
- sind höchste Anmut und Schlichtheit zwei Züge, die man nie an ihnen
- vermissen wird. Ihren Grundcharakter aber bilden ihre kolossalen
- Dimensionen. Je glatter, je weniger gegliedert und mit auffallenden
- Verzierungen versehen sie sind, um so besser. Aber man wende sie nur
- nicht bei kleinen Brücken an, ohne ihre ungeheuren Dimensionen ist diese
- Architektur weniger als gar nichts. Ich wiederhole noch einmal: jeder
- Stil ist schön, wenn all seine Voraussetzungen erfüllt und wenn er in
- strengem Einklang mit seiner Bestimmung gewählt und durchgeführt ist.
- Ohne diese wohlmeinende und unparteiische Toleranz kann es keine
- wahrhaften Talente noch auch wirklich großartige Werke geben. Fort mit
- dieser Scholastik, die jedem Gebäude das gleiche Maß vorschreibt und
- verlangt, daß alles in demselben Geschmack gebaut werde! Eine Stadt muß
- aus den verschiedensten Massen bestehen, wenn wir verlangen, daß sie
- unseren Augen eine Freude sein soll. Mögen sich in ihr die
- verschiedensten Stilarten vereinigen. Mag sich doch in derselben Straße
- ein finsteres gotisches Gebäude, ein mit üppigem Zierat geschmückter
- orientalischer Palast, ein kolossaler ägyptischer Bau und ein von
- anmutiger Harmonie erfülltes griechisches Haus erheben! Da mögen die
- leicht gewölbte milchfarbene Kuppel, die andächtige, ins Grenzenlose
- ragende Turmspitze, die orientalische Mitra, das abgeplattete
- italienische und das hohe, mit Figuren geschmückte flämische Dach, die
- vierkantige Pyramide, die runde Säule und der eckige Obelisk uns
- entgegentreten. Die Häuser dürfen so wenig wie möglich zu einer
- kompakten einförmigen Mauer verschmelzen, sondern sich bald hoch
- emporrecken und bald wieder tiefer herabsinken. Türme von
- verschiedenstem Stil sollen das Straßenbild beleben. Sollte es wirklich
- jemand geben, der den Mut, oder besser gesagt, die Schwäche hätte, zu
- behaupten, eine flache Ebene in der Natur ließe sich mit einer Gegend
- voller sich übereinander türmender Schluchten, Felsblöcke und Hügel
- vergleichen?
- Ein Architekt, der wirklich schöpferische Kraft besitzt, muß eine
- gründliche Kenntnis aller Baustile besitzen; am wenigsten sollte er den
- Geschmack der Völker verachten, auf die wir wegen ihrer künstlerischen
- Rückständigkeit gewöhnlich herabzusehen pflegen. Er muß sie alle
- umfassen, studieren und all ihre unendlichen Variationen in sich
- aufnehmen. Was aber die Hauptsache ist, er muß in ihre Idee eindringen
- und sich nicht nur ihre kleinen äußeren Formen und Teile aneignen. Um
- jedoch ihr Wesen zu ergreifen, dazu muß er ein Genie und ein Poet sein.
- Aber wenden wir uns nun zu der Architektur der Städte. Eine Stadt sollte
- so gebaut werden, daß jeder ihrer Teile, jede einzelne Häusermasse ein
- lebendiges Bild darbietet. Jede Häusergruppe muß belebt werden, so daß
- sie -- wenn ich mich so ausdrücken darf -- immer neue charakteristische
- Züge hervorzubringen scheint, damit sie sich unserem Gedächtnisse
- einpräge und unserer Einbildungskraft keine Ruhe lasse. Es gibt Bilder,
- die man sein Leben lang nicht vergißt, und es gibt solche, die man trotz
- aller Anstrengungen nicht im Gedächtnis festhalten kann. Die Baukunst
- ist gröber, zugleich aber großartiger als alle anderen Künste, wie die
- Malerei, die Skulptur und die Musik. Und daher liegt ihre Wirkung in dem
- Effekt, den sie ausübt. Ein Stadtbild hat den Vorzug, daß man es mit
- einem Schlage verändern und nach eigenem Ermessen umgestalten kann.
- Häufig braucht man nur ein einziges Gebäude zu den schon bestehenden
- hinzuzufügen, und es verändert gänzlich seine Form und erhält einen
- völlig andern Charakter, so wie die Zeichnung eines Schülers plötzlich
- unter dem Pinsel oder dem Stift des Lehrers Leben gewinnt. Er verstärkt
- an der einen Stelle die Linie, retuschiert etwas an einer andern, er
- berührt die dritte kaum, und alles wird anders. Außerdem führen uns
- häufig die Fehler selbst auf die Idee, wie wir sie vermeiden können. Das
- Charakterlose bringt uns das Charaktervolle, das Kleinliche und Platte
- seine Gegensätze, das Kühne und Ungewöhnliche zum Bewußtsein. Eine
- Vertiefung nach unten erweckt die Idee einer Erhöhung nach oben und
- umgekehrt. Das Genie ist ein Besitzer unendlicher Reichtümer, vor dem
- die ganze Welt mit allen ihren Schätzen verblaßt.
- Bei der Anlage einer Stadt muß man auch auf die Bodenbeschaffenheit
- achten. Städte werden entweder auf Anhöhen, auf Hügeln oder in der Ebene
- erbaut. Eine hochgelegene Stadt erfordert weniger Kunst, weil da die
- Natur schon selbst bei ihrem Bau mithilft. Sie erhebt die Häuser bald
- auf ihre majestätischen Hügel und läßt sie mitten unter ihren Nachbarn
- wie Riesen erscheinen, bald wieder läßt sie sie in die Tiefe
- herabsinken, um die umstehenden Häuser zur Geltung zu bringen. In
- solchen Städten ist es nicht notwendig, für eine große Abwechslung zu
- sorgen. Hier kann man glatte und einförmige Fronten verwerten, weil
- schon das ungleichmäßige Terrain eine gewisse Abwechslung hineinbringt,
- indem es ihnen verschiedene Standpunkte anweist. Man muß darauf achten,
- daß die Höhe der einzelnen hintereinander stehenden Häuser so zur
- Geltung komme, daß der Beschauer am Fuße eines Hügels den Eindruck
- gewinnt, als erhebe sich vor ihm eine zwanzigstöckige Masse. Dort bedarf
- es keiner großen Kunst, wo die Natur noch gewaltiger ist als die Kunst,
- und da dient die letztere nur dazu, die erstere zu schmücken. Da
- dagegen, wo das Terrain eben und einförmig ist, wo die Natur schlummert,
- da muß die Kunst mit voller Kraft einsetzen. Sie muß Farbe und Kolorit
- in die Landschaft hineinbringen, muß -- wenn ich mich so ausdrücken darf
- -- den Boden aufwühlen, die Ebene verschwinden lassen und die tote,
- flache Wüste beleben. Hier wären Schlichtheit und Einförmigkeit Sünde.
- Hier muß die Architektur so eigenartig wie nur möglich sein: sie muß
- bald ein düsteres Äußeres annehmen, bald wieder einen fröhlichen
- Ausdruck, bald muß sie einen altertümlichen Eindruck machen, bald wieder
- durch ihre Neuheit verblüffen. Sie muß uns mit Schrecken erfüllen, durch
- ihre Schönheit blenden, bald düster blicken wie ein von Gewitterwolken
- verfinsterter Tag, und bald wieder heiter wie ein strahlender Morgen
- voller Sonnenglanz. Die Architektur ist in ihrer Art auch eine
- Weltchronik, sie spricht noch zu uns, wenn die Sagen und Gesänge längst
- verstummt sind und wenn uns nichts mehr von einem untergegangenen Volke
- berichtet. So mag sie denn, wenn auch nur teilweise, sich mitten in
- unseren Städten erheben, wie sie einst zu Lebzeiten eines zugrunde
- gegangenen Volkes existierte, auf daß bei ihrem Anblick uns immer der
- Gedanke an sein vergangenes Dasein aufsteige, daß wir uns in sein Leben
- und in seine Sitten und Gewohnheiten, in seinen Bildungsgrad versetzen
- und mit Dankbarkeit an dies Volk zurückdenken, dessen Auftreten selbst
- eine Sprosse an der Leiter unseres eigenen Aufstiegs bedeutet[4].
- [Fußnote 4: Mir kam früher häufig ein seltsamer Gedanke; ich war der
- Ansicht, es müßte doch schön sein, wenn eine jede Stadt eine Straße
- aufzuweisen hätte, die gewissermaßen eine ganze Chronik der Architektur
- darstellt: dazu müßte sie mit einem schweren, finsteren Tor beginnen;
- hätte der Beschauer dieses passiert, so sollte er zu beiden Seiten des
- Weges gewaltige, mächtige Gebäude in einem ursprünglichen, noch rohen
- Geschmack, wie er allen Urvölkern eigen ist, erblicken, auf diese
- sollten die verschiedenen Entwicklungsformen des Stiles folgen: Seine
- machtvolle Umgestaltung, zur ägyptischen Architektur, sodann zur
- Schönheit des griechischen Stils, ferner zur wollüstigen Pracht der
- alexandrinischen und byzantinischen Architektur mit ihren flachen
- Kuppeln, dann zum römischen Stil mit seinen vielreihigen Arkaden, und
- dann wieder der Niedergang, das Zurückfallen in die rohen Zeiten und das
- plötzliche Sichaufschwingen zu der ungewöhnlichen Pracht der arabischen
- Architektur; hierauf sollte der rohe gotische, dann der
- gotisch-arabische und dann der reingotische Stil, diese Krone der Kunst,
- wie wir sie in dem Kölner Dom vorfinden, folgen; hierauf die furchtbare
- Vermischung aller Stile unter dem Einfluß der byzantinischen Kunst, dann
- die Wiederkehr der alten griechischen Architektur in neuem Gewande, und
- endlich müßte die Straße in ein Tor ausmünden, das alle Elemente des
- neuen Geschmacks in sich zusammenfaßt. Diese Straße wäre dann in
- gewissem Sinne eine lebendige Entwicklungsgeschichte des Geschmacks, und
- wer zu faul wäre, dicke Folianten durchzublättern, der brauchte nur
- einmal durch diese Straße zu gehen, um ein vollkommenes Bild dieser
- Entwicklung zu erhalten.]
- Sollte es wirklich ganz unmöglich sein, sei es auch nur um der
- Originalität willen, eine völlig neue und eigenartige Architektur zu
- erschaffen, die allen Einflüssen der älteren entzogen ist! Wenn der
- wilde, noch wenig entwickelte Mensch, dem nur die Natur, die er selbst
- noch so schlecht versteht, als Lehrmeisterin und Anregerin dient, ein
- Werk voller Schönheit, voll unbewußten instinktiven Stilgefühls schafft,
- woher können denn wir mit unseren so stark entwickelten Fähigkeiten und
- die wir die Natur in all ihrem geheimen Wirken soviel besser verstehen,
- -- woher können denn wir nichts schaffen, was von dem ganzen Reichtum
- unseres Wissens durchdrungen ist. Die Idee der Baukunst ward ja aus der
- Natur selbst geschöpft, aber zu einer Zeit, als der Mensch ihren Einfluß
- noch lebhaft empfand. Jetzt aber hat er die Kunst noch über die Natur
- erhoben -- könnte er da seine Gedanken nicht aus der Kunst selbst oder
- richtiger aus der harmonischen Verschmelzung von Natur und Kunst
- schöpfen! Man sehe nur, welche ungeheure Erfindungskraft er bei der
- Herstellung all der kleinen Mittel eines verfeinerten Luxus an den Tag
- legt. Man blicke hin auf all diese modernen Spielereien, die täglich
- emportauchen und wieder verschwinden. Man betrachte sie meinetwegen
- durch das Mikroskop, wenn sie anders unsere Aufmerksamkeit nicht fesseln
- -- welch feiner Geschmack spricht aus ihnen, was für herrlichen nie
- dagewesenen Formen begegnen wir da! Hier finden wir einen Stil, wie er
- früher noch nie existiert hat. Das Schnitzwerk und die Arbeit sind so
- originell, so neu und dabei so schön, daß wir uns häufig nicht satt
- sehen können. Aber ach! wir fühlen nicht das geringste Mitleid, wenn wir
- bemerken, wie der Geschmack des Menschen sich in der Produktion von
- Nichtigem und Vergänglichem verbraucht, statt sich in Ewigem und
- Unwandelbarem zu objektivieren. Könnten wir denn dieses in Stückwerk
- sich zersplitternde Kunstvermögen nicht auf große Gegenstände richten,
- muß denn alles, dem wir in der Natur begegnen, durchaus eine Säule, eine
- Kuppel oder ein Bogen sein? Wieviel Formen gibt es, die noch ganz
- unberührt daliegen. In wie tausendfältiger Weise kann die gerade Linie
- sich in die gebrochene wandeln und ihre Richtung ändern! Wie unendlich
- mannigfaltig kann sich die Krumme wölben und ausweichen, wieviel neue
- Ornamente und Verzierungen lassen sich einführen, die noch nie ein
- Architekt in seinen Kodex eintrug! -- In unserem Jahrhundert gibt es
- solche Errungenschaften und soviele ganz neue, nur ihm eigene Elemente,
- aus denen man das Material zu einer Unzahl neuer noch nie dagewesener
- Bauten schöpfen könnte! -- Nehmen wir z. B. jene herabhängenden
- Verzierungen, wie sie erst vor kurzem gebräuchlich wurden. Bisher wurde
- diese hängende Architektur nur bei Theaterlogen, Balkonen und kleinen
- Brücken angewandt. Aber wenn erst ganze Stockwerke schweben und durch
- kühne Bogen miteinander verbunden sein werden, wenn ganze Massen statt
- auf schweren Säulen auf durchbrochenen Stützen von Gußeisen ruhen, wenn
- zahllose Balkone ein Haus von unten bis oben mit verschlungenem
- gußeisernem Gitterwerk schmücken und tausenderlei herabhängende
- gußeiserne Verzierungen es mit einem leichten Netz umgeben werden, so
- daß es durch sie hindurchschimmert wie durch einen durchsichtigen
- Schleier, wenn diese diaphanen Verzierungen sich um einen herrlichen
- runden Turm schlingen und zusammen mit ihm zum Himmel emporfliegen
- würden, -- welch eine Leichtigkeit und ätherische Schönheit würden dann
- unsere Häuser annehmen. Welch eine Menge von Anregungen finden wir
- überall verstreut, die im Kopfe eines Architekten ganz unerhörte,
- lebendige Ideen erzeugen können; aber freilich müßte dieser Architekt
- ein schöpferisches Genie und ein Dichter sein.
- 1831.
- [Dieser Aufsatz ist vor langer Zeit geschrieben. In den letzten Jahren
- ist der Geschmack in Europa und besonders in unserem geliebten Rußland
- besser geworden. Es gibt schon viele Architekten, die unserem Lande Ehre
- machen. Unter diesen möchte ich Brjulow nennen, dessen Bauten von
- wahrhaftem Geschmack und echter Originalität erfüllt sind.]
- VIII
- Al-Mamun
- Eine historische Charakteristik
- Nie ist ein Fürst während einer solchen Blütezeit seines Reiches zur
- Herrschaft gelangt, wie Al-Mamun. Das furchterregende Kalifat erhob sich
- mächtig auf dem klassischen Boden der Alten Welt. Im Osten umfaßte es
- den ganzen blühenden Südwesten Asiens, Indien mit eingeschlossen; im
- Westen zog es sich längs den Ufern Afrikas bis nach Gibraltar hin. Seine
- mächtige Flotte beherrschte das Mittelmeer. Bagdad, die Hauptstadt
- dieser neuen, wunderbaren Welt, sandte seine Befehle bis in die
- entlegensten Grenzen seiner Provinzen. Das neu bekehrte Asien strömte in
- die ausgezeichneten Schulen von Bassor, Nippur und Kufa und reifte nun
- zu höherer Kultur. Damaskus konnte alle Lüstlinge in seine kostbaren
- Stoffe hüllen und ganz Europa mit Stahlklingen versorgen; schon dachte
- der Araber, Mohammeds Paradies auf der Erde zu errichten: er schuf
- Wasserleitungen, Paläste und ganze Palmenwälder, wo Springbrunnen
- anmutig spielten und die Wohlgerüche des Orients zum Himmel stiegen. Und
- doch hatte bei all dem Luxus noch keine der moralischen Krankheiten
- einer politischen Gesellschaft Zeit gehabt, hier Wurzel zu fassen. Alle
- Teile dieses großmächtigen Reiches, dieser mohammedanischen Welt, waren
- eng untereinander verbunden und dieser Zusammenhang wurde durch den
- Willen des merkwürdigen Harun immer mehr und mehr gefestigt, denn dieser
- hatte die vielseitigen Fähigkeiten seines Volkes erkannt. Er war weder
- nur Philosoph auf dem Thron, noch allein Politiker, noch bloß Krieger
- oder Literat im Kaisermantel. Er vereinigte alles in sich, erstreckte
- seine Tätigkeit gleichmäßig auf alles und ließ keinen Teil über den
- andern Oberhand gewinnen. Er impfte seiner Nation nur gerade so viel von
- der fremdländischen Kultur ein, wie nötig war, um ihre eigene
- Entwicklung zu fördern. Damals hatten die Araber die Epoche des
- Fanatismus und der Eroberungen schon hinter sich, waren aber noch immer
- von Enthusiasmus erfüllt, und die feuersprühenden Seiten des Koran
- wurden noch mit derselben Begeisterung gelesen und seine Gebote noch
- ebenso sklavisch befolgt. Harun verstand es, den Gang der Administration
- und die Regierungsgeschäfte zu beschleunigen und durch die Furcht vor
- seiner Allgegenwart seinen Befehlen überall Geltung zu verschaffen. Die
- Statthalter und Emire, die sonst immer darnach strebten, Selbstherrscher
- und Despoten zu sein, fürchteten sich, dem Blicke des verkleideten
- Kalifen, dem nichts entging, zu begegnen -- und so ging die Regierung
- ohne Gesetze fest und bestimmt ihren Weg. Unter solchen Umständen trat
- Al-Mamun die Herrschaft an. Byzanz nannte ihn den hochherzigen
- Beschützer der Wissenschaft, die Geschichte reihte seinen Namen unter
- die Wohltäter der Menschheit ein. Dieser Herrscher wollte sein
- politisches Reich in ein Reich der Musen verwandeln. Er besaß die
- Lebhaftigkeit und alle Fähigkeiten, die für ein ernstes Studium
- notwendig waren. Sein Charakter war von einer edlen Vornehmheit, das
- Streben nach Wahrheit seine Devise. Er war verliebt in die Wissenschaft,
- und zwar ganz selbstlos, er liebte sie um ihrer selbst willen, ohne an
- ihren Zweck und ihre Anwendung zu denken. Er gab sich ihr mit einer
- einseitigen Leidenschaft hin. Damals hatten die Araber erst eben den
- Aristoteles entdeckt. Ihrer allzu stürmischen, ungeheuren orientalischen
- Phantasie mußte der allumfassende, scharf denkende, griechische
- Philosoph fremd bleiben, aber die arabischen Gelehrten, die schon seit
- langer Zeit an mühsame Arbeit und schon an die Exaktheit und das formale
- Denken gewöhnt waren, gaben sich mit einem wissenschaftlichen Feuereifer
- dem Studium hin. Diese endlosen Schlüsse, diese die Ordnung dessen, was
- sie in ihren Seelen früher nur teilweise und wie durch ein Aufleuchten
- empfunden hatten, seine Erhebung zur Evidenz, das alles mußte die
- damaligen Gelehrten bezaubern. Al-Mamun, der unter ihrem Einfluß erzogen
- wurde, war von einem wahren Hunger nach Kultur erfüllt und gab sich alle
- erdenkliche Mühe, diese bis dahin unbekannte griechische Welt in sein
- Reich einzuführen. Bagdad breitete seine Arme freundschaftlich der
- ganzen gelehrten Welt seiner Zeit entgegen. Die Gnade des Kalifen stand
- jedem offen, der irgendeinem Beruf angehörte, er mochte die Religion
- bekennen, die er wollte, und von noch so entgegengesetzten Prinzipien
- erfüllt sein. Es war nur natürlich, daß vor allem _die_ Männer ihr
- Wissen nach Bagdad trugen, die in ihren Seelen noch das Bild des in
- christliche Formen gekleideten Polytheismus trugen, die bereit waren,
- mit ihrem Herzblut Ammonius Saccas, Plotin und die anderen Bekenner des
- Neuplatonismus zu verteidigen und die in dem nur zu sehr mit dem Streit
- um die verschiedenen christlichen Dogmen beschäftigten Byzanz kein Feld
- für ihre gelehrten Turniere fanden. Bagdad verwandelte sich in eine
- Republik der mannigfaltigsten Fakultäten, Wissenschaften und Meinungen.
- Der königliche Araber versenkte sich aufmerksam in die betäubende Musik
- dieser gelehrten Disputationen und Spitzfindigkeiten. Die höheren
- Staatsbeamten konnten sich dem Beispiel ihres Herrschers nicht
- entziehen, und alle höheren Schichten des Reiches wurden von einer Art
- literarischer Monomanie ergriffen. Die Wesire und Emire versuchten
- ihrerseits, allerhand gelehrte Fremde an ihren Hof zu ziehen. Es ist
- selbstverständlich, daß die Administration damit in den Hintergrund
- gerückt wurde, daß die Würdenträger vieles, was zur Regierung gehörte,
- dem Gutdünken ihrer Sekretäre oder Günstlinge überließen, daß diese
- Günstlinge häufig ganz ungebildet waren und ihre Stellung oft nur durch
- Intrigen erklommen, und daß dies alles nicht ohne Einfluß auf das Volk
- bleiben und mit der Zeit auf die Regierenden selbst zurückfallen mußte.
- Die große Zahl theoretischer Philosophen und Dichter, die hohe
- Regierungsposten einnahmen, ließ im Lande keine starke Regierung
- aufkommen. Ihre Sphäre liegt ganz wo anders; sie erfreuen sich des
- allerhöchsten Schutzes und gehen ruhig ihren Weg. Nur die wenigen großen
- Dichter machen hierin eine Ausnahme, wenn sie den Philosophen, den
- Poeten und den Historiker in sich vereinigen, sie, die die Natur und den
- Menschen ergründen, in die Vergangenheit dringen und die Zukunft
- voraussehen, und deren Worten das ganze Volk lauscht. Sie sind
- Hohepriester. Kluge Herrscher ehren sie durch ihren Verkehr, behüten ihr
- kostbares Leben und fürchten sich, dieses Leben durch Beteiligung an der
- so vielseitigen Tätigkeit des Regierens zu unterdrücken. Sie werden nur
- bei äußerst wichtigen Ministerräten hinzugezogen, da sie bis in die
- Tiefe des menschlichen Herzens dringen.
- Der edle Al-Mamun hatte den aufrichtigen Wunsch, seine Untertanen
- glücklich zu machen. Er wußte, daß die Wissenschaften, die die
- Entwicklung der Menschen fördern, das beste Mittel, der treuste Führer
- zum Ziel seien. Mit aller Gewalt zwang er seine Untertanen, die von ihm
- eingeführte Kultur anzunehmen. Aber die Aufklärung, die Al-Mamun zu
- verbreiten bestrebt war, entsprach am wenigsten dem angebotenen
- Charakter und der angeborenen Phantasie der Araber. Die wenig
- kraftvollen Prinzipien des Polytheismus, die sich in ein bloßes
- Wortspiel verwandelt hatten, die frechen Verstümmelungen christlicher
- Ideen, die ein so seltsames Licht auf die Wissenschaft jener Zeit
- warfen, die sich nicht mit dieser verschmolzen, und man kann wohl sagen,
- sie durch ihr Übergewicht vernichteten, bildeten einen krassen Kontrast
- zu der feurigen Natur der Araber, deren Phantasie die nüchternen
- Schlüsse des kalten Verstandes nur allzusehr unterdrückte. Dieses Volk
- ging nicht, nein, es flog förmlich seinem Entwicklungsziele entgegen.
- Sein Genius offenbarte sich plötzlich und gleichzeitig im Kriege, im
- Handel, in den Künsten, in der Manufaktur und in der üppigen Poesie des
- Orients. Seine reichen Gaben, wie ähnliche in der Geschichte der
- Menschheit noch niemals dagewesen waren, entfalteten sich reich,
- strahlend, eigenartig und in höchster Orginalität. Es schien fast, als
- sollte dieses Volk sich zu einer Nation von höchster Vollkommenheit
- entwickeln. Aber Al-Mamun verstand es nicht! Er beachtete die große
- Wahrheit nicht, daß die Bildung aus dem Volke selbst kommen muß, daß
- eine aufgepfropfte Kultur nur insoweit angeeignet werden darf, als sie
- die eigene Entwicklung fördert, daß aber die Entwicklung eines Volkes
- nur aus den eigenen nationalen Elementen hervorgehen kann. Für die
- Araber aber wurde ihr Betätigungsfeld durch diese unfruchtbare
- fremdländische Kultur nur versperrt. Der Kosmopolitismus Al-Mamuns, der
- allen Gelehrten aller Parteien den Eintritt in sein Reich gestattete,
- ging fast gar zu weit. Die Privilegien, die den Christen im Reiche
- zuteil wurden, mußten notwendig den Haß der eigenen Untertanen erwecken
- und hatten selbst die Verachtung nützlicher Einrichtungen zur Folge, --
- ja, das Volk verlor sogar allmählich die Liebe zu seinem Herrscher. In
- seinen Regierungsmaßregeln war Al-Mamun mehr theoretischer als
- praktischer Philosoph, der doch ein Herrscher vor allem sein müßte. Er
- kannte das Leben seines Volkes aus Beschreibungen und Erzählungen
- anderer und nicht aus eigener Anschauung wie der große Harun, der es
- persönlich studiert hatte. Bei den asiatischen Regierungsformen, die
- keine bestimmten Gesetze kennen, liegt die ganze Verwaltung auf den
- Schultern des Monarchen selbst, und daher muß seine Tätigkeit eine
- außergewöhnlich intensive, muß seine Aufmerksamkeit beständig gespannt
- sein; er darf niemand vertrauen, und sein Auge muß die Vielseitigkeit
- eines Argus haben; es braucht nur einen Augenblick einzuschlafen, und
- die mit seinen Vollmachten ausgestatteten Statthalter lehnen sich auf,
- und das Reich ist von einer Million Despoten erfüllt.
- Al-Mamun aber lebte in seinem Bagdad wie in einem Musenreich, das er
- sich selbst geschaffen hatte und das ganz von der politischen Welt
- getrennt war. Die Christen, die allmählich auch anfingen, sich in die
- Verwaltung einzumengen, konnten den Volksgeist und die Landessitten
- nicht kennen lernen. Außerdem war der fremde Glaube den Arabern, die
- noch an ihrem Enthusiasmus und ihrer Unduldsamkeit festhielten,
- unerträglich. Und während der Name Al-Mamuns auf den Lippen aller
- damaliger Gelehrten schwebte und seine Gastfreundschaft buntbeflaggte
- Schiffe an die syrische Küste lockte, wurde seine Macht im Innern des
- Reiches immer schwächer und schwächer. Die Bewohner der Provinzen, die
- ihren Kalifen nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hatten, schätzten
- seinen Namen nur wenig. Die militärischen Kräfte nahmen immer mehr ab.
- Die Kultur, die ihren Ausgangspunkt gewöhnlich von Bagdad, dem Zentrum
- des Reiches, nahm, verringerte sich und erlosch immer mehr, je mehr sie
- sich den fernen Grenzen näherte. In den Grenzländern hatte sich der
- Kulturzustand der Araber noch auf dem Niveau seiner ersten Periode
- erhalten, hier standen noch von Fanatismus erfüllte Truppen, die
- jederzeit bereit waren, den Glauben Mohammeds mit Feuer und Schwert zu
- verbreiten. Die mächtigen Emire, die bald die unzureichende Verbindung
- mit Bagdad erkannten, träumten von der Unabhängigkeit, und Al-Mamun
- mußte noch während seiner Regierung den Abfall Persiens, Indiens und der
- entlegenen Provinzen Afrikas erleben. Aber vielleicht wäre diese falsche
- Richtung der Verwaltung noch ein Übel gewesen, das wieder gutzumachen
- war, wenn Al-Mamun seine Wahrheitsliebe nicht zu weit getrieben hätte.
- Er wollte der religiöse Reformator seiner Nation werden. Er besaß einen
- rein theoretischen Verstand, war über jeglichen Aberglauben und alle
- Vorurteile erhaben, auch war er genauer über einige christliche Dogmen
- unterrichtet, als seine Vorgänger, und so konnte er seine Augen nicht
- gegen die zahllosen Widersprüche und den blühenden Unsinn, die in den
- Verordnungen des fanatischen Schöpfers des Korans überall zum Ausdrucke
- kommen, verschließen. Er entschloß sich, das heilige Buch Mohammeds zu
- reinigen und zu reformieren, und das in einer Zeit, als noch alle
- niederen Regierungsbeamten sowie der ganze Pöbel davon überzeugt waren,
- daß das Buch vom Himmel stamme, und wo der Zweifel an dem
- allergeringsten Gebote schon für das größte Verbrechen galt. Der
- halbgriechischen Denkungsweise Al-Mamuns war der völlig blinde
- Enthusiasmus seiner Untertanen ganz fremd. Die Unterdrückung des
- Fanatismus hielt er für den ersten Schritt zur Kultur seines Volkes --
- und doch bildete dieser Fanatismus das ganze Sein des arabischen Volkes;
- diesen Fanatismus, dem er seine ganze Entwicklung und seine glänzende
- Epoche verdankte, zu zerstören, hieß den politischen Bestand des ganzen
- Reiches untergraben. Al-Mamun erschien das Paradies Mohammeds, in das
- der Araber sein ganzes sinnliches Leben, dieses nur für den Genuß und
- für die Wollust bestimmte Leben, hineintrug, als der Gipfel der Torheit.
- Aber er ließ dabei außer acht, daß diese Gebote ein Produkt des
- glühenden, arabischen Klimas, des feurigen Temperaments des Arabers
- waren, daß dies Paradies für den Mohammedaner die große Oase inmitten
- der Wüste seines Lebens war, daß nur die Hoffnung auf dies Paradies es
- dem so sinnenfrohen Araber ermöglichte, alle Armut und Unterdrückung zu
- ertragen und, beim Anblick des in Luxus förmlich versinkenden Sybariten
- den Neid in seiner Seele zu bekämpfen. Der Gedanke, daß auch er einmal
- von Huris umringt, in einem Luxus schwelgen werde, der die Pracht aller
- irdischen Machthaber weit übertrifft, war wohl nur einer Sinnlichkeit
- und einer blühenden Phantasie faßbar, wie sie die Natur den Arabern
- verliehen hatte. Und vielleicht hätte sich der Glaube dieses Volkes erst
- im Verlauf der ferneren Entwicklung ohne allzu empfindliche Störungen
- reinigen lassen; Al-Mamun aber hatte kein Verständnis für die asiatische
- Natur seiner Untertanen.
- Man kann sich den Grad der Empörung in den zahllosen Schichten des
- Volkes vorstellen, als das Gerücht von den Neuerungen des Kalifen sich
- verbreitete. Wie mußte sich das Volk zu ihnen stellen, das dem Kalifen
- schon allein wegen der Förderung der christlichen Religion und seiner
- Vorliebe für die Fremden offen des Modalismus oder der Ketzerei
- anklagte? Die rohe Masse der alten strenggläubigen Bekenner des Koran
- zwangen den Kalifen durch ihren harten Widerstand endlich, zu den Waffen
- zu greifen. Und der edle, hochherzige Al-Mamun, der von wahrer
- Menschenliebe durchdrungen war, wurde zum Verfolger seiner eigenen
- Untertanen. Durch diese Verfolgungen weckte er von neuem den wilden
- Fanatismus der Araber, aber schon nicht mehr jenen Fanatismus, der die
- früheren Nomadenvölker Arabiens zu einer Masse verschmolzen hatte --
- sondern einen oppositionellen Fanatismus, -- einen Fanatismus, der die
- Massen auseinanderriß, der Zank und Streit bis in die innersten Gründe
- des Reiches trug, der die rohen Leidenschaften der Araber aufrührte, der
- den Dolch und das Gift des Hasses in die Hand der fanatischen Bekenner
- des Islams drückte, und der eine Unzahl verblendeter Sekten erstehen
- ließ, unter ihnen die schrecklichste, die der Karmaten, die noch lange,
- zur Zeit der Kreuzzüge, unter dem Namen der syrischen Assassinen ihr
- Wesen trieben. Mitten in den Unruhen, die an den verschiedenen Enden des
- Reiches ausbrachen, inmitten der Empörung und des Parteienzwists starb
- der edle Al-Mamun, der mit einer Hand zahllose Wohltaten und reiche
- Mittel für Schulen, Werkstätten und für die Kunst ausgestreut und mit
- der anderen seine unbotmäßigen, fanatischen Untertanen gezüchtigt hatte
- -- er starb, ohne sein Volk verstanden zu haben und selbst unverstanden
- von seinem Volk. In jedem Fall aber hat er uns ein lehrreiches Beispiel
- gegeben. Er hat der Welt das Bild eines Herrschers geboten, der trotz
- allen Willens zum Guten, trotz aller Sanftmut des Herzens und bei aller
- Aufopferungsfähigkeit und seiner außergewöhnlichen Liebe zu den
- Wissenschaften, doch eine der wichtigsten, wenn auch unbewußten Ursachen
- wurde, die den Fall seines Reiches beschleunigten.
- Arabesken
- Zweiter Teil
- I
- Das Leben
- Ein armer Wüstensohn hatte einen Traum: Still liegt das große
- Mittelländische Meer und breitet sich aus in unendliche Fernen, und von
- drei verschiedenen Seiten blicken nach ihm hin die glühenden Küsten
- Afrikas mit ihren schlanken Palmen, die nackten syrischen Wüsten und die
- vom Meer zerklüfteten, dichtbevölkerten Küsten Europas.
- In einer Bucht an dem unbeweglichen Meer erhebt sich das alte Ägypten.
- Eine Pyramide steht neben der andern; granitene Sphinxe blicken aus
- grauen Augen; zahllose Stufen führen zu ihnen hinauf. Genährt von dem
- großen Nil, geschmückt mit geheimnisvollen Zeichen und heiligen Tieren,
- thront majestätisch das alte Ägypten unbeweglich und wie verzaubert,
- gleich einer Mumie, die der Verwesung Trotz bietet.
- Zahllose unabhängige Kolonien hat das heitere Griechenland um sich herum
- gegründet. Das Mittelmeer ist mit Inseln übersät, die in grünen Wäldern
- ertrinken; Oliven, Weinreben und Feigenbäume schaukeln sich mit ihren
- honiggetränkten Zweigen im Winde; Säulen, weiß wie die Brüste einer
- Jungfrau, runden sich im üppigen Dunkel der Bäume; der von wundersamem
- Meißel erweckte Marmor atmet wollüstig und freut sich schamhaft seiner
- herrlichen Nacktheit; mit Weintrauben geschmückt, Pokale und
- Thyrsosstäbe in Händen, hält das Volk im geräuschvollen Tanz inne;
- schlanke, junge Priesterinnen mit wallenden Locken werfen flammende
- Blicke aus nachtschwarzen Augen. Efeubekränzte Schalmeien, Zimbeln und
- andere musische Instrumente erklingen. Wie Fliegen schwirren Schiffe um
- Rhodus und Korkyra und bieten ihre selig geschwellten Fahnen dem Winde
- dar. Und alles atmet starr und unbeweglich in seiner steinernen
- Majestät.
- Stolz und unermeßlich dehnt sich das eiserne Rom, ein Wald von Lanzen
- starrt gen Himmel, und in drohendem Glanze leuchten die stählernen
- Schwerter. Sein gieriges Auge scheint alles verschlingen zu wollen, und
- weit ausgestreckt ist seine sehnige Rechte. Aber auch Rom liegt
- unbeweglich da, wie alles rings umher und rührt seine löwenstarken
- Glieder nicht.
- Die Luft des himmlischen Ozeans lastete dumpf und erstickend auf allem.
- Kein Wellenschlag bewegte das große Mittelmeer, und es war, als wäre das
- Jüngste Gericht gekommen für die drei Reiche -- vor dem Ende der Welt.
- Da sprach Ägypten, und die schlanken Palmen, die Bewohner seiner Ebenen,
- schwankten im Winde, und die Obelisken streckten ihre feinen Nadeln noch
- höher empor: »Hört mich, ihr Völker! Ich allein drang ein in das
- Geheimnis des Lebens und in das Rätsel des Menschen. Alles ist
- vergänglich. Gemein ist alle Kunst, armselig jeder Genuß und noch
- armseliger die Worte und Taten. Der Tod, der Tod herrscht über die Welt
- und über den Menschen! Der Tod verschlingt alles, und alles lebt für den
- Tod. Fern, fern ist die Auferstehung! Gibt es denn überhaupt eine
- Auferstehung? Fort mit den Wünschen, den Genüssen. Armer Mensch!
- Errichte immer höhere Pyramiden, um dein elendes Dasein wenigstens
- _etwas_ zu verlängern.«
- Und es sprach das heitere Griechenland, das so klar ist wie der Himmel,
- wie der Morgen und wie die Jugend, und es war, als vernähme man keine
- Worte sondern Töne einer Schalmei: »Das Leben ward für das Leben
- geschaffen. Erweitere und bereichere dein Leben, erweitere mit ihm deine
- Genüsse. Ihm bringe alles zum Opfer dar. Sieh, wie ist alles so
- plastisch und schön in der Natur, wie ist alles in Eintracht verbunden.
- In der Welt ist alles enthalten. Alles, auch alles, worüber die Götter
- gebieten, enthält sie; lern' es nur finden. Göttlicher, stolzer Gebieter
- dieser Erde, bekränze dein herrliches Haupt mit Eichenlaub und Lorbeer
- und genieße dein Leben; fliege hin auf deinem Wagen bei den rauschenden
- Spielen und lenke kunstvoll die feurigen Rosse. Fern sei deiner freien,
- stolzen Seele die Habgier und der Neid! Meißel, Palette und Flöte sind
- geschaffen, die Welt zu beherrschen, sie aber soll sich der Schönheit
- beugen. Mit Efeu und Weinlaub umwinde deine duftende Stirn und das
- liebliche Haupt deiner schamhaften Freundin! Das Leben ward für das
- Leben und für den Genuß geschaffen -- lern' des Genusses würdig sein.«
- Und das in Eisen gehüllte Rom klirrte mit dem leuchtenden Walde seiner
- Lanzen und sprach: »Ich habe des Geheimnis des Menschenlebens ergründet.
- Die Ruhe ist des Menschen unwürdig, sie richtet ihn zugrunde in seinem
- eigentlichen Wesen. Kunst und Genuß sind zu gering für seine Seele. Der
- wahre Genuß liegt in dem gigantischen Wunsche. Verächtlich ist das Leben
- der Völker und des Einzelnen ohne ruhmreiche Heldentaten. Dürste nach
- Ruhm, dürste nach Ruhm, o Mensch! Beim betäubenden Lärme der Waffen im
- Rausch unbeschreiblicher Lust laß auf die Schilde der lanzentragenden
- Legionen dich heben! Hörst du, wie sich zu deinen Füßen die ganze Welt,
- wie sich Millionen versammelten und, die Speere schwenkend, in einen
- einzigen Ruf ausbrechen? Hörst du's, wie dein Name furchtverbreitend auf
- den Lippen der fernsten Völker bebt, die am Ende der Welt wohnen? Alles,
- was dein Blick umfassen kann, erfülle alles mit dem Klang deines Namens!
- Strebe unablässig weiter, es gibt keine Grenzen weder der Welt noch
- deiner Wünsche. Furchtbar und streng schreite vorwärts und erweitere
- deine Weltherrschaft, dann wirst du zuletzt auch den Himmel erobern.«
- Und Rom schwieg und heftete seinen Adlerblick auf den Osten. Auch
- Griechenland wandte seine herrlichen, vom Genuß feuchten Augen nach
- Osten, und auch Ägypten wandte seine trüben, farblosen Augen dem Orient
- zu.
- Ein steiniges Land; ein verachtetes Volk; ein paar einsame Hütten stehen
- an nackte Hügel gelehnt, und hie und da nur fällt der spärliche Schatten
- eines dürren Feigenbaumes auf sie. Hinter einem niedrigen baufälligen
- Zaun steht eine Eselin. In der Holzkrippe liegt ein Knäblein; die
- jungfräuliche Mutter steht über es gebeugt und schaut es mit
- tränenfeuchten Augen an; hoch über der Krippe aber steht ein Stern, und
- ein herrliches Leuchten erfüllt die Welt.
- Die Pyramiden des hieroglyphengeschmückten Ägyptens senkten sich immer
- tiefer, und Ägypten versank in Träume; unruhig blickte das herrliche
- Griechenland, Rom senkte die Augen und schaute auf seine eisernen
- Lanzen; das große Asien mit seinen zahllosen Hirtenvölkern lauschte
- gespannt, und der Ararat, der Urvater der Erde, beugte seinen Nacken.
- 1831.
- II
- Schlözer, Müller und Herder
- Schlözer, Müller und Herder sind die großen Baumeister der
- Weltgeschichte. Der Gedanke an diese war ihr Lieblingsgedanke und
- verließ sie keinen Augenblick während der ganzen Zeit ihres so
- verschiedenartigen Lebenslaufes. Man kann sagen, daß Schlözer der erste
- war, der von der Idee eines einigen großen Ganzen, einer Einheit
- durchdrungen war, zu der alle Zeiten und alle Völker zusammengefaßt und
- zusammengeschmolzen werden müssen. Er wollte die ganze Welt und alles
- Lebendige mit einem Blick umspannen. Es schien, als wünschte er hundert
- Argusaugen zu besitzen, um mit einem Blick alle Geschehnisse in den
- entlegensten Teilen der Welt zu übersehen. Sein Stil ist ein Blitz, der
- fast plötzlich bald hier, bald dort zündet und die Gegenstände momentan,
- aber mit blendender Klarheit, beleuchtet. Ich weiß nicht, ob er selbst
- das hätte leisten können, was er den anderen so scharf vorgezeichnet
- hat; jedenfalls aber war niemand so stark von seinem Objekt ergriffen
- wie er. Er hatte die Gabe, alles in einem kleinen Brennpunkt zu
- konzentrieren und oft mit zwei, drei scharfen Strichen, ja zuweilen
- durch ein einziges Epitheton, ein bestimmtes Ereignis oder ein ganzes
- Volk zu charakterisieren. Seine Epitheta sind wunderbar, temperamentvoll
- und kühn und erscheinen als die Frucht eines glücklichen Augenblicks,
- einer momentanen Eingebung; sie sind von so scharfer verblüffender
- Wahrheit, daß selbst eine tiefe und dauernd in ihrer Richtung beharrende
- Forschung sie nicht entdeckt hätte, es sei denn, daß sie von Schlözer
- selbst ausgeführt worden wäre. Er war nicht eigentlich Historiker, und
- ich glaube sogar, daß er gar nicht Historiker hätte sein können. Seine
- Gedanken sind zu sprunghaft, zu leidenschaftlich, um sich zu einer
- harmonisch und gemächlich dahinfließenden Erzählung zu formen. Er
- analysierte die Welt und alle verschwundenen und noch lebenden Völker,
- aber er beschrieb sie nicht; er sezierte die ganze Welt mit dem Messer
- des Anatomen, zerschnitt und zerlegte sie in massive Teile, er
- gruppierte und klassifizierte die Völker wie ein Botaniker die
- verschiedenen Pflanzen nach bestimmten Merkmalen ordnet. Und daher
- sollte man glauben, daß durch diese Art der Behandlung seine
- geschichtlichen Aufzeichnungen etwas Skelettartiges und Trockenes
- erhalten hätten; aber merkwürdigerweise leuchtet alles bei ihm in so
- grellen Farben, der machtvolle Blitz seines Auges hat etwas so Sicheres,
- daß man beim Lesen seiner gedrängten Weltskizze erstaunt bemerkt, wie
- unsere Phantasie sich entzündet, erweitert und alles nach demselben
- Gesetze ergänzt, das Schlözer mit einen gewaltigem Wort gekennzeichnet
- hat; zuweilen aber eilt unsere Einbildungskraft die kühn vorgezeichneten
- Wege noch weiter. Da er einer der ersten war, der von der Größe und dem
- wahren Ziel der Weltgeschichte beunruhigt wurde, mußte er unbedingt ein
- oppositionelles Genie werden. Diese seine Stellung gab ihm die große
- Energie, das Feuer und sogar den Ärger über die Kurzsichtigkeit seiner
- Vorgänger, die sehr häufig in seinen Schriften zum Ausbruch kommen. Mit
- einem Donnerwort vernichtet er sie und in diesem einen Wort verbindet
- sich der Genuß und ein sardonisches Lächeln über den Besiegten mit einer
- sieghaften Wahrheit. Man könnte ihn mit mehr Recht noch als Kant den
- Alleszermalmer nennen. Fast immer lassen sich die Männer der Opposition
- zu sehr von ihrer Stellung hinreißen, indem sie sich in ihrem
- enthusiastischen Übereifer nur an eine Regel halten -- allem
- Vorangegangenen zu widersprechen. Doch dieser Vorwurf trifft Schlözer
- nicht: sein germanischer Geist beharrt unerschütterlich auf seinem
- Standpunkt. Er ist ein strenger, allwissender Richter; seine Urteile
- sind scharf, kurz und gerecht. Vielleicht werden einige sich darüber
- wundern, daß ich von Schlözer wie von einem großen Baumeister der
- Weltgeschichte rede, während doch die Gedanken und Werke, die er diesem
- Gegenstande gewidmet hat, in einem kleinen Leitfaden für Studenten
- bestehn; aber dieses kleine Büchlein gehört zur Zahl der Werke, nach
- deren Lektüre man glaubt, ganze Bände gelesen zu haben; ich möchte es
- mit einem kleinen Fenster vergleichen, durch das man, wenn man sein Auge
- nur nahe genug heranbringt, die ganze Welt erblicken kann. Er wirft ein
- helles Licht auf die Gegenstände, lehrt sie uns begreifen, und
- schließlich gelangt man dazu, alles mit eigenen Augen zu sehen.
- Müller ist ein Historiker ganz anderen Schlages. Still, ruhig und
- bedächtig, ist er das volle Gegenteil von Schlözer. Mit einer
- eigenartigen, bezaubernden Liebe gibt er sich seinem Gegenstande hin.
- Sein Vortrag glänzt nicht durch eine scharf ausgeprägte Eigenart wie der
- Stil Schlözers; er kennt weder die leidenschaftlichen Ausbrüche, noch
- den prägnanten Lakonismus, der den Vortrag Schlözers auszeichnet. Er
- umfaßt nicht alles so momentan, so mit einem Blicke wie jener, umspannt
- es nicht mit gewaltiger Hand, er erforscht alles, was die Welt erfüllt,
- ruhig, in bestimmter Reihenfolge, ohne jene Überstürzung und Hast, mit
- der ein Autor sich ausspricht, der sich fürchtet, jemand könnte ihm
- seine Gedanken entwenden und ihm zuvorkommen. Das Wort »Untersuchung«
- paßt so recht zu seinem Stil; seine Darstellungen sind wahrhafte
- Untersuchungen. Als Staatsmann beschäftigt er sich vorzüglich mit der
- Erörterung der Staatsformen und mit den Gesetzen der gegenwärtigen und
- der untergegangenen Reiche; aber er betont diese Seite nicht in dem
- Maße, um darüber andre Seiten ganz im Schatten zu lassen, ein Fehler,
- dessen nur einseitige Historiker fähig sind und in den auch Heeren
- mitunter verfallen ist; im Gegenteil, er wendet seine Aufmerksamkeit
- auch allen Grenzgebieten zu. Alles, was in der Geschichte nicht ganz
- klar ist, was noch wenig erforscht ist, das alles unterwirft er einer
- Untersuchung. Man fühlt sogar, daß er sich mit Vorliebe mit der
- Urgeschichte und überhaupt mit den Epochen beschäftigt, wo das Volk noch
- nicht von der Kultur und ihren Lastern berührt ist und noch seine
- einfachen Sitten und seine Unabhängigkeit bewahrt. Diese Perioden
- schildert er mit einer leuchtenden Ausführlichkeit, mit einer sanften
- Wärme, wie wenn er sich selbst dabei vergäße und sich mitten unter
- seinen braven Schweizern zu befinden wähnte. Das wichtigste Resultat,
- das er aus seiner Geschichtsdarstellung zieht, ist dieses, daß ein Volk
- nur dann glücklich ist, wenn es die alten Sitten des Landes treu befolgt
- und seine einfache Lebensweise und Unabhängigkeit beibehält. Überall
- schimmert seine reife Weisheit und seine kindliche Seelenklarheit durch.
- Der Adel seiner Gedanken und die Freiheitsliebe durchdringen all seine
- Werke. Nicht der Gedanke an die Einheit und an ein unzertrennliches
- Ganzes ist das Ziel, nach dem seine Darstellung bewußt hinstrebt; er
- spricht eigentlich nie darüber, aber sein ganzes Werk läßt uns diese
- Einheit fühlen, obgleich er über der Betrachtung eines Volkes die Sache
- der ganzen Welt zu vergessen scheint. Seine Geschichte ist keine
- ununterbrochene, bewegliche Kette von Begebenheiten; hier gibt es keine
- dramatischen Effekte; aus allem spricht die bedächtige Weisheit des
- Autors. Er gibt seinen Gedanken keine scharfen prägnanten
- Formulierungen: sie scheinen sich bescheiden und häufig wie in einem
- unbeachteten Winkel zu verbergen, so daß man sie nur entdeckt, wenn man
- sie sucht; aber dafür sind sie so erhaben und zugleich so tief, daß nach
- einem Ausdruck Wagners im »Faust« der ganze Himmel zu dem glücklichen
- Finder niedersteigt. Dieser bescheidene, prunklose Vortrag und der
- Mangel an blendenden Lichtern weckt unwillkürlich unser Mitleid; sie
- sind der Grund, warum Müller so wenig bekannt oder besser gesagt nicht
- so bekannt ist, wie er es verdient. Nur solche Menschen, die tief
- durchdrungen von der Idee der Geschichte und einer edleren Bildung fähig
- sind, können ihn ganz verstehen; den übrigen erscheint er unbedeutend
- und oberflächlich.
- Herder vertritt eine ganz andere Art der Geschichtsauffassung. Er
- betrachtet alles mit geistigen Augen. Bei ihm verschlingt die Macht der
- Idee völlig die greifbare Form. Stets sieht er einen Menschen als
- Vertreter der ganzen Menschheit an. Er forscht tief und begeistert
- gleich einem Brahmanen der Natur -- wie man ihn in Deutschland zu nennen
- pflegt. Bei ihm werden die Ereignisse bedeutender durch ihre
- Gruppierung, all seine Gedanken sind erhaben, tiefsinnig und
- weltumspannend. Sie erscheinen bei ihm nur selten in Beziehung zu der
- sichtbaren Natur und steigen gleichsam unmittelbar aus ihrem reinen
- Feuer empor. Daher fehlt es ihnen auch an historischer Greifbarkeit und
- Plastik. Wenn ein Ereignis riesengroß ist und eine Idee einschließt --
- dann entfaltet es sich bei ihm mit all seinen geheimsten Nebenwirkungen;
- aber wenn es zu nah mit dem Leben und der Praxis in Berührung kommt,
- dann mangelt es ihm am bestimmten Kolorit. Wenn er sich herabläßt,
- einzelne Persönlichkeiten oder die Lenker der Geschichte zu schildern,
- dann erscheinen sie bei ihm lange nicht so deutlich wie die allgemeinen
- Gruppen und sie nehmen eine zu allgemeine Physiognomie an; sie sind
- entweder ganz gut oder ganz böse; alle die zahllosen Schattierungen der
- Charaktere, alle Verquickung und Mannigfaltigkeit der Eigenschaften,
- deren Erkenntnis nur einem Forscher zuteil wird, der die Menschen mit
- Mißtrauen betrachtet, alle diese Abstufungen verschwinden völlig bei
- ihm. Er ist unendlich weise in der Erforschung des idealen Menschen und
- der Menschheit, aber ein Kind in der Erkenntnis des wirklichen Menschen,
- und dies ist nur natürlich --, da ein Weiser immer groß ist in seinen
- Gedanken und unwissend in den Kleinigkeiten, die das Leben ausfüllen.
- Als Dichter steht er weit höher als Schlözer und Müller. Aber gerade
- weil er Poet ist, so erschafft und erarbeitet er alles in seinem Innern
- in seinem einsamen Arbeitszimmer; ganz ergriffen von einer höheren
- Offenbarung, wählte er stets nur das Schöne und Große, weil das nun
- einmal der Natur seiner erhabenen, reinen Seele entspricht. Aber das
- Hohe und Schöne reißt sich manches Mal von dem niedren und verachteten
- Leben los oder wird durch den Druck jener zahllosen und
- verschiedenartigen Erscheinungen, die soviel Buntheit in das menschliche
- Leben hineinbringen und deren Erkenntnis nur selten dem weltabgewandten
- Weisen zufällt, hervorgerufen. Sein Stil zeichnet sich vor dem der
- anderen durch Bilderreichtum und breite Pinselführung aus, er ist eben
- Dichter und hebt sich daher deutlich von dem ewig ruhigen und
- bedächtigen Müller, diesem Philosophen und Gesetzgeber, sowie von dem
- fast immer schroffen und unzufriedenen kritischen Philosophen Schlözer
- ab.
- Mir scheint, wenn man Herders tiefe Schlüsse, die bis in die fernsten
- Anfänge der Menschheit reichen, mit dem schnellen, feurigen Blick
- Schlözers und der erfinderischen, weltgewandten Weisheit Müllers
- vereinigen könnte, dann hätten wir erst einen Historiker, der da fähig
- wäre, eine Weltgeschichte zu schreiben. Und doch würde ihm noch manches
- dazu fehlen; es würde ihm noch an jener dramatischen Kraft mangeln, die
- wir weder bei Schlözer, noch bei Müller, noch auch bei Herder finden.
- Ich verstehe unter dem Wort »dramatische Kraft« nicht die Kunst, die
- darin besteht, einen guten Dialog zu führen, sondern die Fähigkeit,
- einem ganzen Werke jenen mitreißenden Schwung und jenes dramatische
- Interesse mitzuteilen, das manche von Schillers historischen Fragmenten,
- besonders die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, ausströmen und das
- fast jedes einfache Geschehnis auszeichnet. Doch zu allem Genannten
- möchte ich noch gern das Anziehende der Erzählergabe eines Walter Scott
- und seinen starken Sinn für alle feinen Nuancen hinzufügen. Nehmen wir
- dann noch Shakespeares Talent für die Entwicklung großer
- Charaktereigenschaften in den engsten Grenzen hinzu, dann, will es mir
- scheinen, hätten wir einen Historiker, wie er für eine Darstellung der
- Weltgeschichte erforderlich ist. Bis dahin aber werden Müller, Schlözer
- und Herder noch lange unsere großen Wegweiser bleiben. Sie haben viel,
- sehr viel Licht in die Weltgeschichte gebracht. Und wenn wir heute schon
- ein paar beachtenswerte geschichtliche Werke besitzen, so verdanken wir
- diese ihnen allein.
- 1832.
- III
- Der Newsky-Prospekt
- Es gibt in Petersburg nichts Schöneres als den Newsky-Prospekt; für
- Petersburg wenigstens bedeutet er alles! Gibt es einen Vorzug, der
- dieser Schönen unter den Straßen, dieser Zierde unserer Hauptstadt,
- fehlte! Ich bin überzeugt, daß kein einziger von den blassen Beamten,
- die ihre Einwohnerschaft bilden, den Newsky-Prospekt -- auch nicht für
- alle Herrlichkeiten der Welt -- eintauschen würde. Sie alle
- sind ganz begeistert für den Newsky-Prospekt; nicht nur die
- Fünfundzwanzigjährigen, die prachtvolle Schnurrbärte und einen
- wundervoll sitzenden Rock tragen, nein, auch jene, denen schon weiße
- Haare ums Kinn sprießen, und deren Köpfe glatt sind wie silberne
- Schüsseln. Und erst die Damen! Oh! die Damen schwärmen noch viel mehr
- für den Newsky-Prospekt. Wem kann er denn auch nicht gefallen! Sobald
- man nur auf die Straße heraustritt, so erfaßt einen schon eine
- Feiertagsstimmung. Selbst wenn man etwas sehr Wichtiges vorhat, so
- vergißt man sicherlich sein Geschäft, sobald man den Newsky betritt.
- Dies ist der einzige Ort, wo die Menschen erscheinen, nicht, weil sie
- dort sein müssen, und wo sie weder die Notwendigkeit noch das
- Geschäftsinteresse hintreiben, die doch sonst ganz Petersburg gefangen
- halten. Es kommt einem so vor, als sei der Mensch, der einem auf dem
- Newsky begegnet, weniger egoistisch als der auf der Morskaja, der
- Gorochowaja, Liteinji, Meschtschanskaja und den anderen Straßen, wo der
- Geiz, die Habsucht und Geschäftigkeit auf allen Gesichtern ausgeprägt
- ist, die man vorbeikommen oder in Wagen und Droschken einherjagen sieht.
- Der Newsky ist der wichtigste Verkehrspunkt Petersburgs, wo alles sich
- begegnet. Der Bewohner der Petersburger oder der Wiborger Seite, der
- seinen Freund auf Peski oder am Moskauer Tor schon seit vielen Jahren
- nicht mehr besucht hat, kann ganz sicher sein, ihn hier zu treffen. Kein
- Adreßbuch und keine Auskunftsstelle kann einem so zuverlässige
- Nachrichten vermitteln, wie der Newsky-Prospekt. Der Newsky-Prospekt ist
- allmächtig. Er bildet die einzige Zerstreuung für das an Spaziergängen
- so arme Petersburg. Wie ist sein Trottoir so rein gefegt und, o Gott!
- wie viele Füße haben ihre Spuren auf ihm hinterlassen! Der plumpe,
- schmutzige Stiefel des verabschiedeten Soldaten, unter dessen Wucht
- scheinbar jeder Granitblock bersten müßte, der kleine, an Leichtigkeit
- einer Rauchwolke vergleichbare Schuh der jungen Dame, die ihr zierliches
- Köpfchen nach den glänzenden Ladenfenstern hinwendet, wie die
- Sonnenblume ihr Antlitz der Sonne zukehrt, und der rasselnde Säbel des
- hoffnungsvollen Leutnants, der eine tiefe Furche in das Pflaster gräbt
- -- hier tritt alles zutage: die Gewalt der Kraft, wie die Macht der
- Schwäche. Welch schnelles phantastisches Spiel rollt sich im Lauf eines
- einzigen Tages hier ab! Wie viele Veränderungen erlebt er im Lauf von
- vierundzwanzig Stunden! Fangen wir mit dem frühen Morgen an, wenn ganz
- Petersburg nach heißem, frischgebackenem Brot riecht, und von alten
- Weibern in zerlumpten Kleidern und Mänteln angefüllt ist, die ihre
- Streifzüge durch die Kirchen beginnen und die weichherzigen Fußgänger
- überfallen. Ein wenig später ist der Newsky wieder ganz leer: noch
- liegen die wohlgenährten Ladenbesitzer und Kommis in ihren holländischen
- Hemden da und schlafen oder sie seifen ihre ehrwürdigen Backen ein und
- trinken ihren Kaffee; vor den Türen der Zuckerbäcker versammeln sich
- Bettler, und der schlaftrunkene Ganymed, der gestern noch gleich einer
- Fliege mit seiner Schokolade herumschwirrte, kriecht ohne Halsbinde und
- mit einem Besen in der Hand hervor und wirft ihnen altgebackene Kuchen
- und Brotreste zu. Auf der Straße trabt arbeitendes Volk einher, manches
- Mal überschreitet ein Haufen russischer Bauern, die zur Arbeit eilen,
- den Newsky; ihre Stiefel sind ganz mit Kalk beschmiert, und selbst der
- Katharinenkanal, der wegen seiner Sauberkeit bekannt ist, wäre nicht
- imstande, sie rein zu waschen. Um diese Zeit würde ich keiner Dame
- raten, dort spazierenzugehen, da das russische Volk sich solcher
- Ausdrücke zu bedienen pflegt, die sie wahrscheinlich nicht einmal im
- Theater zu hören bekäme. Manches Mal begegnet man auch einem schläfrigen
- Beamten mit einem Portefeuille unter dem Arm, wenn ihn der Weg nach dem
- Departement zufällig über den Newsky führt. Man kann wohl sagen, daß um
- diese Zeit d. h. bis 12 Uhr der Newsky für alle nur ein Mittel und nicht
- das eigentliche Ziel ist; er füllt sich allmählich mit Leuten, die sich
- durchaus nicht um ihn kümmern und nur an ihre Beschäftigung, ihre Sorgen
- und ihren Verdruß denken. Ein russischer Bauer läßt sich über ein
- Zehnkopekenstück oder gar über eine Kupfermünze im Werte von sieben
- Kopeken aus, Männer und alte Weiber gestikulieren mit den Händen oder
- halten Selbstgespräche, wobei sie mitunter recht bezeichnende Gesten
- machen, aber niemand hört auf sie oder lacht über sie, abgesehen etwa
- von ein Paar Jungen in buntgestreiften Kitteln mit leeren Flaschen oder
- neuen Stiefeln in den Händen, die wie ein Blitz auf dem Newsky hin und
- her schwirren. Um diese Zeit wird niemand darauf achten, wie Sie
- angezogen sind, selbst wenn Sie statt eines Hutes eine Mütze auf dem
- Kopfe hätten oder wenn Ihr Kragen aus ihrer Halsbinde hervorkröche.
- Um 12 Uhr machen die Gouverneure und Erzieher aller Nationalitäten mit
- ihren Zöglingen, die Batistkragen tragen, ihren obligaten Spaziergang.
- Die englischen Johns und die französischen Hähne gehen Arm in Arm mit
- den ihrer väterlichen Obhut anvertrauten Zöglingen auf und ab und
- erklären ihnen voller Anstand und Würde, die Schilder seien deshalb über
- den Kaufläden angebracht, damit man von ihnen ablesen könne, was in
- einem jeden Laden zu haben sei. Zahlreiche Gouvernanten, blasse Misses
- und rosige Mademoiselles gehen wichtig hinter leichtfüßigen, koketten
- Fräuleins einher und schärfen ihnen ein, die linke Schulter höher zu
- ziehen und sich einer besseren Haltung zu befleißigen, kurz gesagt: um
- diese Zeit trägt der Newsky-Prospekt einen pädagogischen Charakter.
- Doch je mehr der Zeiger gegen 2 Uhr vorrückt, um so mehr verringert sich
- die Zahl der Pädagogen, Gouvernanten und Kinder und schließlich werden
- sie ganz von ihren zärtlichen Vätern verdrängt, die ihre
- buntgekleideten, nervenschwachen Gefährtinnen am Arme führen. Allmählich
- gesellen sich auch noch die zu ihnen, die ihre so wichtigen häuslichen
- Angelegenheiten erledigt haben: sie mußten mit ihrem Arzt über das
- Wetter sprechen, ihm einen kleinen Pickel zeigen, der sich auf der Nase
- gebildet hatte, mußten sich nach dem Befinden ihrer Kinder und Pferde
- erkundigen, welch erstere übrigens eine große Begabung an den Tag
- legten; dann mußten sie einen Theaterzettel und einen wichtigen
- Zeitungsartikel über die neu angekommenen und abgereisten Personen lesen
- und endlich mußten sie noch ihren Kaffee trinken; ferner gesellen sich
- auch noch die zu ihnen, denen ein beneidenswertes Schicksal den
- segensreichen Beruf eines Beamten für besondere Aufträge bescherte; auch
- die schließen sich ihnen an, die in den ausländischen Ämtern dienen und
- sich durch die Vornehmheit ihrer Beschäftigung und ihrer Manieren
- auszeichnen. Mein Gott! was gibt es doch für herrliche Ämter und Berufe,
- wie erheben und erquicken sie unser Herz! Aber ach! ich selbst stehe
- nicht im Staatsdienst und habe nicht das Vergnügen, die feinen
- Umgangsformen eines Vorgesetzten an mir zu erproben. Alles, was man auf
- dem Newsky sieht, strotzt förmlich von Würde und Wohlanständigkeit; die
- Herren in ihren langen Röcken mit den Händen in den Taschen und die
- Damen in ihren rosa, weißen oder hellblauen Atlasjacken und ihren
- koketten Hütchen! hier kann man ganz ungewöhnlichen Backenbärten
- begegnen, die mit einer besonderen, geradezu staunenerregenden
- Geschicklichkeit hinter die Halsbinde gesteckt sind[5], herrlichen
- sammetweichen Backenbärten, die wie Atlas glänzen, und schwarz sind wie
- der feinste Zobel oder ein Stück Kohle; aber ach! leider gehören diese
- immer nur Ausländern an. Denen, die in den andern Departements dienen,
- hat die Vorsehung die schwarzen Bärte versagt, und sie müssen zu ihrem
- großen Leidwesen rote tragen. Ferner trifft man hier so herrliche
- Schnurrbärte, daß keine Feder und kein Pinsel imstande wären, sie
- abzuschildern; Schnurrbärte, deren Pflege weitaus die größere Hälfte des
- Lebens gewidmet wird, die der Gegenstand einer dauernden Sorge bei Nacht
- und bei Tage sind; Schnurrbärte, die mit den herrlichsten Parfüms und
- Düften getränkt und mit den kostbarsten und seltensten Pomaden
- bestrichen sind; die des Nachts in das feinste Velinpapier gewickelt
- werden, die sich der rührendsten Anhänglichkeit ihrer Besitzer erfreuen
- und die den Neid aller Vorübergehenden erwecken. Hier wird jedermann
- geblendet durch die tausend verschiedenen Arten von Hüten, Kleidern und
- durch all die bunten und leichten Tücher, denen ihre Besitzerinnen
- häufig ganze zwei Tage lang die Treue bewahren. Es ist, als hätte sich
- ein ganzes Meer von Faltern von den zarten Blumenblüten erhoben und
- schwebe nun als leuchtende Wolke über den schwarzen Käfern, die durch
- das männliche Geschlecht repräsentiert werden. Hier begegnet man solchen
- Taillen, wie man sie nicht einmal im Traum zu sehen bekommt: feinen,
- schmalen Taillen, nicht dicker wie ein Flaschenhals, so daß man bei
- einer Begegnung mit ihren Besitzerinnen ehrerbietig zur Seite tritt, um
- nur nicht in unvorsichtiger Weise mit seinen unhöflichen Ellbogen gegen
- sie anzustoßen; es übermannt einen eine Schüchternheit und eine wahre
- Angst, daß man am Ende gar durch einen unvorsichtigen Atemzug dieses
- herrliche Gebilde der Natur und der Kunst zerstören könnte. Und was für
- Frauenärmel man auf dem Newsky antrifft! Nein, welch eine Pracht! Sie
- haben eine gewisse Ähnlichkeit mit zwei Luftballons, daß man meint, die
- Dame müßte sich plötzlich in den Äther emporschwingen, wenn der Herr sie
- nicht festhielte; denn es ist ebenso angenehm und leicht, eine Dame in
- die Höhe zu heben, wie ein volles Champagnerglas an die Lippen zu
- setzen. Nirgends begrüßt man sich so würdevoll und so ungezwungen wie
- auf dem Newsky-Prospekt. Hier kann man einem Lächeln begegnen, einem
- Lächeln, das einzig in seiner Art und über alle Kunst erhaben ist; man
- möchte mitunter dahinschmelzen vor Vergnügen über solch ein Lächeln;
- aber es gibt auch ein Lächeln, vor dem man ganz klein wird und
- zusammenknickt wie ein Grashalm, so daß man das Haupt senkt, und dann
- gibt es wieder eines, bei dem man sich höher fühlt als der
- Admiralitätsturm, und das uns wieder hoch emporhebt. Hier hört man mit
- außergewöhnlichem Anstand und einem hohen Gefühl der eigenen Würde von
- Konzerten und vom Wetter reden. Hier begegnet man einer Unzahl
- unergründlicher Charaktere und Erscheinungen. Gott im Himmel! was für
- sonderbaren Charakteren begegnet man nicht auf dem Newsky! Es gibt eine
- Menge von Menschen, die uns bei einer Begegnung stets auf die Füße
- sehen, und wenn wir vorübergegangen sind, sich umkehren und unsere
- Frackschöße betrachten. Ich kann bis jetzt nicht begreifen, was das zu
- bedeuten hat. Anfänglich meinte ich, es seien Schuhmacher, aber keine
- Spur davon! Gewöhnlich dienen sie in irgendeinem Departement, und viele
- von ihnen schreiben ausgezeichnete Berichte, die von einer Behörde an
- die andere gesandt werden, oder es sind Leute, die sich mit
- Spazierengehen oder in verschiedenen Konditoreien mit dem Lesen von
- Journalen beschäftigen, mit einem Wort, es sind meist sehr achtbare
- Menschen. Um diese gesegnete Zeit zwischen 2 und 3 Uhr nachmittags
- könnte man den Newsky-Prospekt die auf und ab wogende Hauptstadt nennen.
- Dann gleicht er einer Ausstellung der allerschönsten Erzeugnisse der
- Menschheit. Der eine läßt seinen feinen Rock mit dem schönsten
- Biberkragen sehen, ein anderer eine wundervolle griechische Nase, ein
- dritter einen herrlichen Backenbart, eine vierte ein Paar wunderbare
- Augen und ein reizendes Hütchen, ein fünfter einen Ring mit einem
- Talisman, den er am wohlgepflegten Daumen trägt, eine sechste einen Fuß
- in einem entzückenden Stiefelchen, ein siebenter eine staunenerregende
- Halsbinde, ein achter einen verblüffenden Schnurrbart, ... aber die Uhr
- schlägt drei -- die Menschen verlaufen sich, und die Ausstellung
- verödet.
- [Fußnote 5: Zur Zeit Nikolaus I. waren die Bärte verboten.]
- Um 3 Uhr findet ein neuer Dekorationswechsel statt! Auf dem Newsky wird
- es plötzlich Frühling! er füllt sich ganz mit Beamten in grünen
- Amtsfräcken. Hungrige Titulär-, Hof- und andre »Räte« suchen aus allen
- Kräften ihre Schritte zu beschleunigen. Junge Kollegienregistratoren,
- Gouvernements- und Kollegiensekretäre beeilen sich noch schnell, ihre
- freie Zeit auszunutzen und sich auf dem Newsky zu zeigen, und kommen mit
- einem Anstand einhergegangen, als hätten sie bei Leibe keine
- sechs Stunden im Bureau gesessen. Dagegen kommen die _alten_
- Kollegiensekretäre, Titulär- und Hofräte schnell und mit gesenktem Kopfe
- vorbeigeschritten, sie haben keine Zeit, sich die Spaziergänger
- anzuschauen und haben sich noch nicht völlig von ihren Sorgen
- losgerissen; in ihren Köpfen summt und brummt es, da steckt ein ganzes
- Archiv von angefangenen und noch nicht abgeschlossenen Arbeiten, und
- statt der Kaufläden sehen sie nichts wie Konvolute von Akten und das
- runde Gesicht ihres Bureauchefs.
- Von 4 Uhr an ist der Newsky leer, dann trifft man dort kaum noch einen
- Beamten. Höchstens eine Näherin, die mit einem Karton in der Hand über
- die Straße läuft oder das arme Opfer eines menschenfreundlichen
- Tischvorstehers in einem Friesmantel, einen zugereisten Sonderling, dem
- alle Stunden des Tages gleich viel bedeuten, eine lange, steife
- Engländerin mit einem Pompadour und einem Buch in der Hand, einen
- Bureaudiener, einen Russen mit einem dürftigen Bart, in einem
- baumwollenen Rock, dessen Taille beinahe oben am Halse sitzt, einen
- Menschen, dem man sofort die ganze Haltlosigkeit seiner Existenz
- ansieht, und bei dem sich alles bewegt, der Rücken, die Hände, die Füße
- und der Kopf, wenn er behutsam auf dem Trottoir einhergeht; oder man
- begegnet etwa noch einem kleinen Handelsmann -- sonst trifft man um
- diese Zeit niemand auf dem Newsky-Prospekt.
- Sobald sich jedoch die Dämmerung auf die Häuser und Straßen hinabsenkt
- und ein in eine Bastmatte gewickelter Nachtwächter langsam die Leiter
- besteigt, um die Laternen anzuzünden, sobald aus den niedrigen Fenstern
- der Kaufläden die Kupferstiche hervorgucken, die sich im Laufe des Tages
- nicht sehen lassen durften, dann belebt der Newsky sich wieder, dann
- kommt wieder Leben und Bewegung in ihn. Jetzt bricht jene geheimnisvolle
- Zeit an, wo die Lampen allen Dingen einen so verlockenden, wunderbaren
- Schimmer verleihen. Um diese Zeit begegnet man vielen jungen Leuten,
- meistenteils Hagestolzen in warmen Röcken und Mänteln. Um diese Zeit
- fühlt man, daß dieses alles einen Zweck, ein Ziel oder besser gesagt
- etwas Ähnliches wie ein Ziel bekommt, etwas ganz Besonderes und
- Unbestimmtes; jetzt beschleunigen alle ihre Schritte und bleiben dann
- wieder stehn, es kommt etwas Ungleichmäßiges, Unruhiges in ihre
- Bewegungen. Lange Schatten huschen über die Mauern und über das Pflaster
- hin und reichen mit ihren Köpfen fast bis zur Polizeibrücke. Junge
- Kollegienregistratoren, Gouvernements- und Kollegiensekretäre
- promenieren lange hin und her, während die alten Kollegienregistratoren,
- Titulär- und Hofräte größtenteils zu Hause sitzen, entweder weil sie
- verheiratet sind oder weil ihre deutschen Köchinnen so gut kochen. Jetzt
- trifft man wieder die alten, ehrwürdigen Herren, die mit so viel Würde
- und einem erstaunlichen Anstand um 2 Uhr auf dem Newsky spazierengingen.
- Allein, jetzt sieht man sie ebenso laufen wie die jungen
- Kollegienregistratoren, um einer von Ferne herannahenden Dame unter den
- Hut zu gucken. Die vollen, mit dicker roter Schminke bedeckten Lippen
- und Wangen gefallen nämlich vielen Spaziergängern, hauptsächlich jedoch
- den Handlungskommis, den Bureaudienern und den Kaufleuten, die lange
- deutsche Röcke tragen und Arm in Arm scharenweise daherkommen.
- »Halt!« rief um diese Zeit der Leutnant Piragow und hielt einen
- befrackten und in einen Mantel gehüllten jungen Mann, der neben ihm
- daherging, am Arme fest, »hast du gesehn?«
- »Gewiß habe ich sie gesehn: eine echt peruginische Bianka!«
- »Ja, von welcher sprichst du eigentlich?«
- »Von ihr, von der da mit den dunklen Haaren; was für Augen, Gott! was
- für Augen! diese Figur, diese Züge, dies Oval des Gesichts -- ein wahres
- Wunder!«
- »Ach was, ich spreche von der Blonden, die hinter ihr nach jener Seite
- ging. Nun, warum gehst du denn der Brünetten nicht nach, wenn sie dir so
- gefällt?«
- »Ich bitte dich, wo denkst du hin!« rief tief errötend der junge Mann im
- Frack. »Als ob sie zu denen gehört, die des Abends auf dem Newsky
- herumspazieren; das ist gewiß eine feine Dame« -- fuhr er seufzend fort
- -- »ihr Mantel allein kostet sicherlich 80 Rubel.«
- »Du Grünschnabel!« rief Piragow und stieß ihn mit Gewalt nach jener
- Richtung, wo ihr leuchtender Mantel wehte. »Geh, Einfaltspinsel, sonst
- entwischt sie dir! ich gehe der Blonden nach!« Und beide Freunde
- trennten sich.
- »Wir kennen euch!« dachte Piragow mit einem selbstzufriedenen und
- selbstbewußten Lächeln; er war davon überzeugt, daß es keine Schöne gab,
- die ihm widerstehen könnte.
- Der junge Mann im Frack und im Mantel ging schüchtern und ängstlichen
- Schritts nach jener Seite, wo fern von ihm der bunte Mantel flatterte;
- wenn das Licht der Laterne auf ihn fiel, so leuchteten seine Farben
- grell auf, um dann wieder fern im Dunkel zu verschwinden. Das Herz des
- jungen Mannes schlug heftig, und er beschleunigte unwillkürlich seine
- Schritte. Er wagte gar nicht daran zu denken, daß er die Aufmerksamkeit
- der sich entfernenden Schönen auf sich ziehen könnte, und noch viel
- weniger konnte er einen so schwarzen Gedanken zulassen, wie Piragow ihn
- angedeutet hatte; aber er wollte gern das Haus sehen und sich die
- Wohnung dieses herrlichen Geschöpfs merken, das direkt vom Himmel auf
- den Newsky herabgeflogen zu sein schien und wahrscheinlich wieder, Gott
- weiß wohin, entschwinden würde; und er rannte so schnell vorwärts, daß
- er in einem fort allerhand solide Herren mit ergrauten Backenbärten vom
- Trottoir herunterstieß.
- Dieser junge Mann gehörte einer Klasse von Menschen an, die bei uns eine
- recht merkwürdige Erscheinung bilden und ebensowenig unter die Einwohner
- Petersburgs gehören wie unsere Traumbilder in die reale Welt. Man
- begegnet diesem außerordentlichen Typus nur ganz selten in einer Stadt,
- wo fast alle Bewohner Beamte, Kaufleute oder deutsche Handwerker sind.
- Das war ein Künstler! Nicht wahr, das ist doch eine merkwürdige
- Erscheinung? Ein Petersburger Künstler! Ein Künstler im Lande des
- Schnees! im Lande der Finnen, wo alles naß, eben, glatt, blaß, grau und
- neblig ist! Diese Künstler haben durchaus keine Ähnlichkeit mit den
- italienischen Künstlern, die stolz und leidenschaftlich sind wie das
- italienische Land und der italienische Himmel, im Gegenteil, die
- Petersburger Künstler sind meistens ein braves, schlichtes Völkchen, sie
- sind schüchtern und sorglos, lieben im stillen ihre Kunst, trinken im
- kleinen Stübchen ihren Tee mit zwei guten Kameraden, reden bescheiden
- von ihrem Lieblingsthema und träumen nicht einmal von Luxus oder
- Überfluß. Stets laden sie irgendein altes Bettelweib zu sich ein und
- lassen es sechs Stunden bei sich sitzen, um ihr jämmerliches, stumpfes
- Gesicht auf die Leinwand zu werfen. Sie malen die Perspektive ihres
- Zimmers, in dem sich allerhand malerischer Plunder herumtreibt:
- Gipshände und -füße, die mit der Zeit durch den Staub eine kaffeebraune
- Farbe angenommen haben, zerbrochene Staffeleien, eine hingeworfene
- Palette, ein Freund, der Guitarre spielt, Wände, die mit Farbenklecksen
- beschmiert sind, oder ein offenes Fenster, durch das man in der Ferne
- die blasse Newa und ein paar arme Fischer in roten Hemden sieht. Die
- Arbeiten dieser Künstler haben fast immer ein graues, trübes Kolorit --
- diesen unauslöschlichen Stempel des Nordens. Trotz alledem sind sie
- stets mit wahrhaftem Genuß bei der Arbeit. Häufig lebt in ihnen ein
- echtes Talent, und wenn nur die frische Luft Italiens sie umwehte, so
- würde es sich sicherlich ebenso frei, ungehemmt und herrlich entwickeln,
- wie eine Pflanze, die man aus dem Zimmer in die frische, reine Luft
- trägt. Diese Künstler sind sehr schüchtern; ein Stern oder eine dicke
- Epaulette bringen sie schon in solch eine Verwirrung, daß sie sofort mit
- dem Preis für ihre Werke herabgehen. Manches Mal lieben sie es, sich zu
- putzen und schön zu machen, aber ihre Eleganz wirkt immer herausfordernd
- und macht den Eindruck eines Flickens auf einem alten Kleidungsstück.
- Zuweilen sieht man sie in einem ausgezeichneten Frack und einem
- schmutzigen Mantel oder in einer teuren Sammtweste und einem ganz
- befleckten Rock daherkommen. Dann erinnern sie an eine ihrer
- unvollendeten Landschaften, auf der man häufig eine auf dem Kopf
- stehende Nymphe entdecken kann, da der Künstler die Landschaft einfach
- auf eine schon bemalte Leinwand, ein altes Bild, das er einstmals mit
- Begeisterung begonnen, hingemalt hat, weil er gerade keine andere
- Leinwand zur Verfügung hatte. Solch ein Künstler sieht niemand gerade
- ins Auge; wenn er einen ansieht, so ist sein Blick trübe und unbestimmt;
- er durchbohrt Euch nicht mit dem Habichtauge des Forschers oder mit dem
- Falkenblick eines Kavallerieleutnants. Dies kommt daher, weil er stets
- Ihre Züge und zugleich die irgendeines Herkules aus Gips beobachtet, der
- bei ihm im Zimmer steht, oder weil ihm das Bild vorschwebt, das er
- demnächst malen will. Daher gibt er Euch auch oft falsche und
- unzusammenhängende Antworten, und die Gedanken, die in seinem Hirn
- durcheinanderschwirren, vergrößern noch seine Schüchternheit.
- Zu dieser Art von Leuten gehörte auch der oben erwähnte junge Mann --
- der Künstler Piskarjow; er war sehr schüchtern und bescheiden, aber in
- seiner Seele lebte doch ein Funke von Gefühl, der im gegebenen Moment
- zur Flamme werden konnte. Mit einem geheimen Bangen eilte er dem
- Gegenstande seiner Bewunderung nach, der einen so tiefen Eindruck auf
- ihn gemacht hatte, und er schien sich selbst über seine Dreistigkeit zu
- wundern. Die Unbekannte, die seine Augen, seine Gefühle und seine
- Gedanken so ganz gefangengenommen hatte, wendete plötzlich ihr Köpfchen
- und sah ihn an! Gott! welch göttliche Züge! Die herrliche, blendend
- weiße Stirn war von wundervollen Haaren eingerahmt, die schwarz waren
- wie Achat; sie kräuselten sich in prachtvollen Locken, ein Teil fiel
- unter dem Hut hervor und berührte die von der abendlichen Kälte leicht
- getöteten Wangen. Um ihre fest geschlossenen Lippen spielte ein Schwarm
- von entzückenden Träumen. Alles, was uns von den Erinnerungen unserer
- Kindheit übrigbleibt -- alles, was beim Schein des Lämpchens vor dem
- Heiligenbilde unsere Schwärmerei und stille Begeisterung weckt -- alles
- dies schien sich auf diesen Lippen voll wundersamer Harmonie zu
- vereinigen, ineinanderzufließen und widerzuspiegeln. Sie sah Piskarjow
- an, und sein Herz erzitterte bei diesem Blick, sie sah ihn voller
- Strenge an, und ein Gefühl der Empörung über diese freche Verfolgung
- sprach aus ihren Zügen; aber auf diesem herrlichen Antlitz hatte selbst
- der Zorn etwas Bezauberndes. Von Scham und Schüchternheit übermannt,
- blieb er stehen und schlug die Augen nieder; aber wie konnte er nur
- diese Gottheit aus den Augen verlieren, ohne das Heiligtum kennen
- gelernt zu haben, in dem sie sich niedergelassen hatte. Solche Gedanken
- schossen unserem jungen Schwärmer durch den Kopf, als er sich entschloß,
- ihr zu folgen. Damit dies jedoch nicht bemerkt würde, folgte er ihr aus
- weiter Ferne, blickte sich sorglos nach allen Seiten um und sah sich die
- Schilder an den Häusern an, ließ aber dabei die Unbekannte keinen Moment
- aus den Augen. Die Zahl der Spaziergänger wurde geringer, und auf der
- Straße wurde es stiller, da sah sich die Schöne um, und es schien ihm,
- als kräusele ein leichtes Lächeln ihre Lippen. Ein Zittern lief ihm
- durch alle Glieder: er wollte seinen Augen nicht trauen. Nein, es war
- wohl nur die Laterne, die ihm mit ihrem trügerischen Licht dies Lächeln
- vorgegaukelt hatte. Allein, der Atem stockte in seiner Brust, alles in
- ihm erzitterte, alle seine Sinne erglühten, und ein seltsamer Nebel
- hüllte alles vor ihm ein. Das Trottoir bewegte sich unter seinen Füßen,
- die Wagen und die vorüberjagenden Pferde schienen stillzustehn, die
- Brücke dehnte sich immer mehr in die Länge und barst über ihrem Bogen
- auseinander, die Häuser standen auf dem Kopfe, ein Wächterhäuschen
- stürzte auf ihn zu, und die Hellebarde des Wächters, die goldenen
- Buchstaben der Schilder mit der darauf gemalten Schere: alles leuchtete
- und blitzte unmittelbar vor seinen Augenwimpern auf. Und dies alles
- hatte der einzige Blick, die eine Wendung des schönen Köpfchens
- hervorgerufen. Taub, blind und gedankenlos folgte er den zarten Spuren
- der niedlichen Füßchen und versuchte die Hast seiner Schritte, die nach
- dem Takt seines Herzschlages dahinstürmten, zu mäßigen. Manches Mal
- packte ihn der Zweifel: war wirklich der Ausdruck ihres Gesichtes so
- freundlich gewesen? -- und er blieb einen Augenblick stehn, aber das
- Pochen seines Herzens, eine unüberwindliche Gewalt, die Erregung all
- seiner Sinne trieb ihn immer wieder vorwärts. Er merkte gar nicht, wie
- sich auf einmal ein vierstöckiges Haus vor ihm erhob, das mit seinen
- vier erleuchteten Fensterreihen auf ihn herabsah, und wie er plötzlich
- gegen das eiserne Geländer vor der Einfahrt stieß. Er sah, wie die
- Unbekannte die Treppe hinaufflog; dann aber drehte sie sich um, legte
- den Finger auf die Lippen und gab ihm ein Zeichen, ihr zu folgen. Seine
- Knie zitterten ihm, seine Gefühle und Gedanken glühten, ein wunderbares
- Glücksgefühl traf wie ein Blitz mit schneidender Schärfe sein Herz.
- Nein, das war _doch_ kein Traum! Gott! so viel Glück in einem einzigen
- Augenblick! welch herrliches Leben in diesen kurzen zwei Minuten.
- Aber war es auch wirklich kein Traum? War sie, für deren himmlischen
- Blick er bereit war, sein ganzes Leben zu opfern, deren Wohnstätte nahe
- zu sein, er schon für ein unaussprechliches Glück hielt -- war sie denn
- wirklich jetzt eben so freundlich und so aufmerksam gegen ihn gewesen?
- Er flog die Treppen hinauf. Er war keines irdischen Gedankens fähig, und
- keine irdische Leidenschaft loderte mehr in ihm. Nein, in diesem
- Augenblick war er rein und makellos wie ein reiner, keuscher Jüngling,
- den nur ein unbestimmtes, geistiges Liebesbedürfnis erfüllte. Und was in
- einem lasterhaften Menschen kühne und häßliche Wünsche geweckt hätte,
- das läuterte _seine_ Gefühle nur noch mehr. Das Vertrauen, das ihm das
- herrliche schwache Geschöpf entgegenbrachte, dies Vertrauen
- verpflichtete ihn zu dem Gelübde, mit ritterlicher Strenge und
- sklavischer Unterwerfung all ihre Befehle zu erfüllen. Er wünschte nur,
- daß die Aufgaben, die sie ihm stellen würde, so schwer als möglich, ja,
- geradezu unausführbar wären, damit er mit voller Anspannung aller seiner
- Kräfte hinfliegen könnte, sie zu überwinden. Er zweifelte nicht daran,
- daß irgendein geheimnisvolles und wichtiges Ereignis die Unbekannte
- bewogen hätte, sich ihm anzuvertrauen, daß sicherlich bedeutende
- Dienstleistungen von ihm gefordert werden würden, und er fühlte schon
- die Kraft und die Entschlossenheit in sich, die ihn zu allem fähig
- machte.
- Die Treppe wand sich immer mehr hinauf, und mit ihr drehten sich seine
- Träume und Gedanken im Kreise herum. »Steigen Sie vorsichtiger hinauf,«
- erklang eine Stimme gleich einer Harfe und ließ all seine Sinne von
- neuem erbeben. Auf dem dunklen Treppenabsatz des vierten Stockwerkes
- klopfte die Unbekannte an die Tür; sie öffnete sich, und sie traten
- zusammen ein. Eine hübsche Frau kam ihnen mit einem Licht entgegen;
- allein, sie sah Piskarjow so eigentümlich und frech an, daß er
- unwillkürlich die Augen senkte. Sie traten ins Zimmer. Er erblickte in
- drei verschiedenen Ecken drei weibliche Figuren. Die eine legte Karten,
- die zweite saß vor einem Klavier und spielte mit zwei Fingern etwas wie
- eine elende Melodie einer altmodischen Polonäse, die dritte saß vor dem
- Spiegel und kämmte ihr langes Haar mit einem Kamm, und es fiel ihr nicht
- ein, beim Eintritt des Fremden ihre Beschäftigung zu unterbrechen.
- Überall herrschte eine peinliche Unordnung, wie man sie sonst nur im
- Zimmer eines sorglosen Hagestolzen antrifft. Die noch ziemlich gut
- erhaltenen Möbel waren mit Staub bedeckt, ein Spinngewebe überzog die
- Stuckarbeit des Gesimses, durch die halbgeöffnete Tür des benachbarten
- Zimmers sah man einen mit einem Sporn versehenen Stiefel und den roten
- Aufschlag eines Uniformrockes, und den Eintretenden drang ganz ungeniert
- eine laute männliche Stimme und das Gelächter einer Frau entgegen.
- Mein Gott, wo war er hineingeraten! Anfangs traute er kaum seinen Augen
- und fing an, sich die Gegenstände im Zimmer genauer anzusehen; aber die
- nackten Wände, die Fenster, die durch kleine Vorhänge verhängt waren,
- deuteten durchaus nicht auf die Gegenwart einer sorgsamen Hausfrau; die
- schlaffen gealterten Züge dieser elenden Geschöpfe, von denen das eine
- sich gerade vor seine Nase hingesetzt hatte und ihn ebenso ruhig
- betrachtete, wie einen Fleck auf einem fremden Kleide, alles überzeugte
- ihn davon, daß er in eins jener häßlichen Asyle geraten sei, wo das
- gemeine Laster, das von einer falschen Überkultur und der großen
- Übervölkerung der Hauptstadt erzeugt wird, sich eine Wohnstätte
- gegründet hatte -- eins jener Asyle, wo der Mensch alles Reine und
- Heilige, das unser Leben verschönt, schändet und erstickt, wo das Weib,
- dies schönste Wunderwerk dieser Welt, die Krone der Schöpfung, sich in
- ein merkwürdiges, zweideutiges Wesen verwandelt hat, wo es mit dem
- Verlust seiner Seelenreinheit auch alle Weiblichkeit verliert, sich in
- widerwärtiger Weise die Manieren und das freche Wesen der Männer
- aneignet, und wo es aufhört, das herrliche, schwache Geschöpf zu sein,
- das sich seiner ganzen Natur nach so sehr von uns unterscheidet.
- Piskarjow maß sie vom Kopf bis zu den Füßen mit seinen Blicken, als
- wolle er sich noch einmal davon überzeugen, ob sie auch wirklich
- dasselbe Wesen sei, das ihn auf dem Newsky so bestrickt und so weit mit
- sich fortgeführt hatte. Aber auch jetzt war sie, wie sie da vor ihm
- stand, noch immer so schön wie vorhin; ihr Haar war noch ebenso
- herrlich, und ihre Augen erschienen ihm noch immer wahrhaft göttlich.
- Sie war jung und frisch, kaum 17 Jahre alt -- man sah es ihr an, daß das
- furchtbare Laster sie erst vor kurzem ergriffen hatte! Es hatte sich
- noch nicht an ihre Wangen herangewagt, sie waren noch frisch, zart und
- rosig; mit einem Wort, sie war wunderbar schön.
- Ganz in ihren Anblick versunken stand er da, und schon wollte er sich in
- seiner schlichten Weise, wie früher seinen Träumereien hingeben. Aber
- dieses lange Schweigen langweilte die Schöne; sie lächelte
- bedeutungsvoll und sah ihm gerade in die Augen. Allein dieses Lächeln
- hatte etwas Gemeines und Freches, war so sonderbar und paßte so schlecht
- zu ihrem Gesichte, wie etwa der Ausdruck der Frömmigkeit zu der Fratze
- eines bestechlichen Beamten oder ein Kontobuch zu einem Poeten.
- Piskarjow erbebte. Sie öffnete ihre reizenden Lippen und fing an zu
- reden, aber was sie sagte, war alles so dumm und abgeschmackt ... wie
- wenn zugleich mit der Tugend auch der Verstand den Menschen verließe! Er
- wollte nichts mehr hören ... und machte einen furchtbar komischen und
- einfältigen Eindruck wie ein Kind! Statt ihr Entgegenkommen auszunutzen,
- statt sich über solch einen Zufall zu freuen -- über den sich jeder
- andere an seiner Stelle ohne Zweifel gefreut hätte -- stürmte er, so
- schnell ihn seine Füße trugen, wie ein Reh auf die Straße.
- Gesenkten Hauptes und die Hände in den Schoß gelegt, saß er in seinem
- Zimmer wie ein armer Bettler, der am Meeresufer eine kostbare Perle
- gefunden hat und sie wieder ins Wasser fallen ließ. »So eine Schönheit!
- Solch göttliche Züge! Doch wo mußte ich sie finden? an welchem Ort! ...«
- das war alles, was er sagen konnte.
- Wahrlich, nie werden wir mächtiger vom Mitleid erfaßt, als beim Anblick
- der Schönheit, die der verderbliche Odem des Lasters gestreift hat. Ja,
- wenn sich noch das Häßliche mit ihm verbände, aber die Schönheit, die
- zarte Schönheit! ... Nur mit der Tugend und mit der Reinheit vereint sie
- sich in unseren Gedanken. Das schöne Mädchen, das den armen Piskarjow so
- bestrickt hatte, war wirklich eine wundersame und ungewöhnliche
- Erscheinung. Aber ihre Anwesenheit in diesem verächtlichen Kreise
- erschien um so unerklärlicher. Ihre Züge waren so herrlich geformt, der
- Ausdruck des schönen Gesichts war so edel, daß man durchaus nicht
- glauben konnte, das Laster habe schon seine Krallen in sie
- hineingeschlagen. Für einen leidenschaftlichen Gatten wäre sie eine
- Perle, für die kein Preis zu hoch, seine ganze Welt, sein Paradies, sein
- ganzer Reichtum gewesen; in einem bescheidenen Familienkreise hätte sie
- wie ein herrlicher, stiller Stern geleuchtet und mit einer Bewegung
- ihres wunderschönen Mundes ihre süßen Befehle erteilt. In einem von
- Menschen erfüllten Saale auf blankem Parkett, bei Kerzenglanz wäre sie
- eine Gottheit gewesen; eine Schar von Verehrern hätte in wortloser
- Anbetung zu ihren Füßen gelegen. Aber ach, der furchtbare, teuflische
- Wille des bösen Geistes, der darnach lechzt, die Harmonie dieses Lebens
- zu zerstören, hatte sie mit Hohngelächter in diesen schrecklichen
- Abgrund gestürzt.
- Völlig hingenommen von herzzerreißendem Mitleid, saß Piskarjow vor der
- zusammengeschmolzenen Kerze. Die Mitternacht war längst vorüber, die
- Turmuhr schlug halb eins, aber er saß noch immer unbeweglich, schlaflos
- und gedankenlos vor sich hindämmernd da. Schon wollte der Schlummer
- seine Unbeweglichkeit benützend, ihn leise überwältigen, das Zimmer fing
- an, vor seinen Blicken zu versinken, und der Kerzenschimmer blinkte noch
- leise durch die ihn gefangen haltenden Träume, als plötzlich ein
- Klopfen, das an der Türe ertönte, ihn aufschreckte und wieder
- ermunterte. Die Tür öffnete sich, und ein Diener in einer eleganten
- Livree trat ein. Noch nie hatte eine so reiche Livree sein einsames
- Zimmer aufgesucht. Und noch dazu zu dieser ungewöhnlichen Stunde ... er
- begriff nichts und starrte mit ungeduldiger Neugierde auf den
- eintretenden Diener.
- »Die Dame,« sagte der Diener, sich höflich verneigend, »bei der Sie die
- Güte hatten, vor ein paar Stunden vorzusprechen, bittet Sie, zu ihr zu
- kommen, und hat den Wagen nach Ihnen geschickt.«
- Piskarjow stand in sprachloser Verwundrung da, ein Wagen und ein
- Livreediener! ... Nein, hier lag sicher ein Mißverständnis vor ...
- »Hören Sie, mein Lieber,« sagte er schüchtern, »Sie haben sich gewiß in
- der Tür geirrt. Wahrscheinlich hat Ihre Herrin Sie zu einem anderen
- Herrn geschickt und nicht zu mir.«
- »Nein, mein Herr, ich irre mich nicht. Sie haben doch die Dame zu Fuß
- nach Hause begleitet: bis in ihr im vierten Stock gelegenes Zimmer in
- der Liteinaja?«
- »Ja, das habe ich getan.«
- »Nun, dann kommen Sie bitte schnell mit mir, meine Herrin will Sie
- durchaus sehen und bittet Sie, zu ihr ins Haus zu kommen.«
- Piskarjow lief die Treppe hinab. Auf dem Hofe stand wirklich ein Wagen.
- Er setzte sich hinein, die Tür schlug zu, die Pflastersteine erdröhnten
- unter den Rädern und Hufen der Pferde, und die erleuchteten Fassaden der
- Häuser mit den grellen Schildern und Laternen flogen an den
- Wagenfenstern vorüber. Während der Fahrt zerbrach sich Piskarjow den
- Kopf, er wußte nicht, wie er sich dies Abenteuer erklären sollte. Ein
- eigenes Haus, der Wagen, der Livreediener ... dies alles stimmte
- durchaus nicht zu dem Zimmer im vierten Stock, zu den staubigen Fenstern
- und dem verstimmten Klavier. Der Wagen hielt vor einer hell erleuchteten
- Einfahrt, und zu seinem Erstaunen erblickte Piskarjow eine Reihe
- Equipagen und hell erleuchtete Fenster, er vernahm die Unterhaltung der
- Kutscher, Musik usw. ... Ein vornehmer Livreediener hob ihn aus dem
- Wagen und führte ihn ehrfurchtsvoll in ein mit Marmorsäulen verziertes
- Vorhaus; der goldstrotzende Portier und die umherliegenden Mäntel und
- Pelze, alles war von dem grellen Lichte einer Lampe erleuchtet. Eine
- luftige Treppe, mit einem blitzenden Geländer, führte, umfächelt von
- aromatischen Düften, nach oben. Ohne recht zu wissen wie, hatte er sie
- erstiegen und nun trat er in den ersten Saal, aber schon beim ersten
- Schritt fuhr er erschreckt durch die vielen Menschen zurück.
- Die ungewöhnliche Buntheit der anwesenden Gäste brachte ihn vollends in
- Verwirrung; es schien ihm, daß irgendein Dämon die ganze Welt in eine
- Menge winziger Stücke zerbröckelt und dann diese Stücke ohne Sinn und
- Verstand durcheinandergewirbelt hätte. Blendende Frauenschultern,
- schwarze Fräcke, Kronleuchter und Lampen, duftige, fliegende
- Gazeschleier, ätherische Bänder und ein dicker Konterbaß, der über dem
- Geländer des wundervollen Chors hervorlugte, dies alles glänzte und
- glitzerte vor seinen Augen. Plötzlich sah er so viele ehrwürdige Greise
- und ältere Männer mit Sternen auf den Fräcken, und Damen, die so leicht,
- stolz und graziös über das Parkett schwebten oder in langen Reihen
- nebeneinander saßen, er hörte so viele französische und englische
- Wörter, und die jungen Leute in den schwarzen Fräcken trugen einen so
- edlen Anstand zur Schau, sprachen oder schwiegen mit so viel Würde,
- verstanden es so vorzüglich, nur das Allernotwendigste zu sagen,
- scherzten so herablassend, lächelten so höflich, hatten solch herrliche
- Backenbärte und wußten so geschickt ihre schönen Hände zu zeigen, indem
- sie ihre Halsbinde zurecht rückten; die Damen waren so duftig, so ganz
- hingenommen von einer absoluten Selbstzufriedenheit und Wonne, sie
- senkten so entzückend die Augen, -- daß ... Aber schon das völlig
- verschüchterte Wesen Piskarjows, der sich ängstlich an eine Säule
- drückte, ließ seine vollständige Verwirrung erkennen. Währenddessen
- hatte die Gesellschaft einen Kreis um eine tanzende Gruppe gebildet. Die
- Tänzerinnen schwangen sich in durchsichtige Schöpfungen der Pariser
- Modekunst, in Stoffe gehüllt, die ganz aus Luft gewebt schienen, im
- Kreise herum; sie berührten das Parkett nur ganz oberflächlich mit ihren
- funkelnden Füßchen und erschienen dadurch noch ätherischer, als wenn sie
- es überhaupt nicht berührt hätten. Eine von ihnen war noch schöner,
- kostbarer und glänzender gekleidet als die andern. Ihr ganzes Kostüm
- zeugte von einer wundersamen Harmonie und einem erlesenen Geschmack, und
- dabei hatte es den Anschein, als kümmerte sie sich gar nicht darum und
- als hätte sich diese Harmonie von selbst über sie ergossen. Sie schien
- die sie umgebende Schar der Zuschauer wohl zu bemerken und bemerkte sie
- auch wieder nicht, die schönen, langen Wimpern waren gleichgültig
- gesenkt, und ihre blendendweiße Gesichtsfarbe fiel noch mehr in die
- Augen, wenn bei einer leichten Senkung des Köpfchens ein schwacher
- Schatten auf ihre entzückende Stirn fiel.
- Piskarjow strengte alle seine Kräfte an, um sich einen Weg durch die
- Masse der Zuschauer zu bahnen, um sie besser sehen zu können, aber zu
- seinem größten Verdruß verdeckte ein ungeheurer Kopf mit schwarzem
- Lockenhaar in einem fort die Tänzerin; dabei sah er sich bald so von der
- Menge eingezwängt, daß er weder vorwärts noch rückwärts zu gehen wagte,
- aus Furcht, mit irgendeinem Geheimrat zusammenzustoßen. Endlich jedoch
- war es ihm auf irgendeine Art gelungen, sich bis nach vorne vorzudrängen
- und er warf einen Blick auf seine Kleider, um sie ein wenig in Ordnung
- zu bringen. Aber allmächtiger Gott: Was war das? Er hatte seinen alten
- Rock an, der voller Farbenflecken war; in der Eile des Aufbruchs hatte
- er es nämlich ganz vergessen, sich in einen anständigen Anzug zu werfen.
- Er wurde rot bis über die Ohren, ließ den Kopf hängen und wollte in die
- Erde versinken, aber es war wirklich keine Versenkung da, in der er
- hätte verschwinden können: hinter ihm stand eine ganze Mauer von
- eleganten Kammerjunkern in hochfeinen Uniformröcken. Er wünschte sich so
- weit fort als nur möglich von der Schönen mit der herrlichen Stirn und
- den entzückenden Wimpern. Voller Angst hob er die Augen, um zu sehen, ob
- sie ihn wohl gar anblickte. O Gott, sie stand ja vor ihm! Aber was war
- das? Was war das? -- »Sie ist es!« schrie er fast mit Aufgebot all
- seiner Kräfte. Es war wirklich dieselbe Schöne, die er auf dem
- Newsky-Prospekt getroffen und die er dann nach Hause begleitet hatte.
- Unterdessen aber hatte sie die Wimpern erhoben und sah alle mit ihrem
- klaren Blick an. »O Gott, wie schön ist sie! ...« das war alles, was er
- stockenden Atems sagen konnte. Sie suchte den ganzen Kreis mit ihren
- Augen ab; alle lechzten förmlich darnach, ihre Aufmerksamkeit auf sich
- zu ziehen, aber sie blickte nur mit einer gewissen Ermüdung und
- Gleichgültigkeit wieder weg, und ihre Augen begegneten denen Piskarjows.
- Welch ein Himmel! Welch ein Paradies lag in diesem Blick! Allmächtiger
- Gott! Woher wollte er die Kraft nehmen, ihn zu ertragen, sein Herz
- vermochte ihn nicht auszuhalten, es mußte zerreißen und die Seele mit
- sich entführen! Sie gab ihm ein Zeichen, aber nicht mit der Hand, noch
- durch eine Neigung des Kopfes, nein -- dieses Zeichen lag in dem Blick
- ihrer verführerischen Augen, in einem so feinen, unmerklichen Ausdruck,
- daß niemand ihn bemerken konnte; -- er aber bemerkte -- _er_ verstand
- ihn. Der Tanz dauerte lange, die müde Musik schien ersterben und
- erlöschen zu wollen, aber sie raffte sich wieder auf und tönte
- kreischend und laut schmetternd durch den Saal; da endlich -- war der
- Tanz zu Ende! Die schöne Frau setzte sich nieder, ihr Busen hob und
- senkte sich unter den zarten Wolken des Gazestoffes; ihre Hand (Gott,
- was war das doch für eine wundervolle Hand!) sank auf ihre Knie, und
- fiel schwer auf das durchsichtige Kleid; dem Kleide schien unter dieser
- Berührung Musik zu entströmen, und die zarte Fliederfarbe ließ das
- blendende Weiß der schönen Hand noch deutlicher hervortreten. Nur einmal
- diese Hände berühren -- und dann nichts mehr! Keinen anderen Wunsch mehr
- -- jeder andere wäre zu kühn gewesen ... Er stand hinter ihrem Stuhl und
- wagte es nicht, etwas zu sagen oder Atem zu holen -- »Sie haben sich
- wohl gelangweilt?« fragte sie, »ich habe mich auch gelangweilt. Ich
- merke es wohl, daß Sie mich hassen,« fügte sie hinzu und senkte ihre
- langen Wimpern.
- »Sie hassen? ich? ..« wollte der völlig fassungslose Piskarjow ausrufen
- und er hätte gewiß noch eine ganze Menge unzusammenhängender Worte
- hervorgebracht, aber in diesem Augenblick trat ein Kammerherr mit einem
- sehr schönen, gelockten Toupet hinzu und machte ein paar witzige und
- angenehme Bemerkungen. Er lächelte freundlich, ließ hierbei eine Reihe
- schöner Zähne sehen und schien mit jedem Witz einen Nagel in Piskarjows
- Herz zu treiben. Zum Glück wandte sich endlich einer von den Anwesenden
- mit einer Frage an den Kammerherrn.
- »Wie unerträglich ist das!« sagte sie und hob ihre himmlischen Augen zu
- ihm empor. -- »Ich will mich am andern Ende des Saales hinsetzen, kommen
- Sie zu mir!« Sie glitt durch die Menge und entschwand seinen Blicken.
- Halb wahnsinnig machte er sich zwischen den Leuten hindurch Bahn und war
- gleich darauf an ihrer Seite.
- »Ja, das war sie!« Sie saß da wie eine Königin, schöner und herrlicher
- als alle andern, und suchte ihn mit den Augen.
- »Sie sind hier?« sagte sie leise. »Ich will aufrichtig gegen Sie sein:
- die Art unserer Begegnung ist Ihnen gewiß sonderbar erschienen. Konnten
- Sie wirklich glauben, daß ich zu jener verächtlichen Menschenklasse
- gehöre, in deren Mitte Sie mich trafen? Mein Betragen scheint Ihnen
- merkwürdig, aber ich will Ihnen ein Geheimnis anvertrauen. Sind Sie auch
- imstande,« sagte sie und sah ihm forschend in die Augen -- »es nie
- jemand zu verraten?«
- »O gewiß, ich schwöre Ihnen ...«
- Aber in diesem Augenblick trat ein ältlicher Herr an sie heran, fing an,
- in einer Sprache, die Piskarjow unverständlich blieb, mit ihr zu reden,
- und reichte ihr den Arm. Sie warf Piskarjow einen flehenden Blick zu und
- gab ihm ein Zeichen, er solle auf seinem Platz bleiben und ihre Rückkehr
- abwarten, aber in seiner Ungeduld fühlte er sich außerstande,
- irgendeinen Befehl, und wäre es selbst der ihrige gewesen, zu empfangen.
- Er wollte ihr folgen, doch im Gedränge wurden sie voneinander getrennt.
- Er konnte das fliederfarbige Kleid nicht mehr entdecken, in höchster
- Unruhe eilte er aus einem Zimmer ins andere und stieß alle, die ihm
- entgegenkamen, unbarmherzig zur Seite. Allein in den Zimmern saßen nur
- vornehme und reiche Herren beim Whist und hüllten sich in ein stumpfes
- Schweigen. In einem Winkel stritten ein paar ältere Leute über die
- Vorzüge des Militärdienstes gegenüber denen des Zivildienstes, und in
- einer anderen Ecke machten einige junge Leute in eleganten Fräcken
- flüchtige Bemerkungen über das mehrbändige Werk eines ernsten Poeten.
- Piskarjow fühlte, wie ein ältlicher Herr von ehrwürdigem Äußeren ihn bei
- einem Knopf seiner Rocks ergriff und ihm eine sehr richtige Antwort auf
- eine Bemerkung von ihm erteilte, aber er stieß ihn grob von sich, ohne
- zu bemerken, daß der Herr einen recht hohen Orden um den Hals trug.
- Piskarjow lief in ein anderes Zimmer, sie war nicht da, dann in ein
- drittes -- auch da war sie nicht zu finden. »Wo ist sie nur? Führt mich
- zu ihr! Oh! ich kann nicht ohne ihren Anblick leben! ich will wissen,
- was sie mir zu sagen hatte!« Aber all sein Suchen war umsonst. Müde und
- ängstlich drückte er sich in eine Ecke, und blickte in die Menge vor
- ihm, doch seine müden Augen stellten ihm alles in unbestimmten Formen
- und Konturen dar. Endlich fing er an, die Wände seines eigenen Zimmers
- zu erkennen. Er blickte auf: vor ihm stand ein Leuchter, die Kerze war
- fast ganz heruntergebrannt und war im Begriff, zu verlöschen, das Licht
- war dahingeschmolzen, und der Talg hatte sich über den alten Tisch
- ergossen.
- Er hatte also nur geschlafen. Gott, welch ein schöner Traum! warum mußte
- er nur wieder erwachen?! warum hatte er nicht noch eine Minute warten
- können! Gewiß wäre sie zurückgekommen! Das aufdringliche Morgengrauen,
- das ihn mit seinem trüben Lichte peinigte, blickte durchs Fenster
- hinein. Das Zimmer lag grau und trübe da: überall herrschte Unordnung
- ... Oh, diese abscheuliche Wirklichkeit, was war sie im Vergleich mit
- dem Traume? Er kleidete sich schnell aus, legte sich ins Bett und hüllte
- sich in die Decke ein, ganz von dem einen Wunsche erfüllt, das
- entflohene Traumbild wieder zurückzurufen. Der Traum zögerte auch nicht,
- sich einzustellen, aber er ließ ihn nicht sehen, was er sehen wollte:
- bald erschien der Leutnant Piragow mit einer Pfeife im Munde, bald der
- Diener aus der Akademie, bald ein Wirklicher Staatsrat, dann wieder der
- Kopf einer Finnländerin, die er einst gemalt hatte, und ähnlicher
- Unsinn.
- Bis zum Nachmittag lag er im Bett, weil er wieder einschlafen wollte --
- aber die Schöne wollte nicht erscheinen. Wenn sie doch nur für einen
- Augenblick ihre wundervollen Züge vor ihm enthüllt, wenn er doch nur für
- einen Augenblick ihren leichten Schritt vernommen hätte, wenn ihr
- entblößter Arm nur für einen Moment, wie eine schneeweiße Wolke an
- seinen Blicken vorübergeschwebt wäre!
- Er hatte alles von sich geworfen und alles vergessen und saß nun mit
- einer trost- und hoffnungslosen Miene da, ganz in sein Traumgesicht
- versunken. Er dachte nicht mehr daran, etwas zu unternehmen;
- teilnahmslos und leblos starrten seine Augen durchs Fenster auf den Hof,
- wo ein schmutziger Wasserträger Wasser ausgoß, das in der Luft gefror,
- und wo ein Verkäufer mit meckernder Stimme seine Ware feilbot: »_alte
- Kleider zu verkaufen_.« Alles Wirkliche und Alltägliche berührte sein
- Ohr fremd und seltsam. So saß er bis zum Abend da, dann warf er sich
- leidenschaftlich ins Bett. Lange kämpfte er mit der Schlaflosigkeit,
- aber endlich besiegte er sie. Wieder fing er an zu träumen, aber diesmal
- war es ein fader, häßlicher Traum. »Gott, erbarme Dich! Oh, laß mich sie
- sehen, wenn auch nur für einen Augenblick, für einen einzigen
- Augenblick!« Er wartete wieder auf den Abend, schlief wieder ein und
- träumte von einem Beamten, der ein Beamter und zu gleicher Zeit ein
- Fagott war. »Oh! das ist unerträglich!« rief er da. Endlich erschien sie
- ihm, ihr Köpfchen, ihre Locken ... sie sah ihn an ... aber ach, nur ganz
- kurze Zeit! Wieder senkte sich ein Nebel herab, ... und abermals versank
- er in einen dummen Traum.
- Allmählich bildeten seine Träume den ganzen Inhalt seines Lebens, und
- von dieser Zeit ab nahm sein Leben eine merkwürdige Richtung an: man
- konnte sagen, er schlief -- wenn er wach war, und er war wach -- wenn er
- träumte. Wenn ihn jemand gesehen hätte, wie er ganz stumm vor seinem
- leeren Tisch saß, oder wie er auf der Straße einherging, er hätte ihn
- für einen Nachtwandler oder einen durch Alkohol vergifteten Narren
- gehalten; sein Blick war völlig ausdruckslos, seine angeborene
- Zerstreutheit entwickelte sich bis ins Maßlose und verjagte herrisch
- alle Bewegung und Empfindung aus seinem Gesicht, nur beim Anbruch der
- Nacht belebten sich seine starren Züge wieder.
- Dieser Zustand zerrüttete seinen Organismus, aber die größte Qual brach
- erst für ihn an, als der Schlaf endlich anfing, ihn ganz zu fliehen. Vom
- Wunsche verzehrt, diesen seinen einzigen Schatz zu retten, wandte er
- alle Mittel an, um ihn wiederzuerlangen. Er erfuhr, daß es ein Mittel
- gäbe, das einem den Schlaf wiederbringt, dazu brauche man nur Opium zu
- nehmen. Aber wo sollte er sich dies Opium verschaffen! Piskarjow
- erinnerte sich eines Persers, der Ladenbesitzer war, mit persischen
- Schals handelte und ihn bei jeder Begegnung gebeten hatte, ihm doch ein
- schönes Frauenbildnis zu malen. In der Überzeugung, daß der Perser Opium
- besäße, entschloß er sich, zu ihm zu gehen.
- Der Perser empfing ihn, mit verschränkten Beinen auf dem Diwan sitzend:
- »Wozu brauchst du Opium?« fragte er ihn.
- Piskarjow erzählte ihm von seiner Schlaflosigkeit.
- »Gut, ich will dir Opium geben -- aber male mir ein schönes
- Frauenbildnis dafür. Es muß jedoch wirklich schön sein! Sie muß schwarze
- Brauen und große Sammetaugen haben, und ich selbst will neben ihr liegen
- und meine Pfeife rauchen! Hörst du, aber schön muß sie sein,
- wunderschön, hörst du?«
- Piskarjow versprach ihm alles. Der Perser ging auf einen Augenblick
- hinaus und kehrte dann mit einem Fläschchen, das mit einer schwarzen
- Flüssigkeit angefüllt war, zurück; vorsichtig goß er einen Teil davon in
- ein anderes Fläschchen und gab es Piskarjow mit der Weisung, nicht mehr
- als sieben Tropfen in Wasser zu nehmen. Piskarjow griff nach dem
- kostbaren Fläschchen, das er für keinen Goldklumpen wieder hergegeben
- hätte und lief Hals über Kopf nach Hause.
- Kaum war er zu Hause angekommen, so goß er sich einige Tropfen in ein
- Glas Wasser, trank es hastig aus und warf sich auf sein Lager.
- Mein Gott! welche Wonne war dies! Da war sie! Da war sie wieder, aber
- jetzt erschien sie ihm in einer ganz anderen Welt. Oh, wie reizend war
- das! da saß sie am Fenster eines hellen Landhäuschens; ihre Kleidung war
- von einer Schlichtheit, wie nur ein Poet sie ersinnen konnte. Ihre
- Haartracht ... Heiliger Gott, wie einfach war sie, und doch wie
- kleidsam! Der kurze Zopf fiel ihr auf ihren schlanken Nacken herab,
- alles an ihr war bescheiden, geheimnisvoll und deutete auf einen
- wunderbar edlen, feinen Geschmack. Wie graziös war ihr Gang, wie
- harmonisch der Takt ihrer Schritte und das Rauschen ihres schlichten
- Kleides! wie schön ihr Arm mit dem aus Haaren geflochtenen Armband! Mit
- Tränen in den Augen sagte sie zu ihm: »Verachten Sie mich nicht, ich bin
- nicht das, wofür Sie mich halten! Sehen Sie mich an! Blicken Sie mich
- aufmerksam an und sagen Sie dann: sollte ich denn wirklich dessen fähig
- sein -- woran Sie denken? -- O nein, nein, der solches zu denken wagte
- ... soll ...«
- Er wachte gerührt, ja erschüttert, mit Tränen in den Augen auf. »Es wäre
- besser, du existiertest überhaupt nicht, sondern wärest die Schöpfung
- eines begeisterten Künstlers, ich würde nicht von der Leinwand weichen,
- oh, ich würde dich ewig anschauen und dich unaufhörlich küssen. Du
- wärest mein Leben, mein ganzes Sein die herrlichste Phantasie, und ich
- wäre glücklich. Ich hätte keinen Wunsch außer nach dir! Wie meinen
- Schutzengel würde ich dich anrufen, im Schlafe und wenn ich wach wäre,
- und wenn ich etwas Göttliches und Heiliges darstellen müßte, so würde
- ich auf dich warten, daß du mir erscheinest. Doch nun, was für ein
- entsetzliches Leben! Sie lebt -- aber was nützt es mir! Ist denn das
- Leben eines Wahnsinnigen eine Freude für seine Angehörigen und seine
- Freunde, die ihn einstmals liebten?! Mein Gott, was ist unser Leben! Ein
- ewiger Streit zwischen Illusion und Wirklichkeit!« -- Solche und
- ähnliche Gedanken beschäftigten ihn unaufhörlich. Andere Interessen
- hatte er nicht, er dachte an nichts und aß fast gar nichts; voller
- Ungeduld und mit der Leidenschaft eines Liebhabers wartete er auf den
- Abend und die ersehnte Erscheinung. Diese beständige Richtung seiner
- Gedanken auf ein Ziel gewann schließlich solch eine Gewalt über sein
- ganzes Sein und seine Einbildungskraft, daß das ersehnte Bild fast
- täglich vor seinem inneren Auge erschien, aber immer in einer Umgebung,
- die der Wirklichkeit geradezu widersprach, denn seine Gedanken waren
- rein wie die Gedanken eines Kindes. Der Gegenstand seiner Liebe wurde
- durch seine Träume verwandelt und veredelt.
- Der Gebrauch des Opiums erhitzte seine Gedanken immer mehr; wenn es
- einmal einen bis zum höchsten Grade des Wahnsinns ungestümen, qualvoll
- und verzehrend Verliebten gegeben hat, so war _es_ dieser Unglückliche.
- Der schönste von allen seinen Träumen war dieser: Er fand sich in seinem
- Atelier wieder, war froh gestimmt und saß selig mit der Palette in der
- Hand da. Auch sie war zugegen und war seine Frau. Sie saß neben ihm,
- stützte sich mit ihrem zierlichen Ellenbogen auf die Lehne seines
- Stuhles und sah zu, wie er arbeitete. In ihren dunklen, müden Augen lag
- eine lastende Fülle des Glücks, alles im Zimmer war durchtränkt von
- Seligkeit, überall herrschte Helligkeit, Ordnung und Sauberkeit.
- Himmlischer Gott! sie lehnte ihr herrliches Köpfchen an seine Brust ...
- Einen schöneren Traum hatte Piskarjow noch nie gehabt und er fühlte sich
- frischer und weniger zerstreut als vorher. Wundersame Gedanken regten
- sich in seinem Hirn: »Vielleicht,« so dachte er, »vielleicht ist sie
- durch irgendeinen unverschuldeten, schrecklichen Zufall dem Laster
- verfallen, vielleicht sehnt sich ihre Seele nach Buße, vielleicht
- verlangt sie selbst danach, sich aus ihrer entsetzlichen Lage zu
- befreien. Darf man denn gleichgültig zusehen, wie sie zugrunde geht? wo
- es sich vielleicht nur darum handelt, ihr die Hand entgegenzustrecken
- und sie vor dem Ertrinken zu retten!« Und seine Gedanken eilten immer
- weiter: »Mich kennt niemand,« sagte er zu sich selbst, »wer kümmert sich
- um mich, und um wen brauche ich mich zu kümmern?! Wenn sie aufrichtig
- bereut und ihren Lebenswandel ändert, so -- will ich sie heiraten. Ja,
- ich muß sie heiraten, ich werde verständig handeln! Wieviel Menschen
- gibt es, die ihre Wirtschafterinnen und manches Mal sogar ganz
- verwerfliche Geschöpfe heiraten; meine Tat wird uneigennützig und
- vielleicht sogar groß sein. Ich werde der Welt eine ihrer schönsten
- Zierden wiedergeben!«
- Während er solch leichtsinnige Pläne schmiedete, fühlte er die Röte in
- seine Wangen steigen; er trat vor den Spiegel und erschrak über seine
- eingefallenen Züge und die Blässe seines Gesichts. Diesmal kleidete er
- sich sorgfältig an, wusch sich, kämmte sein Haar, warf sich in seinen
- neuen Frack und zog eine feine Weste an, legte den Mantel um und ging
- auf die Straße. Gierig sog er die frische Luft ein und fühlte ein
- Wohlbehagen in seinem Innern wie ein Genesender, der sich nach einer
- langwierigen Krankheit zum erstenmal entschlossen hat, an die Luft zu
- gehn. Als er sich der Straße näherte, die er seit der verhängnisvollen
- Begegnung nicht mehr betreten hatte, fing sein Herz heftiger an, zu
- pochen.
- Lange suchte er nach dem Hause; es schien, das Gedächtnis versagte ihm
- den Dienst. Zweimal ging er die Straße auf und ab und wußte nicht, wo er
- stehnbleiben sollte. Endlich glaubte er das Haus gefunden zu haben.
- Schnell lief er die Treppe hinauf und klopfte an die Tür: die Tür
- öffnete sich, -- und wer trat ihm entgegen? Sein Ideal! sein
- geheimnisvolles Traumbild, das Original seiner Phantasien -- sie, die
- sein Alles, sein Leben, sein ganzes furchtbares, qualvolles und doch so
- süßes Leben ausmachte -- sie stand vor ihm. Er erbebte; ganz überwältigt
- von der Freude, konnte er sich vor Schwäche kaum auf den Füßen halten.
- Sie stand vor ihm, noch ebenso schön wie ehemals; obgleich ihre Augen
- etwas trübe waren und eine leichte Blässe auf ihren nicht mehr ganz so
- frischen Zügen lag, war sie doch immer noch wunderschön.
- »Oh,« rief sie aus, als sie Piskarjow erblickte, und rieb sich die
- Augen. Es war schon 2 Uhr nachmittag. »Warum sind Sie damals
- weggelaufen?«
- Piskarjow ließ sich ganz erschöpft auf einem Stuhle nieder und blickte
- sie an.
- »Ich bin erst eben aufgewacht; man hat mich um 7 Uhr nach Hause
- gebracht. Ich war ganz betrunken!« fügte sie mit einem Lächeln hinzu.
- »Oh! wärest du doch stumm, wärest du der Sprache beraubt, statt solche
- Reden zu führen!« Wie in einem Panorama, so hatte sie ihm in diesem
- Augenblick ihr ganzes Leben aufgerollt. Trotz alledem aber nahm er all
- seine Kraft zusammen: er wollte den Versuch machen, ob seine Ermahnungen
- keinen Eindruck auf sie ausüben würden. Nachdem er sich ermannt hatte,
- fing er mit zitternder Stimme an, ihr in glühenden Farben die Schrecken
- ihrer Lage zu schildern. Sie hörte ihn mit Aufmerksamkeit und mit dem
- Gefühl des Staunens an, wie wir es wohl beim Anblick von etwas völlig
- Unerwartetem und Merkwürdigem zu äußern pflegen. Mit einem kaum
- merklichen Lächeln blickte sie auf ihre Freundin, die in der Ecke saß,
- in ihrer Arbeit -- sie reinigte gerade einen Kamm -- innehielt und dem
- neuen Propheten gleichfalls aufmerksam zuhörte.
- »Es ist wahr, ich bin arm!« schloß Piskarjow nach einer langen und
- erbaulichen Ermahnung, »aber wir werden arbeiten, wir werden uns beide,
- einer wie der andere, um die Wette bemühen, unsere Lage zu verbessern.
- Es gibt nichts Schöneres, als alles seiner eigenen Kraft zu verdanken.
- Ich werde Bilder malen, du wirst mit einer Arbeit beschäftigt neben mir
- sitzen und mich zum Schaffen begeistern; es soll uns an nichts fehlen.«
- »Wie wäre das möglich!« unterbrach sie ihn in seiner Rede mit dem
- Ausdruck tiefer Verachtung. »Ich bin doch keine Wäscherin oder Näherin,
- daß ich arbeiten sollte!«
- Mein Gott! in diesen Worten kam die ganze Häßlichkeit dieses
- verächtlichen Lebens zum Ausdruck, eines Lebens voller Eitelkeit und
- Müßiggangs, dieser treuen Gefährten des Lasters.
- Hier fiel die Freundin, die bis jetzt still in der Ecke gesessen hatte,
- frech ein: »Heiraten sie mich! Wenn ich verheiratet bin, werde ich immer
- so dasitzen.« Hierbei verzog sie ihr erbärmliches Gesicht zu einer
- dummen Grimasse, und dies amüsierte die Schöne aufs höchste und brachte
- sie zum Lachen.
- Oh! das war zuviel! das war unerträglich! Er stürzte hinaus, wie von
- Sinnen und als ob er den Verstand verloren hätte. Seine Gedanken
- verwirrten sich; ohne Sinn und Ziel, blind, taub und gefühllos, so trieb
- er sich den ganzen Tag über herum. Niemand wußte, ob er irgendwo
- geschlafen hatte oder nicht, erst am nächsten Tage kehrte er, von einem
- törichten Instinkt getrieben, in seine Wohnung zurück, er war in einem
- schrecklichen Zustande, sein Gesicht war bleich, die Haare waren
- verwühlt, und in seinen Zügen machten sich Anzeichen von Wahnsinn
- bemerkbar. Er schloß sich in seinem Zimmer ein, ließ niemand zu sich
- herein und nahm nichts zu sich. Es vergingen vier Tage, ohne daß sich
- sein verschlossenes Zimmer auch nur einmal geöffnet hätte, es verging
- eine Woche, und das Zimmer blieb noch immer verschlossen. Man rüttelte
- an der Tür, man rief nach ihm, aber es erfolgte keine Antwort; endlich
- brach man die Tür auf und fand einen leblosen Körper mit einer
- durchschnittenen Kehle. Das blutige Rasiermesser lag am Boden. Aus den
- krampfhaft verrenkten Armen und den furchtbar verzerrten Gesichtszügen
- konnte man schließen, daß seine Hand gezittert und daß der Selbstmörder
- sich noch lange gequält hatte, bevor seine sündige Seele sich von ihrer
- Hülle befreit hatte. So starb der arme, stille, bescheidene,
- schüchterne, kindlich-schlichte Piskarjow, ein Opfer der wahnsinnigen
- Leidenschaft: er der den Funken eines Talentes in sich getragen, das
- sich vielleicht zu einer hohen, hellen Flamme hätte entwickeln können!
- Niemand weinte um ihn, niemand warf einen Blick auf seinen leblosen
- Körper als der Polizeikommissar und der Stadtarzt, diese gewohnten
- Gestalten mit ihren gleichgültigen Mienen. Man trug seinen Sarg ganz
- still ohne jede religiöse Zeremonie nach Ochta, ein einziger Wächter
- begleitete ihn -- aber auch der weinte nur, weil er ein Glas Schnaps
- über den Durst getrunken hatte. Selbst der Leutnant Piragow, der ihm bei
- Lebzeiten seine hohe Protektion erwiesen hatte, erschien nicht, um dem
- Leichnam des Unglücklichen einen letzten Blick zu weihn. Er hatte
- übrigens ganz andere Dinge im Kopfe: er war mit einem außerordentlichen
- Erlebnis beschäftigt. Aber wenden wir uns lieber ihm zu: ich liebe die
- Toten nicht, und es ist mir immer unangenehm, wenn ein Begräbniszug mit
- dem alten Invaliden, der wie ein Kapuziner gekleidet ist und seinen
- Tabak mit der linken Hand schnupft, weil er in der rechten eine Fackel
- trägt, meinen Weg kreuzt. Ich spüre immer etwas wie Verdruß, wenn ich
- einem kostbaren Katafalk und einem mit Sammet bezogenen Sarg begegne;
- aber mein Verdruß mischt sich mit Wehmut, wenn ich einen Lastfuhrmann
- sehe, der einen kahlen, toten Sarg eines Armen mit sich führt, begleitet
- von einer Bettlerin, die zufällig des Weges daherkam und dem Sarge
- folgte, da sie gerade nichts anderes zu tun hatte.
- Ich glaube, wir haben den Leutnant Piragow verlassen, als er sich gerade
- von dem armen Maler Piskarjow trennte und der schönen Blondine
- nacheilte. Diese Blondine war ein leichtsinniges und interessantes
- Geschöpf. Sie blieb vor jedem Kaufladen stehn und betrachtete die in den
- Schaufenstern ausgelegten Gürtel, Halstücher, Ohrringe, Handschuhe und
- sonstigen Kleinigkeiten, drehte sich hin und her, blickte nach allen
- Seiten und sah sich fortwährend um. »Mein Täubchen!« sagte Piragow
- selbstbewußt, setzte seine Verfolgung fort und verbarg sein Gesicht, um
- nicht von seinen Bekannten erkannt zu werden, in dem Kragen. Doch es ist
- vielleicht Zeit, den Leser etwas näher mit Piragow bekannt zu machen.
- Aber bevor wir erzählen, wer Piragow eigentlich war, ist es am Platze,
- etwas über die Kreise zu sagen, zu denen Piragow gehörte. Es gibt in
- Petersburg Offiziere, die gewissermaßen eine Mittelklasse bilden. In
- Gesellschaften, bei Diners von Staatsräten oder Wirklichen Staatsräten,
- die sich diesen Titel durch vierzigjährigen Dienst erworben haben, kann
- man immer den einen oder den anderen Offizier dieser Kategorie treffen.
- Ein paar höhere Töchter, so bleich und farblos wie Petersburg selbst,
- von denen einzelne schon recht verblüht aussehen, ein Teetisch, ein
- Klavier, ein häuslicher Tanz -- dies alles ist nicht denkbar ohne die
- blitzenden Epauletten, die man beim Lampenschein zwischen den sittsamen
- Blondinen und den schwarzen Fracks der Brüder und Hausfreunde glänzen
- sieht. Es ist sehr schwer, diese kaltblütigen Jungfrauen aufzumuntern
- und sie zum Lachen zu bringen, dazu gehört eine große Kunst, oder besser
- gesagt, dazu bedarf es gar keiner Kunst. Man muß nicht allzu klug und
- auch nicht allzu komisch reden, und in allem muß jene Hohlheit und
- Nichtigkeit liegen, die das weibliche Geschlecht so liebt. Doch in
- dieser Hinsicht muß man den Herren Gerechtigkeit widerfahren lassen, sie
- verstehen es ausgezeichnet, sich bei diesen faden Jungfrauen Gehör zu
- verschaffen und sie zum Lachen zu reizen. Rufe, die von Gelächter
- erstickt werden, wie: »Bitte, hören Sie auf! Schämen Sie sich doch,
- einen so zum Lachen zu bringen!« sind häufig die schönste Belohnung für
- diese Art Leute. In der besseren Gesellschaft begegnet man ihnen nur
- selten, oder richtiger gesagt, nie. Hier werden sie ganz von den Leuten
- verdrängt, die man in diesen Kreisen die Aristokratie nennt. Übrigens
- aber hält man sie für gelehrte und wohlerzogene junge Leute. Sie lieben
- es, sich über Literatur zu unterhalten, loben Bulgarin, Puschkin und
- Gretsch, und sprechen mit Verachtung und geistreichen Sticheleien über
- A. A. Orlow. Auch versäumen sie keinen öffentlichen Vortrag, ob in ihm
- nun von der Buchhaltung oder vom Forstwesen die Rede ist. Stets ist der
- eine oder der andere von ihnen im Theater zu finden, ganz gleichgültig,
- was für ein Stück gerade aufgeführt wird, es müßte denn eine ganz dumme
- Posse sein, die ihrem anspruchsvollen Geschmack nicht genügt; sonst aber
- sind sie immer im Theater. Für die Theaterdirektionen ist das das beste
- Publikum. In den Stücken sind es hauptsächlich schöne Verse, die sie
- schätzen; auch rufen sie stets die Schauspieler mit lautem Beifall vor
- die Rampe; viele von ihnen unterrichten in staatlichen Lehranstalten
- oder sie bereiten die Zöglinge für diese Anstalten vor, und schließlich
- schaffen sie sich ein paar Pferde und ein Kabriolett an. Dann wird ihr
- Wirkungskreis noch ausgedehnter; zum Schluß führen sie eine
- Kaufmannstochter, die Klavier spielt und etwa 100000 Rubel in bar und
- einen Haufen bärtiger Verwandter mitbringt, zum Altar. Dieser Ehre
- werden sie jedoch nie früher teilhaftig, als bis sie wenigstens zum
- Oberst avanciert sind; denn obgleich die russischen Bartträger[6] immer
- noch etwas nach Kraut riechen, wollen sie doch ihre Töchter mindestens
- als Generalsfrauen oder doch als Oberstinnen sehen. Dies sind die
- wichtigsten Charakterzüge dieser Art junger Leute. Jedoch der Leutnant
- Piragow hatte noch eine Menge anderer Talente, die nur ihm persönlich
- eigen waren. Er verstand es ausgezeichnet, Verse aus »Dimitri-Donskoj«
- und »Wehe dem Gescheiten« zu deklamieren, und wußte vortrefflich
- Rauchringe aus der Pfeife aufsteigen zu lassen, manches Mal konnte er
- ein ganzes Dutzend nebeneinander aufreihen! Er konnte vorzüglich davon
- erzählen, daß »die Kanone etwas an und für sich und daß das Einhorn auch
- etwas an und für sich« sei ... Übrigens ist es außerordentlich schwer,
- alle Talente aufzuzählen, mit denen das Schicksal den Leutnant Piragow
- ausgestattet hatte. Er sprach gern über eine Schauspielerin oder eine
- Tänzerin, aber nicht mit der Schärfe, wie sich gewöhnlich Leutnants über
- solche Gegenstände auszulassen pflegen. Mit seinem Leutnantsrang, zu dem
- er erst vor kurzem avanciert war, war er sehr zufrieden, obgleich er
- häufig sagte, während er sich aufs Sofa streckte: »ach ja, alles ist
- eitel, was hat denn das zu bedeuten, daß ich Leutnant bin«; aber in
- seinem Innern fühlte er sich doch sehr durch die neue Würde gehoben, und
- in der Unterhaltung bemühte er sich häufig darauf anzuspielen; ja als
- ihm einmal auf der Straße ein Schreiber begegnete, der ihm unhöflich zu
- sein schien, hielt er ihn sofort an und gab ihm in kurzen aber scharfen
- Worten zu verstehen, daß vor ihm ein _Leutnant_ und nicht ein
- xbeliebiger Offizier stehe -- und da in diesem Moment zwei allerliebste
- Damen vorübergingen -- bemühte er sich, sich besonders hübsch
- auszudrücken. Piragow trug überhaupt eine Leidenschaft für alles Schöne
- zur Schau und daher protegierte er auch den Künstler Piskarjow:
- vielleicht kam es übrigens auch nur daher, weil er es so sehr wünschte,
- sein männliches Gesicht auf der Leinwand zu sehen. Aber nun sei es genug
- von den Tugenden Piragows. Der Mensch ist ein so erstaunliches Wesen,
- daß es unmöglich ist, alle seine Vorzüge mit einemmal aufzuzählen, je
- länger man ihn anschaut, desto mehr neue Eigentümlichkeiten kommen zum
- Vorschein, und man fände nie ein Ende, wenn man sie alle herzählen
- wollte.
- [Fußnote 6: d. h. Kaufleute.]
- Piragow fuhr also fort, die Unbekannte zu verfolgen; von Zeit zu Zeit
- unterhielt er sie mit Fragen, auf die sie kurz und scharf oder mit
- unverständlichen Lauten antwortete. Sie gingen durch das dunkle
- Kasansche Tor und bogen in die Meschtschanskaja, diese von kleinen
- Tabak- und Kramlädenbesitzern, deutschen Handwerkern und finnischen
- Nymphen bevölkerte Straße, ein. Die Blondine beschleunigte ihre Schritte
- sichtlich und schlüpfte in die Pforte eines ziemlich schmutzigen Hauses.
- Piragow folgte ihr. Sie lief eine schmale, dunkle Treppe hinauf, öffnete
- eine Tür und trat ein, während ihr Piragow mutig folgte. Plötzlich
- befand er sich in einem großen Zimmer mit schwarzen Wänden und einem
- verräucherten Plafond. Ein ganzer Haufen von eisernen Schrauben,
- Schlosserwerkzeugen, Instrumenten, glänzenden Kaffeekannen und Leuchtern
- lag auf dem Tisch, und der Boden war mit eisernen und kupfernen
- Sägespänen bestreut. Piragow begriff sofort, daß dies die Werkstätte
- eines Handwerkers war. Die Unbekannte verschwand weiter durch eine
- Seitentür. Piragow besann sich einen Augenblick, dann aber folgte er der
- russischen Maxime und entschloß sich, »vorwärts« zu eilen. Er trat in
- ein andres Zimmer, das dem ersten durchaus nicht ähnlich sah: es war
- sehr sauber und ordentlich, und man erkannte sofort, daß der Wirt ein
- Deutscher war. Ein überaus merkwürdiges Bild setzte Piragow aufs höchste
- in Erstaunen: vor ihm saß _Schiller_ -- nicht jener Schiller, der den
- Wilhelm Tell und die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges geschrieben
- hat, sondern der _bekannte_ Schiller, ein Schlossermeister aus der
- Meschtschanskistraße. Neben Schiller stand _Hoffmann_, aber wiederum
- nicht der Dichter Hoffmann, sondern ein tüchtiger Schuhmachermeister
- dieses Namens aus der Offizierstraße und ein großer Freund Schillers.
- Schiller war betrunken, saß auf einem Stuhl, stampfte mit dem Fuß und
- sprach mit großem Eifer auf den andern ein. Dies alles hatte Piragow
- noch nicht in Erstaunen gesetzt; was seine Verwunderung erregte, war die
- höchst merkwürdige Stellung dieser beiden Gestalten. Schiller saß da,
- hielt den Kopf in die Höhe und streckte seine ziemlich dicke Nase vor;
- Hoffmann aber hatte diese Nase mit zwei Fingern gefaßt und fuhr mit der
- Schneide eines Schustermessers über ihre Oberfläche hin und her. Beide
- sprachen Deutsch, und daher konnte Leutnant Piragow, der außer »guten
- Morgen« kein Wort Deutsch konnte, nichts von der ganzen Sache verstehen.
- Im übrigen aber hatten Schillers Reden folgenden Inhalt: »Ich will sie
- nicht, ich brauche keine Nase!« sagte er und fuchtelte mit den Händen in
- der Luft herum. »Allein für diese Nase verbrauche ich 3 Pfund Tabak
- monatlich. Und ich zahle in einem elenden russischen Laden -- weil die
- deutschen Läden keinen russischen Tabak haben -- ich zahle in einem
- elenden russischen Laden 40 Kopeken pro Pfund: das macht also 1 Rubel 20
- Kopeken -- und zwölfmal 1 Rubel 20 Kopeken, das macht wiederum 14 Rubel
- 40 Kopeken. -- Hörst du's, mein Freund Hoffmann, allein für die Nase 14
- Rubel und 40 Kopeken. An Feiertagen schnupfe ich Rapé -- denn an einem
- Feiertage will ich doch keinen scheußlichen russischen Tabak schnupfen.
- Das Jahr über schnupfe ich 2 Pfund Rapé zu 2 Rubel das Pfund -- 4 Rubel
- und 14 Rubel das macht im ganzen 18 Rubel 40 Kopeken allein für Tabak.
- Das ist mein Ruin! Freund Hoffmann, ich frage dich, habe ich nicht
- recht?« Hoffmann, der auch angetrunken war, gab seine Zustimmung. »20
- Rubel 40 Kopeken. Ich bin ein Schwabe, ich habe einen König in
- Deutschland! Ich will keine Nase mehr haben! schneide sie mir ab, da, da
- ist meine Nase!«
- Und wenn nicht das unerwartete Eintreten des Leutnants Piragow
- dazwischengekommen wäre, dann hätte Hoffmann sicherlich ohne viele
- Umstände Schillers Nase abgeschnitten, denn er hatte ja schon das Messer
- in der Hand, wie wenn er eine Schuhsohle zuschneiden wollte.
- Schiller war sehr verdrießlich, daß plötzlich ein unbekannter,
- ungebetener Fremdling ihn im ungelegensten Moment störte. Obgleich er
- sich ganz im Banne des Bier- und Weinrausches befand, fühlte er doch,
- daß sein Zustand und die Beschäftigung, bei der er angetroffen wurde, in
- Gegenwart eines fremden Zeugen etwas Unschickliches haben mochte.
- Piragow verbeugte sich leicht und sagte mit der ihm eigenen
- Zuvorkommenheit: »Sie entschuldigen doch!«
- »Machen Sie, daß Sie fortkommen!« sagte Schiller gedehnt.
- Diese Antwort verblüffte den Leutnant Piragow. Solch eine Behandlung war
- ihm ganz neu. Das Lächeln, das eben auf seinen Zügen gespielt hatte,
- verschwand plötzlich. Im Gefühl seiner gekränkten Würde sagte er: »Ich
- muß mich sehr wundern, mein Herr ... wahrscheinlich haben Sie nicht
- bemerkt ... daß ich Offizier bin ...«
- »Was ... Offizier? Ich bin ein Schwabe! Ich (und hierbei schlug Schiller
- mit der Faust auf den Tisch) werde bald selbst Offizier sein, anderthalb
- Jahre Junker, zwei Jahre Leutnant, und gleich morgen bin ich Offizier!
- So mach' ich's mit einem Offizier! Aber ich will nicht dienen, pfff
- ....«
- Hierbei hielt er sich die Hand vors Gesicht und blies drauf.
- Der Leutnant Piragow sah ein, daß ihm nichts andres übrigblieb, als sich
- zu entfernen; aber diese unziemliche Behandlung seines Standes war ihm
- doch sehr unangenehm. Ein paarmal blieb er auf der Treppe stehn, wie
- wenn er Mut fassen wollte und darüber nachdächte, wie er Schiller seine
- Frechheit büßen lassen könnte. Endlich kam er zu dem Schluß, daß
- Schiller zu entschuldigen sei, da sein Hirn mit Bier und Wein angefüllt
- wäre, auch fiel ihm die reizende Blondine wieder ein, und so entschloß
- er sich, das alles zu vergessen. Am folgenden Tage betrat der Leutnant
- Piragow frühmorgens die Werkstatt des Schmiedes. Im ersten Zimmer kam
- ihm die hübsche Blondine entgegen und fragte ihn mit recht
- unfreundlicher Stimme, die ihr sehr gut zu Gesicht stand: »Was wünschen
- Sie?«
- »Ah, guten Tag, meine Schöne! Sie erkennen mich wohl nicht? Sie kleiner
- Schelm! was für schöne Augen Sie haben!«
- Hierbei wollte ihr der Leutnant Piragow in liebenswürdiger Weise einen
- Finger unters Kinn legen und es emporheben, aber die Blondine stieß
- einen erschrockenen Laut aus und fragte ihn ebenso unfreundlich: »Was
- wünschen Sie?«
- »Nur Sie zu sehen, sonst wünsche ich nichts!« erwiderte der Leutnant
- Piragow freundlich lächelnd und trat näher, aber als er merkte, daß die
- ängstliche Blondine nach der Tür strebte, setzte er hinzu: »Ich möchte
- ein Paar Sporen bestellen, meine Liebe, können Sie mir ein Paar Sporen
- machen? Um Sie liebzuhaben, brauche ich allerdings keine Sporen, im
- Gegenteil, eher noch Zügel! Was für reizende Händchen!«
- Der Leutnant Piragow war bei solcher Art Liebeserklärungen immer sehr
- höflich.
- »Ich werde gleich meinen Mann rufen!« rief ihm die Deutsche laut zu,
- ging hinaus und einige Minuten darauf erblickte Piragow Schiller, der
- noch ganz verschlafen und kaum von seinem gestrigen Rausch ernüchtert
- ins Zimmer trat. Als er den Offizier erkannte, stieg die gestrige Szene
- wie ein Traum vor ihm auf. Eine klare Erinnerung hatte er in diesem
- Zustande nicht, aber er fühlte, daß er irgendeine Dummheit begangen
- hatte, und empfing daher den Offizier mit recht verdrießlicher Miene.
- »Weniger als 15 Rubel kann ich für die Sporen nicht nehmen!« sagte er,
- um Piragow so schnell wie möglich loszuwerden, denn es war ihm, dem
- ehrlichen Deutschen, sehr peinlich, dem Manne gegenüberzustehn, der ihn
- in solch einer peinlichen Situation gesehen hatte. Schiller liebte es,
- nur mit zwei, drei guten Freunden und ohne Zeugen zu zechen, daher
- schloß er sich für diese Zeit ein und verbarg sich selbst vor seinen
- Arbeitern.
- »Warum sind Sie denn so teuer?« sagte Piragow freundlich.
- »Es ist doch deutsche Arbeit!« erwiderte Schiller kaltblütig und strich
- sich das Kinn. -- »Ein Russe wird sie Ihnen für 2 Rubel anfertigen.«
- »Schön, um Ihnen zu beweisen, daß ich Sie liebe und Ihre Bekanntschaft
- zu machen wünsche, will ich Ihnen 15 Rubel bezahlen!«
- Schiller besann sich einen Augenblick: als ehrlicher Deutscher schämte
- er sich ein wenig. Von dem Wunsche getrieben, Piragow seine Absicht
- auszureden, sagte er, daß er die Sporen frühestens in zwei Wochen
- herstellen könne. Aber Piragow erklärte sich ohne jedweden Widerspruch
- mit allem einverstanden.
- Der Deutsche dachte ein wenig nach und grübelte hin und her, ob er wohl
- seine Arbeit so ausgezeichnet ausführen könnte, daß sie wirklich 15
- Rubel wert würde.
- In diesem Augenblick trat die Blondine in die Werkstatt und machte sich
- etwas am Tisch, der mit Kaffeekannen besetzt war, zu schaffen. Piragow
- benutzte Schillers Nachdenklichkeit, trat dicht an sie heran und drückte
- ihren Arm, der bis zur Schulter entblößt war.
- Dies mißfiel Schiller sehr: »Meine Frau!« schrie er ihn an.
- »Was wollen Sie denn?« entgegnete die Blondine.
- »Geh in die Küche!« Die Blondine entfernte sich.
- »Also in zwei Wochen?« sagte Piragow.
- »Ja, in zwei Wochen,« sagte Schiller nachdenklich, »ich habe jetzt viel
- Arbeit!«
- »Auf Wiedersehn, ich komme wieder vor!«
- »Auf Wiedersehn!« sagte Schiller und schloß die Tür hinter ihm.
- Der Leutnant war fest entschlossen, seine Werbung nicht aufzugeben,
- obgleich die Blondine ihm sichtlich Widerstand entgegensetzte. Er konnte
- es nicht fassen, daß man ihm widerstehen könnte, um so weniger, als
- seine Liebenswürdigkeit und sein illustrer Rang ihm alles Recht auf
- Entgegenkommen gab. Man muß noch hinzufügen, daß Frau Schiller bei all
- ihrem Liebreiz sehr beschränkt war. Übrigens bildet ja bei einer
- hübschen Frau die Dummheit noch einen besonderen Reiz. Wenigstens habe
- ich viele Männer gekannt, die von der Dummheit ihrer Frauen begeistert
- waren und in ihr ein Symptom kindlicher Unschuld sahen. Die Schönheit
- bringt geradezu Wunder hervor. Alle geistigen Mängel wirken bei einer
- schönen Frau, anstatt abzustoßen, nur noch besonders anziehend; selbst
- das Laster erhält einen gewissen Anschein von Lieblichkeit. Aber wo die
- Schönheit fehlt, da muß eine Frau mindestens zwanzigmal so klug sein wie
- ein Mann, um Achtung oder gar Liebe einzuflößen. Doch trotz ihrer
- Beschränktheit war Frau Schiller stets ihrer Pflicht treu geblieben,
- daher wurde es Piragow sehr schwer, sein kühnes Unternehmen erfolgreich
- zu Ende zu führen. Allein die Überwindung von Hindernissen ist stets mit
- Genuß verbunden, und so wurde unsere Blondine ihm nur noch
- interessanter. Er fing an, sich sehr oft nach den Sporen zu erkundigen,
- so daß Schiller dies zuletzt lästig wurde. Er gab sich alle Mühe, die
- begonnene Arbeit schnell zu beendigen, und endlich waren die Sporen
- fertig.
- »Ach, welch eine herrliche Arbeit!« rief der Leutnant Piragow beim
- Anblick der Sporen. »Mein Gott, wie vortrefflich sind sie gemacht.
- Selbst unser General nennt solche nicht sein eigen!«
- Ein Gefühl der Selbstzufriedenheit erfüllte Schillers Seele. Seine Augen
- nahmen einen vergnügten Ausdruck an, und er war innerlich bereit, sich
- völlig mit Piragow auszusöhnen. »Dieser russische Offizier ist ein
- kluger Mann!« dachte er bei sich.
- »Nicht wahr, Sie können doch auch Einfassungen für Dolche und andere
- Waffen anfertigen?«
- »Oh, gewiß kann ich das,« sagte Schiller lächelnd.
- »So machen Sie mir also eine Fassung für meinen Dolch. Ich werde ihn
- Ihnen bringen; ich habe einen sehr schönen türkischen Dolch, aber ich
- möchte ihn anders fassen lassen!«
- Schiller traf dieser Vorschlag wie eine Bombe. Er runzelte die Stirn.
- »Da haben wir's!« dachte er bei sich, und schalt sich innerlich, daß er
- selbst Anlaß zu einer neuen Bestellung gegeben hatte. Es jetzt noch
- abzulehnen, schien ihm unehrenhaft, auch hatte ja der russische Offizier
- seine Arbeit gelobt. -- Kopfschüttelnd erklärte er seine
- Bereitwilligkeit, aber der Kuß, den Piragow der zierlichen Blondine beim
- Fortgehen dreist auf die Lippen drückte, brachte ihn vollends aus der
- Fassung.
- Ich halte es nicht für überflüssig, den Leser etwas näher mit Schiller
- bekannt zu machen. Schiller war ein echter Deutscher in vollstem Sinn
- des Wortes. Schon als zwanzigjähriger Jüngling, in jener glücklichen
- Zeit, wo ein Russe noch sorglos in den Tag hinein lebt, hatte sich
- Schiller bereits sein Leben zurechtgelegt und wich nie und in keinem
- Fall von seinem Ziel ab. Er hatte bei sich beschlossen, immer um 7 Uhr
- aufzustehn, um 2 Uhr zu Mittag zu essen, in allem gewissenhaft zu sein
- und sich Sonntags zu betrinken. Er hatte sich vorgenommen, im Laufe von
- zehn Jahren ein Kapital von 50000 Rubeln zurückzulegen, und schon dieser
- Entschluß genügte, um die Erfüllung seines Planes so sicher und
- unumstößlich zu machen wie das Schicksal; denn eher vergißt es ein
- Beamter, in das Vorzimmer seines Chefs hineinzublicken, als daß ein
- Deutscher sich entschließt, sein Wort zu brechen. Niemals gab er mehr
- aus, als er sich vorgenommen hatte, und wenn die Kartoffelpreise über
- das gewöhnliche Maß stiegen, legte er doch nie eine Kopeke zu, sondern
- verminderte lieber das Quantum; wenn er auch manches Mal nicht ganz satt
- wurde, so gewöhnte er sich doch daran. Seine Ordnungsliebe ging so weit,
- daß er bei sich beschlossen hatte, seine Frau nicht häufiger als zweimal
- am Tage zu küssen und, um ihr nur ja keinen überzähligen Kuß auf die
- Lippen zu drücken, tat er nie mehr als einen Kaffeelöffel voll Pfeffer
- in die Suppe; übrigens wurde diese Regel am Sonntag nicht so streng
- eingehalten, da Schiller an diesem Tage stets zwei Flaschen Bier und
- eine Flasche Kümmel trank, auf den er freilich immer schimpfte. Er
- pflegte jedoch nicht so zu trinken wie die Engländer, die sich gleich
- nach dem Mittag einschließen und sich ganz allein und still für sich
- berauschen. Er als Deutscher bedurfte beim Zechen stets der Anregung und
- Begeisterung und trank daher immer in Gesellschaft, entweder mit dem
- Schuster Hoffmann oder mit dem Tischler Kunz, der ebenfalls ein
- Deutscher und dazu ein großer Säufer war. Dies war der Charakter unseres
- ehrenwerten Schiller, der nunmehr in eine sehr schwierige Lage geraten
- war. Obgleich er ein Phlegmatiker und ein Deutscher war, so erregte doch
- das Betragen Piragows so etwas wie Eifersucht in ihm. Er zerbrach sich
- den Kopf, es wollte ihm aber durchaus nichts einfallen, auf welche Art
- und Weise er den russischen Offizier abschütteln könnte.
- Unterdessen spielte Piragow, wenn er sich im Kreise seiner Kameraden
- befand und gemütlich die Pfeife rauchte, -- die Vorsehung hat es nun
- einmal so eingerichtet, daß, wo Offiziere beisammen weilen, auch die
- Pfeife nicht fehlen darf -- häufig auf das Techtelmechtel mit der
- reizenden Blondine an; mit einem bedeutungsvollen und angenehmen Lächeln
- rühmte er sich bereits einer großen Intimität mit ihr; in Wirklichkeit
- aber begann er bereits, die Hoffnung zu verlieren, daß er sie jemals
- würde erobern können.
- Eines Tages machte er einen Spaziergang auf der Meschtschanskaja und
- blickte immer auf das Haus, an dem das Schild Schillers mit den
- Kaffeekannen und Teemaschinen prangte; zu seiner großen Freude entdeckte
- er plötzlich das Köpfchen der Blondine, die sich aus dem Fenster beugte
- und die Vorübergehenden betrachtete. Er blieb stehn, warf ihr einen
- Handkuß zu und rief: »Guten Morgen!« Die Blondine erwiderte seinen Gruß
- wie den eines alten Bekannten.
- »Ist Ihr Mann zu Hause?«
- »Ja,« sagte die Blonde.
- »Und wann ist er nicht zu Hause?«
- »Sonntags ist er gewöhnlich nicht zu Hause!« sagte die dumme Gans.
- »Das ist nicht übel,« dachte Piragow bei sich, »das könnte man
- ausnutzen.« -- Und schon am nächsten Sonntag schneite er der Blondine
- ins Haus hinein. Schiller war wirklich nicht anwesend. Die hübsche
- Hausfrau war aufs höchste erschrocken; aber diesmal war Piragow
- vorsichtig, betrug sich sehr ehrerbietig, verbeugte sich in
- verbindlicher Form und ließ dabei die ganze Schönheit seiner biegsamen,
- straffen Gestalt zur Geltung kommen. Er scherzte sehr nett und höflich,
- aber das deutsche Schäfchen gab auf alles nur ganz einsilbige Antworten.
- Endlich, nachdem er schon über alles mögliche geredet hatte und nun
- bemerkte, daß sie nichts interessierte, schlug er ihr vor, etwas zu
- tanzen. Die Deutsche ging darauf ein, denn die deutschen Frauen pflegen
- bekanntlich sehr gern zu tanzen. Dieses gab Piragow Anlaß zu den
- kühnsten Hoffnungen: erstens machte ihr dieses Spaß, zweitens konnte er
- hierbei seine Gewandtheit und seine elegante Taille sehen lassen,
- drittens kann man sich einer Dame beim Tanzen noch mehr nähern als
- sonst, er konnte die hübsche Deutsche umarmen und damit den Grund zu
- allem weiteren legen, kurz, er hoffte auf einen vollständigen Triumph.
- Er begann eine Gavotte vor sich hin zu summen, weil er wußte, daß die
- Deutschen einer allmählichen Steigerung bedürfen. Die niedliche Blondine
- trat in die Mitte des Zimmers und hob ihren reizenden Fuß empor. Diese
- Stellung versetzte Piragow derart in Begeisterung, daß er ihr einen Kuß
- auf den Fuß drücken wollte. Die Deutsche fing an zu schreien, wodurch
- sie ihren Reiz in den Augen Piragows noch mehr erhöhte. Er überschüttete
- sie mit Küssen. Da ging plötzlich die Tür auf, und Schiller, Hoffmann
- und der Tischler Kunz traten ein. Alle drei ehrenwerten Handwerker waren
- betrunken wie die Schlosser.
- Ich überlasse es dem Leser, sich den Ärger und den Zorn Schillers
- vorzustellen.
- »Frechling!« schrie er in höchster Wut, »wie wagst du es, meine Frau zu
- küssen! Du bist ein Lump und kein russischer Offizier! Hol dich der
- Teufel, nicht wahr, Freund Hoffmann, ich bin ein Deutscher und kein
- russisches Schwein! (Hoffmann bejahte dies.) Zum Donnerwetter, ich will
- doch keine Hörner tragen! Pack' ihn am Kragen, Freund Hoffmann! ich will
- nicht --« fuhr er fort und fuchtelte gewaltig mit den Händen in der Luft
- herum, wobei sein Gesicht so rot wurde wie seine Weste. -- »Ich lebe
- schon acht Jahre in Petersburg, ich habe eine Mutter in Schwaben und
- einen Onkel in Nürnberg, ich bin ein Deutscher und kein Hornvieh! --
- Reiß ihm die Kleider vom Leibe, Freund Hoffmann! halt ihn an den Händen
- und Füßen fest, Kamerad Kunz!«
- Und die Deutschen packten Piragow an Händen und Füßen.
- Vergeblich versuchte er, sich freizumachen; diese drei Handwerker waren
- die kräftigsten unter allen Petersburger Deutschen und verfuhren so grob
- und unhöflich mit ihm, daß ich, wie ich gestehen muß, keine Worte finde,
- diese traurige Szene zu schildern.
- Ich bin überzeugt, daß Schiller den nächsten Tag wie im Fieber war und
- zitterte wie das Espenlaub, da er jeden Augenblick auf das Erscheinen
- der Polizei gefaßt war; er hätte, weiß Gott, wieviel dafür gegeben, wenn
- das gestrige Ereignis nur ein Traum gewesen wäre. Ader das Geschehene
- läßt sich nun einmal nicht mehr ungeschehen machen. In der Tat ließ sich
- nichts mit der Wut und der Empörung Piragows vergleichen. Schon der
- Gedanke an die fürchterliche Beleidigung brachte ihn dem Wahnsinn nahe.
- Die Verbannung nach Sibirien oder Spießrutenlaufen erschienen ihm als
- die geringsten Strafen, die Schiller verdient hatte. Er flog nach Hause,
- um sich umzuziehen und von dort direkt zum General zu fahren; ihm wollte
- er die Unverschämtheit der deutschen Handwerker in den glühendsten
- Farben schildern. Zu gleicher Zeit wollte er auch eine schriftliche
- Klage beim Generalstab einreichen: falls aber die angesetzte Strafe
- nicht genügend streng ausfallen sollte, wollte er die Sache vor alle
- Instanzen bringen.
- Allein dies alles fand einen ganz merkwürdigen Abschluß: unterwegs trat
- er in eine Konditorei, aß zwei Kuchen aus Blätterteig, warf einen Blick
- in die Zeitschrift »Die Nordische Biene« und verließ das Lokal schon
- weniger wütend und aufgebracht. Der recht angenehm frische Abend lud ihn
- dazu ein, etwas auf dem Newsky auf und ab zu gehen; gegen neun Uhr hatte
- er sich so weit beruhigt, daß er fand, am Sonntag ginge es nicht gut,
- den General zu belästigen, auch würde er ihn wohl schwerlich zu Hause
- treffen, daher begab sich Piragow zu einer Soiree bei dem Chef der
- Kontrollbehörde, wo sich ein sehr netter Kreis von Beamten und
- Offizieren seines Regiments zusammenfand. Er verbrachte den Abend sehr
- angenehm und zeichnete sich bei der Mazurka so aus, daß nicht nur die
- Damen, sondern auch die Herren ganz begeistert waren.
- Als ich vorgestern auf dem Newsky einherschlenderte und mich dieser
- beiden Ereignisse erinnerte, dachte ich so bei mir: »Wie herrlich
- eingerichtet ist doch unsere Welt! Wie merkwürdig, wie unbegreiflich
- spielt doch das Schicksal mit uns; erreichen wir je, was wir wünschen?
- erlangen wir je, was die Bestimmung unserer Kräfte und Fähigkeiten zu
- sein scheint? es kommt immer anders, als man glaubt. Dem einen beschert
- das Schicksal die herrlichsten Pferde, er aber fährt gleichgültig
- spazieren, ohne ihre Schönheit zu bemerken, während ein anderer, dessen
- Herz vor Leidenschaft für Pferde glüht, zu Fuß geht und sich damit
- begnügen muß, mit der Zunge zu schnalzen, wenn ein schöner Rappe an ihm
- vorüberjagt. Ein dritter hat einen ausgezeichneten Koch, aber leider
- einen so kleinen Mund, daß er nicht mehr als zwei Stückchen
- hineinstopfen kann, sein Freund dagegen hat ein Maul von der Größe des
- Generalstabstors und muß sich, ach! mit einem simpeln deutschen
- Kartoffelgericht begnügen. Wie sonderbar spielt doch das Schicksal mit
- uns!«
- Aber am seltsamsten ist doch das, was auf dem Newsky zu geschehen
- pflegt. Oh! traut ihm nicht, diesem Newsky-Prospekt! Ich hülle mich
- immer fester in meinen Mantel, wenn ich über diese Straße gehe und gebe
- mir die größte Mühe, mich um keins der Dinge zu kümmern, die mir dort
- begegnen. Dort ist alles Trug, alles ist nur ein Traum, und nichts ist
- das, als was es erscheint. Sie glauben vielleicht, dieser Herr, der dort
- in einem feinen Rock daherkommt, sei sehr reich: keineswegs; der ganze
- Kerl besteht aus nichts anderem, als aus diesem Rock. Sie bilden sich
- ein, daß diese beiden Dickwänste, die dort vor der im Bau begriffenen
- Kirche stehen, über ihren Stil reden -- kein Gedanke. Sie sprechen
- darüber, welch seltsame Pose zwei Krähen einnehmen, die auf ihrem Giebel
- einander gegenübersitzen. Sie glauben wohl, daß jener Enthusiast, der
- mit den Händen gestikuliert, davon spricht, wie seine Frau einem ihm
- ganz unbekannten Offizier durch das Fenster eine Papierkugel an den Kopf
- geworfen hat -- durchaus nicht, er redet über Lafayette. Sie meinen
- wirklich, daß diese Damen ... ach, den Damen sollten Sie überhaupt nicht
- trauen! Blicken Sie auch weniger in die Schaufenster hinein: die dort
- ausliegenden Nichtigkeiten sind vielleicht sehr schön, aber sie
- schmecken mächtig nach einigen Hundertrubelscheinen. Vor allem aber möge
- Gott Sie davor bewahren, den Damen unter die Hüte zu gucken! Wie
- verlockend auch abends der Mantel einer Schönen im Winde flattert, auf
- keinen Fall würde ich ihr aus Neugierde nachgehen. Halten Sie sich fern,
- um Gottes willen, halten Sie sich möglichst fern von der Laterne und
- gehen Sie schnell, so schnell wie möglich, vorüber! Sie können noch von
- Glück sagen, wenn Ihnen nur ein häßlicher Fettfleck auf Ihren eleganten
- Rock tropft. Aber auch abgesehen von der Laterne, überall lauert der
- Betrug auf Sie. Der Newsky-Prospekt ist immer voller Lug und Trug, am
- meisten jedoch dann, wenn die Nacht wie ein dichtes Gewölk auf ihn
- niedersinkt und die weißen und hellgelben Mauern der Häuser hervortreten
- läßt, wenn die ganze Stadt in Lichterglanz erstrahlt und gleichsam vom
- Donner erdröhnt, wenn Myriaden von Equipagen über die Brücken rollen,
- die Vorreiter schreiend auf den Pferden vorbeigaloppieren, und wenn
- Satan eigenhändig die Lampen anzündet, nur um alles in einem
- übernatürlichen Licht erscheinen zu lassen.
- IV
- Über die kleinrussischen Lieder
- Erst in den letzten Jahren, in der Zeit, wo das Streben nach
- Originalität und nach einer eigenartigen nationalen Poesie erwacht ist,
- haben die kleinrussischen Lieder, die der gebildeten Welt bis dahin ganz
- unbekannt und nur im Volke lebendig waren, die Aufmerksamkeit auf sich
- gelenkt. Bis dahin war nur ihre bezaubernde Musik dann und wann in die
- höheren Kreise gedrungen, die Worte aber waren ganz unbeachtet geblieben
- und hatten niemandes Neugierde geweckt. Ja, selbst die Melodien wurden
- niemals in vollständiger Fassung mitgeteilt. Irgendein talentloser
- Komponist zerstückelte sie mitleidlos und fügte sie in seine eigenen
- gefühllosen, plumpen Schöpfungen ein.[7] Aber die allerschönsten Stimmen
- und Lieder haben nur die Steppen der Ukraine vernommen: nur hier
- erklingen sie unter dem Dache niedriger Lehmhütten, die von Maulbeer-
- und Kirschbäumen umstanden sind, im Glanze der Morgensonne mittags und
- abends, während die zitronengelben Garben des Weizens unter der Sichel
- der Schnitter hinsinken, und nur hin und wieder wird der Gesang
- unterbrochen durch den Schrei der Steppenmöwe, durch das Lied zahlloser
- Scharen von Lerchen und den ängstlichen Schlag der Golddrossel.
- [Fußnote 7: Übrigens dürfen sich die Freunde der Musik und der Poesie
- beruhigen. Vor kurzem hat Maximowitsch eine vortreffliche Sammlung
- dieser Lieder herausgegeben, die von Aljabjew für Gesang gesetzt sind.]
- Ich will mich nicht über die Bedeutung der Volkslieder auslassen. Sie
- sind die lebendige, leuchtende, farbige Geschichte des Volks, die
- Wahrheit, die das ganze Leben einer Nation bloßlegt. Wenn dies Leben
- tatkräftig, wechselvoll, frei und eigenartig und von Poesie erfüllt war,
- und wenn dies Volk trotz seiner Vielseitigkeit keine höhere Zivilisation
- erreicht hat, dann lebt sich all sein Feuer, all seine herrliche,
- jugendliche Kraft in den Volksliedern aus. Sie sind ein Grabdenkmal
- seiner Vergangenheit -- ja mehr als ein Grabdenkmal: ein mit einem
- beredten Relief geschmückter und mit einer historischen Aufschrift
- versehener Stein ist nichts im Vergleich mit dieser lebenden, redenden
- und von der Vergangenheit kündenden Chronik. In dieser Beziehung
- bedeuten die Volkslieder für Kleinrußland alles: seine Poesie, seine
- Geschichte und das Grab seiner Väter. Wer nicht in die Tiefen dieser
- Lieder gedrungen ist, der wird nichts von der Vergangenheit dieses
- blühenden Stückes Rußland erfahren. Der Historiker darf in ihnen nicht
- Hinweise auf Tage und Daten von Schlachten, genaue Ortsbeschreibungen
- oder wahrheitsgetreue Berichte suchen; in dieser Beziehung werden ihn
- nur die wenigsten Lieder weiterbringen. Wenn er aber das wahre Wesen,
- die Elemente des Charakters, alle Schwankungen und Nuancen des Gefühls
- und alles dessen, was ein bestimmtes Volk bewegt, seiner Leiden und
- Freuden ergründen, wenn er den Geist vergangener Zeitalter, den
- allgemeinen Charakter des Ganzen und jedes einzelnen Teiles erforschen
- will, dann wird er in jeder Beziehung befriedigt sein; die Geschichte
- des Volks wird sich ihm in einer leuchtenden Größe offenbaren.
- Die kleinrussischen Lieder können mit vollem Recht historisch genannt
- werden, weil sie sich nicht einen Augenblick vom Leben entfernen und
- stets den historischen Moment und den geschichtlichen Zustand treu
- widerspiegeln. Sie alle sind von der schrankenlosen Freiheit des
- Kosakenlebens durchdrungen und durchflutet. Aus allem redet die Kraft,
- der Frohsinn, die Seelenstärke, mit der der Kosak den sorglosen Frieden
- des Familienlebens aufgibt, um sich in die Poesie der Schlachten, in
- Gefahren und zügellose Gelage mit den Kameraden zu stürzen. Weder die
- dunkelbrauige Freundin mit ihrer strahlenden Frische, ihren braunen
- Augen, dem blendenden Glanz ihrer Zähne, die in hingebender Liebe dem
- Roß in die Zügel fällt, noch die Tränenbäche vergießende alte Mutter,
- deren ganzes Dasein in dem einen Gefühl der Mutterliebe aufgeht, --
- nichts hat die Macht, ihn zurückzuhalten. Eigensinnig und
- unerschütterlich eilt er in die Steppe und ins Lager der Kameraden
- hinaus. Die Gesellschaft seiner Kumpane, der lebenslustigen Raubritter,
- ersetzt ihm alles -- Weib, Mutter, Schwestern und Brüder. Die Bande
- dieser Brüderschaft gehen ihm über alles und sind noch stärker als die
- Liebe. Das Schwarze Meer leuchtet, die herrliche unermeßliche Steppe vom
- Taman bis zur Donau -- dieser wilde Ozean von Blüten wogt unter dem
- Hauch des Windes. In der unendlichen Tiefe des Himmels verschwinden
- Schwäne und Kraniche. Der sterbende Kosak liegt mitten in der Kühle
- dieser jungfräulichen Natur hingestreckt da, er nimmt seine letzte Kraft
- zusammen, um nicht zu sterben, ohne noch einmal seinen Kameraden einen
- Blick nachgesandt zu haben.
- Denn wohl wußte es das Kosakenhaupt,
- Daß es nicht fern vom Kosakenheer sterben würde.
- Als er sie erblickt, ist er befriedigt, und stirbt. Ob nun das
- Kosakenheer still und gehorsam in den Krieg zieht, ob Pulverdampf und
- Kugelregen sich aus den Gewehren entlädt, ob der Metkrug oder der
- Weinbecher kreist, ob von der furchtbaren Hinrichtung des Hetmans
- berichtet wird, daß einem die Haare dabei zu Berge stehn, von der Rache
- des Kosaken oder von einem erschlagenen Helden, der mit weit
- ausgestreckten Armen und wirrem Schopf auf dem Rasen liegt, oder vom
- Geschrei der in den Wolken schwebenden Adler, die um das Recht streiten,
- dem Kosaken die Augen auszuhacken -- alles dies _lebt_ in den Liedern
- und ist in ihnen mit kühnen Farben geschildert.
- Ein anderer Teil der Lieder stellt die andere Seite des Volkslebens dar:
- hier finden wir zahllose Züge aus dem Familienleben des Kosaken, und
- hier herrscht der absolute Gegensatz. Dort hören wir nur von Kosaken,
- vom Kriege und vom wilden Lagerleben; hier dagegen ersteht vor uns die
- Frauenwelt, diese wehmütige, zärtliche Liebe atmende Welt; die zwei
- Geschlechter verkehren nur kurze Zeit miteinander und trennen sich dann
- für ganze Jahre. Diese Jahre schwinden für die Frau in banger Erwartung
- und Sehnsucht nach ihren Männern und ihren Liebsten dahin, die einst wie
- ein Traum, ein Phantasiegebilde in ihrem herrlichen Kriegsschmuck an
- ihnen vorüberzogen. Daher ist auch ihre Liebe von einer unendlichen
- Poesie durchwebt. Das frische, unschuldige, einem Täubchen vergleichbare
- junge Weib hat plötzlich die höchste Seligkeit, das Paradies des Weibes,
- das nur für die Liebe geschaffen ist, kennen gelernt. Ihr erster
- Lebensfrühling, den sie mit dem starken, freien Sohn des Krieges verlebt
- hat, hat ihr ganzes Lebensglück in einen flüchtigen Augenblick
- zusammengedrängt; mit ihm verglichen hat das ganze Leben keinen Wert;
- sie lebt nur in der Erinnerung an diesen Moment. Sehnsüchtig erwartet
- sie vom Morgen bis zum Abend die Rückkehr ihres Gatten mit den schwarzen
- Brauen.
- O ihr schwarzen Augenbrauen,
- Wie schwer macht ihr mir das Leben,
- Keine Nacht wollt ihr
- Alleine schlafen.
- Sie lebt ausschließlich von Erinnerungen. Alles, was sie zusammen
- gesehen, wo sie miteinander geweilt, was sie miteinander geredet, alles
- ruft sie sich in die Erinnerung zurück, ohne auch das Geringste außer
- acht zu lassen. Sie wendet sich an alles, was sie in der Natur entdeckt,
- an alles, was Leben ausströmt, selbst an die leblosen Gegenstände, klagt
- ihnen ihr Leid und spricht mit ihnen. Und wie einfach, wie poetisch
- schlicht sind ihre seelenvollen Worte. Alles bringt sie in Beziehung zu
- ihrem Gefühl und wird nicht müde zu reden, denn der Mensch hat immer
- viele Worte, wenn der Schmerz eine geheime Süße in sich birgt. Endlich
- spricht sie in stiller, hoffnungsloser Verzweiflung:
- Ach, jetzt kann ich nicht mehr wandeln,
- Wo ich mit dem Liebsten ging.
- Ach, jetzt kann ich nicht mehr lieben,
- Den ich einst so sehr geliebt.
- Ach, jetzt kann ich nicht mehr wandeln
- Vor dem Schlosse in der Früh.
- Ach, ich kann mich nicht mehr lehnen
- An den Arm des Heißgeliebten.
- Ach, jetzt kann ich nicht mehr wandeln
- In dem Wald und Nüsse suchen.
- Ach, vorüber, längst vorüber
- Ist die heitre Mädchenzeit.
- Um denen, die die kleinrussische Sprache nicht beherrschen, die Tiefe
- des Empfindens, die sich in diesen Liedern offenbart, so verständlich
- wie möglich zu machen, will ich hier eines dieser Lieder in der
- Übertragung anführen.
- Mein Liebster zürnt mir und grollt mir. Er sattelt seinen Rappen und
- zieht in die Ferne, weit, weit fort von mir.
- »Wohin ziehst du, mein Geliebter, du mein graues Täubchen, wohin
- entfliehst du? Wem überlässest du mich schutzloses, junges Wesen?«
- »Ich lasse dich in Gottes Obhut, Geliebte! Warte auf mich, bis ich
- von der weiten Reise zurückkehre.«
- Oh, wenn ich wüßte, wenn ich es doch sehen könnte, wohin mein
- Liebster trabt, so wollte ich ihm auf dem ganzen Wege Brücken aus
- grünem Schilf bauen und ihn immerfort bei mir erwarten.
- Allmächtiger Gott, ebne die Berge und Täler, auf daß die Wege
- überall glatt seien, und daß er bequem von seinem Ziele bis vors
- Haus reiten kann.
- Ah! die Wiesen singen, die Ufer klingen, das Gras auf den Wegen
- fängt an zu grünen; da ist er, mein Geliebter kommt geritten!
- Ah! die Wiesen singen, die Ufer klingen, der Wacholder erblüht --
- gewiß plaudert mein Geliebter, mein graues Täubchen irgendwo mit
- einer andern.
- Warum kamst du nicht geflogen, wie ich dich bat! Hattest du kein
- Roß, kanntest du den Weg nicht mehr, oder hat's dir deine Mutter
- verboten?
- »Ich habe ein Pferd; auch kenne ich den Weg, und die Mutter hat mir
- schon gestern abend geboten, mein Roß zu satteln.
- Aber kaum sitz' ich auf dem Pferde, kaum reit' ich zum Tore hinaus,
- da läuft schon die andere mir nach und stöhnt und weint so
- bitterlich, da greift mir ihr Kummer ans Herz.«
- Man könnte tausende von ähnlichen Liedern anführen und vielleicht noch
- weit schönere. Alle sind sie wohlklingend, duftig und außerordentlich
- mannigfaltig. Überall gibt es neue Farben, eine große Schlichtheit und
- eine unbeschreibliche Zartheit des Gefühls. Wo aber die Gedanken das
- Religiöse streifen, sind sie ganz besonders poetisch. Sie bewundern
- nicht die gewaltigen Werke des ewigen Schöpfers; eine solche Bewunderung
- gehört schon einer höheren Entwicklungs- und Erkenntnisstufe an; ihr
- Glaube ist so unschuldig, so rührend und so rein wie die unbefleckte
- Seele des Kindes. Sie wenden sich an Gott, wie Kinder an ihren Vater.
- Sie führen ihn häufig mit so unschuldiger Einfalt in ihr Alltagsleben
- ein, daß seine kunstlose Darstellung in ihnen gerade durch ihre
- Einfachheit etwas Erhabenes an sich hat. Dadurch erhalten in den Liedern
- der Kleinrussen auch die gewöhnlichsten Gegenstände etwas
- unbeschreiblich Poetisches, wozu auch die Überreste verschiedener aus
- der altslawischen Mythologie herstammenden Sitten, die sie dem
- Christentum angepaßt haben, sehr viel beitragen. Oftmals fleht ein
- trauerndes Mädchen Gott an, er möge eine Wachskerze am Himmel entzünden,
- bis der Liebste über die Donau gesetzt ist. Auf allem liegt der Stempel
- reinster, ursprünglichster Kindheit und folglich hoher Poesie. Die Form
- ihrer Lieder, der Mädchenlieder sowohl wie der Kosakenlieder, ist fast
- immer dramatisch -- ein Zeichen für die Entwicklung des Volksgeistes und
- des tätigen, unruhigen Lebens, das dies Volk so lange geführt hat. Fast
- niemals haben ihre Lieder eine beschreibende Form und sie gefallen sich
- nicht in ausführlichen Darstellungen der Natur. Nur hie und da scheint
- die Natur in der einen oder der andern Strophe hindurch, aber
- nichtsdestoweniger sind ihre Züge so neu, so fein, so bezeichnend und
- gut, daß sie den ganzen Gegenstand vor die Seele zaubern. Übrigens nimmt
- man zu ihnen nur darum seine Zuflucht, um die Gefühle der Seele
- kräftiger zum Ausdruck zu bringen. Und daher unterwerfen sich die
- Naturerscheinungen gefügig den Gefühlsregungen. Derselbe Gegenstand
- spiegelt sich immer gleichzeitig in der inneren und äußeren Welt, oft
- ist statt der ganzen äußeren Umgebung nur ein einziger markanter Zug
- oder ein Teil dieser Umgebung berührt. Nirgends findet sich ein Satz wie
- etwa der folgende: »es war Abend;« statt dessen ist immer die Rede von
- gewissen Vorgängen, die abends zu geschehen pflegen, z. B.:
- Die Kühe kamen vom Acker, die Schäfchen von der Wiese;
- Das Mädchen stand beim Burschen und weinte sich die braunen Augen rot.
- Daher haben sehr viele, ohne dies recht zu verstehen, solche und
- ähnliche Wendungen für unsinnig erklärt. Ein Gefühl findet immer einen
- starken, plötzlichen, schroffen Ausdruck und wird nie durch lange
- Perioden abgeschwächt. In einigen Liedern gibt es keine fortlaufende
- Idee, sie gleichen einer Reihe von Strophen, von denen jede einen
- besonderen Gedanken in sich schließt. Oft erscheinen sie ganz
- unbedeutend, weil sie spontan entstanden sind, und da der Blick des
- Volkes sehr lebhaft ist, so werden gewöhnlich die Gegenstände, die
- zuerst in die Augen fallen, gleich im Anfang des Liedes erwähnt; dafür
- aber treten in diesem bunten Durcheinander Strophen hervor, die uns
- durch die bezaubernde Ursprünglichkeit ihrer Poesie entzücken. Hier
- vereinigen sich eine leuchtende, treue Malerei und eine wohlklingende
- Wortmusik. Ein solches Lied wird nicht mit der Feder in der Hand, nicht
- auf dem Papier, auf Grund strenger Überlegung komponiert, nein, es
- entsteht im Taumel der Selbstvergessenheit, wenn die Seele singt und
- klingt und alle Glieder ihre gewöhnliche gleichgültige Lage verlassen
- und sich freier zu rühren beginnen, wenn die Arme sich in die Höhe
- strecken und die stürmischen Wellen der Lust den Menschen über alles
- hinwegtragen. Dies spürt man sogar in den traurigen und wehmütigen
- Liedern, deren herzzerreißende Klänge schmerzvoll an unsere Seele
- greifen. Nie konnten solche Töne unter gewöhnlichen Verhältnissen und
- bei einer nüchternen Betrachtung des Gegenstandes der Seele eines
- Menschen entquellen. Nur dann, wenn der Wein den prosaischen Gedanken
- verwirrt und zerstört, wenn die Gedanken seltsam und unbegreiflich in
- ihrer Disharmonie doch innerlich zusammenklingen -- in solch mehr
- feierlicher als heiterer Ekstase beginnt die Seele sich rätselvoll in
- unerträglich schmerzlichen Klängen auszuströmen. Hier gibt es keinen
- Gedanken, keine Überlegung! Der ganze geheimnisvolle Organismus verlangt
- nach Tönen und nur nach Tönen. Daher ist die Poesie dieser Lieder so
- unbegreiflich, zauberhaft und graziös wie Musik. Die Gedankenpoesie ist
- für jedermann weit verständlicher als die Poesie der Töne oder besser
- gesagt die Poesie der Poesie. Nur ein auserwählter, wahrhafter Dichter,
- ein Mann, der seinem innersten Wesen nach Poet ist, kann sie verstehen,
- und daher kommt es, daß oft das allerschönste Lied unbemerkt
- vorüberrauscht, während ein minderwertiges durch seinen Inhalt gewinnt.
- Der kleinrussische Versbau eignet sich sehr für das Lied; in ihm finden
- sich Versmaß, Tonfall und Rhythmus vereinigt. Ihr Rhythmus ist schnell
- und rapid, daher ist die einzelne Zeile fast nie zu lang, aber selbst
- wenn dieses mitunter vorkommt, so wird er in der Mitte durch eine Zäsur
- mit einem klangvollen Reim durchschnitten. Reine, langgedehnte Jamben
- kommen selten vor; meistenteils sind es schnelle Trochäen, Daktylen,
- Amphibrachen, die schnell dahinfliegen, sich einer mit dem anderen frei
- und launenhaft verbinden und so zu neuen Versmaßen führen, die sie in
- mannigfaltigster Weise variieren. Die Rhythmen tönen und klingen
- zusammen wie die silbernen Hufeisen der Tanzenden. Ein sicheres Gehör
- und musikalisches Gefühl ist ihnen allen gemeinsam. Oft klingt eine
- Zeile mit einer anderen harmonisch zusammen, trotzdem beide sich nicht
- einmal miteinander reimen. Die Häufigkeit des Reims ist erstaunlich.
- Häufig enthält eine Zeile zwei Zäsuren und reimt sich zweimal vor dem
- Schlußreim, der außerdem in der zweiten Zeile, die gleichfalls in der
- Mitte doppelt gereimt ist, einen Gegenreim findet. Manches Mal begegnen
- wir einem solchen Reim, den man eigentlich keinen Reim nennen kann, der
- aber in seiner Tonfärbung so wohlklingend ist, daß er uns mehr gefällt
- als ein Reim, und der nie einem Dichter in den Sinn gekommen wäre,
- während er die Feder in der Hand hält.
- Den Charakter der Musik kann man nicht mit einem Wort bezeichnen: sie
- ist außerordentlich mannigfaltig. In vielen Liedern ist sie leicht,
- graziös, berührt nur leicht die Erde, und es scheint, als spiele sie
- neckisch mit den Tönen. Zuweilen nimmt die Melodie eine männliche
- Physiognomie an und wird kraftvoll, stark und mächtig; schwer stampfen
- die Füße die Erde, und es scheint, als könne man nur den schwerfälligen
- Hopak nach dieser Musik tanzen. Ein anderes Mal aber werden die Töne
- ungewöhnlich frei, breit, schwingen sich gigantisch empor, suchen
- unendliche Räume zu umfassen, und bei ihren Klängen fühlt der Tänzer
- sich selbst als Riese: seine Seele, sein ganzes Sein erweitert sich und
- dehnt sich bis ins Unendliche. Er löst sich plötzlich von der Erde, dann
- trifft er sie noch kräftiger mit seinen glänzenden Hufeisen, um im
- nächsten Augenblick wieder in die Luft zu fliegen. Was aber die traurige
- Musik anbelangt, so kann man sie hier so hören, wie nirgends sonst. Ob
- es nun der Schmerz um die geknickte Jugend ist, der es nicht vergönnt
- war, sich auszuleben, oder die Klage über die traurige Lage des
- damaligen Kleinrußland ... diese Töne leben, brennen und zerreißen
- unsere Seele. Die melancholische russische Musik drückt, wie M.
- Maksimowitsch richtig bemerkt hat, ein Gefühl aus, das das Leben
- vergessen will; sie strebt danach, sich vom Leben zu entfernen und die
- alltäglichen Nöte und Sorgen zu übertäuben; aber in den kleinrussischen
- Liedern verschmilzt dies Gefühl mit dem Lebensgefühl: ihre Töne sind so
- lebendig, man glaubt, daß sie nicht nur zu klingen, sondern auch zu
- sprechen scheinen -- sie reden in Worten, sie sprechen in ganzen Sätzen,
- und jedes Wort dieser feurigen Reden dringt in die Seele. Ihr
- Aufschluchzen gleicht manchmal so sehr einem Herzensschrei, daß das Herz
- des Lauschers plötzlich zusammenzuckt, als hätte ein scharfer Stahl es
- berührt. Häufig klingt eine so starke, trostlose und gleichgültige
- Verzweiflung hindurch, daß wir uns beim Hören selbst vergessen und das
- Gefühl haben, als sei die Hoffnung für immer aus der Welt entflohen. An
- anderen Stellen hören wir ein kurzes Aufstöhnen und so lebhafte, heftige
- Seufzer, daß wir uns zitternd fragen: sind das noch Töne? Das ist der
- unerträgliche Jammer einer Mutter, der eine grausame Gewalt ihr Kind
- entreißt, um es mit bestialischem Lachen an einem Stein zu
- zerschmettern. Nichts kann gewaltiger sein, als die Volksmusik, wenn das
- Volk nur poetische Begabung hat und ein wechselvolles, tatenreiches
- Leben führt, wenn der Druck der Gewalt und ewiger unüberwindlicher
- Hindernisse es ihm nicht gestatteten, für einen Moment einzuschlummern,
- ihm Klagen abnötigen, und wenn diese Klagen niemals und nirgends anders
- zum Ausdruck kommen konnten, als in seinen Liedern. In solch einer Lage
- befand sich Kleinrußland zu der Zeit, als sich die Union raubgierig auf
- das schutzlose Land stürzte. Aus ihnen, aus diesen Tönen kann man sich
- ein ebenso deutliches Bild von diesen vergangenen Leiden machen, wie von
- einem Sturm mit Hagelschauern und einem Wolkenbruch, wenn man die
- diamantenen Tränen erblickt, die die erfrischten Bäume von unten bis
- oben bedecken, wenn die Sonne ihre abendlichen Strahlen aussendet, wenn
- die Luft dünn und rein ist, wenn aus der Ferne das Brüllen der Herden zu
- uns herüberzittert und wenn der bläuliche Rauch, dieser Vorbote des
- ländlichen Nachtmahls und der Feierstunde, in leuchtenden Ringen gen
- Himmel steigt und der Abend, der stille, klare Abend die beruhigte Erde
- umfängt.
- 1833.
- V
- Gedanken über Geographie
- für die unteren Klassen
- Groß und erstaunlich ist das Gebiet der Geographie. Länder, wo der
- südliche Himmel glüht und wo jedes Geschöpf sich einer doppelten
- Lebensenergie erfreut, und Gegenden, wo wir in den entstellten Zügen der
- Natur Grauen und Entsetzen lesen, wo das ganze Land sich in einen
- starren Leichnam verwandelt; Bergriesen, die in den Himmel ragen,
- nachlässig hingeworfene Landschaften, die von der ganzen Kraft und
- Fruchtbarkeit einer üppigen und reichen Vegetation überquellen, und
- wiederum glühende Wüsten und Steppen, ein losgerissenes Stück Erde
- inmitten eines grenzenlosen Meers, die Menschen, die Kunst und die
- Grenze alles Lebens! -- wo wollte man Gegenstände finden, die stärker zu
- unserer Einbildung sprächen, gibt es eine herrlichere Wissenschaft für
- die Kinder, gibt es eine, die die Poesie ihrer jugendlichen Seele
- lebhafter beflügeln könnte? Und ist es nicht traurig, wenn man ihnen
- anstatt all dieser Dinge ein lebloses, trockenes Skelett vorführt und
- kalt hinzufügt: »Das ist die Erde, auf der wir wohnen; da ist die schöne
- Welt, die uns der unbegreifliche Baumeister geschenkt hat!« -- Aber mehr
- noch! Man verbirgt Ihn vor den Kindern und läßt sie statt dessen einen
- politischen Körper benagen, der die Welt ihrer Begriffe übersteigt und
- sogar für einen Verstand, der im Besitze höherer Ideen ist, viel
- Ungereimtes enthält. -- Unwillkürlich kommt einem da der Gedanke:
- sollten wirklich der große Humboldt und jene anderen kühnen Forscher,
- die so viel Licht in das Gebiet der Wissenschaften hineingetragen, und
- die uns die wunderbaren Hieroglyphen, mit denen unsere Welt bedeckt ist,
- entziffert haben, nur einigen wenigen Gelehrten zugänglich sein, sollte
- die Altersstufe, die mehr denn jede andere das Bedürfnis nach Klarheit
- und Bestimmtheit hat, auf nichts als unverständliche Darstellungen
- angewiesen sein?
- * * * * *
- Die Kindheit ist zunächst nichts wie ein großes Dürsten, ein
- instinktives Streben nach Erkenntnis. Sie verlangt nach allem und möchte
- alles wissen. Am meisten interessiert sie sich für ferne Länder: »Wie
- ist es dort? was geht dort vor? was gibt es da für Menschen? wie leben
- sie?« Diese Fragen drängen sich ihr in reicher Fülle auf, sie alle
- beziehen sich auf die physische Geographie, und daher muß die gewaltige,
- reiche, furchtbare und zauberische Welt in ihrem physischen Zustande sie
- in höherem Maße und in umfassenderer Weise beschäftigen.
- * * * * *
- In vielen von unseren Lehranstalten trägt man die Geographie in zwei,
- manches Mal sogar in drei Klassen vor, weil die Zöglinge nicht imstande
- sind, das ganze Gebiet in einem Jahre durchzunehmen. Und das ist gut,
- denn die Geographie verdient es, daß man sich nicht nur ein Jahr lang
- mit ihr beschäftigt; aber die Lehrer verfallen in einen sehr großen
- Fehler; sie teilen den Erdball in zwei, oder je nach den Klassen, in
- drei Teile, und dabei fällt der untersten Klasse Europa zu, das
- gewöhnlich nur nach seiner politischen Seite mit den ausführlichsten
- Details durchgenommen wird, während die höheren Klassen durch die
- Steppen und den afrikanischen Sand irren und sich mit den Wilden
- unterhalten müssen. Abgesehen von der Unvernunft und von der
- merkwürdigen Form solch einer Lehrmethode gehört noch ein ungeheures
- Gedächtnis dazu, um diese ganze ungeordnete Masse festzuhalten. Aber
- selbst wenn man die Möglichkeit solch phänomenaler Begabungen in der
- Natur zugibt, so wird doch sogar in dem Kopfe eines solchen Phänomens
- nie ein schönes Ganzes zurückbleiben. -- Es werden höchstens sorgfältig
- bearbeitete, aber völlig getrennte Stücke sein, die von keinem kräftigen
- Leben beseelt sind, das mit rhythmischem Pulsschlag durch alle Adern
- rinnt. Es ist wie bei einem Volke, das für eine monarchische Regierung
- prädestiniert ist und sie im Sturme politischer Erschütterung verloren
- hat.
- Es ist viel besser, wenn der Zögling die Geographie auf zwei
- verschiedenen Altersstufen durchnimmt. Auf der ersten Stufe sollte er
- nur einen großen Überblick über die ganze Welt erhalten, aber einen
- solchen, der seine ganze Aufmerksamkeit anregt und ihm die ganze Weite
- und ungeheure Größe der geographischen Welt vor Augen führt. Zu diesem
- Kursus müßten auch die Naturgeschichte, die Physik, die Statistik und
- alles, was mit der Welt zusammenhängt, ihren Teil beisteuern, damit die
- Welt den Eindruck einer einzigen, leuchtenden, bunten Dichtung mache und
- der Schüler nach Möglichkeit mit all ihren Teilen bekannt und vertraut
- werde. Gar keine Einzelheiten, nur die großen markanten Züge! aber so,
- daß er ahnt, wo Eiseskälte und wo eine starke Vegetation vorherrscht, wo
- die Manufaktur und wo die Bildung höher steht, wo die Unwissenheit
- größer, wo die Erde tiefer ist, und wo die Berge sich mächtiger
- emportürmen. -- In der zweiten Periode des Kindesalters müssen die
- Grenzen dieser Welt auseinandergerückt werden. Jetzt soll er die
- Gegenstände, die er früher mit bloßem Auge gesehen, durchs Mikroskop
- betrachten. Dann wird er auch alle Ausnahmen und Übergänge, und weniger
- die starken, als die feinen Abweichungen kennen lernen.
- * * * * *
- Der Schüler soll überhaupt kein Buch bei sich haben. Ein Buch, es mag
- sein wie es will, wird seine Einbildungskraft stets einengen und
- abtöten. Er soll nur die Karte vor sich haben. Man soll ihm keine
- geographische Erscheinung erklären, ohne sie auf der Stelle zu fixieren;
- selbst wenn es sich nur um eine lebendige, schöne Beschreibung handelt,
- muß der Schüler beim Zuhören seine Augen auf einen Punkt der Karte
- richten, und dieser kleine Punkt muß sich vor ihm immer mehr und mehr
- ausbreiten, und alle Karten, die er während der Rede des Lehrers vor
- sich sieht, in sich aufnehmen. Dann kann man sicher sein, daß die
- Erscheinungen sich seinem Gedächtnis für immer einprägen werden, und daß
- er, während seine Augen das nackte Weltgerippe betrachten, es sofort mit
- leuchtenden Farben ausfüllen wird.
- * * * * *
- Vor allem muß er die Gestalt der Erde in seinem Gedächtnis festhalten.
- Das Kartenzeichnen, mit dem man die Schüler so sehr quält, bringt wenig
- Nutzen. Die vielen kleinen Details, die vielen einzelnen Staaten und
- Reiche können sich in seinem Kopfe nur gegenseitig vernichten. Viel
- besser ist es, man gibt den Kindern vor allem eine scharfe und lebendige
- Idee von der Gestalt der Erde: ich möchte dazu raten, zu diesem Zwecke
- das Wasser weiß und die ganze Erde schwarz darzustellen, damit sie sich
- unwillkürlich dem Gedanken ganz deutlich und durch ihre scharfen
- Konturen aufdrängen und die Schüler unaufhörlich mit ihrer
- unregelmäßigen Figur verfolgen. Jetzt wird es ihnen schon viel leichter
- fallen, die Gestalt der Erde nachzuzeichnen, nur sollte man ihnen nie
- gestatten, sich in Einzelheiten zu ergehen, d. h. alle kleinen
- Vorgebirge und Ausbuchtungen der Ufer zu vermerken. Es ist sogar besser,
- wenn sie diese anfänglich nicht kennen, dafür aber die allgemeine
- Gestalt der Erde festhalten.
- * * * * *
- Es ist weit besser, am Anfang die ganze Welt auf einmal zu behandeln,
- alle Weltteile auf einmal zu überblicken, denn auf diese Weise treten
- die Gegensätze um so stärker hervor. Wenn man sie in ihrer Gesamtheit
- kennen gelernt hat, kann man hierauf gründlicher auf jeden Erdteil
- eingehen. Was nun die Reihenfolge anbelangt, in der die Weltteile
- durchgegangen werden sollten, so würde ich dazu raten, sich durch die
- allmählige Entwicklung des Menschen und damit durch die allmählige
- Entdeckung der Erdteile leiten zu lassen: Man beginne mit Asien, der
- Wiege der Menschheit, mit ihrer Kindheit, gehe dann zu Afrika, zu ihrer
- feurigen und zugleich wilden Jugend über, wende sich sodann Europa,
- ihrer schnellen Klärung und dem Reifen der Vernunft zu, schreite dann
- mit dieser nach Amerika fort, wo der gereifte, mächtige Mensch wieder
- mit dem ursprünglichen und sinnlichen Menschen zusammenstößt, und
- schließe die Darstellung endlich mit den im grenzenlosen Ozean
- verstreuten Inseln.
- Eine solche Einteilung scheint mir weit natürlicher. Vor allem muß der
- Schüler sich einen allgemeinen und charakteristischen Begriff von jedem
- einzelnen Erdteil machen. Zuerst von Asien, wo alles groß und weit ist,
- wo die Menschen äußerlich so würdevoll und kalt sind und doch plötzlich
- von unbezwinglicher Leidenschaft ergriffen, aufwallen können; in ihrem
- kindlichen Begriffsvermögen kommen sie sich klüger vor als alle anderen;
- hier gibt es nur Überhebung und sklavische Unterwerfung; alles ist frei
- und leicht gekleidet, leicht bewaffnet, und jedermann ist ein guter
- Reiter; hier kann der Türke sein ganzes Leben lang mit untergeschlagenen
- Beinen dasitzen und seinen Nargileh rauchen, hier rast der Beduine wie
- ein Sturmwind durch die Wüste, hier wird der Glaube zum Fanatismus, dies
- ganze Land ist das Land der Glaubensbekenntnisse, die sich von hier aus
- über die ganze Welt verbreiten. Dann gehe man zu Afrika über, wo die
- Sonne so heiß brennt und Ozeane von Sandwüsten sich über unermeßliche
- Flächen dehnen; dies ist das Land der Löwen, Tiger, der Palmen und der
- Kokospalmen und der Menschen, die sich in ihrem Äußeren und ihren
- sinnlichen Neigungen nur wenig von Affen unterscheiden, deren zahlreiche
- Scharen das Land durchziehen usw.
- * * * * *
- Nachdem der Schüler das Bild eines Erdteils aufgezeichnet hat,
- verzeichne er alle Höhen und Tiefen auf ihm und stellte dar, wie die
- Berge sich verzweigen und in langen, formlosen Ketten durch das Land
- ziehen. Bei dieser Gelegenheit kann man sich der Reliefdarstellung
- Europas von Ritter bedienen, obwohl sie sich wegen ihrer unklaren
- Grenzen zwischen Licht und Schatten nicht ganz für Kinder eignet. Daher
- wäre es am besten, man stellte zu diesem Zwecke ein richtiges Basrelief
- aus festem Ton oder Metall her. Dann brauchte der Schüler es sich nur
- aufmerksam anzusehen, und die Höhen und Tiefen würden sich seinem
- Gedächtnis für immer einprägen.
- * * * * *
- Da die Berge der Erde ihre Form gegeben haben, so muß ihre Kenntnis
- sozusagen den Anfang des ganzen Geographieunterrichts bilden. Nachdem
- wir ihre Verzweigungen auf der Oberfläche der Erde aufgewiesen haben,
- müssen wir auf ihr Äußeres, auf ihre Form, auf ihre Zusammensetzung, auf
- ihre Entstehung und endlich auf ihren Charakter und ihre Eigenart
- hinweisen, durch die sie sich von anderen Bergketten unterscheiden --
- doch dies darf nicht in trockner Weise mit einer gelehrten
- Ausführlichkeit geschehen, sondern so, daß der Schüler erkennt, daß
- diese oder jene Gebirgskette aus dunklem oder hartem Granit bestehe, daß
- das Innere einer anderen weiß, kalkartig oder lehmig, locker, gelb,
- dunkel, rot oder endlich aus Erden und Gesteinen von leuchtenden Farben
- zusammengesetzt sei. Man kann sogar erzählen, daß die Gebirge häufig von
- Metallagern und Erzadern durchzogen sind, kann ihre Lage darstellen und
- zwar kann man dies interessant und unterhaltend tun. Was aber ihre
- Oberfläche anbetrifft, so versteht es sich von selbst, daß man alle
- höchsten Punkte angeben muß: alle bemerkenswerten Erscheinungen auf
- ihnen sowie die Höhen, bis zu denen die Menschen emporgestiegen sind.
- * * * * *
- Es könnte nicht schaden, auch die unterirdische Geographie kurz zu
- berühren. Mir scheint, es gibt keinen poetischeren Gegenstand als diese,
- obwohl sie nur für die höheren Altersstufen ganz verständlich sein kann.
- Hier haben alle Tatsachen und Erscheinungen etwas Gigantisches und
- Kolossales an sich. Hier begegnen wir ganzen ungeheuren Massen. Hier
- trägt alles den Stempel der gewaltigen Erdumwälzungen, hier wird die
- Seele mächtiger als sonst von den großen Werken des Schöpfers
- erschüttert. Hier liegen ganze Lager von unterirdischen Wäldern
- begraben. Hier ruht in tiefster Einsamkeit die Muschel eingebettet,
- schon im Begriff, sich in Marmor zu verwandeln. Hier lodern ewige Feuer,
- deren Ausbrüche die Oberfläche der Erde umgestalten. Ein großer Teil
- dieser Erscheinungen kann selbst bei einer oberflächlichen Darstellung
- den Eindruck auf die Einbildungskraft des jungen Zöglings nicht
- verfehlen.
- * * * * *
- Der Prozeß und die Ausbreitung der Vegetation auf der Erde muß auf der
- Karte an der Hand einer Stufenfolge der Wärmegrade aufgezeigt werden: wo
- eine südliche Pflanze heimisch ist, wohin sie als Gast verschlagen ward,
- unter welchem Grade sie zugrunde geht, wo die nördliche Vegetation
- beginnt, wo sich auch diese endlich verliert, wo alles Wachstum aufhört,
- wo die Natur in den Umarmungen des kalten Ozeans abstirbt und wo der
- wunderbare Pol sich in undurchdringliche und für den Menschen
- unzugängliche Eismassen einhüllt. Und in der gleichen Weise müßte auch
- die Ausbreitung der Tierwelt dargestellt werden. Doch der Boden verlangt
- eine andere Einteilung der Erde nach Zonen, von denen jede einzelne eine
- besondere Art umschließt.
- * * * * *
- Nur hie und da werden die Erzeugnisse der Kunst von den Geographen
- behandelt. Es gibt keinen Übergang von der Natur zu den Produkten des
- Menschen. Die letzteren sind wie durch eine Axt von ihrem Urquell
- abgespalten. Ich rede nicht einmal davon, daß bei ihnen jener Ehebund
- des Menschen mit der Natur, der die Manufaktur gebiert, gar nicht
- erwähnt wird. Bevor also der Schüler zur Betrachtung der Industrie und
- den Erzeugnissen menschlicher Handarbeit fortschreitet, muß er hierzu
- durch die Kenntnis der Bodenerzeugnisse vorbereitet werden, damit er
- selbst daraus schließen kann, welche Industrien sich in einem bestimmten
- Reiche vorfinden müssen; falls Ausnahmen in dieser Hinsicht vorkommen
- sollten, ist es unbedingt nötig, auf ihre Ursachen hinzuweisen:
- vielleicht liegen sie in dem sorglosen Charakter der Bevölkerung, in
- fremdartigen Nebenumständen, in dem übergroßen Reichtum der Nachbarn, in
- dem Mangel an Kommunikationsmitteln oder ähnlichen Verhältnissen. Wenn
- er erst über die Industrie orientiert ist, kann er auch zum Handel
- übergehen, der ja ohnedies nicht sehr interessant und nicht leicht
- verständlich ist.
- * * * * *
- Bei der Aufzählung der Völker muß der Lehrer durchaus auf die
- Physiognomie und die Eigentümlichkeiten hinweisen, die der Charakter
- eines Volks, sozusagen unter dem Einflusse geographischer Verhältnisse
- angenommen hat. Er muß alle Völker der Erde in große Familien einordnen,
- erst die gemeinschaftlichen Züge einer jeden Gruppe schildern und dann
- erst zu ihren unterscheidenden Merkmalen übergehen. Dann muß er ihre
- physische Geschichte, d. h. die Geschichte ihrer Charakteränderungen
- folgen lassen, damit es dem Schüler klar werde, warum z. B. die Teutonen
- in Deutschland durch einen festen, phlegmatischen Charakter
- ausgezeichnet sind, und warum derselbe Stamm nach Überschreitung der
- Alpen ein so munteres, leichtes Wesen annimmt.
- * * * * *
- Auch Karten, die die Ausbreitung der Bildung auf der Erdkugel
- darstellen, sind für Kinder von großem Nutzen. Dieser Nutzen wird zur
- Notwendigkeit, sobald man zu Europa übergeht. Da es jedoch bei uns
- solche Karten noch nicht gibt, muß der Lehrer sich der kleinen Mühe
- unterziehen und selbst eine solche anfertigen. Die Punkte, wo die Kultur
- einen hohen Grad erreicht hat, muß er durch leuchtende Farben
- hervorheben und dort leichte Schatten aufsetzen, wo sie tiefer steht.
- Diese Schatten werden immer dunkler, je tiefer wir herabsteigen, und
- verwandeln sich in völlige Finsternis in dem Maße als die Natur
- verwildert und der Mensch bis zum seelenlosen Eskimo hinabsinkt.
- Die Größe der Erde und der einzelnen Staaten wird man sich nie durch
- Feststellung ihres Quadratinhalts einprägen. Man braucht nur einen Blick
- auf die Karte zu werfen, das ist das einzige Mittel, sie kennen zu
- lernen. Es wäre nicht unangebracht, jedes Reich besonders
- auszuschneiden, so daß es ein einzelnes Stück und durch Zusammenfügung
- mit den andern einen Weltteil bilde. So könnte man die Größe und Form
- eines jeden Reiches sichtbar machen.
- * * * * *
- Bei der Darstellung einer jeden Stadt muß man ihre Lage genau bestimmen:
- ob sie auf dem Berge liegt oder sich ins Tal hinabzieht, muß ihr Leben,
- ihre Bedeutung, ihre Einkunftsquellen schildern -- und überhaupt mit
- einigen kräftigen Strichen ihren Charakter zeichnen. Der Lehrer muß aus
- dem reichhaltigen Material all das hervorziehen, was eine
- Eigentümlichkeit dieser Stadt ist, und wodurch sie sich von den vielen
- anderen unterscheidet. Der Schüler soll wissen, was Rom, was Paris, was
- Petersburg ist. Er darf die anderen europäischen Städte nicht etwa an
- dem eigenen Maßstabe, der sich beim Anblick von Petersburg in seinem
- Kopf gebildet hat, messen. Bei der Darstellung jeder einzelnen Stadt muß
- das, was allen Städten gemeinsam ist, ausgeschlossen werden. In vielen
- von unseren Geographiebüchern wird auch heute noch bei der Erwähnung
- einer Gouvernementsstadt erzählt, daß es dort ein Gymnasium, eine
- Kathedrale, und bei Zitierung einer Kreisstadt bemerkt, daß es in ihr
- eine Kreisschule gibt usw. Wozu soll das dienen? Es genügt, wenn man dem
- Schüler gleich am Anfang sagt, daß es bei uns in jeder Gouvernementstadt
- ein Gymnasium und eine Kirche gibt. In der ganzen Welt aber gibt es nur
- einen Kreml, einen Vatikan, ein Palais-Royal, eine Reiterstatue Peters
- des Großen von Falkonet, ein Petscherski-Kloster in Kiew, einen King
- Bench! Über diese wird das Kind gewiß Genaueres erfahren wollen. Man
- darf sich nicht mit nichtigen Dingen, wie mit dem Aufzählen von Häusern
- und Kirchen, aufhalten, die den Schüler nur langweilen können, dies
- sollte nur in Ausnahmefällen gestattet sein, wenn etwas entweder durch
- seine Größe oder durch ein negatives Merkmal aus der Kategorie des
- Alltäglichen hervorragt. Statt dessen kann man über die Architektur
- einer Stadt sprechen -- in welchem Stil sie erbaut ist, und ob die
- Gebäude durch Größe oder Schönheit auffallen. Bei der Darstellung einer
- sehr alten Stadt muß man darauf aufmerksam machen, wie majestätisch
- ihre, wenn auch seltsam anmutende altertümliche, in Jahrhunderten
- bewährte und in den Erschütterungen groß gewordene Architektur und wie
- leicht und elegant dagegen der Stil einer anderen Stadt ist, die nur ein
- Jahrhundert zu ihrer Entstehung brauchte. Beim Gedanken an irgendein
- deutsches Städtchen muß der Schüler sich sofort enge Gassen und kleine,
- schmale, hohe Häuschen, an denen alles so einfach, so lieb und so
- bukolisch ist, vorstellen, und daneben eckige Kirchen mit hoch in die
- Luft ragenden Turmspitzen. Mit dem Gedanken an Rom, diesem dumpfen Echo
- der ganzen antiken, in dem Wirbel der Jahrhunderte untergegangenen Welt,
- muß sich unweigerlich der Gedanke an mächtige, sich kühn vom Boden
- erhebende Gebäude verbinden, die, auf schlanke Hallen und gigantische
- Säulen gestützt, verfallen, gleich als sönnen sie über die verflossenen
- Tage ihrer großen, herrlichen Jugend nach. Zu diesem Zweck wäre es gut,
- den Schülern recht häufig die Fassaden der berühmtesten Bauten zu
- zeigen; dann würde sich ihre ungewöhnliche Gestalt dem Gedächtnis
- einprägen, und dies würde unwillkürlich und unmerklich zur Bildung ihres
- jungen Geschmacks beitragen.
- * * * * *
- Hin und wieder muß auch die Geschichte durch die Erinnerung an
- vergangene Ereignisse die geographische Welt beleuchten. Das Vergangene
- muß aber schon sehr augenfällig und von rein geographischen Ursachen
- bewirkt sein, um an sie zu erinnern. Wenn jedoch der Schüler zur selben
- Zeit Geschichte studiert, dann fließen Geographie und Geschichte
- miteinander zusammen, um ein organisches Ganzes zu bilden.
- * * * * *
- Der Vortrag des Lehrers muß fesselnd und bilderreich sein, alle
- eindrucksvollen Gegenden, alle großen Naturerscheinungen müssen mit
- leuchtenden Farben geschildert werden. Was stark auf die Phantasie
- wirkt, das geht dem Gedächtnis nicht leicht verloren. Der Vortrag muß
- dem Stil eines Reisenden gleichen. Die strenge analytische Systematik,
- besonders wenn sie sich auf Kleinigkeiten erstreckt, kann nicht lange im
- Kopf eines Jünglings haften. Das Kind behält nur dann ein System, wenn
- es es nicht mit Augen sieht und wenn es ihm verborgen bleibt. Sein
- System -- ist das Interesse, der Faden, an dem sich die Ereignisse oder
- die Erzählungen aufreihen. Alles, was wahrhaft notwendig ist, alles, was
- mehr mit unserem Leben zusammenhängt, was wir später noch besser bei uns
- selbst anwenden können, -- dies alles ist interessant. Übrigens: was ist
- in der Geographie uninteressant? Sie ist so tief wie das Meer, sie
- erweitert unsere eigensten Handlungen und unsern Wirkungskreis, und
- obgleich sie uns die Grenzen eines jeden Landes zeigt, verhüllt sie ihre
- eigenen so geschickt, daß sie selbst für Erwachsene ein philosophisch
- anziehender Gegenstand bleibt. Kurz gesagt, man muß versuchen, den
- Schüler so viel als möglich mit der Welt bekannt zu machen, mit all
- ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit, aber in einer Weise, daß sein
- Gedächtnis nicht überbürdet wird, sondern daß ihm dies alles wie ein mit
- helleuchtenden Farben gemaltes Bild erscheint. Hierfür bieten uns die
- Beschreibungen der Reisenden einen reichen Schatz dar; es gibt deren
- eine ganze Menge; wie mir scheint, hat man es jedoch noch nicht
- verstanden, in dieser Hinsicht, genügenden Nutzen aus ihnen zu ziehen.
- * * * * *
- An der Trägheit und Unaufmerksamkeit des Schülers hat meist der Lehrer
- schuld, sie sind nur Zeugnisse für seine eigne Nachlässigkeit; er hat es
- also nicht verstanden, die Aufmerksamkeit seiner jugendlichen Hörer zu
- fesseln, oder er hat es nicht gewollt; er hat sie gezwungen, seine
- bittern Pillen mit Widerwillen zu schlucken. Man darf nie einen
- vollständigen Mangel an Fähigkeiten bei einem Kinde voraussetzen. Ich
- bin oft Zeuge gewesen, wie ein Kind, das allgemein für ganz unbegabt und
- von der Natur als stiefmütterlich behandelt gehalten wurde, mit
- ungeteilter Aufmerksamkeit einer grauenerregenden Erzählung lauschte,
- und wie auf seinem fast seelenlosen, von keinem Gefühl der Teilnahme
- belebten Gesichte unruhige Spannung und Angst miteinander abwechselten.
- Sollte es wirklich nicht möglich sein, diese Aufmerksamkeit für die
- Wissenschaft nutzbar zu machen?
- 1829.
- VI
- Der letzte Tag von Pompeji
- Ein Bild von Brylow
- Dies Bild von Brylow ist eine der glänzendsten Erscheinungen des XIX.
- Jahrhunderts. Es ist der Auferstehungstag der Malerei, die lange Zeit in
- einer Art von lethargischem Schlafe verharrte. Ich will nicht von den
- Ursachen eines solch ungewöhnlichen Stillstandes reden, obgleich dieser
- einen sehr interessanten Gegenstand für die Forschung darbietet; ich
- will nur erwähnen, daß, wenn auch das Ende des XVIII. und der Anfang des
- XIX. Jahrhunderts uns in der Malerei nichts Vollendetes und Gewaltiges
- gebracht, sie doch in ihren einzelnen Teilen mancherlei Förderliches
- geleistet haben. Die Malerei zerfiel in unzählige Atome und Teilchen.
- Jedes dieser Atome ward unendlich viel tiefer erkannt und fortentwickelt
- wie in früheren Zeiten. Man entdeckte geheimnisvolle Erscheinungen, von
- denen man früher nicht einmal etwas ahnte: All das an der Natur, was der
- Mensch am häufigsten sieht, was ihn umgibt und ein Leben mit ihm lebt,
- diese _sichtbare_ Natur mit all ihren kleinen Zügen, die von den großen
- Künstlern vernachlässigt wurden, erreichte eine bewunderungswürdige
- Wahrheit und Vollkommenheit der Darstellung. Alles wetteiferte
- miteinander, um das lebendige Kolorit, das die Natur ausströmt, zu
- erfassen. Alles Geheimnisvolle in ihrem Schoße, diese stumme Sprache der
- Landschaft ward entdeckt, oder richtiger, ward ihr geraubt, ward der
- Natur entrissen, obwohl ihr freilich nur Stücke entrissen wurden und
- obwohl alle Erzeugnisse dieses Jahrhunderts an Experimente oder, besser
- gesagt, an Notizen, Materialsammlungen und flüchtige Gedanken erinnern,
- die ein Reisender in aller Eile in sein Tagebuch einträgt, um sie nicht
- zu vergessen und um später ein Ganzes aus ihnen zu machen. Die Malerei
- zerfiel in ihre primitivsten, beschränktesten Zweige: die Stecherkunst,
- die Lithographie, und eine Unzahl unbedeutender Erscheinungen wurde mit
- großem Eifer bis in ihre einzelnen Teile bearbeitet. Dies verdanken wir
- dem XIX. Jahrhundert. Das Kolorit, das im XIX. Jahrhundert verwendet
- wird, bedeutet einen großen Fortschritt in der Erkenntnis der Natur. Man
- sehe sich nur einmal diese immer wieder erscheinenden Fragmente,
- Perspektiven und Landschaften an, die im XIX. Jahrhundert das
- Zusammenfließen des Menschen mit der ihn umgebenden Natur zum Ausdruck
- bringen: wie differenziert sich hier die von Licht umflutete
- Häuserflucht, indem sie aus der Finsternis hervortritt! wie durchsichtig
- ist das vom Licht getroffene Wasser, wie flutet es im Schattendunkel der
- Zweige! wie schwül und strahlend verliert sich der leuchtende Himmel in
- der Ferne! wie nah rückt er dem Beschauer die einzelnen Gegenstände:
- welch kühne, welch unerhörte Verwerfung der Schatten dort, wo man sie
- früher nicht einmal ahnte, und zugleich bei aller Schärfe welch
- wundervolle Zartheit, welch eine geheime Musik selbst in den
- gewöhnlichsten leblosen Gegenständen! Aber worin es unsere Zeit am
- weitesten gebracht hat, das ist die Beleuchtung. Die Beleuchtung
- verleiht all unseren Schöpfungen solch eine Kraft, ja, man kann sagen,
- solch eine Einheitlichkeit, daß sie, obwohl sie keine tiefere Bedeutung
- in sich tragen, die auf etwas Geniales schließen läßt, doch unserm Auge
- unendlich angenehm sind. Sie können uns durch ihren Gesamtausdruck zwar
- nicht fesseln, trotzdem aber entdeckt man bei genauerer Beobachtung in
- ihrem Schöpfer häufig eine, wenn auch beschränkte Kunsterfahrung.
- Man betrachte einmal all diese unaufhörlich erscheinenden Gravüren,
- diese Produkte eines starken Talents, in denen die Natur so lebendig
- pulsiert, daß man meinen sollte, sie wären in Farbe getaucht. Die
- Morgenröte leuchtet in ihnen so zart am Himmel, daß wir beim längeren
- Hinsehen den purpurnen Widerschein des Abends zu erkennen glauben; die
- von Sonnenlicht überfluteten Bäume scheinen gleichsam wie mit einer
- dünnen Staubschicht bedeckt; aus dem tiefsten Dunkel der Schatten blitzt
- ein leuchtendes, blühendes Weiß sinnberückend hervor. Wenn man sie
- anblickt, so fürchtet man sich, sie mit dem Atem zu streifen. Dieser
- Effekt, der sich überall in der Natur findet, und durch den Kampf von
- Licht und Schatten entsteht, dieser Effekt ist das Ziel und Streben all
- unserer Künstler geworden. Man kann sagen, das XIX. Jahrhundert sei das
- Jahrhundert der Effekte. Jedermann vom Ersten bis zum Letzten hascht
- nach Effekt, vom Poeten bis zum Konditor, so daß diese Effekte uns
- wahrlich schon zu langweilen beginnen, und es ist möglich, daß das XIX.
- Jahrhundert infolge einer seltsamen Laune sich endlich wieder dem
- Schlichten zuwenden wird. Übrigens kann man sagen, daß die Effekte sich
- am meisten für die Malerei eignen, wie überhaupt für alles, was wir mit
- den Augen genießen: hier fällt, wenn sie an unrechter Stelle angebracht
- und wenn sie falsch sind, ihre Falschheit und Zweckwidrigkeit sofort
- einem jeden auf. Ganz anders ist es bei Erzeugnissen, die sich nur dem
- inneren Auge erschließen: hier wirken falsche Effekte schädlich, weil
- sie die Lüge verbreiten, denn die einfältige Menge stürzt sich kritiklos
- auf alles, was glänzt. In den Händen eines echten, wahren Talentes
- dagegen sind sie stets wahrhaftig und steigern den Menschen ins
- Riesenhafte; wo sie jedoch in die Hand eines unechten Talentes geraten,
- da werden sie dem wahren Kunstkenner ein Greuel, da wirken sie so
- widerwärtig wie ein Zwerg in dem Gewande eines Riesen, oder ein gemeiner
- Mensch, der sich mit einer unverdienten, nur dem Verdienst gebührenden
- Auszeichnung schmückt. Aber alles dieses gehört nicht eigentlich zum
- gegenwärtigen Thema. Man muß zugeben, daß im allgemeinen das Streben
- nach Effekt eher nützt als schadet; es treibt uns eher vorwärts als
- rückwärts und hat sogar in der allerletzten Zeit viel zur
- Vervollkommnung beigetragen. Von dem Wunsch getrieben, einen Effekt
- hervorzubringen, haben viele ihr Objekt genauer studiert und ihre
- geistigen Fähigkeiten viel lebhafter angespannt. Und wenn der wahre
- Effekt sich größtenteils nur in kleinen Vorwürfen offenbarte, so lag die
- Schuld mehr an dem Mangel an großen Genies, als in der ungeheuren
- Zersplitterung des Lebens und der Kenntnisse, der man sie gewöhnlich
- zuschreibt. Außerdem hat das Streben nach Effekt dazu beigetragen, daß
- die Details mit großer Gründlichkeit herausgearbeitet und daß sie durch
- ihr starkes Insaugefallen allen zugänglich gemacht werden. Ich erinnere
- mich nicht, wer es ausgesprochen hat, im XIX. Jahrhundert sei die
- Erscheinung eines universalen Genies, das das ganze Leben des XIX.
- Jahrhunderts in sich aufnehmen könnte, ein Ding der Unmöglichkeit. Das
- ist durchaus unrichtig, das ist ein Gedanke, den nur die
- Hoffnungslosigkeit eingeben kann und der von einem gewissen Kleinmut
- zeugt. Im Gegenteil, nie wird der Flug der Seele eines Genius so
- strahlend sein, wie in unserer Zeit; noch nie war das notwendige
- Material so gut für ihn vorbereitet wie im XIX. Jahrhundert. Und sein
- Schritt wird sicherlich der eines Riesen und jedem, vom Kleinsten bis
- zum Größten, sichtbar sein.
- Das Bild von Brylow kann eine vollwertige, universale Schöpfung genannt
- werden. In ihr ist alles enthalten. Wenigstens hat es eine so gewaltige
- Mannigfaltigkeit in sein Bereich gezogen, wie vor ihm nie ein anderes
- Bild. Das Thema entspricht ganz dem Geschmack unseres Jahrhunderts, das
- aus dem Gefühl seiner ungeheuren Zersplitterung heraus darnach strebt,
- alle Erscheinungen zu ganzen Gruppen zusammenzuschließen, und das daher
- die großen Krisen, die von der ganzen Masse empfunden werden, bevorzugt.
- Jeder kennt jene herrlichen Werke, zu denen die »Vision des Balthasar«,
- die »Zerstörung Ninives« und noch einige andere gehören; hier sind die
- gewaltigen Katastrophen in ihrer ganzen schrecklichen Größe dargestellt,
- in einer vollkommenen Beleuchtung; in furchtbarer Macht lassen ungeheure
- Blitze die schreckliche Finsternis aufleuchten und zucken über den
- Köpfen des betenden Volks. Der Gesamteindruck dieser Bilder ist
- erschütternd und von seltener Einheitlichkeit; doch aber bilden sie nur
- den Ausdruck für eine Seite dieses Gedankens. Sie erinnern an eine ferne
- Landschaft und liefern nur einen einzigen allgemeinen Eindruck. Wir
- haben nur ein Gefühl für die furchtbare Lage der ganzen Volksmasse,
- erkennen aber keinen einzelnen Menschen, der den ganzen Schrecken der
- sich vor seinen Augen vollziehenden Zerstörung zum Ausdruck bringt.
- Diesen Gedanken, den wir nur in starker perspektivischer Verkürzung
- gesehen, stellt uns Brylow plötzlich unmittelbar vor Augen, und dieser
- Gedanke wächst ins Riesenhafte und scheint auch uns in seinen Bannkreis
- zu ziehen. Die Darstellung, die Komposition seiner Idee ist mit
- außerordentlicher Kühnheit ausgeführt: er hat den Blitzstrahl ergriffen
- und läßt ihn stürmend auf sein Bild niederfallen. Der Blitz hat alles
- mit seinem Licht übergossen und überflutet, wie um alles sichtbar zu
- machen, so daß kein Gegenstand dem Beschauer verborgen bleibt. Daher
- liegt auch auf allem eine ungeheuere Lichtfülle. Die Figuren sind mit
- kraftvoller Hand hingeworfen, wie nur ein gewaltiger Genius es vermag.
- Diese ganze Gruppe, die im Augenblick, wo der Blitz niederfällt, wie
- erstarrt stehengeblieben ist, und in der sich tausend verschiedene
- Gefühle spiegeln, dieser stolze Athlet, der einen Schreckensschrei
- ausstößt, in dem Kraft, Hochmut und Ohnmacht liegen, und der sich mit
- seinem Mantel gegen den Wirbelwind von Steinen deckt, dieses Weib, das
- zu Boden gestürzt ist und ihren herrlichen Arm von einer nie dagewesenen
- Schönheit ausstreckt, dieses Kind, das den Beschauer mit seinem Blick zu
- durchbohren scheint, dieser vom Blitzschlag betäubte Greis, der von
- seinen Kindern getragen wird, dessen schrecklicher Körper schon einen
- Grabeshauch auszuströmen und dessen Hand mit den weit ausgespreizten
- Fingern in der Luft erstarrt zu sein scheint, diese Mutter, die die
- Flucht aufgibt und trotz der Bitten ihres Sohnes, dessen angsterfülltes
- Flehen der Beschauer zu vernehmen meint, unbeugsam bei ihrem Entschluß
- verharrt, diese Menge, die entsetzt von den Mauern zurückweicht oder
- voller Schrecken und doch wieder ihren Schreck plötzlich vergessend,
- wild auf die Erscheinung hinstarrt, die das Ende der Welt ankündigt,
- dieser Priester im weißen Gewande, der in hoffnungsloser Wut seinen
- Blick auf die ganze Welt richtet -- dies alles ist so gewaltig, so kühn,
- so harmonisch ineinandergefügt, wie es nur im Kopfe eines universalen
- Genius möglich war.
- Ich will hier nicht den Inhalt des Bildes analysieren, noch die
- dargestellten Vorgänge erläutern und erklären. Hierfür hat jeder sein
- eigenes Auge und sein eigenes Gefühlsmaß; außerdem ist dies alles so
- augenfällig und steht in so naher Beziehung zu dem menschlichen Leben
- und zu der Natur, die der Mensch vor sich sieht und begreift, weil beide
- jedem, dem Kleinsten wie dem Größten, verständlich sind: ich will nur
- die Vorzüge und die scharf hervorstehenden Eigentümlichkeiten des
- Brylowschen Stils hervorheben, um so mehr, da sie wohl den meisten
- entgangen sein werden. Brylow ist der erste Maler, bei dem die Plastik
- bis zur höchsten Vollkommenheit gediehen ist. Seine Gestalten sind trotz
- des furchtbaren Ereignisses und trotz der Lage, in der sie sich
- befinden, doch nicht von jenem wilden Entsetzen erfaßt, von dem die
- herben Schöpfungen Michelangelos erfüllt sind, bei deren Anblick wir
- erbeben. Auch finden wir bei Brylow nicht jene Vorherrschaft der
- himmlischen, unerreichbaren und zarten Gefühle, von denen Raffaels
- Bilder überquellen. Seine Gestalten sind schön, trotz all der Schrecken
- ihrer Situation. Sie überwinden das Entsetzen durch ihre Schönheit. Er
- ist hier nicht so, wie bei Michelangelo, bei dem der Körper nur dazu
- dient, um die Kraft der Seele, ihre Leiden, ihre Seufzer und ihre
- furchtbaren Erschütterungen sehen zu lassen, bei dem die Plastik
- unterging und die Kontur des Menschen riesenhafte Dimensionen annahm,
- weil sie nur dem Gedanken zum Symbol dient, und bei dem nicht der
- Mensch, sondern allein seine Leidenschaften vor uns erscheinen. Bei
- Brylow erscheint der Mensch nur dazu, um seine ganze Schönheit und die
- hohe Anmut seiner Natur zu offenbaren. Die Leidenschaften und die
- wahrhaften, flammenden Gefühle treten uns in so wunderbaren Formen, in
- so herrlichen Menschengestalten entgegen, daß ein Rausch des Entzückens
- uns erfaßt. Als ich das Bild zum dritten- und viertenmal ansah, schien
- es mir, als sei die Skulptur -- jene Skulptur, die in der Antike solch
- eine plastische Vollkommenheit erreicht hat, als sei die Skulptur
- endlich in die Malerei übergegangen und hätte sich überdies mit einer
- geheimnisvollen Musik erfüllt. Brylows Menschen haben stolze und schöne
- Bewegungen; seine Frauengestalten haben etwas Strahlendes, aber es sind
- nicht die Frauen Raffaels mit ihren feinen, kaum erkennbaren Engelszügen
- -- das sind leidenschaftliche, wilde, südliche Italienerinnen, in der
- ganzen reinen Schönheit des Mittags stark, kraftvoll, glühend in der
- Fülle ihrer Leidenschaften und in der Macht ihrer Schönheit und herrlich
- in ihrer Weiblichkeit. Brylow hat keine Gestalt geschaffen, die nicht
- Schönheit atmete; all seine Menschen sind schön. Die Gesamtbewegungen
- seiner Gruppen sind von gewaltigem Rhythmus und sind in ihrer
- Gesamtwirkung schon etwas Schönes. Bei ihrer Erschaffung hat Brylow
- seine Phantasie ebenso stark gezügelt und kraftvoll gelenkt, wie der
- Bewohner der Wüste einen arabischen Hengst. Daher ist das ganze Bild so
- voller Spannkraft und Pracht.
- Im allgemeinen entdecken wir in dem Bilde einen gewissen Mangel an
- Idealität, d. h. einer abstrakten Idealität; darin besteht sein
- stärkster Vorzug. Wenn diese Idealität, dieses Übergewicht der Idee
- hinzugekommen wäre, dann hätte das Bild einen ganz anderen Ausdruck
- erhalten und nicht den Eindruck hervorgerufen, den es jetzt macht. Das
- Mitleid und jene furchtbare innere Ergriffenheit hätten sich nicht so
- der Seelen der Beschauer bemächtigt, und der wunderbare, von Liebe zur
- Schönheit und Wahrheit erfüllte Gedanke wäre ganz verloren gegangen. Was
- uns schreckt, sind nicht die Zerstörung, nicht der Tod, im Gegenteil, in
- diesem Augenblick liegt etwas Poetisches, ein wie im Wirbelwind
- dahinstürmender, geistiger Genuß; wir trauern um unser süßes
- Sinnenglück, um unsere herrliche Erde. Brylow hat diesen Gedanken in
- seiner ganzen Kraft erfaßt. Er hat den Menschen in seiner höchsten
- Schönheit dargestellt, sein Weib ist der Inbegriff aller Herrlichkeit
- der Welt. Seine Augen strahlen hell wie die Sterne, seine Kraft und
- Wollust atmende Brust verspricht die Wonnen der Seligkeit. Und dieses
- wundersame Weib, diese Krone der Schöpfung, dieses Ideal unserer Erde
- muß zugrunde gehen in dem allgemeinen Untergang wie das letzte
- verächtlichste Geschöpf, das es nicht wert ist, zu ihren Füßen
- dahinzukriechen. Ihre Tränen selbst, Ihre Angst und ihr Schluchzen --
- alles ist schön.
- Die äußere ins Auge fallende Eigenart oder die Manier Brylows bildet
- auch einen völlig originellen und einen besonderen Fortschritt. Auf
- seinen Bildern liegt ein Meer von Licht. Das ist sein Charakter. Seine
- Schatten sind kräftig und scharf, gehen aber in der Gesamtmasse unter,
- verschwinden im Licht. Wie in der Natur, so sind sie auch bei Brylow
- kaum bemerkbar. Man könnte seinen Pinsel glänzend und durchsichtig
- nennen. Die Rundung eines schönen Körpers hat etwas Durchscheinendes und
- erinnert an Porzellan; das Licht, das ihn mit seinem Glanze überflutet,
- scheint zu gleicher Zeit in ihn einzudringen. Und dieses Licht ist
- wiederum so zart, daß es zu phosphoreszieren scheint. Selbst der
- Schatten erscheint bei ihm durchsichtig und strömt bei aller Kraft und
- Stärke eine reine, weiche Zartheit und Poesie aus. Seine Pinselführung
- prägt sich einem für alle Zeiten ein. Ich hatte zuerst nur ein Bild von
- ihm gesehen -- das Porträt der Familie Witgenstein. Es prägte sich
- sofort und mit einem Schlage meiner Phantasie ein und lebt dort für
- immer in seinem leuchtenden Glanze. Als ich auf dem Wege war, mir das
- Bild »Die Zerstörung von Pompeji« anzusehen, war das erste ganz aus
- meinem Gedächtnis geschwunden. Ich näherte mich mit einer größeren Menge
- von Menschen dem Saal, wo das Bild hing, und ich hatte, wie das in
- solchen Fällen zu geschehen pflegt, für einen Augenblick ganz vergessen,
- daß ich gekommen war, um mir ein Werk Brylows anzusehen; ich hatte sogar
- vergessen, ob überhaupt ein Brylow auf der Welt existiert. Aber als mein
- Blick auf das Bild fiel, als es vor mir aufstrahlte, da durchzuckte mich
- wie ein Blitz der Gedanke an jenes Porträt, und ich glaubte das Wort
- »Brylow« zu hören. Ich hatte ihn wiedererkannt. Sein Pinsel hat etwas
- von jener Poesie, die man nur empfinden kann und die man stets
- wiedererkennt: unsere Sinne erkennen und fühlen stets die spezifischen
- Eigentümlichkeiten, obwohl wir sie mit Worten nie auszudrücken vermögen.
- Sein Kolorit hat eine Leuchtkraft, wie man sie früher fast nie gekannt
- hat; seine Farben glühen und treffen sprühend unsere Augen. Bei einem
- Künstler, der nur eine kleine Stufe tiefer stände als Brylow, wären sie
- unerträglich, bei ihm aber sind sie von jener Harmonie belebt und von
- jener inneren Musik durchdrungen, die die lebendigen Geschöpfe der Natur
- erfüllt.
- Aber die stärkste Eigenart und das, was das Größte an Brylow ist, das
- ist die ungeheure Vielseitigkeit und der ungeheure Umfang seines
- Talents. Er läßt nichts außer acht, bei ihm ist alles von der Grundidee
- und den Hauptgestalten bis zum letzten Pflasterstein frisch und
- lebendig. Er bemüht sich, alle Gegenstände zu umfassen und ihnen allen
- den machtvollen Stempel seines Talents aufzudrücken. Gewöhnlich pflegten
- sich die Künstler früherer Zeiten nur eine einzelne Seite eines
- Gegenstands vorzunehmen und auf diese ihr ganzes Talent zu
- konzentrieren, das sich daher auch zu einer ungewöhnlichen, man möchte
- sagen, abstrakten Größe entwickelte. Raffael malte gewöhnlich nur
- Gesichter und stellte das Erwachen himmlischer Leidenschaften und
- Neigungen auf ihnen dar; alles übrige, selbst die Gewänder, ließ er
- seine Schüler vollenden. Auch alle übrigen großen Künstler
- vernachlässigten, ergriffen von der Erhabenheit der Religion oder der
- Erhabenheit der Leidenschaften, alles Beiwerk und alles Sekundäre auf
- ihren Gemälden. Bei ihnen hat der Himmel immer eine dunkelbraune Farbe;
- ihre Wolken erinnern mehr an Heubündel oder an Granitmassen; die Bäume
- bilden entweder in ihrer Regelmäßigkeit etwas Kindlich-Einförmiges oder
- in ihrer willkürlichen Form etwas Unharmonisch-Häßliches. Für Brylow
- dagegen sind alle Gegenstände vom größten bis zum kleinsten wertvoll. Er
- sucht die Natur mit seinen Riesenarmen zu umfassen und drückt sie mit
- der Leidenschaft eines Liebhabers an sein Herz. Vielleicht ist ihm dabei
- die detaillierte Durcharbeitung der Teile, mit der ihm das XIX.
- Jahrhundert vorangegangen ist, von Nutzen gewesen. Vielleicht hätte
- Brylow, wenn er früher zur Welt gekommen wäre, nicht dieses vielseitige
- aufs Ganze und Kolossale gerichtete Streben besessen, und vielleicht
- gehören daher seine Werke zu den ersten, die durch ihre Lebendigkeit und
- als reine Spiegel der Natur einem jeden verständlich sind. Seine Werke
- gehören zu den ersten, die sowohl der Künstler, der einen
- hochentwickelten Kunstgeschmack hat, wie der Laie, der nicht einmal
- weiß, was Kunst ist (wenn auch nicht in gleicher Weise), begreifen kann.
- Es sind die ersten Werke, denen das beneidenswerte Los zuteil ward, sich
- einen Weltruf zu erobern, und das hervorragendste unter ihnen ist bis
- heute das Gemälde »Der letzte Tag von Pompeji«, das sich durch seine
- ungewöhnliche Größe und die Vereinigung aller höchsten Schönheiten nur
- mit einer Oper vergleichen läßt, wenn die Oper wirklich eine Vereinigung
- der dreieinigen Welt der Künste, der Malerei, der Poesie und der Musik
- darstellt.
- 1834. Im August.
- VII
- Der Gefangene
- Ein Kapitel aus einem historischen Roman
- Im Jahre 1543, zu Beginn des Frühjahrs, wurde nachts die Ruhe des
- kleinen Städtchens Lukoma durch eine Abteilung der ordentlichen
- königlichen Truppen gestört. Der abnehmende Mond, der mit seiner
- leuchtenden Sichel durch die Wolken brach, die sich immerfort um ihn
- zusammenballten, erhellte für einen Augenblick den Boden der Schlucht,
- auf deren Grunde sich das kleine Städtchen angesiedelt hatte. Zum
- Erstaunen der wenig zahlreichen Stadtbewohner, die erwacht waren, zog
- die Abteilung, deren bloßes Erscheinen sonst der Vorbote von allerhand
- Unruhen und Plünderungen war, mit einer schauerlichen Ruhe durch die
- Gassen. Man merkte, daß die ganze Kraft ihrer stark gespannten
- Aufmerksamkeit sich auf den Gefangenen konzentrierte, der in ihrer Mitte
- einherritt; er hatte wohl das seltsamste Kostüm an, das einem Menschen
- je gewaltsam aufgezwungen wurde. Sein Körper war von unten bis oben mit
- Gewehren bedeckt, die an ihm festgebunden waren, wahrscheinlich, um ihm
- eine gewisse Bewegungslosigkeit zu verleihen. Ein Kanonengestell war auf
- seinem Rücken befestigt. Sein Roß konnte sich kaum fortbewegen, und der
- unglückliche Gefangene wäre längst herabgefallen, wenn er nicht mit
- einem dicken Seil an den Sattel gebunden gewesen wäre. Hätte ein
- Mondstrahl auch nur für einen Augenblick sein Gesicht gestreift, er
- hätte sich in den blutigen Schweißtropfen gebrochen, die ihm über die
- Wangen rannen. Aber der Mond konnte das Gesicht des Gefangenen nicht
- sehen, da es hinter einer eisernen Maske verborgen war. Die neugierigen
- Bewohner versuchten hin und wieder mit offenem Munde näher an den
- Gefangenen heranzutreten, wenn sie aber die drohend geballte Faust oder
- den Säbel eines der Begleiter erblickten, schraken sie zurück, liefen
- eilig in ihre elenden Hütten und wickelten sich, in der Kühle der
- Nachtluft fröstelnd, fester in die um die Schulter geworfenen
- tatarischen Pelze.
- Die Abteilung hatte die Stadt passiert und näherte sich einem einsamen
- Kloster. Dieses Gebäude, das aus zwei völlig verschiedenen Teilen
- bestand, lag ganz am Ende der Stadt auf einem steilen Abhang. Der untere
- Teil der Kirche war aus Stein und bestand sozusagen ganz aus Spalten und
- Rissen; er war von Feuerrauch und Pulverdampf geschwärzt, stellenweise
- war er ganz grün, mit Nesseln, Hopfen und wilden Glockenblumen bedeckt,
- und bildete eine lebendige Chronik des Landes, das unter so viel
- blutigen Ernten zu leiden gehabt hatte. Der obere Teil mit seinen fünf
- geschwungenen, hölzernen Kuppeln, die eine entartete byzantinische
- Architektur geschaffen und die von barbarischen Nachahmern noch mehr
- verunstaltet waren, bestand ganz aus Holz. Die neuen Bretter, die
- zwischen den alten rauchgeschwärzten hervorschimmerten, verliehen der
- Kirche eine gewisse Buntheit und ließen erkennen, daß fromme Pilger sie
- vor nicht gar zu langer Zeit ausgebessert hatten. Ein blasser Strahl der
- Mondsichel stahl sich durch die krausen Zweige der Apfelbäume, die mit
- ihrem dichten Laubwerk einen Teil des Gebäudes verdeckten, und fiel auf
- die niedrige Tür und das über ihr angebrachte zackige Gesims, das mit
- kleinen, eigensinnig wuchernden gelben Blumen bedeckt war; sie
- leuchteten auf und glichen einer feurigen oder goldenen Aufschrift auf
- dem natürlichen Gesims. Einer aus der Menge, ein Mann mit einem nicht
- enden wollenden Schnurrbart, wie man noch nie einen ähnlichen gesehen
- hatte, -- er war noch länger als seine Arme -- ein Mensch, den man nach
- seinem Benehmen und seinem frechen, gebieterischen Blick wohl für den
- Führer der Abteilung halten konnte, schlug mit dem Flintenlauf an das
- Tor. Die morschen Klostermauern dröhnten und gaben einen Ton von sich,
- der wie die Stimme eines Sterbenden klang und in der Luft verhallte.
- Darnach trat wieder tiefe Stille ein. Ein wildes Fluchen in den
- verschiedensten Mundarten donnerte unter dem gewaltigen Schnurrbart des
- Abteilungschefs hervor: »Macht auf! verfluchtes Popenvolk! Sonst weiß
- ich schon, wie ich euch wecken will!« Ein Pistolenschuß ertönte, die
- Kugel drang durch das Tor und schlug ins Kirchenfenster ein, so daß
- innen die Scheiben klirrend zu Boden fielen. Dies verursachte eine große
- Verwirrung in den Zellen, die an die Kirche grenzten; man sah Lichter
- aufblitzen; ein Schlüsselbund erklirrte; das Tor öffnete sich knarrend,
- und vier Mönche mit dem Prior an der Spitze traten bleich mit einem
- Kreuz in der Hand heraus.
- »Hebt euch weg! unreine Geister, Bewohner der Hölle!« sagte kaum hörbar
- mit zitternder Stimme der Prior. »Im Namen des Vaters, des Sohnes und
- des Heiligen Geistes, hebe dich weg von hier, Satan!«
- »_Allez!_ Das kläfft noch! Verfluchter Kerl!« brüllte der Führer in
- einer Sprache, der kein Mensch hätte einen Namen geben können -- aus so
- verschiedenartigen Elementen war sie zusammengebraut -- »Was kläffst du
- Strolch und sagst, wir seien Teufel; wir Teufel? Wir sind von den
- Königlichen!«
- »Was seid ihr für Leute? Ich kenne euch nicht! Was seid ihr gekommen,
- die Ruhe der rechtgläubigen Kirche zu stören?«
- »Ich werde dir die Augen mit Pulver auswaschen, alte Hündin! Gib mir die
- Schlüssel zu den Klosterkellern.«
- »Wozu braucht ihr die Schlüssel zu unseren Kellern?«
- »Ich werde nicht erst viel mit dir reden, dummer Pope. Aber wenn du
- willst, Baßamasenjata, sprich mit meinem Gaul.«
- »Bring' diesem Antichristen die Schlüssel, Bruder Kasjan,« seufzte der
- Prior und wandte sich an den einen Mönch. »Aber ich habe keinen Wein, so
- wahr Gott heilig ist, ich habe keinen! nicht ein einziges Faß, auch kein
- Fäßchen, ich habe nichts, was ihr brauchen könntet.«
- »Was geht mich das an! Meine Jungens wollen trinken. Ich sage dir, wenn
- du dummer Pope keinen Stall, kein Heu und keinen Weizen für meine Pferde
- hergibst, dann führe ich sie in eure Kirche und versetze dir einen
- Fußtritt ins Gesicht.«
- Der Prior sagte keine Wort, er blickte die Ankömmlinge mit seinen
- bleiernen Augen an, die, wie es schien, schon längst nicht mehr dieser
- Welt gehörten, denn sie ließen keine Andeutung von einer Leidenschaft
- erkennen, und sein Blick traf mit dem des Jesuiten zusammen, der seine
- Augen haßerfüllt auf ihn gerichtet hatte. Der Prior wandte sich ab, und
- sein Auge fiel auf den seltsamen Gefangenen mit dem Eisenvisier. Es
- schien, daß dieser Anblick den Greis, der gegen alles, was nicht die
- Kirche anging, teilnahmslos war, überraschte.
- »Warum habt ihr diesen Menschen gefangen? Gott! strafe sie mit Deiner
- dreifaltigen Macht! Gewiß wieder ein Märtyrer, der für seinen Glauben an
- Christus leidet.«
- Der Gefangene ließ nur ein schwaches Stöhnen vernehmen.
- Die Schlüssel wurden gebracht, und beim Schein eines schläfrig
- brennenden Lämpchens näherte sich die ganze Bande dem Eingang einer
- Höhle, die sich hinter der Kirche befand. Kaum waren sie alle in das
- unterirdische, häßliche Gewölbe hinabgestiegen, als Grabesfeuchtigkeit
- sie umfing. Stumm schritt der Führer voran, und die flackernde Flamme
- der Lampe mit ihrem nebligen Strahlenkranz warf ihm einen fahlen,
- gespenstigen Lichtschimmer ins Gesicht, während der Schatten seines
- endlosen Schnurrbarts sich emporbäumte und alle mit zwei langen, dunklen
- Streifen bedeckte. Nur die beiden Enden des Kopfes mit ihrer plumpen
- Rundung waren hell und scharf beleuchtet und ließen den unsäglich
- gefühllosen Ausdruck erkennen, der darauf hindeutete, daß jede weichere
- Regung in dieser Seele längst erstorben und erstarrt, daß Tod und Leben
- ihm innerlich gleichgültig waren, daß sein größter Genuß in Tabak und
- Branntwein bestand und daß er sich nur dort ganz selig fühlte, wo alles
- lärmt und klirrt und trunken zu Boden sinkt. Er war ein Sprosse der
- Grenzvölker, in dem zahlreiche Nationen sich gemischt hatten. Von Geburt
- ein Serbe, der alles Menschliche in den wüsten Raubzügen und
- Trinkgelagen Ungarns in sich ertötet hatte, seiner Kleidung und auch zum
- Teil seiner Sprache nach ein Pole, seiner Geldgier nach ein Jude, seiner
- Verschwendungssucht nach ein Kosak und in seinem ehernen Gleichmut ein
- Teufel. Er schien die ganze Zeit über ganz ruhig zu sein und nur dann
- und wann murmelte er einen gewöhnlichen Fluch zwischen den Zähnen
- hindurch, besonders wenn er auf dem unebenen Boden stolperte, der sich
- immer tiefer und tiefer hinabsenkte.
- Mit großer Sorgfalt betrachtete er alle Löcher in den Erdwänden, die
- jetzt ganz verschüttet waren, und einst als Zellen und einzige
- Zufluchtsstätte im Lande gedient hatten, wo selten ein Jahr verging,
- ohne daß die Zerstörung durch Steppen und Felder raste, und wo niemand
- massivere Gebäude und Schlösser errichtete, weil jedermann wußte, wie
- geringe Dauer ihnen beschieden war. Endlich erreichten sie eine hölzerne
- ganz mit Moos und Schimmel bedeckte Tür, die mit Balken und Steinen
- verrammelt war.
- Der Führer blieb vor ihr stehen und betrachtete sie argwöhnisch von oben
- bis unten. »Nun!« sagte er, wies mit den Augen nach der Tür hin, und es
- war, als ginge ein Windstoß von seiner struppigen Braue aus. Sofort
- machten sich einige von seinen Leuten an die Arbeit; nur mit Mühe gelang
- es ihnen, die Balken zu entfernen.
- Die Tür öffnete sich! Gott! welch ein grauenerregender Anblick bot sich
- den Augen der Anwesenden dar! Schweigend blickten sie einander an, ehe
- sie wagten, dort einzutreten. Es liegt etwas von den Schrecken des
- Grabes in solch einem unterirdischen Gang. Dort herrscht der Tod in
- seiner starren Majestät, er reckt seine knöchernen Gliedmaßen unter all
- den blühenden Städten und Dörfern, unter der heiteren, lebensfrohen
- Welt. Aber wenn dieses Todesgrauen atmende Innere der Erde noch von
- lebenden Wesen, von jenen Höllengeistern bevölkert wird, deren Anblick
- uns schon allein erzittern läßt, dann erscheint es noch furchtbarer. Der
- Modergeruch war so stark, daß anfänglich allen der Atem stockte. Eine
- riesengroße Kröte hockte da und glotzte die Eindringlinge, die sie in
- ihrer Ruhe gestört hatten, mit ihren gräßlichen hervorquellenden Augen
- an. Die viereckige Höhle hatte nur einen einzigen Eingang; große Stücke
- von Spinngeweben hingen in langen Fetzen von dem Erdgewölbe herab, das
- die Decke der Höhle bildete. Große Haufen von Erde, die von der Decke
- herabgestürzt waren, lagen am Boden. Auf einem dieser Haufen lagen
- Menschenknochen, und blitzschnell huschten schnellfüßige Eidechsen
- zwischen ihnen hindurch. Eine Eule oder eine Fledermaus hätte in dieser
- Umgebung noch schön gewirkt.
- »Warum ist das keine Stube! 's ist eine schöne Stube!« schrie der
- Führer. »_Allez_, hinein! Du, Hund, du wirst hier gut schlafen! Leg'
- dich mal auf den Erdklumpen und nimm dir die Kröte zum Kopfkissen, oder
- besser, nimm sie dir für die Nacht zur Frau!«
- Einer von den Königlichen lachte über diesen Scherz, aber sein Gelächter
- fand in diesen feuchten Hallen ein so schreckliches, tonloses Echo, daß
- er selbst erschrak. Der Gefangene, der bis dahin stillgestanden war,
- wurde in die Mitte der Höhle gestoßen und hörte nur noch, wie hinter ihm
- die Tür knarrte und die Balken krachten, die den Eingang versperrten.
- Das Licht erlosch, und Finsternis umfing das Innere der Höhle.
- Der Unglückliche erbebte. Es schien ihm, als hätte man den Sargdeckel
- über ihm zugeschlagen, und das Krachen der Balken, die den Eingang
- versperrten, schien ihm dem Klirren des Spatens zu gleichen, wenn die
- Erde mit schrecklichem Laute auf die letzten Überreste eines Menschen
- fällt und die Menge gleichgültig wie das Grab und wie im Traume
- flüstert: »Er ist nicht mehr -- aber einst lebte er.« Nach dem ersten
- Schrecken verfiel der Gefangene in eine sinnlose Spannung, in einen
- seelenlosen Zustand, der gewöhnlich einzutreten pflegt, wenn ein Schlag
- einen so furchtbar trifft, daß der Mensch nicht einmal den Mut hat, an
- ihn zu denken, sondern seine Augen auf irgendeinen unbedeutenden
- Gegenstand heftet und ihn aufmerksam betrachtet. In solchen Augenblicken
- gehört er einer anderen Welt an und hat keinen Teil mehr an dem, was die
- Menschen bewegt: er sieht gedankenlos vor sich hin, er fühlt, ohne zu
- empfinden, und ist von einem seltsamen Leben erfüllt. Zuerst heftete er
- seine Aufmerksamkeit auf die ihn umgebende Finsternis. Für eine Spanne
- Zeit war alles vergessen -- ihr Schrecken und der Gedanke daran, daß er
- lebendig begraben war. Mit all seinen Sinnen suchte er sich mit der
- Finsternis vertraut zu machen, und vor ihm tat sich eine ganz neue
- seltsame Welt auf: plötzlich sah er helle Streifen die Dunkelheit
- durchziehen -- eine letzte Erinnerung an das Licht. Diese Streifen
- nahmen alle möglichen Farben an und bildeten die seltsamsten Figuren. Es
- gibt keine absolute Finsternis für das Auge. Man mag es zudrücken,
- soviel man will, es malt und zaubert uns Farben vor, die es früher
- einmal gesehen hat. Diese bunten Arabesken nahmen entweder die Form
- eines bunten Schals oder eines reich geäderten Marmors oder endlich jene
- seltsame Gestalt an, die uns so wunderbar fremdartig anmutet, wenn wir
- ein Stück eines Flügels oder das Beinchen eines Insekts unter dem
- Mikroskop betrachten. Zuweilen sah er einen schlanken Fensterrahmen, den
- es doch in seiner Höhle nicht gab, vor seinem Blick auftauchen. Ein
- phantastisches Azurblau leuchtete in dem schwarzen Rahmen auf,
- verwandelte sich dann in ein Kaffeebraun, verschwand ganz und ging dann
- in ein dunkles Schwarz über, das mit Pünktchen von gelber, blauer oder
- unbestimmter Farbe besät war.
- Bald aber verschwand diese ganze Welt, und des Gefangenen bemächtigte
- sich eine andere Empfindung. Anfänglich konnte er sich von diesem
- Gefühle keine Rechenschaft geben, dann aber gewann es immer mehr an
- Bestimmtheit. Er hatte ein Gefühl der Kälte auf seiner Hand, und seine
- Finger glitten unwillkürlich über etwas Schlüpfriges hin. Plötzlich fuhr
- ihm der Gedanke an die Kröte durch den Kopf! ... Er schrie auf und
- fühlte sich augenblicklich in die Wirklichkeit versetzt! Seine Gedanken
- tauchten plötzlich tief unter in den Schrecken der Gegenwart. Hierzu kam
- noch die gänzliche Erschöpfung seiner Kräfte und die furchtbare
- Stickluft: dies alles hatte zur Folge, daß er in eine tiefe Ohnmacht
- versank.
- Unterdessen machten sich's die königlichen Truppen in den Klosterzellen
- bequem, als ob sie zu Hause wären; sie schickten die Mönche fort, um die
- Ställe zu reinigen, und fingen fröhlich an zu zechen, voller Freude, daß
- sie sich endlich des Menschen, dessen sie bedurften, bemächtigt hatten.
- 1830.
- VIII
- Über die Völkerwanderung am Ende des V. Jahrhunderts
- Die große Völkerwanderung, aus der die heutige Bevölkerung Europas
- hervorgegangen ist, reicht mit ihrem Anfang bis in das ferne Altertum.
- Sie beginnt vielleicht gleichzeitig mit der Gründung Roms, ja vielleicht
- sogar schon früher. Während noch das Mittelmeer die neu entstandenen
- Staaten umspülte, die ersten Schritte eines aufkeimenden Handels
- beobachten konnte und der Geist der Völker, die die Blüte der antiken
- Welt bilden, sich immer mehr und mehr entwickelte -- verbarg sich in den
- Tiefen Asiens eine andre unbekannte Welt, die dazu bestimmt war, die
- ganze antike Herrlichkeit, den Geist der Antike und seine alten Formen
- zu vernichten und sie durch einen neuen Geist zu ersetzen. Mittelasien
- bildet einen schroffen Gegensatz zum Süden und zu dem Südwesten dieses
- Kontinents, sowie zu den afrikanischen und europäischen Küsten des
- Mittelmeers, wo die blühende Vielgestaltigkeit der Natur, des Bodens,
- der Erzeugnisse, der Wechsel von Festland und Wasser, und die unzähligen
- Inselgruppen, die Vorgebirge und Meerbusen geradezu wie geschaffen sind,
- um die Tatkraft und den Geist des Menschen zu einer rapiden Entwicklung
- zu bringen. Die Natur Mittelasiens ist von ganz anderer Art: sie ist
- einförmig und unermeßlich. Seine Steppen gehen ins Uferlose, sie bilden
- ungeheure Flächen und scheinen einem wüsten Ozean zu gleichen, der
- nirgends durch eine Insel unterbrochen wird. Die stillen, regungslosen
- Seen inmitten dieser endlosen Ebenen konnten unmöglich zur Tatkraft
- anspornen. Es schien, als hätte die Natur selbst dieses Land für
- Hirtenvölker bestimmt, damit wir uns nach diesen eine Vorstellung von
- der primitiven Lebensweise der Urvölker bilden könnten. Die
- Unermeßlichkeit dieser Ebenen konnte im Menschen nie den Gedanken an
- einen dauernden Wohnsitz aufkommen lassen, ein Gedanke, der gewöhnlich
- nur beim Anblick von schroffen Felsen, Meeresufern, Inseln und überhaupt
- in Gegenden entsteht, wo man festen Fuß fassen kann. Wo dagegen die
- Natur in regungslosem Schlummer liegt, da wird auch der Mensch sorglos
- und kümmert sich nur um das Allernotwendigste. Die patriarchalischen
- Bewohner der Steppen nährten sich nur von Milch und Käse, die ihnen ihre
- halbwilden Haustiere lieferten, und nur selten aßen sie Fleisch. Daher
- vermehrten sich auch ihre Herden in ganz ungewöhnlichem Maße; ihre
- Besitzer mußten immer häufiger von einem Ort zum andern ziehen, mit
- jedem Jahr wurde der Bedarf an Wiesen größer und größer -- und so kam
- es, daß das Land, das uns noch heutzutage durch seine unermeßliche Größe
- erschreckt, daß das Land, das doppelt so groß war wie die ganze
- zivilisierte Welt jener Zeit und mit dem sämtliche Bauern der Welt
- nichts anzufangen wüßten -- daß dies Land zu eng für seine Bewohner
- wurde. Die mächtigeren Fürsten mußten die schwächeren verdrängen. Ein
- Hirtenvolk, das kein immobiles Eigentum hat, dessen Besitz sich auf ein
- durch die Zeit erworbenes und befestigtes Recht stützt, gibt leicht dem
- ersten Ansturm nach und zieht selbst mit seinen Herden weiter. So wurde
- Asien ein Menschen ausspeiender Vulkan. Jedes Jahr warf es neue
- Menschenscharen und Herden aus seinem Inneren aus, die ihrerseits die
- schon früher Ausgespienen aus ihren Niederlassungen verjagten. Diese
- überschritten die Berge und drangen in Europa ein. Man kann wohl sagen,
- diese Völker schritten nicht in einer bestimmten Richtung vorwärts,
- sondern eins verdrängte das andere mechanisch von seinem Platz. Das
- waren keine Eroberer, sondern eine Art Sklaven, die unter dem Druck
- einer angedrohten Strafe handelten. So zog sich eine Kette von Völkern
- von Osten und Nordosten durch ganz Europa bis nach Süden hin. Im Süden
- stieß sie auf das erste Hindernis, sie bekam die gewaltige Macht der
- Römer zu spüren und traf mit der antiken Welt zusammen. Unterdessen fuhr
- Asien weiter fort, neue Scharen von Menschen auszuwerfen. Der Anstoß,
- der von jedem neuen Ausbruch dieses Vulkans ausging, pflanzte sich durch
- die ganze Kette fort: die neuen Scharen drängten die vorderen Reihen
- weiter, jene die vor ihnen marschierenden und so fort. Die Wucht dieser
- Völkerwanderung wurde bald außerordentlich stark, dafür aber wurde auch
- der Gegendruck seitens der Römer sehr kräftig, so daß sich an der Grenze
- des römischen Reiches eine ungeheuere Menge von Völkern zu stauen
- begann. Bei jedem neuen Ausbruch wurde diese Menge immer größer und
- stärker, und es wurde den Römern immer schwerer, sich ihrer zu erwehren.
- Endlich gaben die Römer nach, und die Horden stürmten mit gewaltigem
- Ungestüm nach dem Süden Europas. Hätte Europa im Süden nicht das
- Mittelländische Meer zur Grenze gehabt, oder hätten diese Völker
- irgendein Verständnis für die Schiffahrt besessen, so hätte die
- Völkerwanderung noch lange fortgedauert -- denn Asien hörte nicht auf,
- neue Menschenscharen auszuwerfen -- die Völker wären nach Afrika
- übergesetzt, Europa wäre noch viele Jahre lang nicht zur Ruhe gekommen,
- das Chaos hätte noch lange fortbestanden, viele Reiche wären erst viel
- später gegründet und der Fortschritt der Zivilisation wäre überhaupt um
- viele Jahrhunderte zurückgeworfen worden. Aber als die Völker den Süden
- Europas erobert hatten, und als sie das Meer und die Unmöglichkeit,
- weiter vorwärtszuschreiten, vor sich sahen, da entschlossen sie sich,
- mit aller Gewalt gegen die nachdrängenden Feinde vorzugehen. Als die
- letzteren auf solch unerwarteten Widerstand stießen, beschlossen sie
- auch, ihre Feinde zurückzudrängen, die nun ihrerseits wieder dasselbe
- mit ihren Gegnern taten, und so geschah es, daß der Anstoß die
- entgegengesetzte Richtung erhielt, und die Bewegung kam plötzlich zum
- Stehen. Die Folgen dieser Erscheinung machten sich sogar in Asien
- fühlbar, und einige Hirtenvölker wurden hierdurch gezwungen, zum
- Ackerbau überzugehen.
- Diese Völkerwanderung hätte sich viel schneller vollzogen, wenn auch
- Europa aus solch flachen, offen daliegenden Ebenen bestanden hätte, wie
- sie Asien bedecken. Hier dagegen hatte die Natur auf einer
- verhältnismäßig kleinen Fläche eine ungeheuere Unregelmäßigkeit und
- Mannigfaltigkeit hervorgebracht: überall ist das Festland vom Meere
- durchfurcht, seine Ufer bestehen aus zahllosen Halbinseln und
- Vorgebirgen, und auch im Innern gibt es nur sehr wenig ebene Flächen;
- der Boden steigt und senkt sich in einem fort, erhebt sich und bildet
- ungeheure Gebirge, oder er fällt jäh herab und bildet tiefe Täler, die
- wie durch einen Erdsturz zwischen diesen entstanden zu sein scheinen.
- Dazu kam, daß Europa zu jener Zeit noch mit undurchdringlichen Urwäldern
- bedeckt und von sumpfigen Mooren durchzogen war. Und daher vollzog sich
- die Völkerwanderung, je tiefer sie bis ins Innere Europas drang, immer
- langsamer und langsamer: die Menschen mußten sich durch Wälder
- hindurchschlagen, Berge übersteigen und Sümpfe umgehen. Ihre
- Niederlassungen bildeten sozusagen Oasen, und die einzelnen Völker
- wurden durch Urwälder und unerforschte Gegenden voneinander getrennt, so
- daß sie häufig lange gegen jegliche Überfälle geschützt waren. Und wenn
- dann eine neue Springflut von gewaltigen Völkermassen, befehligt von
- einem unternehmenden Führer, herankam und Europa mit wundersamen Fanalen
- illuminierte, indem sie die alten Urwälder in Brand setzte und der
- Vernichtung preisgab, dann bot sich den erstaunten Blicken der
- Ankömmlinge ein Volk dar, von dessen Existenz sie keine Ahnung gehabt
- hatten, und das in seinen Sitten und Gebräuchen sich zwar weit von ihnen
- entfernt, dennoch aber eine gewisse Ähnlichkeit mit ihnen bewahrt hatte.
- Man kann sagen, ganz Europa bestand damals aus lauter Fetzen und
- Bruchstücken, die die Natur selbst voneinander getrennt hatte; daher war
- die Unterwerfung dieses Erdteils und seine Vereinigung unter der Gewalt
- eines Herrschers ein Ding der Unmöglichkeit, und so entstanden die
- zahlreichen europäischen Nationen, die sich ohne allen Zweifel zu
- _einer_ Nation verschmolzen und einen einheitlichen Charakter angenommen
- hätten, wenn Europa eine einzige offene Ebene gewesen wäre. Das war eine
- neue nie gesehene Welt, von der die antiken zivilisierten Völker nichts
- wußten, und die sich, wie man wohl sagen darf, auch selbst kaum kannte.
- Den Kern dieser Völker bildeten die zahlreichen Stämme germanischer
- Nation, die sich über den ganzen Westen ausbreiteten. Die Ufer der
- Nordsee, des Rheins, der Donau und ganz Mitteleuropa bis zur Ostsee
- waren von ihnen besetzt. Als die Römer zum erstenmal mit ihnen
- zusammenstießen, bewies der Kulturzustand dieser Völker, daß sie schon
- lange in Europa ansässig waren, und daß ihre Übersiedelung nach Europa
- schon im grauesten Altertum stattgefunden haben mußte. Daß sie jedoch
- aus Asien stammten, dafür konnte man den Beweis in der seltsamen
- Ähnlichkeit einiger deutscher Stammwörter mit der persischen Sprache
- finden. Ob nun Asien in grauer Urzeit zugleich die Stämme ausgeworfen
- hat, die später im Süden inmitten der Berge das persische[8] Volk und in
- den nordischen Wäldern Europas das Volk der Germanen gebildet haben,
- oder ob vielleicht später der gewichtige Einfluß der Parther, die aus
- Mittelasien hervorbrachen, eine Reihe von Wörtern in die persische
- Sprache eingeführt hat, die man bis dahin nur in den unermeßlichen
- asiatischen Steppen vernommen, und die sich bereits in Europa verbreitet
- hatten[9] -- wie dem auch sei -- jedenfalls stammen die Germanen
- ursprünglich aus Asien und hat sich ihre Einwanderung in Europa schon in
- grauer Urzeit vollzogen.
- Diese Völker bildeten einen vollkommenen Gegensatz zu den Römern und
- gewissermaßen eine Welt für sich. Ihre physische und geistige Natur trug
- den ausgesprochenen Stempel echter Ursprünglichkeit und Eigenart. Ihre
- physische Organisation widersprach durchaus der der Völker der Alten
- Welt. Die schwarzen glänzenden Augen, das dunkle Haar, das
- ausdrucksvolle Gesicht des Südländers, in dem sich die Begierde nach
- Üppigkeit und übermäßigen Genüssen zu spiegeln schien -- dieser
- gemeinsame Typus der bereits erstarrten antiken Welt -- traf hier auf
- sein vollkommenes Gegenteil: die blauäugigen, blonden, großen und
- starken Germanen mit dem einseitig wilden, kriegerischen Ausdruck im
- Gesicht repräsentierten einen völlig neuen Typus der menschlichen Natur,
- der den Beginn der Neuen Welt kennzeichnete.
- [Fußnote 8: Schlözer.]
- [Fußnote 9: Müller.]
- Ihre Religion, ihre Lebensweise, ihr Temperament, die Grundelemente
- ihres Charakters unterschieden sich in jeder Beziehung von den
- zivilisierten Völkern jener Zeit. Die Religion der Germanen zeichnete
- sich durch eine besondere Eigenart aus. Ihre Gottheit, der Gegenstand
- ihrer Anbetung, war die Erde. Es war, als hätte der düstere Anblick des
- damaligen Europa ihnen die Idee zu dieser Religion eingegeben. Nur
- selten von Sonnenlicht umflossen, immer nur im Schatten hundertjähriger
- Eichen lebend, und Höhlen als erste Wohnstätten oder Verstecke für ihre
- Schätze grabend, sahen sie nichts wie die Erde, deren gewaltige Kraft
- auf ihrer Oberfläche Pflanzen wachsen ließ, die ihnen als armselige
- Nahrung dienten, und herrliche, hohe Bäume, die über ihren Köpfen
- rauschten -- und so konnten sie die Erde für die Erzeugerin aller Dinge
- halten. Von ihr leiteten sie ihren Gott Tuisto-Teut ab, der einen Sohn
- Mannus hatte und von diesem wiederum die verschiedenen Stämme der
- germanischen Völker, die sie für die ältesten Bewohner der Welt hielten.
- Es könnte scheinen, als ob dieser Begriff von der Religion sie ganz
- wesentlich von Asien unterscheidet, aber wir müssen nicht vergessen,
- welch gewaltigen Einfluß die Natur und die Bodenverhältnisse stets
- gehabt haben. Die Natur übt eine despotische Herrschaft über den
- Urmenschen aus. Je mehr der Mensch sich entwickelt, je mehr sein Geist
- heranreift, um so mehr Macht bekommt er über die Natur, und dann
- schreibt er ihr die Gesetze vor, aber im wilden Urzustande muß _er_ sich
- _ihren_ Gesetzen fügen, ist er ihr Sklave. In Mittelasien liegt der
- Himmel immer offen vor dem Auge da; dort ist er unübersehbar und von
- einer gewaltigen Ausdehnung; im Vergleich mit ihm erscheint die Erde
- armselig und klein. Keine einzige hochgewachsene Pflanze, kein spitzer,
- kantiger, hoher und schmaler Fels fesselt das Auge; das auf den
- unabsehbaren Flächen sprießende Gras erscheint hier noch niedriger als
- sonst. Aber hier strahlt die Sonne in ihrer ganzen Herrlichkeit und
- überflutet alles mit ihrem Licht: leuchtende Sterne übersäen dicht das
- Himmelsgewölbe, und sie allein dienen den Menschen zum Halt und
- Wegweiser. Daher war in Asien überall die Anbetung der Sonne und der
- Himmelsgestirne vorherrschend. Je mehr dagegen die Völker nach Europa
- vordrangen, desto seltener sahen sie die Sonne. Das dichte,
- majestätische Dunkel der europäischen Wälder machte einen tieferen
- Eindruck auf ihre ungebildete Phantasie. Die Nebel und die aus den
- Sümpfen aufsteigenden Ausdünstungen verbargen den Himmel vor ihnen, und
- die Notwendigkeit, sich zeitweise mit dem Ackerbau zu beschäftigen,
- brachte es mit sich, daß sie sich enger an die Erde anschlossen. Daher
- war auch bei den germanischen Völkern die Anbetung der Gestirne nur sehr
- wenig verbreitet, und nur bei ganz wenigen Völkern hat sich eine
- Erinnerung daran erhalten. Tief im Waldesdickicht, das nie von einem
- Sonnenstrahl durchdrungen wurde, brachten sie ihrer Göttin, der Mutter
- Hertha, ihre Opfer dar. Es scheint so, als ob ihnen die Finsternis für
- heilig galt, darin war ihre Religion schon von Anbeginn allen anderen
- Religionen unähnlich. Sie glaubten an die Unsterblichkeit. Aber ihr
- Himmel war ein finsterer Himmel. In ihrer Walhalla sahen sie nur die
- Fortsetzung ihres kriegerischen Lebens: dorthin versetzten sie ihre
- germanischen Eichen, ihre flammenden Lagerfeuer und das Getöse ihrer
- Waffen; bleifarbene Wolken verhüllten ihren Himmel, den sie mit den
- dunklen Schatten ihrer großen im Kriege gefallenen Helden bevölkerten.
- Die Anbetung Herthas verbreitete sich fast bei allen germanischen
- Stämmen. Zu den Gegenständen ihrer Verehrung gehörten auch die Schatten
- ihrer verstorbenen Helden, die sie sich in übernatürlicher, ins
- Riesenhafte gesteigerter Größe vorstellten. Auch ihre treuen Gefährten,
- die Kriegsrosse, genossen dieselbe Verehrung, unter denen die weißen
- nach Tacitus für besonders heilig galten und in den heiligen Hainen
- untergebracht wurden. Man spannte sie vor den heiligen Wagen, dem der
- König und die Priester folgten, und aus dem Schnauben der Rosse deutete
- man die Zukunft.
- Die germanischen Völker blieben lange Zeit ihrer ursprünglichen
- Lebensweise treu. Sie lebten nur für den Krieg, er bildete ihre ganze
- Freude. Beim Kriegslärm erbebten sie wie junge, kampfmütige Tiger. Sie
- dachten nur daran, ihre Kräfte zu messen und sich an der Schlacht zu
- vergnügen. Habgier und Beutelust spielte nur eine geringe Rolle: als
- Hauptsache galt ihnen nur, sich in der Schlacht hervorzutun, damit ihre
- Heldentaten später im Liede besungen würden. Alle Vorteile und ihr
- ganzes Lebensglück hing mit dem Namen dessen zusammen, der sich mit
- Kriegsruhm bedeckt hatte. Er wurde zum Führer gewählt; ihn bewunderten
- und verehrten alle Völker. Er war der Vermittler und Richter in allen
- Streitfragen, und er verteilte im Kriege nach eigenem Ermessen die ganze
- Beute; sogar fremde und weit entlegene Stämme sandten ihm Pferdegeschirr
- zum Geschenk; die verwandten und untergebenen Stämme brachten ihm
- freiwillig die Erzeugnisse ihrer Felder, Früchte, Rinder und Rosse als
- Gabe dar. Mut und Tapferkeit galten als etwas Göttliches; alles strömte
- um die Wette der Fahne des Führers zu, und jedermann kämpfte nicht um
- der Beute willen, sondern um sich vor ihm auszuzeichnen und ein Wort der
- Anerkennung von ihm zu hören. Sein Name lebte noch lange in den
- Heldengesängen fort, nach seinem Tode wurden ihm zu Ehren große
- Festgelage veranstaltet, und noch lange rühmte sich sein Stamm seiner
- Heldentaten; seinem Schatten wurden allmählich göttliche Ehren zuteil,
- und er wurde ein Gegenstand der Anbetung. Solch ein Schicksal war
- beneidenswert, denn auch im unentwickelten Menschen glüht ja schon die
- Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Alle ohne Unterschied eiferten danach,
- ruhmvolle Taten zu vollbringen; die Schlachten häuften sich, und die
- Germanen waren stets bereit, auf den ersten Ruf mit ihren wilden
- Kriegshorden heranzubrausen.
- Sie kämpften fast nackt, indem sie ihre athletische Kraft in aller
- Schlichtheit an den Tag legten. Ein Mantel, der statt von einer
- Schnalle, von einem Dorn zusammengehalten wurde, ein Raubtierfell über
- der Schulter -- das war ihre ganze Rüstung. Sie stellten sich in dichten
- Haufen in keilförmiger Schlachtordnung auf und kämpften von nahem und
- von ferne mit kurzen Lanzen, die Framen genannt wurden; mit der
- Löwenkraft ihrer Muskeln schleuderten sie sie so weit, wie es nötig war,
- um den Feind zu erreichen; nur ihre Schilde waren etwas schöner und
- prächtiger und waren mit grellen Farben bemalt; Scharen von Frauen und
- Kindern folgten ihnen in die Schlacht, begleiteten sie mit ihrem
- Geschrei und spornten sie immer wieder zu neuem Mut an: sie dachten
- nicht an Flucht, der Gedanke an die Sklaverei, die ihre Frauen und
- Kinder erwartete, verdoppelte nur die wilde Kraft ihres Ansturms, und
- der Feind war gezwungen, nachzugeben. Die Frauen sogen ihren Männern
- mitten im Getümmel der Schlacht die Wunden aus, verbanden sie, ja sie
- trugen die Verwundeten auf ihren Schultern hinweg. Der Tod des Führers
- wirkte nicht etwa lähmend auf sie, im Gegenteil, er kettete alle durch
- das stählerne Band der Rache zusammen und machte sie unüberwindlich. Es
- galt als größte Schande, seinen Schild wegzuwerfen; der Unglückliche,
- dem dies passierte, wurde ein Opfer der allgemeinen Verachtung und nahm
- sich selbst das Leben. Nur auf Grund der allgemeinen Achtung herrschte
- der Führer, ohne daß ihm sonst irgendwelche Machtmittel zu Gebote
- standen, unumschränkt über die Stämme, und die Krieger befolgten mit
- bewunderungswürdigem Gehorsam seine Befehle. Doch nicht nur im Kriege
- hatte er den Oberbefehl, er behielt zuweilen seine Macht auch während
- des Friedens bei und nannte sich dann Heerführer[10].
- Die Germanen waren sehr freiheitsliebend und wollten keine Gewalt über
- sich anerkennen. Eine eigentliche Regierung gab es nicht. Sie
- versammelten sich und veranstalteten Volksversammlungen, die jeden Monat
- bei Neumond und Vollmond, bei außerordentlichen Anlässen jedoch zu jeder
- beliebigen Zeit abgehalten wurden. Sie erschienen träge und langsam zu
- diesen Versammlungen, wie um anzudeuten, daß sie aus freien Stücken
- kämen; es vergingen einige Tage, bis die nötige Zahl beisammen war und
- die Beratung beginnen konnte. Sie saßen in voller Rüstung da; nur die
- Priester hatten das Recht, Schweigen zu gebieten; die Familienältesten
- präsidierten, die sogenannten Grauhaarigen (_grawion_), die später
- diesen Namen in den der Grafen veränderten, die Fürsten und die, die
- sich während der Schlachten ausgezeichnet hatten, führten das Wort; ihre
- Rede war schlicht und von jenem kräftigen, gedrängten Lakonismus
- erfüllt, durch den sich die treuherzige Beredsamkeit junger Völker
- auszeichnet.
- Sie waren schlicht und offenherzig; ihre Verbrechen waren nur die Folgen
- ihrer Unwissenheit und nicht ihrer Lasterhaftigkeit. Nur Ehrlosigkeit
- und eine niedrige Gesinnung galten als Verbrechen; Überläufer und
- Verräter wurden gehängt und einem qualvollen Tode überantwortet; für ein
- gemeines und ehrloses Vergehen wurde der Schuldige in einen Sumpf
- versenkt, und es wurde Schlamm und Reisig auf ihn geworfen, wie um etwas
- zu verbergen, was nie ans Tageslicht kommen sollte. Die untreue Frau war
- ganz in der Gewalt ihres Mannes: er durfte ihr das Haupthaar
- abschneiden, ihr ihre Kleider wegnehmen und sie nackt und schmachbedeckt
- mit Ruten durch Dörfer und Siedelungen jagen; niemand wagte es, auch
- wenn sie noch so schön war, ihr sein Mitleid zu bezeigen. Aber diese
- Fälle waren nur selten, denn die Germanen hatten einen wilden und rauhen
- Charakter, und bei ihnen herrschten nur Bräuche und Sitten, die
- gewöhnlich viel stärker sind als Gesetze.
- [Fußnote 10: Tacitus.]
- In ihrem häuslichen Leben waren sie ganz im Gegensatz zu ihrem unruhigen
- kriegerischen Wesen sehr sorglos und träge. Sie waren stumpf und sehr
- faul und lagen in ihren Hütten herum, ohne sich vom Fleck zu rühren. Je
- mutiger ein Mann zu sein glaubte, um so mehr hielt er es für unter
- seiner Würde, sich mit irgendeiner Arbeit abzugeben; die Äcker wurden
- von alten Leuten, von den Schwachen, Minderjährigen und Knechten bebaut;
- letztere genossen volle Freiheit und mußten nur eine kleine
- Naturalabgabe von ihren Feldern zahlen. Alle häuslichen Arbeiten lagen
- auf den Schultern der Frauen. Die Frau brachte ihrem Manne keine Mitgift
- in die Ehe mit, im Gegenteil, _er_ mußte ihr am Vorabend der Hochzeit
- einen Ochsen im Joch, ein voll ausgerüstetes Pferd und eine Lanze
- darbringen, wie um damit auszudrücken, daß sie von nun an an all seinen
- Beschäftigungen teilnehmen müsse.
- Die Kleidung der Germanen war ganz anders, als dies in der römischen
- Welt und bei allen südlichen Völkern üblich war, die eine gewisse
- Liebhaberei für leichte, weite Gewänder hatten; sie trugen enge Kleider,
- die sich fest an den Körper anschmiegten, und die Tierfelle, in die sie
- sich mit Vorliebe hüllten, verliehen ihnen ein wildes, tierisches
- Aussehen. Die Kleidung der Frauen unterschied sich nur wenig von der der
- Männer; einzelne trugen hochrote Leinwandröcke, die nur bis zum Gürtel
- reichten, so daß der Hals, der Busen und die Arme offen blieben. Die
- Kinder waren sich ganz allein überlassen und wuchsen in der Gesellschaft
- der Haustiere auf. Erst wenn sie volljährig wurden, durften sie Waffen
- tragen und an den Versammlungen teilnehmen. Die Gastfreundschaft, die
- allen wilden Völkern von primitiven Sitten eigen ist, war auch den
- Germanen eigentümlich; der Gast wurde reichlich beschenkt, und wenn
- jemand nicht in der Lage war, einen Gast zu bewirten, führte er ihn
- selbst zu einem seiner Genossen.
- Am häufigsten jedoch konnte man die alten Germanen bei ihren Festgelagen
- antreffen, wo manches Mal mehrere Nächte hindurch gezecht wurde, dann
- war der Wald prachtvoll erleuchtet von lohenden Eichen, und ein Getränk
- aus gegorenem Gerstensaft, wahrscheinlich der Urahne des heutigen Biers,
- das in Deutschland so viel getrunken wird, ließ ihren Gedanken, Reden
- und Entschlüssen freien Lauf. Bei diesen Gelagen kamen alle ihre
- Unternehmungen zur Reife. Hier faßten sie die Pläne zu ihren kühnen,
- gewagten Angriffen, die während einer gemächlichen Volksversammlung wohl
- nicht jedem und auch nicht immer in den Sinn gekommen wären. Sie waren
- stürmisch, waghalsig, und wenn sie einmal wach, erschüttert und aus
- ihrer kaltblütigen Indolenz aufgerüttelt waren, kannte ihre Leidenschaft
- keine Grenzen. Ihre Verwegenheit kam ganz besonders beim Würfelspiel zum
- Ausdruck, da konnte der wilde Germane so leidenschaftlich werden, daß er
- sein Haus, seine Waffen, sein Weib, seine Kinder und zuletzt sich selbst
- verspielte und in die Sklaverei verkaufte -- ein Zustand, der ihn
- schlimmer dünken mußte als der Tod! Vielleicht war dieses wilde
- Temperament die Quelle jener starken, kühnen Leidenschaften, die den
- Europäer erfüllen.
- So geartet waren die germanischen Völker -- diese wilden Elemente, aus
- denen das neue Europa hervorgegangen ist. Sie zerfielen in unzählige
- Stämme und überzogen das nördliche Europa ebenso dicht wie die dichten
- europäischen Wälder. Um einen klaren Überblick über sie zu gewinnen,
- wollen wir mit den Gegenden beginnen, wo die Alte Welt diese ersten
- Begründer der Neuen Welt zuerst erblickte, d. h. mit der Donau, die den
- Römern als Grenze diente. Hier wohnten Stämme, die zwar noch frei aber
- doch nicht mehr ganz wild waren, und die schon Beziehungen mit dem
- antiken, zivilisierten Rom angeknüpft hatten, als da sind: die
- Hermunduren, die Narisker, die Markomannen und die Quaden. Ferner lag
- eine große Kette von germanischen Stämmen an den Ufern des Rheins von
- seiner Quelle bis tief herab zu der Stelle, wo er ins Meer fällt. Das
- waren die Vangionen, Triboker, Nemeter, Matiaken, Ubier; auf sie folgten
- die Tenkterer, die besten Reiter, deren Reiterei auch bei den Römern
- berühmt war, und deren ganzer Besitz aus ihren Rossen bestand und immer
- dem Tapfersten hinterlassen wurde; dann folgten die Usipier und hart an
- der Mündung des Rheins, wo er ins Meer strömt -- die mächtigen Bataver.
- Das mittlere Deutschland war ganz mit Wäldern bedeckt und barg die
- wildesten und mächtigsten Stämme in sich. Von Westen nach Osten
- fortschreitend, treffen wir zuerst auf die Chatten, die Ahnen der
- heutigen Hessen; sie bewohnten die aus zahllosen Hügeln bestehenden Ufer
- des Main. Dieses Volk verbreitete Schrecken um sich durch sein Fußvolk,
- durch dessen vortreffliche Aufstellung und Organisation, durch seine
- umsichtige Angriffstaktik und den wilden Ausdruck seiner Gesichter. Die
- Sitten und Gebräuche der Chatten setzten einen durch ihre Eigenart
- unwillkürlich in Erstaunen. Kein Jüngling durfte sich das Haar
- schneiden, ehe er nicht seine Hände in Feindesblut gewaschen hatte,
- während der Schlacht mußten sie in den vorderen Reihen kämpfen, und dann
- jagten sie den Feinden mit ihren struppigen, behaarten Gesichtern Angst
- und Schrecken ein. Jeder Chatte trug einen eisernen Ring am Arm, was
- sonst für schmachvoll galt, weil der Ring an eine Kette erinnerte, doch
- durfte er ihn nicht früher ablegen, als bis er mit eigener Hand einen
- Feind getötet hatte. Südlich von den Chatten wohnten die Cherusker, die
- Bewohner des Harzes, weiter folgten die Fosen, die Sigambrer, die
- Brukterer, die Angrivarier, die Chasuarier und endlich die Harier, die
- sich durch eine ganz eigene Angriffsweise auszeichneten. Sie führten
- ihre Überfälle in dunklen finsteren Nächten aus, färbten sich, um
- Schrecken und Furcht einzuflößen, ihren Leib, trugen schwarz
- angestrichene Schilde und boten sich dem erstaunten Blicke der Feinde,
- die diesen Anblick nicht zu ertragen vermochten, wie ein Leichenzug dar.
- Östlich von ihnen in etwas freieren, offener daliegenden Gegenden
- wohnten die Sueven. Diese bestanden aus einer Menge verschiedener Stämme
- und führten noch lange Zeit ein Hirtenleben, obwohl sich der Boden wegen
- seiner vielen Sümpfe nur wenig dazu eignete.
- Überhaupt kann man sagen, je mehr man sich dem Süden oder dem Südwesten
- näherte, um so mehr Ackerbau treibende Stämme traf man an; oder Ackerbau
- und Viehzucht traten zusammen auf; je mehr man sich dagegen dem Osten,
- Ungarn, Dacien und Polen näherte, um so mehr überwog das Hirtenleben,
- und je tiefer man endlich in die Wälder des Harzes eindrang, um so
- finsterer und kräftiger wurden die germanischen Stämme. Aber die
- allergefährlichsten unter ihnen, die selbst die Römer fast gar nicht
- kannten, und die dennoch die eigentlichen Zerstörer ihrer Herrschaft
- wurden -- das waren alle die Stämme, die die Küsten des Meeres und die
- an der Ostsee gelegenen Länder bevölkerten. Bis hierher waren die Römer
- nie vorgedrungen. Hier wohnten Seeräuber, die unternehmungslustigsten
- unter den Germanen, die schon die Lage des Landes und des Meeres dazu
- zwang, sich in die kühnsten Unternehmungen zu stürzen.
- So ein Leben führten die Friesen und Chauken am Ufer der Nordsee, dann
- ein wenig weiter die gewaltigsten unter den Korsaren des Nordens, die
- Sachsen, ferner in Holstein die Cimbern, an der Ostsee die Goten, die
- Wariner, die Rugier und Burgunder und in Preußen die Longobarden, die
- Vandalen und die Heruler. Außerdem gab es in Mitteldeutschland noch eine
- ganze Reihe von Abkömmlingen dieser Stämme, die ganz verborgen in
- Wäldern und Sümpfen lebten; während der häufigen Schlachten und Kämpfe
- zwischen den einzelnen Stämmen wurden sie aus ihren Verstecken
- hinausgedrängt und sahen sich nun gezwungen, Plätze aufzusuchen, bis zu
- denen kein Mensch vordringen konnte. Auch die Berge der Alpen und der
- Karpathen bargen eine Menge von Fetzen oder Überresten verschiedener
- Stämme in sich: gallische, germanische und wendische Völker, die in dem
- wilden Europa herumvagabundierten. Der Nordwesten des Erdteils konnte
- infolge seiner ungeheuren Unfruchtbarkeit und Armut und seiner langen,
- öden und ungeheueren Strecken keine starken Völker hervorbringen und
- großziehen. In seinen weit verstreuten, obdachlosen, verwaisten
- Bewohnern -- den Finnen, und den Abkömmlingen estnischer Stämme erstarb
- alles Leben, ebenso wie in der Natur jener Gegenden.
- Dies war jene besondere Welt in dem wilden Europa! _Das_ waren die
- Völker, deren gewaltige Kraft die Römer vor allem an sich erfahren
- sollten. Und wenn das Weltreich nicht schon viel früher zusammenbrach,
- so liegt der Grund nur in der ungeheuren Zersplitterung der germanischen
- Völker, in der Bodenbeschaffenheit Europas, die sie hinderte, zu einem
- Ganzen zu verschmelzen, in der Einfachheit ihrer Sitten, die sie
- veranlaßten, sich mit den rohen Erzeugnissen ihres Landes zu begnügen,
- in dem für diese nur auf die Zerstörung ausgehenden Wilden so
- bezeichnenden Mangel an Habgier, in ihrem seßhaften Leben und in ihrer
- Liebe zur Freiheit, die sie immer wieder zwang, sich in die Tiefe der
- Wälder zurückzuziehen. Die Römer waren sich der Gefahr voll bewußt, die
- ihnen von der frischen Kraft dieser europäischen Völker her drohte. Und
- daher waren sie darauf bedacht, keine Grenze des Reiches, weder die
- asiatische im Osten, noch die afrikanische im Süden, so zu schützen und
- zu befestigen, wie die europäische im Norden. Hier, kann man wohl sagen,
- konzentrierte sich ihre ganze militärische Schutzmacht. Und man muß
- zugeben, daß die Verteidigungsmaßregeln, die während der damaligen Lage
- des an Erschöpfung zugrunde gehenden Reiches aufgeboten wurden, sehr
- vernünftig waren. Das römische Reich überließ seine gefährdeten Grenzen
- den frischen, kriegerischen Völkern, die sie am besten verteidigen
- konnten und sich anfänglich mit wenigem begnügten. Aber es muß zur Ehre
- der germanischen Völker gesagt werden, daß nur die äußerste Not sie
- zwang, dieses Geschenk Roms anzunehmen. Diese Abhängigkeit erschien
- ihnen wie Sklaverei, und sie eilten wieder in die Tiefe ihrer Wälder
- zurück -- um dort ein Versteck für ihre Freiheit zu suchen. Die
- Anschläge der Römer zwangen sie, starke Bündnisse miteinander zu
- schließen, aber diese Bündnisse waren nie offensiver Natur, ihr Zweck
- bestand immer nur darin, die Freiheit, die den Germanen teurer als alles
- war, vor Gefahren zu schützen. Eins von diesen Bündnissen, das unter dem
- Namen des fränkischen Bundes bekannt wurde, wuchs und erstarkte dank der
- günstigen Lage des Landes und dem immer heftiger werdenden Ansturm
- seitens aller andern Stämme. Die verschiedenen Völker, die ihm
- beitraten, hatten einen Teil von Westfalen und Hessen besetzt und sich
- so eng miteinander verschmolzen, daß sie schließlich nur eine Nation
- unter dem Namen der Franken bildeten. Doch dieses Bündnis wäre den
- Römern nie so gefährlich geworden, und ganz Deutschland hätte sich auch
- weiter nicht geregt, wenn nicht eine fremde Kraft, d. h. Völker, die aus
- Asien kamen, einen Druck auf die Germanen ausgeübt hätte. Der östliche
- Teil Europas war äußerst gefährlich wegen seiner weiten Ebenen. Das war
- ein weitgeöffnetes Tor nach Westeuropa, der große Weg, auf dem die so
- verschieden gearteten Völker eines nach dem andern herangezogen kamen,
- hier waren auch die Wälder bedeutend häufiger niedergebrannt, wie in
- anderen Gegenden; auch die Sümpfe waren hier am frühesten ausgetrocknet
- und mit jedem Jahrhundert wurde dieser Weg freier und bequemer für die
- großen Völkerzüge. Die weiten offenen Flächen gaben den Völkern und
- Stämmen die Möglichkeit, sich zu großen Massen zu vereinigen, und
- eigneten sich ungemein für ein Nomadenleben, das seinerseits günstige
- Gelegenheiten zu Angriffen in großem Maßstabe bietet. Ein ganzes Volk
- konnte plötzlich seine fliegenden Wohnsitze verlassen und mit seiner
- ganzen Masse einen furchtbaren, unwiderstehlichen Überfall auf ein
- andres ausführen.
- Eins von den germanischen Völkern ward früher denn alle übrigen dazu
- bestimmt, eine allgemeine Völkerbewegung hervorzurufen. Dieses Volk
- waren die Goten[11], ein Volk, auf dem ein furchtbarer Fluch zu lasten
- schien, der es zu ewigem Wanderleben verurteilte. Die Goten mußten lange
- herumirren, bald erschienen sie in Skandinavien, bald an den beiden
- Küsten der Ostsee und endlich im weiten Osten Europas. Nach dem Zeugnis
- des Geschichtsforschers Jornandes saßen sie ursprünglich in
- Skandinavien. Es ist sogar möglich, daß dies eins der Urvölker Europas
- war. Nachdem sie ihre schneebedeckte Heimat verlassen hatten, drangen
- sie bis an die Küsten Preußens und riefen eine große allgemeine
- Umwälzung hervor. Sie verdrängten die Vandalen, die Longobarden, die
- Heruler, die Burgunder und Sachsen aus jenen Landstrichen und zwangen
- sie gegen ihren eigenen Willen, sich am eifrigsten an der Zerstörung des
- weströmischen Reiches zu beteiligen. Die allgemeine Erschütterung machte
- sich in ganz Europa bemerkbar: diese ganze Kette der mächtigen
- baltischen Stämme näherte sich den Grenzen Roms, drängte viele Stämme
- ins Gebirge und in die Sümpfe zurück, konzentrierte ihre Kräfte noch
- mehr und machte so die Römer mit neuen Völkern bekannt. Von nun an
- konnte man Herulern, Vandalen und Longobarden in ihren Armeen begegnen.
- [Fußnote 11: Über die Goten siehe Prokop, Jornandes, Gibbon.]
- Unterdessen hatten die Goten, nachdem sie vor sich her einen Weg gebahnt
- hatten, die am Ufer der Donau lebenden Völker, die Markomannen und die
- Quaden, teils vertrieben, teils unterworfen; nun vereinigten sie sich in
- großen Massen in den südlichen Ebenen Daciens und zogen zusammen mit den
- unterjochten Stämmen dem Schwarzen Meere entgegen. Je mehr sie nach
- Süden vordrangen, desto besser wurde der Weg, und um so schneller
- vollzog sich ihre Wanderung. Endlich erschienen sie mitten in
- Griechenland und in Kleinasien und brannten die Küsten des Schwarzen
- Meeres nieder. Chalcedon und Ephesus wurden eingeäschert. Athen wurde in
- furchtbarer Weise und schonungslos zerstört. Kaiser Decius erkannte die
- Gefahr, die den östlichen Grenzen seines gewaltigen Reiches drohte; er
- führte selbst seine Truppen gen Osten und fiel in der Schlacht mit der
- Waffe in der Hand, während sein Heer im Westen gegen die Vandalen,
- Heruler und Sueven kämpfte, die von den Goten aus ihrer Heimat
- vertrieben worden waren. Mit Beute beladen kehrten die Goten zurück,
- besetzten das heutige Rußland, erhielten auf Grund eines Vertrages mit
- den Römern ganz Dacien und setzten sich hier fest. Sie rissen die
- Herrschaft über die Völker, die an den Ufern der Donau wohnten, an sich
- und beunruhigten das sorglose Kaiserreich durch ihre Gegenwart. Als die
- Imperatoren, diese mächtigen Beherrscher der Welt, durch eigene
- schmerzliche Erfahrung den wilden Mut der Goten kennen gelernt hatten,
- beschlossen sie, sie in ihre Armee aufzunehmen und diesem
- unüberwindlichen Volk von Barbaren Sold zu bezahlen. Dadurch gewannen
- sie sich kräftige Verteidiger, zugleich aber zogen sie sich mächtige
- Feinde heran, denn sie enthüllten ihnen die Geheimnisse einer
- wohlausgebildeten Taktik, die ihnen später ein noch größeres Übergewicht
- verleihen mußte. Übrigens aber war die Strategie der Goten auch schon
- ohnedies unüberwindlich. Sie vereinigten in sich die Taktik der
- leichtbeweglichen Wandervölker und die der ansässigen bodenständigen
- Stämme. Sie formierten sich in gewaltigen, dichtgedrängten Massen und
- zeigten die gleiche Standhaftigkeit im Ansturm des ersten Angriffs, wie
- während des Höhepunktes der Schlacht oder bei ihrem Ausgang, wo ihre
- Kraft allmählich erlischt. Eine Schlacht mochte sich noch so lange
- hinziehen, es war unmöglich, die Reihen der Goten ins Wanken zu bringen.
- Sie begleiteten ihren Angriff, gleich anderen germanischen Stämmen, mit
- Gesängen. In ihren Liedern verherrlichten sie die Namen ihrer alten
- Helden: Fridigern, Vidicula Ethespamar und anderer. Die geistliche
- Obergewalt lag in den Händen eines einzelnen, dieser war zugleich König,
- Heerführer und Oberpriester; trotz alledem aber hing er von dem Rate der
- Tapferen ab.
- Bei den Goten herrschte von Urzeiten an das königliche Geschlecht der
- Balten, und nur aus diesem Geschlecht durfte ihr König gewählt werden.
- Sie beteten Wotan an, der im grauen Altertum zusammen mit Odin, diesem
- nordischen Ulyß[12], ihr Heerführer gewesen war. Von allen germanischen
- Stämmen waren die Goten am meisten zur Assimilation der Kultur befähigt.
- Bis zur Mitte des IV. Jahrhunderts wurde die Macht der Goten von den
- Völkern, die an der Donau sowie von denen, die im Westen und Osten des
- heutigen Rußland saßen, anerkannt. Der Name ihres Königs Hermanrich
- stand in hohen Ehren an den Ufern des Schwarzen Meeres sowohl als auch
- in Livland. Allein die gotische Herrschaft wurde durch den großen
- Völkerzug der Hunnen, die aus Asien hereinbrachen, erschüttert.
- Die Hunnen oder Hjongnu waren nach de Guignes ein mächtiger Volksstamm,
- der die großen Steppen der Tatarei und der Mandschurei bewohnte und
- China in Unruhe versetzte; da sie jedoch der verschlagenen chinesischen
- Politik nicht gewachsen waren, wurden sie allmählich den chinesischen
- Kaisern tributpflichtig. Allein ein großer Teil der Hunnen erhob sich
- mit seinen Wagen und Roßherden und zog nach Westen, besetzte die Länder
- jenseits des Kaspischen Meeres und entzog sich so den Blicken Chinas.
- Ihre Ansiedelung an den Ufern des Kaspischen Meeres verlegen die
- römischen Historiker in die Zeit Domitians. Es ist hier vielleicht am
- Platz, darauf hinzuweisen, daß die gebildete griechisch-römische Welt
- jener Zeit bis zur Regierungszeit des Kaisers Valens gar nicht einmal
- wußte, daß dieses Volk existiert, bis plötzlich die aus den Gebirgen
- Asiens hervorbrechenden Hunnen und mit ihnen die Avaren, Unnuguren,
- Usenguren (Uturguren, Cuturguren) und alle die anderen Völker vor ihnen
- auftauchten, deren Namen für das feine und zugleich korrumpierte Gehör
- der Griechen und Römer einen so rohen Klang hatten. Der verheerende,
- unabwendbare Andrang dieser Bewohner Asiens, ihre Gewohnheit, rohes
- Fleisch zu essen, die Schädel der Feinde als Becher zu benutzen und die
- ersten besten unter ihren Gefangenen den Schatten ihrer Ahnen auf
- blutigen Scheiterhaufen zum Opfer zu bringen, ihre kalmückischen Züge,
- die flachen, plumpen, braunen Gesichter, die einem schon durch ihren
- wilden Ausdruck Angst einjagen konnten, ihre kleine Gestalt, die nur
- aus Muskeln zu bestehen schien -- dies alles versetzte die
- asiatisch-römischen Provinzen in solchen Schrecken, daß deren Bewohner
- daran zweifelten, ob sie sie wirklich zur menschlichen Gattung rechnen
- sollten. Sie waren der Ansicht, die Magier und Zauberer, die in den
- ungeheuren Wüsten am Kaspischen Meer hausten, wären in unreinen Verkehr
- mit Teufeln getreten, und diesem Bunde seien die Hunnen entsprossen.
- [Fußnote 12: Schlegel]
- War es nur ein seltsamer Instinkt, der die Hunnen zurücktrieb, oder
- erschreckten sie die allzu bunten mit Gärten und Städten übersäten
- Flächen des römischen Asiens, die die Nomadenvölker für Gefängnisse
- halten und daher fliehen, oder fanden sie keine öden, freien Steppen,
- deren sie für ihre zahllosen Herden unbedingt bedurften -- genug, sie
- zogen, statt die Richtung nach Süden einzuschlagen, -- nach Nordwesten,
- berührten auf ihrem Wege den Kaukasus, scheuchten ein paar Volksstämme,
- die an seinem Fuße wohnten, auf und nahmen sie auf ihrer Wanderung mit
- sich, und diese große Masse von Nomaden ergoß sich über Europa. Auf dem
- vorgeschobensten Posten Europas standen damals, wie wir gesehen haben,
- die Goten. Ihre zahlreichen Stämme und die von ihnen unterjochten Völker
- waren die ersten Wachtposten Europas und standen in dichten Scharen vor
- seinem mächtigen Tore, ein Tor, das leider viel zu gewaltig für den
- kleinen Erdteil -- Europa -- war. Und die Goten, dieselben Goten, die
- bis dahin für das unüberwindliche Bollwerk Europas und für eine
- unbesiegbare Macht gegolten hatten, wichen vor den Hunnen zurück. Es
- konnte auch gar nicht anders kommen. Die geheimnisvolle Kraft eines
- solchen Ansturms seitens solcher asiatischer Völkermassen war den Goten
- vollkommen unbekannt. Wenn die Goten gewußt hätten, daß ein solcher
- Einfall asiatischer Stämme nur durch den ersten gewaltigen Anprall
- gefährlich ist, und daß nur die Fähigkeit, ihnen einen dauernden
- Widerstand entgegenzusetzen und die Schlacht in die Länge zu ziehen, den
- Sieg entscheiden kann -- wenn die Goten dies gewußt hätten, dann hätten
- sich die Hunnen wieder in den Kaukasus zurückgezogen, und Europa hätte
- nichts von der großen Erschütterung verspürt, die sein ganzes Äußere
- umwandeln sollte. Aber dies Geheimnis blieb den Goten unbekannt.
- Übrigens muß man auch anerkennen, daß es einer schier übermenschlichen
- Tapferkeit und Geistesgegenwart bedurfte, um dem ersten Ansturm der
- Hunnen zu widerstehen. Sie begleiteten ihren Angriff mit so
- entsetzlichem Geschrei, ihre ungeheuren Massen kamen so dichtgedrängt
- herangeflogen, ihre beinahe wilden Rosse kamen so wütend angerast, als
- stürzten sie einen steilen Abhang hinunter und als könnten die Reiter
- selbst ihren Sturmschritt nicht hemmen; ihr schmales, zwischen den
- dicken Backen fast verschwindendes Auge war so scharf und sicher, sie
- gaben der Schlacht jeden Augenblick eine so rasche Wendung, sie konnten
- sich so schnell in alle Winde zerstreuen und verschwinden, sich so
- plötzlich wieder in einem Haufen vereinigen, sie schleuderten mit so
- großer Treffsicherheit einen ganzen Wald von Lanzen gegen ihren Feind,
- selbst wenn sie die Flucht ergriffen, wußten sie sich so vorzüglich
- durch ihre Geschosse zu decken und sie begleiteten dies alles mit einem
- so wilden, betäubenden Geschrei, daß sich schwerlich ein Heerführer
- finden konnte, dessen Auge nicht unsicher, dessen Kopf nicht schwindlig
- geworden wäre im Kampfe mit den Hunnen.
- Nachdem sie die Goten vertrieben hatten, nahmen die Hunnen den
- westlichen Teil der polnischen Provinzen des heutigen Rußland, den
- Norden und die Donauländer ein -- wieder nahm die Geographie Europas ein
- andres Ansehen an. Dadurch, daß die Hunnen einen so großen Flächenraum
- besetzten, mußten sie notwendigerweise eine starke Erschütterung und
- eine mächtige Verschiebung in den Wohnsitzen der einzelnen Völker
- hervorrufen. Die zurückgedrängten Goten zogen, obwohl ihnen dies nicht
- leicht wurde, nach Westen und Süden weiter; die Vandalen und Sueven, mit
- denen sich die Römer, oder besser gesagt, die römischen Germanen an den
- Grenzen schon vielfach gemessen hatten, zogen durch Frankreich über die
- Alpen und drangen in Spanien ein. Und hier in Spanien stießen plötzlich
- Völker aus den verschiedensten Himmelsgegenden zur allgemeinen
- Verwunderung miteinander zusammen: die Sueven von den Küsten der Ostsee
- und aus dem schneebedeckten Skandinavien und die Alanen, die die Hunnen
- auf ihrem Zuge vom Fuße des Kaukasus verscheucht und hierher getrieben
- hatten.
- Fünfzig Jahre lang irrten die Hunnen in den Steppen Rußlands herum,
- zogen mit ihren Zeltwagen von Ort zu Ort und trieben ihre Roßherden von
- einem Platz zum andern, ohne weitere Eroberungen zu machen; denn auch
- diesmal wurde Westeuropa durch seine Urwälder und seine hügelige
- Bodenbeschaffenheit gerettet, auch fehlte es den Hunnen an einem
- unternehmenden Anführer. Sie begnügten sich damit, ihre nächsten
- Nachbarn zu überfallen, raubten meist ihre Frauen und Kinder und trieben
- ihre Herden mit sich fort. Unter diesen Raubzügen hatten die Goten, da
- sie ihnen am nächsten wohnten, am meisten zu leiden. Die Goten teilten
- sich um diese Zeit in zwei große Stämme: in die Westgoten, die sich ihre
- Könige aus der älteren herrschenden Linie der Balten, und in die
- Ostgoten, die ihre Könige aus dem neuen Herrschergeschlecht der Amaler
- wählten. Immer mehr von den Hunnen zurückgedrängt, drangen sie bis zum
- Süden der jetzigen Ukraine und der Moldau vor. Ein Teil der Westgoten,
- die sich nirgends sicher fühlten, wandte sich, geführt von Fridigern,
- Alatheus und Saphrax, mit der Bitte an den römischen Kaiser, er möge es
- ihnen erlauben, die Donau zu überschreiten, sich am südlichen Ufer des
- Flusses anzusiedeln und die römischen Provinzen gegen Überfälle der
- immer mächtiger werdenden Barbaren zu verteidigen. Der Kaiser
- Valentinian, der das Reich gemeinschaftlich mit seinem Bruder Valens
- regierte, nahm diese unerwartete Hilfe mit Freuden an -- und die
- Westgoten überschritten die Donau. Unterdessen hatten die Ostgoten und
- ein Teil der Westgoten, die im Südosten wohnten, häufig unter
- Hungersnöten zu leiden, und da sie sahen, daß die Not immer stärker
- wurde, baten sie den Kaiser Valens, der die östlichen Provinzen
- verwaltete und in Konstantinopel residierte, sie mit allerhand Waren zu
- versorgen und ihnen zu gestatten, mit den Bewohnern des Landes Handel zu
- treiben.
- Der Kaiser befahl den Regenten von Thracien, Lupicinus und Maximus, die
- Bitten der Goten in allen Punkten zu erfüllen; beide waren typische
- Griechen aus der byzantinischen Zeit -- hinterlistig und immer bereit,
- auch ohne dringende Veranlassung ein Verbrechen zu begehen, den Barbaren
- gegenüber aber hielten sie jede Missetat für erlaubt. Sie ließen sich
- mit den Goten nicht erst in Handelsgeschäfte ein, sondern raubten sie
- ganz einfach aus und trieben sie bis zum Äußersten, so daß diese
- genötigt waren, ihre eigenen Frauen und Kinder zu verkaufen; endlich
- luden sie die heldenmütigsten Goten unter freundschaftlichen Vorwänden
- zu sich ein und beschlossen, sie heimlich umzubringen. Dies rief die
- Rachsucht dieses wilden Volkes, das sich jedoch noch ein ursprünglich
- menschliches Gefühl bewahrt hatte, wach. Ungeheure Scharen von Goten
- fielen in Thracien ein, drangen bis Konstantinopel vor, brannten alles
- nieder und plünderten und äscherten alle Städte und ihre Umgegenden ein,
- die sie auf ihrem Wege antrafen. Der Kaiser Valens befand sich in einer
- sehr mißlichen Lage. Er war ein eifriger Arianer und verfolgte
- unbarmherzig alle Gegner dieser Sekte. Infolgedessen hatte er viele
- Feinde, und selbst sein Bruder Valentinian, der Kaiser von Rom war,
- verweigerte ihm seine Hilfe. Überdies war der Kaiser Valens auch sehr
- grausam und mißtrauisch; man hatte ihm geweissagt, ein Mann, dessen Name
- mit den Buchstaben Theo... beginnt, würde seinen Untergang herbeiführen
- -- und so ließ er denn sämtliche Theoderiche, Theodate und Theodosiusse,
- die irgendein bedeutenderes Amt bekleideten, erdolchen oder erwürgen. Es
- versteht sich von selbst, daß diese Taten in seinen Untertanen keinen
- allzu großen Eifer und keine Neigung, ihren Monarchen zu verteidigen,
- wachriefen, und außerdem waren diese Untertanen ein erbärmliches und
- charakterloses Volk; die Soldaten waren jederzeit bereit, zu meutern und
- beim ersten Anlaß die Flucht zu ergreifen; die Staatsgelder wanderten in
- die Hände von Eunuchen, Günstlingen, Konkubinen und schlauen Priestern,
- und so erhielt Valens schließlich die Strafe für sein früheres Leben.
- Verlassen von den fliehenden Soldaten, suchte er Schutz in einer
- armseligen Hütte und wurde zusammen mit dieser von den rachsüchtigen
- Goten verbrannt. Nur der Unkenntnis der Goten, die sich nicht auf die
- Belagerung einer Stadt verstanden, verdankte Konstantinopel seine
- Rettung. Triumphierend und mit Beute beladen kehrten die Goten zu ihren
- Wohnsitzen zurück, bei den Römern eine schauerliche Erinnerung an ihren
- Besuch hinterlassend.
- Bald darauf erfolgte die endgültige Teilung des römischen Reichs. Der
- Kaiser Theodosius hoffte, es noch durch diese Säkularisierung zu retten,
- er glaubte, die Schwäche des Reiches sei die Folge seiner unermeßlichen
- Größe und der Unmöglichkeit seiner Beherrschung durch einen einzelnen.
- Die östliche Hälfte, die von nun an mit Recht die griechische genannt
- wurde -- noch treffender hätte man sie das Reich der Eunuchen,
- Komödianten, Günstlinge, Rennbahnen, der Verschwörer, der gemeinen
- Mörder und der disputierenden Mönche nennen können -- erhielt Arcadius,
- der ganz unter dem Einfluß seines verschmitzten Vormunds Rufinus stand;
- die westliche Hälfte, die mit Unrecht die römische genannt wurde, weil
- hier alle beliebigen Ämter der Verwaltung von Emporkömmlingen besetzt
- waren, die von Goten, Vandalen oder anderen germanischen Völkern
- abstammten und nur mit einem dünnen äußerlichen Firniß römischer Bildung
- überzogen waren: diese westliche Hälfte, die mitten im eigenen Herzen
- gewaltsam eindringende Feinde beherbergte, und die wie ein lebendiger
- Leichnam die Lebenskraft in sich schwinden sah und fühlte, dies
- weströmische Reich fiel dem minderjährigen Honorius zu, der sich völlig
- von Stilicho leiten ließ; letzterer war von Geburt ein Vandale, der
- unter Theodosius ein treuer und tapferer Vasall gewesen war, aber unter
- dessen unbedeutendem Sohn ein gemeiner Schwächling wurde. Die Vormünder,
- die die entgegengesetzten Enden Europas regierten, haßten einander. Das
- erste Geschenk, das Rufinus, der schlau war wie ein byzantinischer
- Grieche, seinem Feinde Stilicho übersandte, war das mächtige Heer der
- Westgoten, die er überredet hatte, Italien zu erobern, während er ihnen
- versprach, seinerseits Rom jede Hilfe zu verweigern. Und die Westgoten
- verließen insgesamt ihre Wohnsitze in Dacien und an den Ufern der Donau
- und drangen in Italien ein. Aber für Stilicho hatte diese Invasion gar
- keine Schrecken, im Gegenteil, er freute sich im geheimen über sie und
- knüpfte eine Menge von Plänen an sie. Vor allem hoffte er, mit Hilfe
- dieser zahlreichen Menge junger, kräftiger Barbaren viele andere
- Barbaren, die schon ins Innere des römischen Reichs eingedrungen waren,
- zu vernichten. Damals _gehörte_ Gallien zu Rom und es gehörte doch auch
- wieder nicht dazu. Der starke Frankenbund stand mit den unter seiner
- Hegemonie vereinigten Stämmen an der Grenze dieses Landes; im Osten und
- Süden, d. h. im Herzen Frankreichs, hatten sich's die Alemannen und
- Burgunder bequem gemacht. In Spanien hielten die Sueven, die Alanen und
- Vandalen die besten Teile des Landes, d. h. den Süden, besetzt, und die
- römischen Präfekten und Befehlshaber spielten unter ihnen eine recht
- traurige Rolle: sie bekleideten eine Würde, ohne die geringste Macht zu
- besitzen. Es schien fast, als läge über der halben Welt statt des
- römischen Reichs nur sein langer, mächtiger Schatten. Dieses Reich glich
- einer tausendjährigen Eiche, die einen durch ihren ungeheuren Umfang in
- Erstaunen setzt, aber deren Inneres schon längst verfault und vermodert
- ist. Stilicho wußte geschickt Alarich von seiner Absicht, sich in
- Italien niederzulassen, abzubringen, indem er ihm das reiche blühende
- Spanien anbot. Er hatte sogar den Plan, diese Barbaren gegen seinen
- Feind Rufinus aufzuhetzen; ja er träumte schon davon, sich, wenn der
- Plan gelingen sollte, an Stelle des schwachen Honorius zum Kaiser
- ausrufen zu lassen, aber die Sache war zu fein gesponnen, und statt
- dessen sank sein eigener Kopf vom Rumpfe. Der schwache, unbedeutende
- Honorius, der auch nicht einen von Stilichos Plänen erfaßt hatte, befahl
- einem seiner Feldherrn, der ebenso unverständig war wie er, den Goten,
- die sich schon nach Spanien gewandt hatten, um sie zu schädigen, in den
- Rücken zu fallen. Da aber kehrte Alarich mit einem Male um und stand nun
- plötzlich vor den Toren Roms. Wie gewöhnlich floh Honorius; der Senat,
- der seine Ohnmacht einsah, flehte den mächtigen Goten an, er möge doch
- abziehen, versprach ihm, Tribut zu bezahlen, und folgte ihm sofort einen
- Teil aus; der Sieger entschloß sich, auf den anderen Teil zu warten, und
- zog sich von Rom zurück. Kaum aber hörte Honorius, daß die Gefahr
- vorüber sei, als er nach Rom zurückkehrte, doch er dachte nicht daran,
- den versprochenen Tribut zu bezahlen. Da jedoch erschien Alarich in
- heller Empörung vor den Mauern Roms, und drohte, die ewige Stadt in
- einen Haufen Asche zu verwandeln.
- Am 23. August 409 nahmen die Mauern der Weltresidenz den Anführer der
- Goten in sich auf. Die herrlichen Häuser und Paläste wurden geplündert,
- aber der fürchterliche Alarich verbot die Brandstiftung und das
- Blutvergießen. Hieraus kann man ermessen, wie groß seine Willenskraft
- und die Macht war, die er über seine wilden Heerscharen besaß, konnte er
- sie doch _davon_ abhalten, wovon selbst ein Befehlshaber gebildeter
- Truppen seine Soldaten nicht immer abzuhalten imstande ist. Von Honorius
- war in der Stadt keine Spur zu entdecken, er hatte längst Zeit gefunden,
- sich davonzumachen. Dafür aber machte der Eroberer kein Hehl aus seiner
- tiefen Verachtung der Römer; er ernannte ihren Präfekten Attalus zum
- Kaiser und ließ ihn auf den Knien vor der Tür seines Zeltes
- vorbeirutschen. Nachdem er seinen Rachedurst gestillt hatte, verließ er
- Rom und zog nach dem Süden Italiens. Hier schmiedete er große Pläne; er
- erbaute eine Flotte und wollte schon seine siegreichen Fahnen nach der
- afrikanischen Küste tragen, da gebot der Tod seinem Siegeszuge Halt. Um
- ihm ein Grab zu bereiten, leiteten die Westgoten das Bett des
- Busentostromes ab, gruben auf seinem Grunde ein tiefes Grab, in das sie
- den Leichnam hinabsenkten, schütteten es zu und lenkten den Strom in
- sein früheres Bett zurück, damit niemand das Grab des großen Goten
- schänden oder ihm Schimpf antun könnte. Nach Alarichs Tode ward Athaulf
- zum König gewählt und dieser führte die Goten endlich nach Spanien, wo
- sie sich sehr bald festsetzten und ein mächtiges gotisches Königreich
- gründeten, nachdem sie die unbedeutenden römischen Befehlshaber von dort
- vertrieben hatten.
- Die Einwanderung der Westgoten machte sich an allen Enden Spaniens
- lebhaft bemerkbar. Die Alanen und Sueven wurden stark bedrängt und sahen
- sich gezwungen, die Herrschaft der Goten anzuerkennen. Selbst die
- Vandalen, die bis dahin in Spanien die stärkste Vormacht gebildet
- hatten, wurden energisch zurückgedrängt und gegen die Küste des
- Mittelmeers zurückgeworfen. Schon dachte der König Geiserich daran, nach
- Afrika überzusetzen. Da trat ein Ereignis ein, das die Verwirklichung
- seines Planes, wie absichtlich, noch beschleunigte. Um diese Zeit
- herrschte in Rom für den minderjährigen Valentinian und seine Mutter der
- berühmte Aëtius; er war sehr unternehmend, ehrgeizig, schlau und nicht
- wählerisch in den Mitteln, wenn es galt, zu erringen, was er wünschte.
- Aëtius hatte einen mächtigen Feind in Bonifacius, dem Statthalter in
- Afrika, und daher war er entschlossen, ihn zugrunde zu richten. Zu
- diesem Zweck ließ er ihn im Auftrag des Kaisers nach Rom rufen.
- Bonifacius aber hatte den Plan durchschaut, und daher war er
- entschlossen, in Afrika zu bleiben und Geiserich um Hilfe anzugehen. 427
- landete Geiserich mit seinen Vandalen und einem Teil der Alanen an der
- afrikanischen Küste und bezeichnete seinen Weg durch Brandstiftungen und
- Verwüstungen. Zu spät sah Bonifacius ein, welchen Fehler er begangen
- hatte, sich einen solchen Gast einzuladen. Er hatte sich bereits mit
- seinem Kaiser ausgesöhnt und wollte nun seinem unruhigen Verbündeten
- Einhalt gebieten. Aber es war nicht so leicht, mit Geiserich fertig zu
- werden, und Bonifacius ward geschlagen. Geiserich steckte Karthago in
- Flammen, plünderte die Häuser, metzelte die Einwohner nieder und riß
- alle Reichtümer an sich, die er nur finden konnte.
- Die schnellen Erfolge entfachten seinen wilden Ehrgeiz noch mehr. Bald
- war die ganze Küste Nordafrikas der Herrschaft der Vandalen unterworfen.
- Mit Feuer und Schwert bekehrte er die Bevölkerung zum arianischen
- Glauben und gründete eins der mächtigsten Reiche dieser wilden und
- finsteren Epoche. Nun aber wurde Geiserich übermütig. Seine
- fürchterliche Flotte zerstreute sich über das Mittelmeer und machte
- durch ihre Raubzüge jegliche Schiffahrt unmöglich. Jedes Jahr erschien
- dieser numidische Löwe an sämtlichen Küsten des Mittelmeers, von
- Griechenland und Illyrien bis Gibraltar, und raubte, als sammele er die
- Ernte von den eigenen Feldern ein, alles, was diese blühenden und
- bevölkerten Gegenden erzeugten. Spanien, Sizilien, Sardinien, Dalmatien
- hatten abwechselnd die fürchterliche und zerstörende Hand dieses
- gekrönten Piraten zu fühlen, der hier so schnell das erste Reich
- christlicher Corsaren gegründet hatte. Endlich aber erfaßte ihn inmitten
- aller Größe und der Pracht der zusammengeraubten Reichtümer jener
- Geisteszustand, jene schreckliche Melancholie, die den Geist verdorren
- läßt und quält und stets der Vorbote der Tyrannei, dieser furchtbaren
- Seelenkrankheit der Herrscher, ist. Er begann mißtrauisch zu werden
- gegen alle, die ihn umgaben, und sein Argwohn erstreckte sich zuletzt
- sogar auf seine Gemahlin, die Tochter eines Königs der Westgoten: er
- bildete sich ein, sie habe die Absicht, ihn zu vergiften. Ganz
- hingenommen von diesem Gedanken, befahl er, ihr Nase und Ohren
- abzuschneiden, und schickte sie so verunstaltet zu ihrem Vater. Weil er
- aber die Rache der Goten fürchtete, machte er dem Hunnenführer Attila
- den Vorschlag, von Norden aus in Spanien und Italien einzubrechen.
- Attila residierte in Dacien; hier hatte er, unweit der Donau, sein
- Standlager aus rohen, hölzernen Hütten aufgeschlagen, in deren Mitte
- sich sein plumper Palast erhob. Attila war der Führer, der den Hunnen
- bis dahin gefehlt hatte. Er hatte gezeigt, welch furchtbare Gewalt die
- vorwärtsstürmende Kraft der Asiaten annehmen kann. Der ganze Nordosten
- Europas erkannte seine Herrschaft an. Die lange Kette der Völker, die
- dem schier unüberwindlichen Hunnenkönige Tribut zahlten, begann mit dem
- Kaukasus und endete am Rhein. Die Goten, die Gepiden, die Alanen, die
- Heruler, die Akatirer, die Thüringer und die Slawen, sie alle wurden von
- den Grenzen seines schnell wachsenden Nomadenreichs umschlossen. Der
- griechische Kaiser, der seine Verachtung kennen gelernt hatte, sandte
- ihm demütig seinen Tribut und lag im Staube vor seiner Macht und Größe.
- Attila war ein Mensch von kleiner Gestalt, fast ein Zwerg, mit einem
- ungeheuren Kopf und kleinen Kalmückenaugen, und sein Blick war so
- schnell, daß keiner seiner Untertanen ihn ertragen konnte, ohne
- unwillkürlich zu zittern. Mit diesem Blick allein beherrschte er alle
- seine Stämme, die trotz ihrer zerstreuten Wohnsitze und trotz der
- Verschiedenheit ihrer Lebensweise, ihrer Sitten und Gebräuche durch sein
- Wort zu einem einzigen Wesen zusammenschmolzen. Mitten unter seinen
- Höflingen, die mit geraubtem Golde prunkten, ging dieser merkwürdige
- Mensch in einem groben, weiten Gewand umher, lag auf einem gewöhnlichen
- Lager von Filz und trank fast nur Wasser aus einem Holzeimer; weder sein
- Roß, noch sein Sattel waren je mit Edelsteinen geschmückt, und er nannte
- sich selbst die Geißel Gottes, die gesandt ward, um die Welt zu
- züchtigen. Seine Macht über die Truppen war grenzenlos: sie glaubten,
- daß er ein verzaubertes Schwert besäße, mit dem er die ganze Welt
- erobern müsse. Die unterworfenen Völker beugten sich mit
- bewunderungswürdigem Gehorsam unter seine Herrschaft. Übrigens war auch
- jeder Gedanke an eine Empörung völlig ausgeschlossen, denn Attila hätte
- leicht vor seinem Zelt eine Pyramide von Schädeln errichten können, bei
- deren Anblick wohl einem jeden die Lust zu solchen Unternehmungen
- vergangen wäre. Er ließ sich nicht gern ohne Grund in einen Krieg ein,
- besonders wenn der Friede für ihn dieselben Vorteile hatte. Er war ein
- furchtbarer Richter. Er konnte auch großmütig sein, aber nur gegen
- Sklaven, die zu seinen Füßen lagen. Aber Attilas Rache .... jedoch
- niemand hätte den Mut gehabt, seine Rache heraufzubeschwören.
- Anscheinend hatte Geiserichs Vorschlag ihn in seinen eigenen Plänen
- befestigt. Auf sein Gebot sammelten sich all seine zahllosen Stämme, und
- er zog mit ihnen gen Westen. Das römische Reich merkte bald, welch große
- Gefahr ihm drohte. Alle Nationen, die das Westeuropa jener Zeit
- bevölkerten, wurden von einer gewaltigen Aufregung ergriffen. Und nun
- geschah etwas Außerordentliches: Das ganze barbarische Westeuropa
- vereinigte sich zu einem einzigen Bündnis, die Römer schlossen sich den
- Zerstörern ihres Reichs, den Westgoten, Alanen und Franken an. Nomaden-
- und Hirtenvölker stürzten sich auf seßhafte und zum Teil schon
- ackerbauende Völker, das ungestüme despotische Asien auf das gefestigte,
- freie Europa. Hier müssen wir bemerken, daß die germanischen Völker um
- so freiheitsliebender waren, je weiter gen Westen sie lebten. Die Alpen
- waren von alters her eine Schutzwehr der europäischen Freiheit und im
- weiten Umkreise um sie herum haben sich die Stämme auch heute noch einen
- gewissen Unabhängigkeitszug bewahrt. Die Marneebene in Frankreich sollte
- der Schauplatz dieser in der Geschichte einzig dastehenden Schlacht
- werden. Das freie Westeuropa, die Römer, die Westgoten, die Aremoriker,
- die Breonen, die Burgunder, die Sachsen, die Alanen und die Franken
- unter Führung ihrer Könige und Feldherrn und unter der Oberleitung des
- gewandten Aëtius und das nomadisierende Osteuropa: die Ostgoten, Alanen,
- Gepiden, Markomannen, Veneter, Longobarden, Heruler, Akatirer, Avaren,
- Thüringer, Roktolanen sowie einige slawische Stämme unter der Führung
- ihrer Fürsten, Könige und Prinzen, geleitet von dem einen allmächtigen
- Willen Attilas, sollten eine Entscheidung über so manches herbeiführen,
- was für die Nachwelt von höchster Bedeutung ward. Das freie Europa hielt
- stand. Die unüberwindliche verderbenbringende Reiterei Attilas und die
- verbündeten Völker wurden zurückgeworfen, und der unbezwingliche Hunne,
- der seine ganze ihm zu Gebote stehende Willenskraft eingesetzt hatte,
- kehrte mit seinen Roßherden und Völkern in die Ebenen Ungarns und
- Pannoniens zurück. Aëtius, der nicht den Wunsch hatte, daß die
- Westgoten, die sich in dieser blutigen Schlacht mehr denn alle übrigen
- ausgezeichnet hatten, ein zu großes Übergewicht gewönnen, erleichterte
- Attila den Rückzug. Die große Völkerliga zerfiel, nachdem sie ihre
- Aufgabe erfüllt hatte, und alles kehrte, da man annahm, die Gefahr sei
- vorüber, in seinen Anfangszustand zurück.
- Aber der fürchterliche Hunnenführer raufte sich zornig seinen edlen
- Haarschopf und fiel nach einem Jahr, nachdem er die Reihen seiner
- Truppen durch neue ergänzt hatte, in Italien ein, wo der sorglose Kaiser
- Valentinian und sogar Aëtius selbst nichts von Gefahr ahnten. Die erste
- Stadt, die Attilas schwere Hand zu spüren bekam, war Aquileja. Er
- äscherte sie vollkommen ein und wurde so die Veranlassung, daß ein
- Häuflein überlebender Einwohner am Adriatischen Meere die Stadt Venedig
- gründeten. Von hier zog er wie eine feurige Geißel durch ganz Italien.
- Die Städte Concordia, Brescia, Vicenza, Padua, Verona, Mantua, Mailand,
- Modena, Parma ließen nichts wie niedergebrannte Mauern sehen. »Ich
- schwöre es,« rief der wilde Hunne, »da soll kein Gras mehr wachsen, wo
- der Huf meines Rosses den Boden berührt hat!« Endlich sah auch Rom
- Attila vor seinen Mauern. Der erschrockene Papst trat in vollem Ornat
- und begleitet von einer ganzen Prozession dem unerbittlichen Hunnen
- entgegen und, -- war es nun die Pracht des christlichen Ritus oder der
- unter den wilden, ja selbst unter den heidnischen Völkern vielfach
- verbreitete Gedanke, daß Rom etwas Heiliges in seinen Mauern berge --
- genug, Attila begnügte sich damit, einen großen Tribut zu erheben, zog
- sich zurück und verließ Italien.
- Schon sollte die vereinigte Liga der westlichen Völker seine Macht und
- Rache kennen lernen, aber sein plötzlicher Tod rettete sie. Attila fand
- einen seltsamen Tod. Er, der so düster und zurückhaltend gewesen war,
- der es nicht einmal geduldet hatte, daß der Griff seines Säbels und sein
- Filzsattel mit goldenem Zierat oder Edelsteinen geschmückt werde,
- veränderte von einem Tage zum andern seine Lebensweise. Nachdem er die
- Tochter des Kaisers von Baktrien, ein Mädchen von wunderbarer Schönheit,
- geheiratet hatte, gab er sich, ganz berauscht von Wein und Gelagen, mit
- einer so wilden Leidenschaft der Sinnenlust hin, daß er seine ganze
- stählerne Lebenskraft wie in einem Zuge ausströmen ließ. Ein Blutstrom
- rann ihm aus Ohren, Mund und Nase, und er erstickte.
- In einer unbekannten Wüste, in stockfinstrer Nacht grub man Attila das
- Grab und begleitete diese Arbeit mit Gesängen, in denen seine
- Heldentaten gepriesen wurden. Sein Leichnam wurde in einen dreiwändigen
- Sarg gelegt -- die eine Wand war von Gold, die andre von Silber und die
- letzte von Kupfer; seine Waffen und das Geschirr seiner Rosse wurde mit
- ihm ins Grab gesenkt. Alle Knechte und Sklaven, die die Grube gegraben,
- wurden am Grabe erstochen, damit kein Lebender je die Stelle fände, wo
- die Gebeine des großen Mannes ruhten[13].
- Nach dem Tode Attilas stoben die Hunnen plötzlich auseinander und
- zerstreuten sich wie alle asiatischen Völker, die nur durch den
- mächtigen Willen eines Führers zusammengehalten werden. Nunmehr
- breiteten sich die europäischen Völker weiter und freier aus, sie wurden
- selbständiger, und im Osten traten slawische Stämme mehr in den
- Vordergrund, die sich allmählich vermehrten und in sechzig verschiedene
- Stämme teilten; sie zogen bis nach Tirol, machten nach dem Abzug der
- Ostgoten an den Grenzen des griechischen Kaiserreichs von sich reden,
- drangen immer mehr in die weiten Ebenen ein und verwandelten sich
- allmählich in seßhafte Völker.
- Über Italien lagen nach den Verwüstungen Attilas noch lange Rauchwolken,
- aber selbst in den halbzerstörten Ruinen nisteten noch immer allerhand
- Tücken und Ränke, und in diesem völlig erschöpften Reiche gab es immer
- noch elende Ehrgeizlinge. Dem Senator Maximus war es gelungen, Aëtius,
- die einzige Stütze des schwankenden Thrones, vor dem ohnmächtigen Kaiser
- Valentinian zu verdächtigen, und der undankbare Valentinian erschlug ihn
- mit eigener Hand. Nun aber, als er dieser Stütze verlustig gegangen war,
- fiel er selbst von der Hand des Maximus, dieser setzte sich die
- Kaiserkrone auf sein von kindischem Ehrgeiz erfülltes Haupt und
- heiratete die Witwe Eudoxia. Die Witwe aber dürstete nach Rache, sie war
- empört über den gemeinen Mord an ihrem Gemahl, Italiens Schicksal
- beunruhigte sie wenig, und so forderte sie Geiserich im geheimen auf,
- nach Rom zu kommen, um den Tod des Kaisers, seines Verbündeten und
- Freundes, zu rächen.
- [Fußnote 13: Über die Hunnen und Attila siehe Jornandes, De Guignes,
- Fischer.]
- Geiserich ließ nicht gern lange auf sich warten; sofort verließ er mit
- seinen Vandalen die afrikanische Küste, schiffte sich auf seinen
- Piratenschiffen ein und landete in Italien. Und alles, was vom Schwert
- Attilas verschont geblieben war, das vernichtete Geiserich in gewohnter
- Weise. Er untersuchte nicht lange, wer recht und wer unrecht hatte, oder
- wem er Hilfe leisten sollte. Alle traf dasselbe Schicksal. Geiserich
- verstand sich besonders gut auf das Plündern; nach ihm fand niemand
- etwas, woran er sich hätte bereichern können. Rom, das bis dahin selbst
- von den Heiden verschont geblieben war, wurde von diesem christlichen
- König ganz erbarmungslos geplündert; alles, was überhaupt mitgenommen
- werden konnte, wurde mitgenommen. Er füllte seine Schiffe mit einer
- Unzahl von Gefangenen, mit denen er selbst nichts anzufangen wußte; er
- nahm eine Menge von Schauspielern und Künstlern mit, selbst die Frau des
- Kaisers samt ihren Töchtern, denen er doch zu Hilfe geeilt war, zuletzt
- holte er auch die goldene Kuppel vom Kapitol herunter und schleppte sie
- zugleich mit anderen Schätzen nach Afrika.
- Nach all diesen Ereignissen erinnerte Italien kaum noch an den Schatten
- seines ehemaligen Ruhms. Einst in herrlicher Blüte prangend, der
- Glanzpunkt der europäischen Natur, bot es jetzt den wilden Anblick eines
- verwüsteten, zerstörten Landes dar. Der Name des Kaisers war in den
- verlassenen Städten kaum noch zu hören. Der römische Imperator hatte gar
- keine Einkünfte mehr. Er war nicht mehr imstande, seinem eigenen Heer,
- das aus Herulern, Rugiern und Turcilingern bestand, seinen Sold zu
- bezahlen. Und so setzte denn ihr Anführer Odoaker den Kaiser ab und
- wurde selbst ein unbeschränkter und völlig unabhängiger Herrscher;
- allein, er wollte die kaiserliche Würde gar nicht mehr annehmen, sondern
- nannte sich ganz einfach König der Heruler. Ein anderer Teil des
- römischen Heeres befand sich in Gallien, es war durch die Alpen
- gewissermaßen von der Heimat abgeschnitten, und sein Anführer Syagrius,
- der von den Ereignissen in Italien gar keine Kunde hatte, verteidigte
- hier das gar nicht mehr existierende Reich gegen den vereinigten
- Frankenbund, der um diese Zeit bereits übermächtig zu werden begann,
- weil ein unternehmender König und Feldherr, Chlodwig, an seiner Spitze
- stand. Syagrius, der von seinem Reich abgeschnitten war und gar keine
- Verstärkungen erhielt, fiel es schwer, diesen frischen Kräften
- Widerstand zu leisten: er gab nach, und Gallien wurde von fränkischen
- Stämmen überschwemmt. Bald darnach brachen die Ostgoten unter der
- Führung von Theoderich von den nördlichen Grenzen des oströmischen
- Reiches auf, nahmen Italien ein und brachten die dort lebenden Völker
- unter ihre Herrschaft. Kurze Zeit nachher setzten die Angelsachsen auf
- ihren plumpen, kühnen Schiffen über das Meer, unterwarfen England -- und
- damit fand die große Völkerwanderung, soweit sie sich in großen Massen
- vollzog, endgültig ihren Abschluß, aber in engeren Grenzen und in
- kleinerem Umfange nahm sie auch noch weiter ihren Fortgang. Die vielen
- wilden Jäger, die dieses allgemeine Herüber- und Hinüberwandern und
- dieser beständige Wechsel der Wohnsitze herangezogen hatten, waren von
- einer starken Leidenschaft für allerhand Abenteuer und Wandern
- ergriffen, und obgleich ganz Europa jetzt scheinbar unbeweglich dalag,
- rührte es sich und wogte es dort hin und her wie auf einem ungeheuren
- Marktplatz. Alle Nationen waren so durcheinandergemengt, daß es
- vergeblich gewesen wäre, eine reine und unberührte entdecken zu wollen,
- und erst mit der Zeit drückten bestimmte stabile Regierungsformen oder
- Beschäftigungen den bedeutendsten unter ihnen eine besondere Eigenart
- und bestimmte unterscheidende Merkmale auf. Damals gab es vier große
- Völkergruppen oder -massen, die die anderen an Bedeutung überragten,
- gleichsam vier Hauptpunkte, in denen sich die Macht Europas
- konzentrierte. In Spanien -- die Westgoten, die mit einem Teil der von
- ihnen unterjochten Völker dort eingefallen waren, sich daselbst, d. h.
- in Spanien mit den Alanen, Sueven, Vandalen und einigen anderen von
- diesen abhängenden Stämmen vereinigt und in dem Gebirge von Asturien
- eine Menge feindlicher Banditenbanden wider sich aufgeregt hatten.
- Ferner in Gallien die Franken, die bereits aus den früheren Nachbarn der
- Römer, den Germanen von der Donau und vom Rhein, den Usipiern,
- Sigambern, Cheruskern, Chatten, Brukteren, Angrivariern, Chasuariern und
- anderen eine Nation gebildet, sich mit den einheimischen römischen
- Galliern vereinigt, mit den unterworfenen Aremorikern, Bretonen,
- Alemannen, Burgundern und zum Teil auch mit den Bajuwaren und Friesen
- verbunden, ohne sich doch mit ihnen zu verschmelzen, und die das Gebiet
- ihrer Herrschaft bis über die Alpen über den Rhein hinaus ausgedehnt
- hatten.
- Das war eine der mächtigsten Völkergruppen. Im nördlichen Deutschland
- saßen die Sachsen, die durch ihre Wildheit und ihr Korsarentum Schrecken
- erregten und sich nur wenig mit anderen Stämmen vermischt hatten, und in
- Italien die Ostgoten, in deren Masse sich viele Abkömmlinge von Völkern
- befanden, die in Osteuropa herumwanderten -- Sueven, Alanen, Avaren,
- Slawen, Gepiden -- und die unter der geschickten und festen Regierung
- Theoderichs eine Zeitlang das Übergewicht in Europa erlangten. Außerdem
- übten diese großen Völkermassen noch eine Schutzherrschaft über eine
- Menge weit abseits wohnender Stämme aus.
- Die Grenzen zwischen ihnen verloren sich oft in unbekannte Räume; in dem
- von den Grenzen eingeschlossenen Lande erhielten sich häufig viele
- Völker, die hier ganz unabhängig durch- und nebeneinander lebten. So in
- Mitteldeutschland -- die Longobarden, dann ein Teil der Bajuwaren, die
- sich in Italien ausgezeichnet, und alle Völker, die einst in den ehemals
- unermeßlichen Wäldern des Harzes und des felsigen Vorgebirges der Alpen
- gelebt hatten. Der Osten Europas war von den völlig zerstreuten
- slawischen Stämmen besetzt, die unter dem ewigen Druck aller aus Asien
- nach Europa strömenden Völker noch nicht Zeit gefunden hatten, tätig in
- die Weltgeschichte einzugreifen. Jenseits des so bezeichneten Kreises im
- Norden und Osten wohnten verschiedene Völker, die noch in dunkler
- Tatenlosigkeit dahinlebten.
- Dies war die Lage Europas am Ende des V. Jahrhunderts, dessen Ausgang so
- laut und unruhig war, als durch den unbeschreiblichen Ratschluß der
- Vorsehung das gewaltige Chaos, das die dunklen Elemente zu einer neuen
- Welt in sich trug, sich auf Europa niedersenkte, als sich Völker in
- ungeheuren Massen verheerend auf andere Völker stürzten, zu jener Zeit,
- als noch gewaltige, finstere Taten geschahen, als die Namen eines
- Alarich, Geiserich und Attila gleich unruhigen Kometen durch die Welt
- schwirrten, während die Alte Welt im Osten langsam vermoderte, als die
- römische Kultur sich zaghaft an die Küsten Syriens, Alexandriens und
- Konstantinopels drängte und die ketzerischen Lehren eines Nestor und
- Eutiches an ihren gebrechlichen altersschwachen Kräften nagten.
- IX
- Memoiren eines Wahnsinnigen
- Den 3. Oktober.
- Heute hat sich etwas Außerordentliches ereignet. Ich stand diesen Morgen
- ziemlich spät auf, und als Mawra mir meine frisch geputzten Stiefel
- hereinbrachte, fragte ich sie, wieviel die Uhr sei. Als ich hörte, daß
- es längst zehn geschlagen hätte, beeilte ich mich mit dem Ankleiden. Ich
- muß gestehn, am liebsten wäre ich gar nicht in die Kanzlei gegangen, da
- ich im voraus wußte, was für eine saure Miene unser Abteilungschef
- machen würde. Schon seit geraumer Zeit pflegt er mich immer wieder zu
- fragen: »Sag' mal, Freundchen, was geht eigentlich in deinem
- Oberstübchen vor, du läufst hin und her wie ein Irrsinniger und wirfst
- alles so durcheinander, daß sich selbst der Teufel nicht mehr auskennt,
- du schreibst die Titel mit kleinem Anfangsbuchstaben und datierst und
- numerierst die Akten nicht.« So ein verdammter Kerl! Sicherlich plagt
- ihn der Neid, weil ich im Arbeitszimmer des Direktors sitze und die
- Federn für Seine Exzellenz schneide. Mit einem Wort: ich wäre gar nicht
- in die Kanzlei gegangen, wenn ich nicht die Hoffnung gehabt hätte, den
- Kassierer zu sehn, und von diesem Juden wenigstens einen kleinen
- Vorschuß auf mein Gehalt herauszukriegen. Das ist auch so eine Kreatur.
- Gerechter Gott, eher bricht das Jüngste Gericht herein, als daß er einem
- das Gehalt für einen Monat vorausbezahlt! Bitte ihn, soviel du willst,
- geh meinetwegen zugrunde, sei in der größten Klemme -- der alte Satan
- rückt nicht mit Geld heraus. Dafür muß er sich von seiner Köchin zu
- Hause ohrfeigen lassen. Das ist ja weltbekannt. Ich sehe auch nicht ein,
- was es für Vorteile hat, im Departement zu dienen. Man hat da doch gar
- keine Einnahmen! In den Gouvernementsverwaltungen, in den Zivil- und
- Staatsbehörden dagegen, das ist eine ganz andere Sache! Da sitzt einer
- ganz in die Ecke gedrückt da und kritzelt irgend etwas -- sein Frack ist
- ganz fadenscheinig -- er hat eine Fratze, daß man ausspucken möchte.
- Aber seht mal hin, was er sich für eine Villa leistet! Man darf es gar
- nicht erst wagen, ihm eine schön vergoldete Porzellantasse anzubieten.
- »Das,« sagt er, »solch ein Geschenk, das ist was für 'nen Doktor.« Er
- dagegen muß gleich ein paar Pferde, eine Equipage oder einen Biberkragen
- für 300 Rubel haben. Äußerlich ist er so bescheiden und spricht so zart:
- »Wollen Sie mir nicht für einen Augenblick Ihr Messerchen leihen, um
- meine Feder zu schneiden!« und dabei rupft er einen derartig, daß er
- einem kaum das Hemd am Leibe übrigläßt. Das muß man allerdings zugeben,
- unser Dienst hat etwas Vornehmes, überall herrscht eine solche
- Reinlichkeit, wie sie sich in keiner Gouvernementskanzlei finden dürfte,
- alle Tische sind aus Mahagoni, und die Vorgesetzten sagen »Sie« zu
- einem. Ja, ich muß gestehn, ich hätte längst die Kanzlei verlassen, wenn
- nicht dieser vornehme Ton bei uns herrschte.
- Ich legte meinen alten Mantel an und nahm einen Regenschirm in die Hand,
- denn es regnete heftig. Die Straßen waren leer; nur ein paar alte
- Weiber, die sich mit ihren über den Kopf geschlagenen Röcken vor dem
- Regen schützten, einige russische Kaufleute unter riesigen Schirmen und
- ein paar Droschken kamen mir entgegen. Von den besseren Leuten begegnete
- ich nur einigen von unseren Beamten. Bei einer Straßenkreuzung erblickte
- ich einen von ihnen. Als ich ihn bemerkte, dachte ich mir sofort: »He,
- Freundchen, du gehst mir nicht in die Kanzlei, du eilst jener Schönen
- nach, die vor dir herläuft, und spähst nach ihren Füßchen. Solche
- Teufelskerle, diese Beamten! Bei Gott! Die geben selbst einem Offizier
- nichts nach! Da braucht nur irgendein Mädel in einem netten Hütchen
- vorüberzugehn, sofort hat er sie schon gekapert.« Als mir dies durch den
- Sinn ging, fiel mein Blick auf einen Wagen, der gerade vor einem Laden
- hielt, an dem ich vorüberkam. Ich erkannte ihn sofort: es war der Wagen
- unseres Direktors. Ich überlegte: »Er hat in diesem Laden nichts zu tun
- -- gewiß ist es seine Tochter!« Ich drückte mich dicht an die Wand. Der
- Bediente öffnete den Schlag, und sie hüpfte heraus wie ein Vögelchen.
- Sie wandte ihr Köpfchen nach rechts und nach links, wie reizend zuckte
- sie mit den Brauen und wie blitzten ihre Augen! ..... Gott! mein Gott,
- ich bin verloren, ganz verloren! ... Warum mußte sie aber auch bei solch
- einem Wetter ausfahren! Da soll noch jemand behaupten, daß die Frauen
- keine Leidenschaft für allerhand Putz und Flitterwerk haben. Sie hatte
- mich nicht erkannt, ich hatte ja absichtlich versucht, mich ganz hinter
- meinem Kragen zu verkriechen, weil ich einen ganz alten, fleckigen
- Mantel von altmodischem Schnitt umgelegt hatte. Jetzt trägt man Mäntel
- mit einem langen Kragen, und der meine hat mehrere kurze übereinander;
- obendrein war das Tuch nicht einmal decatiert. Ihr Hündchen, das nicht
- Zeit gehabt hatte, in die Ladentür zu schlüpfen, blieb auf der Straße.
- Ich kenne dieses Hündchen, es heißt Maggie; ich hatte keine Minute auf
- der Straße gestanden, da hörte ich plötzlich ein feines Stimmchen:
- »Guten Tag, Maggie!« Was ist denn das, wer spricht denn da?! Ich schaute
- mich nach allen Seiten um und sah zwei Damen unter einem Regenschirm
- daherkommen: die eine war schon recht alt, die andere noch jung; sie
- gingen an mir vorüber, da erklang es aufs neue: »Schäm' dich, Maggie!«
- Hol's der Teufel! Ich sah, daß Maggie einen Hund beschnüffelte, der
- hinter den Damen einherlief. »Aha!« sagte ich zu mir; »wie wird mir,
- sollte ich am Ende betrunken sein? Aber das passiert mir ja nur höchst
- selten!« »Nein, Fidel, du irrst dich!« Jetzt sah ich's deutlich: die,
- die dies sagte, war Maggie selbst: »Ich war, wau, wau, ich war, wau,
- wau, wau, sehr krank!« »Sieh einer das Hündchen an!« Ich muß gestehn,
- ich war sehr erstaunt, als ich hörte, daß es geradeso sprach wie ein
- Mensch. Aber als ich später alles ordentlich überlegte, hörte ich auf,
- mich zu wundern. Wahrhaftig, so etwas ist auf Erden schon häufiger
- vorgekommen! Man erzählt sich, daß in England einmal ein Fisch ans Land
- geschwommen sei, der zwei Worte in einer so merkwürdigen Sprache
- gesprochen hätte, daß sich die Gelehrten schon drei Jahre darüber den
- Kopf zerbrechen und doch nicht herauskriegen können, was das für eine
- Sprache war. Ich habe auch in der Zeitung von zwei Kühen gelesen, die in
- einen Laden gekommen seien und ein Pfund Tee verlangt hätten. Aber ich
- muß sagen, ich wunderte mich doch noch mehr, als ich Maggie sagen hörte:
- »Ich habe dir geschrieben, Fidel; gewiß hat Polkan dir meinen Brief
- nicht überbracht.« Teufel auch, ich habe noch nie im Leben gehört, daß
- ein Hund schreiben kann. Richtig schreiben kann doch nur ein Edelmann
- ... Natürlich, es kommt wohl auch einmal vor, daß irgendein Kaufmann,
- ein Bureaumensch oder sogar ein Leibeigner etwas hinkritzelt! Aber das
- ist doch immer nur ein mechanisches Geschreibsel! Ohne Punkte, ohne
- Komma und ohne alles Stilgefühl! ...
- Das setzte mich in Erstaunen. Ich muß gestehn, seit einiger Zeit fange
- ich an, Dinge zu sehen und zu hören, die bis jetzt noch kein Mensch
- gesehen und gehört hat. »Ich will mal diesem Hündchen folgen«, sagte ich
- zu mir, »und erfahren, wie und was es denkt.« Ich spannte meinen Schirm
- auf und ging hinter den Damen her. Wir bogen in die Erbsenstraße, dann
- in die Meschtschanskaja, nachher in die Storljarnaja und endlich zur
- Kokuschkin-Brücke ein und blieben vor einem großen Hause stehn. »Dieses
- Haus kenne ich!« sagte ich zu mir, »es gehört Swerkow.« So ein Kasten!
- Was leben da nicht alles für Leute! Wie viele Köchinnen und wie viel
- Zugereiste gibt es da! Auch von uns Beamten gibt es da eine ganze Menge!
- Die sitzen wie Hunde einer auf dem andern und hetzen noch einen dritten
- auf ihn. Hier wohnt auch einer meiner Freunde, der sehr gut Piston
- bläst. Die Damen stiegen in den fünften Stock hinauf. »Schön,« sagte ich
- zu mir »jetzt will ich nicht mitgehen, ich will mir die Gegend merken
- und nicht versäumen, mir die erste Gelegenheit zunutze zu machen.«
- Den 4. Oktober.
- Heute ist Mittwoch und daher habe ich meinen Chef in seinem
- Arbeitszimmer aufgesucht. Ich kam absichtlich etwas früher, setzte mich
- hin und spitzte noch einmal alle Federn an. Unser Direktor muß ein sehr
- kluger Mensch sein. Sein ganzes Kabinett ist mit Bücherschränken
- angefüllt. Ich las die Titel einiger Bücher. Lauter gelehrtes Zeug, so
- gelehrt, daß unsereiner sich gar nicht dranwagen kann -- alles
- französische oder deutsche Bücher. Und wenn man ihm erst ins Gesicht
- sieht -- uff -- welche Würde leuchtet einem aus seinen Augen entgegen.
- Ich habe noch nie gehört, daß er ein unnützes Wort gesagt hätte. Wenn
- man ihm ein Papier reicht, bemerkt er höchstens: »Wie ist es heute
- draußen?« »Feucht, Euere Exzellenz!« Ja, das ist keine Gesellschaft für
- unsereinen. Er ist ein Staatsmann! Dennoch aber merke ich, daß er mich
- besonders gern hat. Ach, wenn doch auch seine Tochter ... so eine
- verfluchte Geschichte! ... Doch still davon! Kein Wort mehr! Ich las
- heute in der »Biene«. Die Franzosen sind doch ein dummes Volk! Was
- wollen sie eigentlich? Bei Gott, ich möchte sie alle übers Knie legen
- und auspeitschen. Ich las auch eine sehr nette Beschreibung eines
- Balles, die ein Gutsbesitzer aus Kursk verfaßt hatte. Diese Kursker
- Gutsbesitzer schreiben doch sehr gut. Da bemerkte ich, daß die Uhr halb
- eins schlug, und dennoch wollte »unser Chef« noch immer nicht aus seinem
- Schlafzimmer herauskommen. Aber keine Feder ist imstande, das zu
- beschreiben, was sich um halb zwei Uhr abspielte. Die Tür wurde
- geöffnet, ich glaubte schon, es sei der Direktor, und sprang, mit den
- Papieren in der Hand, vom Stuhl auf: aber es war sie, sie selbst! Alle
- Heiligen! wie herrlich war sie angezogen! Ihr Kleid war schneeweiß wie
- das Gefieder eines Schwanes -- ein wundervolles Kleid. Und wie sie mich
- anblickte -- glich sie der Sonne -- bei Gott -- der Sonne! Sie grüßte
- und sagte: »Ist Papa nicht hier gewesen?« Herr Gott! was für eine
- Stimme! -- der reinste Kanarienvogel, wahrhaftig, der reinste
- Kanarienvogel! »Euere Exzellenz!« wollte ich sagen, »vernichten Sie mich
- nicht, aber wenn Sie mich schon durchaus vernichten wollen, so tun Sie
- es mit Ihrem hochgeborenen Händchen!« Aber hol's der Teufel, die Zunge
- versagte mir ihren Dienst, und ich sagte nur: »Durchaus nicht!« Sie sah
- erst mich an, dann die Bücher und ließ dabei ihr Taschentuch fallen; ich
- sprang eilig hinzu, glitt aber auf dem verfluchten Parkett aus und hätte
- mir fast die Nase zerschlagen, doch hielt sie mich noch im letzten
- Moment aufrecht und hob das Tuch auf! Alle Heiligen! Welch ein Tuch! der
- allerfeinste Batist -- Ambrosia -- das reine Ambrosia! Man glaubte ihm
- förmlich die Vornehmheit seiner Besitzerin anzumerken. Sie bedankte sich
- und lächelte flüchtig, so daß sich ihre zuckersüßen Lippen kaum merklich
- kräuselten, dann ging sie. Ich blieb noch eine Stunde lang sitzen, als
- plötzlich der Diener hereintrat und sagte: »Aksentjij Iwanowitsch, gehen
- Sie nach Hause, der Herr ist schon fortgefahren.« Ich kann dieses
- Bedientenvolk nicht leiden; immer rekeln sie sich im Vorzimmer herum,
- und unsereins zu grüßen, das fällt ihnen gar nicht ein. Aber das ist
- noch nicht das Ärgste; einmal kam ein solcher Hund sogar auf den
- Gedanken, mir eine Prise anzubieten, ohne vom Stuhl aufzustehen. Ja,
- weißt du denn nicht, du dummer Sklave, daß ich ein Beamter und ein
- Edelmann bin?! Indessen nahm ich meinen Hut, legte mir allein meinen
- Mantel um, denn diesen hohen Herrn fällt es doch nicht ein, unsereinem
- hineinzuhelfen, und ging meiner Wege. Zu Hause lag ich meistens auf dem
- Bett. Dann schrieb ich ein paar schöne Verse ab:
- »Da mein Lieb ein Stündchen nicht zu sehn ist --
- 's muß ein Jahr schon her sein, dacht' ich;
- Weil mein Leben mir so arg verhaßt ist,
- Kann ich da noch leben? -- sagt' ich.«
- Wahrscheinlich ist es ein Gedicht von Puschkin. Abends wickelte ich mich
- fest in meinen Mantel und ging vor das Haustor Seiner Exzellenz, ich
- wartete ziemlich lange, ob sie nicht vielleicht heraustreten und in den
- Wagen steigen würde, ich hoffte, sie noch einmal zu sehn; aber sie kam
- nicht. --
- Den 6. November.
- Der Abteilungschef ist ganz aus dem Häuschen! Als ich in die Kanzlei
- kam, ließ er mich sofort rufen und sprach: »Sag' mir bitte, was tust du
- eigentlich?« »Wie? ich tue gar nichts,« antwortete ich. »Höre mal, denk'
- doch mal darüber nach, du bist doch schon über 40 Jahre alt -- es wäre
- bald Zeit, daß du vernünftig wirst. Was bildest du dir eigentlich ein?
- Du glaubst wohl, ich sei nicht hinter all deine Schliche gekommen? Du
- läufst ja der Tochter unseres Direktors nach! Sieh dich doch nur mal an
- und mach' dir mal klar, wer du eigentlich bist! Du bist doch eine Null
- -- und weiter nichts. Du hast ja keinen Heller im Kasten. Wirf doch
- einen Blick in den Spiegel -- wie kannst du nur an so etwas denken!«
- Hol' ihn der Teufel! weil sein Gesicht an eine Medizinflasche erinnert
- und weil er nur noch ein paar Haare auf dem Kopf hat, die er künstlich
- zu einem Schopf zusammendreht, den er mit allerhand duftenden Pomaden
- salbt, und weil er die Nase hoch trägt, bildet er sich ein, daß ihm
- allein alles erlaubt sei. Ich verstehe, ich verstehe sehr gut, warum er
- so wütend auf mich ist. Er beneidet mich, vielleicht weiß er, daß ich
- bevorzugt werde, vielleicht hat er die Zeichen des Wohlwollens bemerkt,
- die mir zuteil geworden sind. Ach was! Ich spucke auf ihn! Auch was
- Großes! Ein -- Hofrat! trägt 'ne goldene Uhrkette und läßt sich Stiefel
- zu 30 Rubel das Paar machen. Ach! hol ihn doch der Teufel! Bin ich etwa
- aus niederem Stande? Bin ich etwa ein Schneider oder der Sohn eines
- Unteroffiziers! Ich bin ein Edelmann! Ich kann mich doch auch
- heraufdienen. Ich bin erst 42 Jahre alt --, und da beginnt doch
- eigentlich der Dienst erst richtig. Warte nur, Freundchen! wir werden
- auch noch einmal Oberst sein, ja, vielleicht, so Gott will, auch noch
- ein bissel mehr! Dann schaffe ich mir eine schöne Wohnung an, vielleicht
- noch eine bessere als deine. Du bildest dir wohl ein, daß es außer dir
- keine anständigen Menschen gibt? Dann schaffe ich mir einen Frack nach
- der neuesten Mode an und binde mir eine ebensolche Krawatte um wie du --
- dann reichst du überhaupt nicht an mich heran. Ich habe bloß kein Geld
- -- das ist das Pech.
- Den 8. November.
- Heute war ich im Theater. Man gab »Filatka, den russischen Narren«. Ich
- habe sehr gelacht. Dann folgte noch eine Posse mit allerhand komischen
- Couplets, in denen es über die Gerichtsbeamten herging, besonders wurde
- ein Kollegienregistrator aufs Korn genommen; diese Couplets waren sehr
- kräftig, und ich habe mich gewundert, daß die Zensur sie nicht
- beanstandet hat. Von den Kaufleuten hieß es geradezu, daß sie das Volk
- betrügen, daß ihre Söhne verschwenderisch leben und nach dem Adelsstand
- streben. Dann gab's auch ein sehr amüsantes Couplet über die
- Journalisten: der Autor bat das Publikum um Schutz vor ihnen, da sie
- immer alles herunterreißen. Die heutigen Schriftsteller schreiben sehr
- interessante Stücke. Ich gehe sehr gern ins Theater. Sobald ich nur ein
- paar Groschen in der Tasche habe, kann ich der Versuchung nicht
- widerstehn und geh' hinein. Es gibt unter den Beamten solche Schweine,
- die durchaus nicht ins Theater gehen wollen -- richtige Bauern -- es sei
- denn, daß man ihnen ein Freibillett schenkt. Da war auch eine Sängerin.
- Sie sang wunderschön -- sie erinnerte mich an jene .... ach! so 'ne
- Gemeinheit. Doch still, still ... kein Wort mehr davon.
- Den 9. November.
- Um 8 Uhr begab ich mich in die Kanzlei. Der Abteilungschef tat so, als
- bemerke er mein Eintreten gar nicht. Ich meinerseits tat auch so, als
- hätten wir nichts miteinander vorgehabt. Ich sah einige Akten durch und
- verglich sie miteinander. Um 4 Uhr ging ich wieder fort. Ich kam an der
- Wohnung des Direktors vorbei, aber es war niemand zu sehn. Nach Tisch
- lag ich meist wieder auf dem Bett.
- Den 11. November.
- Heute saß ich im Arbeitszimmer unseres Direktors, schnitt dreiundzwanzig
- Federn für ihn und für Ihre, oh, oh, oh, und für Ihre Exzellenz vier
- Federn. Er hat es gern, wenn recht viele Federn auf seinem Tisch bereit
- liegen. Oh, das muß ein Kopf sein! Er schweigt beständig, aber in diesem
- Kopf -- glaub' ich -- erwägt er alles. Ich möchte gern wissen, worüber
- er am meisten nachdenkt, und was er für Pläne schmiedet. Ich möchte das
- Leben dieser Herrn gern so aus der Nähe beobachten, alle diese
- Equivoquen und Hofintrigen; wie sie sich bewegen, und was sie in ihrem
- Kreise tun und treiben: das würde ich gern erfahren! -- Schon häufig
- hatte ich Lust, mich mit Seiner Exzellenz in ein Gespräch einzulassen,
- aber weiß der Teufel, die Zunge versagt mir ihren Dienst. Schließlich
- sagt man nur, daß es draußen kalt oder warm ist, und mehr bringt man bei
- dem besten Willen nicht heraus. Wie gern würde ich einen Blick ins
- Gastzimmer werfen, aber die Tür steht nur selten offen; von dem
- Gastzimmer aus sieht man in ein zweites Zimmer! Gott, was für eine noble
- Einrichtung! Was für Spiegel! Welch ein Porzellan! Ich würde auch gerne
- mal in den Teil des Hauses hineinblicken, wo Ihre Exz.... ja, da möchte
- ich gern einmal rein: in ihrem Boudoir, was stehen da wohl für
- Fläschchen und Büchsen, was für herrlich duftende Blumen, die man kaum
- anzuhauchen wagt, da liegt vielleicht auch ihr Kleid, das sie eben
- abgelegt hat, und das mehr einem Lufthauch als einem Kleidungsstück
- gleicht. Wie gern würde ich auch einen Blick ins Schlafzimmer werfen.
- Das muß ein Wunderland ... das muß ein Paradies sein, wie es, glaube
- ich, selbst im Himmel kein ähnliches gibt. Ich möchte das Bänkchen sehn,
- auf das sie des Morgens beim Aufstehn ihr Füßchen setzt, ich möchte
- sehn, wie sie sich die schneeweißen Strümpfe anzieht ... O Gott! o Gott!
- Doch still! still! Kein Wort mehr! Heute fiel's mir plötzlich wie
- Schuppen von den Augen: ich erinnerte mich des Gesprächs der beiden
- Hunde, das ich auf dem Newsky-Prospekt belauscht hatte. »Gut,« dachte
- ich bei mir, »ich werde jetzt alles erfahren! Ich müßte nur den
- Briefwechsel dieser beiden elenden Hunde auffangen. Daraus werde ich
- gewiß so manches erfahren.« Ich muß hier anmerken: einmal habe ich
- Maggie sogar zu mir herangelockt und ihr gesagt: »Hör' einmal, Maggie,
- wir sind jetzt allein, wenn du willst, werde ich sogar die Tür
- schließen, so daß uns niemand sehen kann -- erzähle mir alles, was du
- von dem Fräulein weißt: was treibt sie und wie ist sie, ich schwöre dir,
- niemand soll etwas davon erfahren.« Aber das listige Hündchen kniff nur
- den Schwanz ein, duckte sich ganz zusammen und schlich leise zur Tür
- hinaus, als hätte es nichts gehört. Ich vermute schon lange, daß die
- Hunde viel klüger sind als die Menschen; ich bin sogar überzeugt, daß
- sie sprechen können, nur sind sie sehr eigensinnig. Ein Hund ist ein
- großer Politiker: er bemerkt alles und beobachtet jeden Schritt, den der
- Mensch macht. Nein, es mag biegen oder brechen, morgen gehe ich zu
- Swerkow, frage Fidel aus und nehme, wenn es glückt, alle Briefe, die
- Maggie ihr geschrieben, an mich.
- Den 12. November.
- Um 2 Uhr machte ich mich auf, denn ich wollte Fidel durchaus sehen und
- aushorchen. Ich kann den Kohlgeruch, der aus allen Krämerläden in der
- Meschtschanskaja aufsteigt, auf den Tod nicht leiden, dazu dringt noch
- ein solcher Gestank aus allen Pforten, daß ich mir die Nase zuhielt und
- mich, so schnell ich nur konnte, aus dem Staub machte. Und dann
- verpesteten einem die gräßlichen Handwerker noch derartig die Luft mit
- dem Ruß und dem Rauch, der aus ihren Werkstätten aufsteigt, daß es für
- einen anständigen Menschen tatsächlich unmöglich ist, hier
- spazierenzugehen. Als ich zum sechsten Stock emporgestiegen war und die
- Glocke gezogen hatte, trat ein Mädchen heraus, das nicht übel aussah,
- und dessen Gesicht mit kleinen Sommersprossen bedeckt war. Ich erkannte
- sie. Es war dieselbe, die die alte Frau begleitet hatte. Sie errötete
- ein wenig, und ich begriff sie sogleich. -- Die Kleine sehnte sich nach
- einem Schatz. »Was wünschen Sie?« fragte sie. »Ich muß mit Ihrem
- Hündchen sprechen.« Das Mädchen war offenbar sehr dumm! Ich merkte
- sofort, daß sie dumm war! In diesem Moment kam der Hund bellend
- herangesprungen: ich wollte ihn fassen, aber das Scheusal hätte mich mit
- seinen Zähnen beinahe an der Nase gepackt. Plötzlich erblickte ich in
- der Ecke sein Lager. Ach, das ist ja, was ich brauche! Ich trat näher,
- wühlte das Stroh im Holzkasten durcheinander und holte zu meiner großen
- Freude ein kleines Papierbündel hervor. Als das garstige Tier das sah,
- biß es mich erst in die Wade, dann aber merkte es, daß ich die Papiere
- eingesteckt hatte, und fing an zu winseln und zu schmeicheln, ich aber
- sagte: »Nein, mein Schatz, lebe wohl!« und lief davon. Ich glaube, das
- Mädchen hielt mich für einen Wahnsinnigen, denn sie erschrak furchtbar.
- Als ich nach Hause kam, wollte ich mich sofort an die Arbeit machen und
- die Briefe entziffern -- denn bei Licht sehe ich nicht gut. Aber Mawra
- war gerade dabei, den Fußboden zu waschen. Diese dummen Finnländerinnen
- sind besonders immer dann reinlich, wenn man es nicht brauchen kann. So
- ging ich denn hinaus, um einen Spaziergang zu machen und das Geschehene
- zu überdenken. Endlich werde ich alles erfahren! Alle ihre Pläne und
- Intrigen, alle geheimen Triebfedern und werde alles ergründen. Diese
- Briefe werden mir alles enthüllen. Die Hunde sind ein kluges Volk, sie
- kennen die politischen Verhältnisse, und daher werde ich dort alles
- Wissenswerte über unsern Chef finden, das Porträt und die Machinationen
- dieses Mannes. Sicherlich wird auch einiges über _sie_ darin enthalten
- sein, das ... doch still, kein Wort mehr. Gegen Abend kam ich nach Hause
- und lag die meiste Zeit über auf dem Bett.
- Den 13. November.
- Nun wollen wir mal sehn! Der Brief ist ziemlich leserlich geschrieben.
- Doch aber liegt etwas Hündisches in der Handschrift. Wir wollen mal
- sehn:
- »Liebe Fidel! Ich kann mich noch immer nicht recht an deinen
- plebejischen Namen gewöhnen. Konnte man dir wirklich keinen besseren
- geben? Fidel, Rose -- wie vulgär das klingt! Aber lassen wir das
- jetzt beiseite, es freut mich sehr, daß wir beschlossen haben,
- einander zu schreiben.«
- Der Brief ist recht orthographisch geschrieben. Die
- Interpunktionszeichen sind immer auf ihrem richtigen Platze, und die
- Buchstaben sind nirgends verwechselt. Ja, ich glaube, daß selbst unser
- Abteilungschef nicht so korrekt schreiben kann, obgleich er behauptet,
- daß er die Universität besucht habe. Sehen wir weiter!
- »Mir scheint, eine der größten Freuden des Lebens ist, seine
- Gedanken, Gefühle und Eindrücke mit einem Freunde zu teilen.«
- Hm ... diesen Gedanken hat sie aus einem deutschen Aufsatz, der in
- russischer Sprache erschienen ist. Ich kann mich nicht auf den Titel
- besinnen.
- »Ich spreche aus Erfahrung, obgleich ich nicht weiter in der Welt
- herumgekommen bin, als bis vor unsere Haustür. Ist mein Leben nicht
- von Wohlstand umgeben? Mein Fräulein, das der Papa Sophie nennt,
- liebt mich grenzenlos.«
- O Gott, o Gott! Doch still, still! Kein Wort mehr!
- »Papa liebkost mich auch häufig. Ich trinke Tee und Kaffee mit
- Sahne. Ach, _ma chère_, ich muß Dir sagen, daß ich gar keine Freude
- an großen abgenagten Knochen habe, wie sie unser Polkan in der Küche
- zu fressen kriegt. Nur Wildpretknochen schmecken gut, und auch die
- nur, wenn das Mark noch darin ist. Es schmeckt auch sehr gut, wenn
- man mehrere verschiedene Saucen durcheinandermischt, nur dürfen
- keine Kapern und keine Gemüse darin sein; aber ich kenne nichts
- Schlimmeres, als die Gewohnheit, Hunden Brotkügelchen vorzusetzen.
- Da fängt irgendein Herr, der bei Tisch sitzt, und der schon
- allerhand Schund in seinen Händen gehalten hat, plötzlich an, mit
- diesen selben Händen Brot zu kneten, ruft Dich herbei und steckt Dir
- so eine Brotkugel zwischen die Zähne. Refüsieren darf man nicht --
- so frißt man es denn, obwohl es einen ekelt, aber man frißt es
- doch!«
- Weiß der Teufel, was das ist! So ein Blödsinn! Als ob es kein besseres
- Thema gäbe, über das man schreiben könnte. Wir wollen mal sehn, ob wir
- auf der anderen Seite nichts Vernünftigeres finden.
- ».... Ich bin gern bereit, Dich von allen Ereignissen zu
- unterrichten, die sich bei uns abspielen. Ich habe Dir schon einiges
- von der Hauptperson erzählt, die Sophie Papa nennt. Das ist ein sehr
- merkwürdiger Mensch ...«
- Endlich! Ich wußte es ja, sie haben einen politischen Blick für alle
- Dinge. Laß uns 'n mal sehn -- was der Papa tut:
- »... merkwürdiger Mensch. Er schweigt fast immer und spricht nur
- selten; aber vor einer Woche sprach er in einem fort vor sich hin:
- >Werde ich ihn bekommen oder werde ich ihn nicht bekommen?< Einmal
- wandte er sich sogar mit der Frage an mich: >Wie denkst du, Maggie,
- werde ich ihn bekommen, oder werde ich ihn nicht bekommen?< Ich
- konnte rein gar nichts verstehen, beschnüffelte seine Stiefel und
- schlich mich fort. Dann aber -- es ist jetzt eine Woche -- erschien
- Papa plötzlich hocherfreut, _ma chère_. Den ganzen Morgen lang
- gingen bei ihm uniformierte Herren ein und aus, die ihm alle zu
- etwas gratulierten. Bei Tisch war er so vergnügt, wie ich ihn nie
- zuvor gesehn, und er erzählte in einem fort Anekdoten.
- Nach dem Essen hob er mich zu sich empor, deutete auf seinen Hals
- und sagte: >Sieh mal, Maggie, was ist das?< Ich sah ein kleines
- Bändchen auf seiner Brust, roch daran, fand aber gar nicht, daß es
- gut duftete, schließlich leckte ich noch einmal daran: es schmeckte
- etwas salzig.«
- Hm, dieses Hündchen erlaubt sich, wie mir scheint, ein bißchen viel. Es
- soll sich in acht nehmen, daß es keine Prügel kriegt! ... So, er ist
- also ehrgeizig, das muß man sich merken!
- »Leb' wohl, _ma chère_. Ich eile usw., usw. Morgen will ich meinen
- Brief beenden.« --
- »Guten Tag, jetzt bin ich wieder bei Dir. Heute war mein Fräulein
- Sophie ...«
- Ah, nun wollen wir mal sehn, was mit Sophie los ist! Ach, so 'ne
- Gemeinheit ... Doch still, still! ... fahren wir fort.
- »..... mein Fräulein Sophie in großer Aufregung. Sie rüstete sich zu
- einem Ball, und ich war sehr erfreut, daß ich Dir in ihrer
- Abwesenheit schreiben konnte. Meine Sophie ist immer sehr froh, wenn
- sie einen Ball besuchen kann, obgleich sie sich beim Ankleiden fast
- immer ärgert. Wozu sich die Menschen eigentlich anziehn und warum
- laufen sie nicht so herum wie wir zum Beispiel? Es ist doch viel
- bequemer und angenehmer. Ich kann auch nicht verstehen, was das für
- ein Vergnügen ist, einen Ball zu besuchen. Sophie kommt von den
- Bällen stets erst gegen 6 Uhr morgens nach Hause, und ich glaube
- immer aus ihrem bleichen, elenden Aussehen zu erkennen, daß die
- Ärmste nicht genug zu essen bekommen hat. Ich muß gestehn, ich
- könnte nicht so leben. Wenn ich keine Sauce mit Rebhuhn und keine
- gebratenen Hühnerflügel bekäme, so wüßte ich nicht, was mit mir
- geschähe. Auch Sauce mit Brei schmeckt sehr gut. Dagegen Karotten,
- Rüben oder Artischocken, die schmecken nie gut.«
- Ein sehr ungleichmäßiger Stil. Man sieht doch gleich, daß dies kein
- Mensch geschrieben hat. Er fängt an, wie es sich gehört, und schließt
- wie ein Hund. Ich will mir doch noch einen weiteren Brief ansehen. Er
- ist zwar ein bißchen lang, und auch das Datum fehlt.
- »Ach, meine Liebe, wie fühlbar macht sich doch das Herannahen des
- Frühlings! Mein Herz klopft, als erwarte es etwas! In meinen Ohren
- klingt es unaufhörlich, so daß ich häufig minutenlang mit erhobenem
- Bein lauschend an der Tür stehe! Ich will Dir gestehn, daß ich viele
- Verehrer habe. Häufig betrachte ich sie, während ich gemächlich am
- Fenster sitze. Ach, wenn Du wüßtest, was es für Mißgeburten unter
- ihnen gibt! Der eine, ein plumper Köter, ist furchtbar dumm, die
- Borniertheit spricht ihm aus dem Gesicht, er stolziert wichtig auf
- der Straße einher und bildet sich ein, eine höchst bedeutende
- Persönlichkeit zu sein; er denkt wohl, daß sich alle so ohne
- weiteres in ihn verlieben werden. Aber keine Spur davon. Ich habe
- ihn gar nicht beachtet und tat so, als hätte ich ihn nie gesehn. Und
- was für eine fürchterliche Dogge da zuweilen vor meinem Fenster
- stehnbleibt! Wenn sie sich auf die Hinterbeine stellte, was das
- plumpe Tier sicherlich gar nicht kann, würde sie Sophies Papa, der
- doch auch ziemlich groß und dick ist, um Kopfeslänge überragen.
- Dieser Affe ist sicherlich ein schrecklicher Frechling. Ich knurrte
- ihn an, aber er kümmerte sich absolut nicht drum und verzog keine
- Miene, streckte nur seine Zunge heraus, wackelte mit seinen
- mächtigen Ohren und schaute in mein Fenster hinein! -- solch ein
- Bauer! Aber glaubst Du wirklich, _ma chère_, daß mein Herz
- unempfindlich ist für all dies Werben?! Ach, nein ..... Wenn Du nur
- den einen Kavalier gesehen hättest, der mitunter über den Zaun
- unseres Nachbars klettert -- er heißt Tresor -- oh, _ma chère_ --
- was der für ein Schnäuzchen hat!! ....«
- Pfui Teufel! .... Was für ein Blödsinn! .... Wie kann man nur ganze
- Seiten mit solchen Dummheiten anfüllen. Einen Menschen! Ich will einen
- Menschen sehn; mich verlangt nach geistiger Nahrung, die meine Seele
- speist und labt: und statt dessen diese Dummheiten ..... Doch ich will
- eine Seite überschlagen, vielleicht wird's besser!
- »... Sophie saß am Tisch und nähte etwas. Ich blickte zum Fenster
- hinaus, weil ich mir gern die Spaziergänger anschaue, als plötzlich
- der Diener hereintrat und Herrn Teplow meldete. >Ich lasse bitten!<
- rief Sophie und umarmte mich stürmisch. >Ach, Maggie, Maggie! wenn
- Du wüßtest, wer das ist: ein brünetter Kammerjunker! und Augen hat
- er! schwarz und klar wie Achat!< und Sophie lief in ihr Zimmer.
- Einen Augenblick später trat ein junger Kammerjunker mit einem
- schwarzen Backenbart herein; er näherte sich dem Spiegel, ordnete
- sein Haar und sah sich im Zimmer um. Ich knurrte und ging auf meinen
- Platz zurück. Sophie kam bald zurück und beantwortete seinen
- Kratzfuß mit einem fröhlichen Knicks; ich tat, als bemerke ich
- nichts und schaute ruhig aus dem Fenster, beugte aber meinen Kopf
- etwas zur Seite und versuchte zu hören, was sie sprachen. Ach, _ma
- chère_, was das für Banalitäten waren! Sie redeten davon, wie eine
- Dame beim Tanz anstatt des einen Pas einen anderen gemacht hätte,
- ferner, daß ein gewisser Robow mit seinem Jabot einem Storche
- außerordentlich ähnlich gesehen hätte und beinahe auf dem Parkett
- ausgeglitten und gefallen wäre. Schließlich erzählten sie noch, daß
- eine gewisse Lidina sich einbilde, sie habe blaue Augen, während sie
- in Wirklichkeit grün seien usw. Ich dachte mir, wie kann man nur
- diesen Kammerjunker mit Tresor vergleichen! Himmel! welch ein
- Unterschied! Erstens hat der Kammerjunker ein vollkommen glattes
- Gesicht, das von einem Backenbart eingerahmt ist, was so aussieht,
- als ob er sich ein schwarzes Tuch um den Kopf gebunden hat. Wie
- anders Tresor! Er hat ein ganz feines Schnäuzchen und mitten auf der
- Stirn einen kleinen weißen Fleck. Auch Tresors Taille ist
- unvergleichlich, viel schöner als die des Kammerjunkers. Auch seine
- Augen, seine Manieren und seine Bewegungen sind ganz anders. Welch
- ein Unterschied! Ich verstehe nicht, meine Liebe, was sie an ihrem
- Teplow gefunden hat, und warum sie so entzückt von ihm ist?! ...«
- Mir scheint auch, hier muß etwas nicht richtig sein. Es ist unmöglich,
- daß dieser Teplow sie so bezaubert hat. Ich will mal weiter sehn:
- »Mir scheint, wenn ihr schon dieser Kammerjunker so gefällt, wird
- sie bald auch an jenem Beamten Gefallen finden, der in Papas Zimmer
- sitzt. Ach, _ma chère_, wenn Du wüßtest, was das für ein Scheusal
- ist. Die reine Schildkröte, die man in einen Sack gesteckt hat ...«
- Was kann das wohl für ein Beamter sein?
- »Sein Familienname ist höchst seltsam. Er sitzt immer da und
- schneidet Federn. Die Haare auf seinem Kopf erinnern stark an einen
- Büschel Heu. Papa benutzt ihn mitunter statt des Dieners zu
- Botendiensten ...«
- Mir scheint, dieses garstige Hündchen spielt auf mich an! Habe ich denn
- Haare wie ein Heubüschel!
- »Sophie kann sich nur mit Mühe des Lachens enthalten, wenn sie ihn
- ansieht.«
- Du lügst, verfluchter Hund! Welche boshafte Zunge! Als ob ich nicht
- wüßte, daß dies alles vom Neid eingegeben ist, als ob ich nicht weiß,
- wer hier dahintersteckt. Das ist doch eine Intrige des Abteilungschefs!
- Dieser Mensch hat mir doch ewigen Haß geschworen -- nun schadet er mir
- bei jedem Schritt, den ich tue. Übrigens will ich mir noch einen Brief
- ansehn. Vielleicht klärt sich dann die Sache von selbst auf.
- »_Ma chère_ Fidel, verzeih', daß ich so lange nicht geschrieben
- habe. Ich war in einem Wonnerausch! Der Dichter hat wirklich recht,
- der gesagt hat, daß die Liebe das zweite Leben ist. Außerdem gehen
- große Veränderungen in unserem Hause vor. Der Kammerjunker besucht
- uns jetzt täglich. Sophie ist wahnsinnig in ihn verliebt. Papa ist
- sehr vergnügt. Ich habe sogar von unserem Grigorij gehört, -- der
- bei uns den Fußboden fegt und immer Selbstgespräche führt -- daß die
- Hochzeit bald stattfinden wird, denn Papa will durchaus, daß Sophie
- einen General oder einen Kammerjunker oder einen Militäroberst
- heiratet ...«
- Hol's der Teufel! ich kann nicht mehr lesen ... Immer irgendein
- Kammerjunker oder General. Alles Schöne, was es auf der Welt gibt --
- fällt immer den Kammerjunkern oder Generälen zu. Du findest irgendein
- elendes Ding, das dich glücklich machen könnte, und willst schon mit der
- Hand darnach greifen, da wird es dir von einem Kammerjunker oder einem
- General entrissen. Hol's der Teufel! ... Ich wünschte, ich würde selbst
- General; nicht um ihre Hand zu gewinnen usw. -- nein, ich wünschte nur
- deshalb, ich wäre General, um zu sehn, wie sie vor mir scharwenzeln und
- alle diese höfischen Verbeugungen und Equivoquen machen würden, und um
- ihnen dann sagen zu können, daß ich auf sie beide speie. Hol's der
- Teufel -- es ist aber doch ärgerlich! Ich habe die Briefe dieses dummen
- Hündchens in Stücke gerissen.
- Den 3. Dezember.
- Es kann nicht sein. Das sind Lügengespinste, die Hochzeit wird niemals
- stattfinden! Was liegt denn daran, wenn er auch Kammerjunker ist! Das
- ist doch nichts weiter als ein Titel und kein sichtbarer Gegenstand, den
- man in die Hand nehmen könnte. Weil er Kammerjunker ist, bekommt er doch
- kein drittes Auge auf der Stirn. Seine Nase ist doch auch nicht von
- Gold, sondern aus demselben Stoff wie die meine und die anderer
- Menschen! Er riecht doch und ißt nicht etwa mit ihr, und er niest und
- hustet nicht mit ihr. Ich wollte schon immer ergründen, woher diese
- Unterschiede stammen. Warum bin ich z. B. Titularrat und _wozu_ bin ich
- Titularrat? Vielleicht bin ich gar nicht Titularrat! Vielleicht bin ich
- ein Graf oder ein General und scheine nur Titularrat zu sein. Vielleicht
- weiß ich noch selbst nicht, wer ich bin. Es gibt doch in der Geschichte
- genug Beispiele dafür: irgendein ganz gewöhnlicher Mensch, der nicht
- einmal Edelmann, sondern ein simpler Bürger oder Bauer ist -- entpuppt
- sich plötzlich als hoher Würdenträger, Baron oder ... na, wie sagt man
- doch gleich? Wenn also schon ein Bauer so emporsteigen kann, was kann
- dann nicht erst aus einem Edelmann werden? Wie wär's z. B., wenn ich
- plötzlich in Generalsuniform erschiene: auf der rechten Schulter eine
- Epaulette und auf der linken Schulter eine Epaulette, und ein blaues
- Band über der Achsel -- was wohl meine Schöne da für Augen machen würde?
- Und was würde wohl erst unser Papa, unser Direktor dazu sagen? Oh -- er
- ist ein großer Streber! Er ist ein Freimaurer, unbedingt ein Freimaurer;
- wenn er sich auch verstellt, als sei er dieses und jenes, ich habe es
- doch gleich bemerkt, daß er Freimaurer ist. Wenn er einem die Hand
- reicht, streckt er einem nur zwei Finger entgegen. Ja -- warum sollte
- ich denn nicht jeden Augenblick zum Generalgouverneur, zum Intendanten
- oder zu so etwas Ähnlichem ernannt werden! Ich möchte wirklich gern
- wissen, warum gerade ich Titularrat bin? Warum gerade Titularrat?
- Den 5. Dezember.
- Heute habe ich den ganzen Tag über Zeitungen gelesen. Was für
- merkwürdige Dinge doch in Spanien vorgehen! Es war mir nicht einmal
- leicht, zu verstehen, was da vorgeht! Man schreibt, daß der Thron
- erledigt sei, und daß sich die Stände wegen der Wahl des Nachfolgers in
- einer sehr schwierigen Lage befinden, und daß deswegen sogar Unruhen
- ausgebrochen seien! Das scheint mit doch sehr sonderbar! Wie ist es nur
- möglich, daß ein Thron erledigt wird! Man sagt: eine Donna solle den
- Thron besteigen. Aber eine Donna kann doch keinen Thron besteigen. Das
- geht doch nicht! Auf dem Throne muß doch ein König sitzen. Ja aber,
- wendet man ein, es ist doch kein König da! Das kann aber doch nicht
- sein, daß kein König da ist! Ein Land kann nicht ohne König existieren.
- Ein König ist sicherlich da, aber er hält sich irgendwo verborgen. Es
- ist sehr möglich, daß er im Lande weilt, aber irgendwelche
- Familienverhältnisse oder Befürchtungen seitens der benachbarten Mächte,
- wie Frankreich und anderer, veranlassen ihn, sich zu verbergen -- oder
- gibt es vielleicht noch andere Gründe?
- Den 8. Dezember.
- Ich war schon im Begriff, in die Kanzlei zu gehn, aber verschiedene
- Gründe und Bedenken hielten mich zurück. Die spanischen Angelegenheiten
- wollen mir nicht aus dem Kopf. Wie ist es nur möglich, daß eine Donna
- König wird. Das wird man gar nicht zulassen! England wird zuerst dagegen
- Einspruch erheben! Auch die politische Lage Europas, der Kaiser von
- Österreich und unser Kaiser ... Ich muß sagen, diese Ereignisse haben
- mich dermaßen erschüttert und niedergeschmettert, daß ich den ganzen Tag
- zu nichts fähig war. Mawra machte mir gegenüber die Bemerkung, daß ich
- beim Essen sehr zerstreut gewesen sei. Sie hat ganz recht: ich habe in
- meiner Zerstreutheit sogar zwei Teller fallen lassen, daß sie
- zerbrachen. Nach Tisch ging ich spazieren, aber ich konnte nichts
- Interessantes entdecken. Ich lag meistens auf dem Bett und dachte über
- die spanischen Angelegenheiten nach.
- Im Jahre 2000, den 43. April.
- Der heutige Tag ist ein großer Jubeltag! Spanien hat wieder einen König!
- Er ist gefunden! Dieser König bin ich! Erst heute habe ich es erfahren.
- Ich muß gestehn, es erleuchtete mich wie ein Blitzstrahl. Ich begreife
- nicht, wie ich denken, wie ich mir einbilden konnte, ich sei ein
- Titularrat! Wie konnte sich dieser wahnsinnige, dieser aberwitzige
- Gedanke in meinem Hirn festsetzen! Nur gut, daß es damals niemand
- eingefallen ist, mich ins Narrenhaus zu sperren. Jetzt ist mir alles
- klar. Es liegt alles vor mir wie auf der flachen Hand. Früher dagegen --
- ich versteh' es nicht -- früher lag alles wie im Nebel vor mir. Ich
- denke, dies alles kommt daher, weil die Menschen glauben, daß das Gehirn
- des Menschen sich im Kopf befinde; dies ist gar nicht der Fall; in
- Wirklichkeit trägt es der Wind vom Kaspischen Meer her. Zuerst eröffnete
- ich Mawra, wer ich bin. Als sie vernahm, daß der spanische König vor ihr
- steht, schlug sie die Hände über dem Kopfe zusammen und starb fast vor
- Schreck. Die Dumme, sie hat noch nie einen spanischen König gesehn. Ich
- versuchte, sie zu beruhigen und ihr mit gnädigen Worten mein Wohlwollen
- auszudrücken, indem ich ihr erklärte, ich sei gar nicht böse auf sie,
- weil sie mir mitunter meine Stiefel so schlecht geputzt habe. Das sind
- doch einfache Leute. Mit ihnen kann man doch nicht über höhere Dinge
- reden. Sie war darum so erschrocken, weil sie in dem Glauben lebt, daß
- alle spanischen Könige Philipp II. ähnlich seien. Aber ich setzte ihr
- auseinander, daß Philipp und ich nichts Gemeinsames miteinander hätten,
- und daß ich keine Kapuziner bei mir habe. Ich ging heute nicht ins
- Departement. Hol' es der Teufel! Nein, meine Herren, jetzt kriegt ihr
- mich nicht mehr dahinein; ich denke nicht mehr daran, eure garstigen
- Papiere abzuschreiben!
- Den 86. Oktember zwischen Tag und Nacht.
- Heute erschien unser Exekutor, um mich aufzufordern, in die Kanzlei zu
- kommen; es ist schon bald drei Wochen, daß ich nicht in der Kanzlei war.
- Aber die Menschen sind ungerecht. Sie rechnen mit Wochen. Das haben die
- Juden eingeführt, weil sich ihr Rabbiner um diese Zeit wäscht! ... Ich
- ging aber zum Spaß ins Bureau. Der Abteilungschef dachte, ich würde ihn
- begrüßen und würde mich entschuldigen, aber ich sah ihn nur gleichgültig
- an, nicht zu böse, aber auch nicht zu freundlich, und ließ mich auf
- meinem Platz nieder, als bemerke ich niemand. Ich sah mir die ganze
- Kanzleisippe an und dachte bei mir: wie, wenn ihr wüßtet, wer mitten
- unter euch sitzt ... Gerechter Gott, was hätte sich da für ein Tumult
- erhoben! Ja, selbst der Abteilungschef würde sich dann so tief vor mir
- verbeugen, wie er es jetzt vor dem Direktor tut. Man legte ein paar
- Akten vor mich hin; ich sollte einen Exzerpt daraus machen. Doch ich
- rührte keinen Finger. Ein paar Augenblicke später entstand eine
- allgemeine Unruhe. Man rief: der Direktor kommt. Mehrere Beamten
- stürmten um die Wette hinaus, um sich ihm bemerkbar zu machen. Ich aber
- rührte mich nicht vom Flecke. Als er durch unsere Abteilung
- hindurchging, knöpften alle ihre Fräcke zu; aber ich tat nichts
- dergleichen. Was ist denn ein Direktor? Sollte ich etwa vor dem
- aufstehen? -- niemals! Was ist er auch für ein Direktor! Ein Stöpsel ist
- er, aber kein Direktor. Ein ganz gewöhnlicher Stöpsel -- ein simpler
- Stöpsel, und weiter nichts -- so einer, mit dem man Flaschen zukorkt. Am
- meisten Spaß machte es mir, als man mir ein Papier zur Unterschrift
- vorlegte. Sie glaubten sicherlich, ich würde ganz unten in einem Eckchen
- eine Unterschrift hinsetzen -- Tischvorsteher Soundso -- fiel mir ja gar
- nicht ein! Statt dessen signierte ich in der Mitte des Blattes, wo
- gewöhnlich der Namenszug des Departementdirektors prangt, mit kräftigen
- Zügen: »Ferdinand VIII.« Man hätte sehen müssen, was für ein
- ehrfürchtiges Schweigen entstand! Aber ich winkte nur mit der Hand und
- sagte: »Ich bedarf keiner Zeichen der Untertänigkeit« und ging hinaus.
- Von dort ging ich sofort in die Wohnung des Direktors. Er war nicht zu
- Hause. Der Bediente wollte mich nicht einlassen, aber ich herrschte ihn
- derartig an, daß er die Hände sinken ließ. Von dort schritt ich geradaus
- in ihr Ankleidezimmer. Sie saß vor dem Spiegel, sprang auf und tat einen
- Schritt zurück. Ich sagte ihr aber nicht, daß ich der König von Spanien
- bin. Ich sagte ihr nur, daß ihr ein so großes Glück bevorstehe, wie sie
- es sich wohl nicht träumen lasse, und daß wir trotz aller Intrigen
- unserer Feinde vereinigt bleiben würden. Mehr wollte ich auch nicht
- sagen und daher ging ich hinaus. Oh! welch ein heimtückisches Geschöpf
- ist doch das Weib! Erst jetzt habe ich begriffen, was das Weib ist!
- Bisher wußte noch niemand, in wen sie verliebt ist: ich bin der erste,
- der es entdeckt hat. Das Weib ist in den Teufel verliebt. Jawohl, ich
- scherze nicht. Die Physiker reden lauter Dummheiten, wenn sie sagen, sie
- sei dies und jenes. Sie liebt nur den Teufel. Schaun Sie nur hin: da
- sitzt sie in einer Loge im ersten Rang und hält sich die Lorgnette vor
- die Augen. Sie glauben, sie betrachtet jenen dicken Herrn mit dem Stern.
- Keineswegs! sie schaut nach dem Teufel, der hinter seinem Rücken steht.
- So -- jetzt hat er sich in seinen Frack verkrochen und winkt ihr von
- dort aus mit dem Finger. Sie wird ihn sicherlich heiraten -- ganz
- sicher. Und all diese Beamten und hohen Herren, ihre Väter, die überall
- herumscharwenzeln, sich an den Hof drängen und laut erklären, sie seien
- Patrioten und dies und jenes: sie wollen eine Leibrente haben, diese
- Herren Patrioten! Ihre Mutter, ihren Vater, ja selbst ihren Gott werden
- sie verkaufen, diese Judasse und Streber! Das macht alles der Ehrgeiz,
- und dieser Ehrgeiz kommt nämlich daher, weil sich unter der Zunge ein
- kleines Bläschen befindet; in ihm sitzt ein kleines Würmchen, so groß
- wie ein Stecknadelkopf, und das alles rührt von einem Bader her, der in
- der Erbsenstraße wohnt. Sein Name ist mir entfallen; aber es steht
- völlig fest, daß er gemeinsam mit einer Hebamme in der ganzen Welt den
- Islam verbreiten will, und daher soll in Frankreich, wie man sagt, schon
- ein großer Teil der Bevölkerung den mohammedanischen Glauben bekennen.
- Kein Datum, der Tag hatte kein Datum.
- Ich ging inkognito auf dem Newsky spazieren, da kam der Kaiser
- vorbeigefahren. Alles zog den Hut und ich auch; ich ließ mir's jedoch
- nicht merken, daß ich der König von Spanien bin. Ich hielt es nicht für
- angemessen, mich hier, vor dem Publikum, zu erkennen zu geben; vor allem
- muß ich mich bei Hofe vorstellen. Ich habe damit gezögert, weil ich bis
- jetzt noch kein spanisches Nationalkostüm habe. Ich müßte mir wenigstens
- einen spanischen Mantel verschaffen. Ich wollte mir schon beim Schneider
- einen bestellen -- aber diese Kerls sind ja die reinen Esel, und dazu
- kommt noch, daß sie sich gar nicht für ihre Arbeit interessieren, sie
- wollen nur Geschäfte machen, ihre Haupttätigkeit ist, die Straßen zu
- pflastern. Ich habe beschlossen, mir den Mantel aus meinem neuen
- Uniformrock, den ich erst zweimal getragen habe, machen zu lassen. Aber
- damit ihn mir diese Lumpen nicht ruinieren, habe ich mich dahin
- entschieden, ihn mir selbst zu nähen, und zwar hinter verschlossenen
- Türen, damit es niemand sieht. Ich habe ihn ganz aufgetrennt und mit
- einer Schere zerschnitten -- weil der Schnitt ja ganz anders sein muß.
- Des Datums erinnere ich mich nicht,
- der Monat war auch ausgeblieben,
- weiß der Teufel, was da los war.
- Der Mantel ist vollständig fertig. Mawra schrie auf, als ich ihn
- umlegte. Dennoch kann ich mich noch nicht entschließen, mich bei Hofe
- vorzustellen. Bis jetzt ist die Deputation aus Spanien noch nicht
- angekommen. Ohne Deputation aber geht es wohl nicht. Auch würde mein
- hoher Rang so nicht zur Geltung kommen. Ich erwarte die Deputation von
- Stunde zu Stunde.
- Den Ersten.
- Ich bin ob der Saumseligkeit der Deputierten aufs höchste erstaunt! Was
- für Gründe mögen sie aufgehalten haben! Doch nicht am Ende Frankreich?
- Ja, das ist die unfreundlichste unter allen Mächten. Ich ging auf die
- Post und fragte, ob die spanischen Deputierten noch nicht eingetroffen
- wären; aber der Postmeister ist furchtbar dumm -- er weiß von nichts:
- »Nein,« sagt er, »hier sind keine spanischen Deputierten; wenn Sie aber
- einen Brief absenden wollen, so werden wir ihn gern zu der festgesetzten
- Taxe befördern.« Hol' ihn der Teufel! Was soll ich mit einem Brief! Ein
- Brief! So ein Unsinn -- Briefe schreiben nur Apotheker ..... Und auch
- das nur, nachdem sie ihre Zunge in Essig getunkt haben. Denn ohne dies
- wäre ihr ganzes Gesicht mit Flechten bedeckt.
- _Madrid_, den 30. Februarius.
- Da bin ich nun in Spanien! es ging so schnell, daß ich gar keine Zeit
- hatte, zu mir zu kommen. Heute früh erschienen die spanischen
- Deputierten bei mir, und wir stiegen alle zusammen in den Wagen. Ich
- wunderte mich sehr über die ungewöhnliche Geschwindigkeit. Wir fuhren so
- schnell, daß wir schon in einer halben Stunde die spanische Grenze
- erreicht hatten. Übrigens gibt es jetzt in ganz Europa Eisenschienen,
- und die Dampfer fahren sehr schnell. Spanien ist doch ein sonderbares
- Land. Als ich das erste Zimmer betrat, erblickte ich eine Menge
- Menschen, die alle rasierte Köpfe hatten. Ich erriet sofort, daß das
- Granden oder Soldaten waren, denn die pflegen dort ihre Köpfe zu
- rasieren. Das Benehmen des Reichskanzlers, der mich an der Hand führte,
- erschien mir jedoch sehr merkwürdig: er stieß mich in eine kleine Stube
- und sagte: »Bleib hier sitzen und wenn du noch einmal Lust verspüren
- solltest, dich König Ferdinand zu nennen, werde ich dir diese Späße
- schon ausprügeln.« Aber da ich wußte, daß er mich nur auf die Probe
- stellen wollte, gab ich eine verneinende Antwort, worauf mich der
- Kanzler zweimal auf den Rücken schlug, daß ich vor Schmerz beinah laut
- aufgeschrien hätte, aber ich nahm mich zusammen, da ich mich erinnerte,
- daß dies der Ritterschlag war, den man bei der Übernahme einer hohen
- Würde erhält -- in Spanien haben sich nämlich die alten Rittersitten
- noch erhalten. Als ich allein geblieben war, beschloß ich, an die
- Staatsgeschäfte zu gehen. Ich entdeckte, daß China und Spanien ein und
- dasselbe Land sind und nur aus Unwissenheit für zwei verschiedene
- Staaten gehalten werden. Ich rate daher jedem, Spanien auf ein Blatt
- Papier zu schreiben, wenn er China lesen will. Allein, das Ereignis, das
- morgen stattfinden soll, erfüllt mich mit Sorge. Morgen um 7 Uhr wird
- sich etwas Außerordentliches begeben: die Erde wird sich auf den Mond
- setzen. Auch der berühmte englische Chemiker Wellington schreibt
- hierüber. Ich muß gestehn, beim Gedanken an die außerordentliche
- Zartheit und Zerbrechlichkeit des Mondes fühlte ich eine große Unruhe in
- meinem Herzen. Der Mond wird doch gewöhnlich in Hamburg gemacht, und man
- muß sagen, er wird sehr schlecht gemacht. Ich wundre mich, daß sich
- England nicht darum kümmert. Er wird von einem lahmen Böttcher
- hergestellt, und man merkt gleich, daß der Kerl keine Ahnung vom Monde
- hat. Er benutzt dabei ein geteertes Seil und etwas Baumöl; daher auch
- dieser schreckliche Gestank, der sich überall auf der Erde verbreitet,
- daß man sich die Nase zuhalten möchte. Daher ist der Mond auch eine so
- zarte Kugel, daß keine Menschen auf ihm leben können und daß er nur noch
- von Nasen bewohnt wird. Darum können wir ja auch unsere Nasen nicht
- sehen, denn sie sind alle auf dem Monde. Als ich mir vorstellte, daß die
- Erde, diese schwere Masse, sich auf den Mond setzen und all unsere Nasen
- zu Mehl zermahlen könnte, ergriff mich solch eine Unruhe, daß ich
- schnell Schuhe und Strümpfe anzog und in den Saal des Reichsrats lief,
- um der Polizei Order zu geben, sie solle die Erde daran hindern, sich
- auf den Mond zu setzen. Die rasierten Granden, die ich in großer Zahl im
- Saale des Reichsrats versammelt fand, sind eine sehr intelligente
- Gesellschaft; als ich sagte: »Meine Herren! wir müssen den Mond retten,
- die Erde will sich auf ihn setzen!« da erhoben sich alle und stürzten
- alle fort, um meinen königlichen Willen auszuführen, ja, viele
- kletterten auf die Wand, um den Mond zu holen; aber in diesem Augenblick
- trat der große Kanzler herein. Als sie ihn erblickten liefen alle davon.
- Ich, der König, blieb allein da. Aber zu meinem größten Erstaunen schlug
- mich der Kanzler mit seinem Stock über den Rücken und trieb mich in mein
- Zimmer. So groß ist die Macht der spanischen Volkssitten.
- Im Januar desselben Jahres,
- der auf den Februar folgte.
- Ich kann noch immer nicht verstehn, was Spanien für ein merkwürdiges
- Land ist. Die Volkssitten und die Hofetikette sind hier ganz
- ungewöhnlich. Ich verstehe sie nicht, nein wirklich -- ich verstehe
- nichts mehr! Heute hat man mir den Kopf geschoren, obgleich ich aus
- Leibeskräften schrie und rief, ich wolle kein Mönch werden. Aber was
- dann mit mir geschah, als sie mir kaltes Wasser auf den Kopf tropfen
- ließen, das weiß ich nicht mehr. Solch eine Höllenpein habe ich noch nie
- gefühlt. Ich wäre fast rasend geworden, so daß sie mich nur mit Mühe
- bändigen konnten. Ich kann den Sinn dieser sonderbaren Sitte gar nicht
- verstehen. Das ist eine ganz dumme und sinnlose Sitte. Die Unvernunft
- der Könige, die diese Sitte noch immer nicht abgeschafft haben, ist mir
- unbegreiflich. Aller Wahrscheinlichkeit nach bin ich in die Hände der
- Inquisition gefallen, und ich fange an zu glauben, daß der, den ich für
- den Kanzler hielt, der Großinquisitor in eigener Person ist. Aber ich
- kann's nicht begreifen, daß der König der Inquisition verfallen konnte.
- Es ist zwar möglich, daß Frankreich, und besonders Polignac dahinter
- steckt. Oh, dieser Hund, dieser Polignac! Er hat geschworen, mir bis zu
- meinem Tode zu schaden. Und nun hetzt und hetzt er mich; aber ich weiß
- wohl, Freundchen, du wirst von England aufgereizt. Die Engländer sind
- große Politiker. Sie machen immer Kniffe und Winkelzüge. Das ist doch
- weltbekannt, wenn England eine Prise nimmt -- muß Frankreich niesen.
- Den 25.
- Heute kam der Großinquisitor wieder in mein Zimmer; aber als ich ihn aus
- der Ferne herankommen hörte, verkroch ich mich unter einen Stuhl. Wie er
- nun das Zimmer leer fand, fing er an zu schreien. Erst rief er:
- »Poprischtschin!« Ich gab keinen Laut von mir; hierauf rief er:
- »Aksentij Iwanow! Herr Titularrat und Edelmann!« Ich schwieg noch immer.
- »Ferdinand VIII., König von Spanien!« Ich wollte meinen Kopf vorstecken,
- dachte mir aber: »Nein, mein Lieber, du betrügst mich nicht, ich kenne
- dich jetzt, du wirst mir wieder kaltes Wasser auf den Kopf gießen.«
- Allein er erblickte mich und jagte mich mit dem Stock unter dem Stuhl
- hervor. Dieser verfluchte Stock tut doch verdammt weh! Übrigens hat mich
- eine Entdeckung, die ich heute gemacht habe, für alles entschädigt: ich
- habe nämlich bemerkt, daß es bei jedem Hahn ein Spanien gibt: es
- befindet sich unter den Federn, und zwar in der Nähe der Schwanzfedern.
- Der Großinquisitor verließ mich übrigens in sehr übler Laune und drohte
- mir irgendeine Strafe an. Aber ich achte nicht auf seinen ohnmächtigen
- Zorn, da ich weiß, daß er doch nur eine Maschine und zwar ein Instrument
- in Händen Englands ist.
- D-34-en sten. Mon. des Jah. im Februar 349.
- Nein, ich kann's nicht länger ertragen! Mein Gott, was fangen sie mit
- mir an! Sie gießen mir kaltes Wasser auf den Kopf! Sie achten meiner
- nicht, sie sehen und hören nicht auf mich! Was habe ich ihnen getan?
- Warum quälen sie mich so? Was wollen sie von mir Armem? Was könnte ich
- ihnen geben? Ich habe ja selbst nichts! Ich habe keine Kraft mehr, ich
- kann diese Qualen nicht ertragen, mit denen sie mich quälen, mein Kopf
- brennt mir, und alles dreht sich vor meinen Augen! Oh! rettet mich!
- Bringt mich fort von hier! gebt mir ein Dreigespann schnellfüßiger
- Rosse, die dahinstürmen wie ein Wirbelwind! steig ein, mein Wagenlenker!
- läute, läute, mein Glöcklein, stürmt vorwärts, ihr meine Rosse, und
- tragt mich fort aus dieser Welt! Weiter, immer weiter, damit ich nichts
- von alledem, nichts, gar nichts mehr sehe. Sieh! da ballt der Himmel
- sich vor mir zusammen, ein Sternchen funkelt in der Ferne. Der Wald mit
- seinen dunkeln Bäumen zieht mondbestrahlt an mir vorüber. Grauer Nebel
- breitet sich zu meinen Füßen, und eine Saite tönt in ihm. Rechts das
- Meer und links Italien. Sieh, da tauchen Rußlands Hütten vor mir auf!
- Ist das mein Vaterhaus, dort in der blauen Ferne? Sitzt nicht dort mein
- Mütterchen am Fenster? O Mutter, Mutter, rette deinen armen Sohn! Lass
- eine Träne auf seinen kranken Kopf fallen! blick' hin, wie sie ihn
- quälen! drück' ihn ans Herz, den armen Verwaisten! es ist kein Platz für
- ihn auf dieser Welt! man hetzt, man verfolgt ihn. Mutter erbarme dich
- deines kranken Kindes ... Aber wissen Sie eigentlich schon, daß der Bei
- von Algier eine Warze unter der Nase hat?
- Aufsätze aus Puschkins »Zeitgenossen« (»_Sowremennik_«)
- I
- Über die Strömungen in der Zeitschriftenliteratur
- der Jahre 1834-1835
- Die Zeitschriftenliteratur, diese lebendige, frische, geschwätzige,
- feinfühlige Literaturgattung, ist ebenso notwendig für die Wissenschaft
- und die Kunst, wie die Verkehrsmittel für einen Staat, und wie die
- Messen und die Börsen für den Handel und die Kaufmannschaft. Sie leitet
- und lenkt den Geschmack der Menge, setzt alles in Umlauf und bringt
- alles in Verkehr, was sich in der Bücherwelt ans Licht wagt und was ohne
- sie in der einen wie in der anderen Beziehung nur totes Kapital wäre.
- Sie stellt den schnellen, eigenwilligen Austausch aller Anschauungen,
- das lebendige Wechselgespräch alles dessen dar, was unter der
- Buchdruckerpresse hervorkommt; ihre Stimme ist die wahre Repräsentantin
- der Ansichten einer ganzen Epoche und eines Jahrhunderts, solcher
- Ansichten, die ohne sie ungehört verhallen würden. Sie ergreift und
- zieht mit Absicht oder selbst, ohne es zu wollen, neun Zehntel alles
- dessen in ihr Bereich, was Eigentum der Literatur wird. Wie viele Leute
- gibt es nicht, die nur deshalb reden, kritisieren und Urteile fällen,
- weil alle diese Urteile ihnen schon beinahe fertig zugetragen werden,
- und die von sich aus nie eine Ansicht geäußert, über etwas geredet oder
- etwas kritisiert hätten! Und daher hat die Zeitschriftenliteratur
- jedenfalls ein Recht auf unsere größte Aufmerksamkeit.
- Vielleicht hat sich der Mangel einer journalistischen Betätigung und
- einer lebendigen modernen Bewegung bei uns seit langem nicht so deutlich
- bemerkbar gemacht, wie in den zwei letzten Jahren. Der größte Teil
- unserer Zeitschriften zeichnete sich durch eine große Farblosigkeit aus.
- Viele von den alten Journalen waren eingegangen, andere vegetierten matt
- und langsam weiter, neue erschienen nicht, außer etwa der
- »Lesebibliothek« und dem neueren »Moskauer Beobachter«, obgleich sich
- gerade um diese Zeit ein allgemeines Bedürfnis nach geistiger Nahrung
- fühlbar machte, und die Zahl der Leser um ein bedeutendes zugenommen
- hatte. So arm diese Epoche auch war, sie hat dasselbe Anrecht auf unsere
- Aufmerksamkeit, wie vielleicht eine solche voller Leben und Bewegung,
- denn sie gehört in gleicher Weise unserer Literaturgeschichte an. Die
- Leser hatten völlig recht, wenn sie sich über die Dürftigkeit und Armut
- unserer Zeitschriften beklagten: »Der Telegraph« hatte schon längst den
- scharfen Ton nicht mehr, der durch seine feindliche Stellung gegenüber
- den Petersburger Journalen bedingt war. »Das Teleskop« war mit Aufsätzen
- angefüllt, denen es an jeder Frische und lebendigen Aktualität fehlte.
- Um diese Zeit entschloß sich der Buchhändler Smirdin, der sich schon
- längst durch seine Regsamkeit und Gewissenhaftigkeit bekannt gemacht
- hatte, all seine kurzsichtigen Kollegen durch seine Unternehmungslust
- beschämte und durch seine Wirksamkeit eine gewisse Bewegung in den
- Buchhandel gebracht hatte, zu der Herausgabe einer großen allumfassenden
- Zeitschrift; dazu wollte er sämtliche Literaten, die es in Rußland gab,
- gewinnen und sie veranlassen, sich an seinem Unternehmen zu beteiligen.
- Der Prospekt umfaßte nahezu alle Namen unserer russischen
- Schriftsteller. Der Professor der arabischen Literatur, Herr Ssenkowski,
- erklärte sich bereit, die Leitung der Zeitschrift zu übernehmen. Herr
- Gretsch, der bereits seit langem als Herausgeber zweier Journale, der
- »Nordischen Biene« und des »Sohnes des Vaterlandes« bekannt war, wurde
- ihm als Redakteur zur Seite gestellt. Wir wissen nicht, ob sie sich
- dieser Sache freiwillig annahmen, oder ob Herr Smirdin sie durch sein
- Bitten dazu bewogen hatte; wie dem auch sei, jedenfalls war man im
- allgemeinen darüber einig, daß der Buchhändler ein wenig unvorsichtig
- vorgegangen sei. Da er eine so große Anzahl von Literaten für seine
- Zeitschrift gewonnen hatte, hätte er die Wahl eines Redakteurs ihrem
- Gutachten überlassen müssen. Überdies ließen alle Beteiligten eine sehr
- wichtige Frage außer acht: sollte die Zeitschrift auf einen bestimmten
- Ton abgestimmt sein, sollte sie eine bestimmte, im voraus festgelegte
- Richtung vertreten oder sollte sie ein Sammelplatz aller möglichen
- Anschauungen und Meinungen werden? Die Antwort, die die Zeitschrift auf
- diese Frage gab, war sehr zweifelhaft; wie gewöhnlich erklärte sie, die
- Kritik werde sehr wohlwollend und unparteiisch sein und sich jeder
- persönlichen Invektiven und unvornehmer Allüren enthalten; ein
- Versprechen, das jeder Journalist abzugeben pflegt. Aber schon mit dem
- Erscheinen des ersten Heftes überzeugte sich das Publikum sofort, daß
- die Zeitschrift durch den Ton, die Meinung und die Gedanken »eines
- einzelnen« beherrscht wurde, und daß die Namen der Schriftsteller, deren
- glänzende Reihen eine halbe Seite des Titelblatts einnahmen, nur
- leihweise ausgeborgt worden waren, um eine größere Zahl von Abonnenten
- anzulocken.
- Der Buchhändler Smirdin tat seinerseits alles, was das Publikum _von
- ihm_ zu erwarten berechtigt war. Die Ehrlichkeit, die ihn immer
- ausgezeichnet hatte, bewies er auch wieder bei der Herausgabe der
- Zeitschrift. Die Zeitschrift erschien mit ungewöhnlicher Pünktlichkeit:
- am Ersten jedes Monats erhielten die Abonnenten einen so dicken Band
- zugesandt, wie ihn ehedem keine von unseren Druckereien in zwei Monaten
- hätte herstellen können. Statt der angekündigten achtzehn Bogen gab er
- manchen Monat doppelt so viele. Sehen wir nun aber zu, ob auch die
- Männer, denen er die innere Organisation der Zeitschrift anvertraut
- hatte, ihre Pflicht erfüllten. Die Hauptperson, der _Spiritus rector_
- der ganzen Zeitschrift war Herr Ssenkowski. Der Name des Herrn Gretsch
- war nur _pro forma_ mit herangezogen; jedenfalls war nichts davon zu
- merken, daß er an der Sache beteiligt war. Herr Gretsch ist schon seit
- langem der unvermeidliche Ehrenredakteur jeder neubegründeten
- Zeitschrift: wie man gewöhnlich einen würdigen, älteren Herrn
- auffordert, bei allen Hochzeiten den Brautvater zu spielen. Aber was für
- ein Ziel hatte die Redaktion dieser Zeitschrift im Auge, welches Problem
- beabsichtigte sie zu lösen? Hier werden wir unwillkürlich nachdenklich,
- und ebenso wird es wohl auch dem Leser ergehen. Herr Ssenkowski hat im
- Programm nichts davon gesagt, was er sich für ein Ziel gesteckt habe und
- welche Richtung er einzuhalten gedenke; nur das eine war für alle klar
- ersichtlich, daß er sich sozusagen unbemerkt in die erste Nummer
- einschlich, um sich am Ende des Bandes ganz als Herr im Hause zu
- gebärden.
- Übrigens darf man sich hierüber nicht beklagen: vielleicht ist ein
- gewisser scharfer Ton, und sogar eine gewisse Frechheit für den
- Journalisten unentbehrlich, was wir freilich keineswegs billigen,
- obgleich es uns bekannt ist, daß ein Journalist durch derartige
- Eigenschaften im Urteil der Menge immer nur gewinnt. Worauf aber
- richtete dieser neue Herr seine besondere Aufmerksamkeit? welch ein
- Gedanke beherrschte bei ihm alle anderen? wofür hatte er eine besondere
- Vorliebe? war etwas zu merken von jenen unverrückbaren Grundsätzen, ohne
- die ein Mensch charakterlos wird, die ihm eine gewisse Originalität
- verleihen und die seine Physiognomie bestimmen?
- Wenn man alles, was er in dieser Zeitschrift veröffentlicht hat,
- durchliest, wenn man allen Worten, die er sagt, tiefer nachgeht, so kann
- man sich unwillkürlich einer gewissen Verwunderung nicht erwehren: was
- hat das zu bedeuten? was veranlaßt diesen Mann zum Schreiben? Wir sehen
- einen Menschen vor uns, der sich sein Geld keineswegs ohne Gegenleistung
- erwirbt, der im Schweiße seines Angesichts arbeitet, der sich nicht nur
- um seine eigenen Aufsätze kümmert, sondern auch die fremden korrigiert
- und verbessert -- mit einem Wort: einen Menschen, der unermüdlich tätig
- ist. Wozu dient nun diese ganze Tätigkeit? Sehen wir uns einmal den
- Leiter der Zeitschrift, wie er sich uns in den verschiedenen Gattungen
- seiner literarischen Werke darstellt, näher an, und sagen wir dann
- einige Worte über die Haupteigenschaften seiner Aufsätze, denn das ist
- durchaus und in jeder Beziehung eine Notwendigkeit.
- Herr Ssenkowski tritt in seiner Zeitschrift auf als Kritiker, als
- Erzähler, als Gelehrter, als Satiriker, als Verkünder der neuesten
- Ereignisse usw. usw., und zwar unter den Namen Brambeus, Morosow,
- Tjutjundschu Oglu, A. Belkin und endlich in eigner Person. Als Gelehrter
- hat Herr Ssenkowski einen recht umfangreichen Aufsatz über die Sagen
- verfaßt -- einen Aufsatz, der voller Hypothesen ist, und zwar nicht
- seiner eigenen, sondern solcher, die er auf gut Glück bei der flüchtigen
- Lektüre einiger Bücher aufgelesen hat; diese Hypothesen gehören nicht
- der russischen Geschichte an. Diese Sagen, die der scharfsinnige
- Schlözer, der bis jetzt in bezug auf die Strenge und die Tiefe seines
- kritischen Blicks nicht seinesgleichen gesunden, für Märchen erklärt
- hat, die keine Beachtung verdienen, diese Sagen macht Herr Ssenkowski
- zum Ecksteine der russischen Geschichte, ohne auch nur _einen_ Beweis
- dafür anzuführen, der der Kritik standhält; es fällt ihm nicht ein,
- ihren einzigartigen, wahren Wert festzustellen. Die Sagen sind poetische
- Erzeugnisse eines Volkes, das eine große Rolle in der Geschichte
- gespielt hat. Dieser Aufsatz, der voll theoretischer Figuren ist, hat
- vielen braven, aber ein wenig beschränkten Leuten gefallen, und Herr
- Bulgarin hat sogar eine Rezension über ihn geschrieben, in der er Herrn
- Ssenkowski noch über Schlözer, Humboldt und alle Gelehrten stellt, die
- jemals existiert haben. Ein anderer Gegenstand, auf den Herr Ssenkowski
- sich sehr viel einbildet, und der sein eigentliches Steckenpferd ist,
- ist der Orient. Hier hat er schon von jeher seine Stimme erhoben, und
- sobald irgendein Artikel über den Orient erschien, oder dieser irgendwo
- erwähnt wurde, und sei es auch nur in einem Gedicht, wurde er zornig und
- behauptete, der Autor könne kein Urteil über den Orient haben, er dürfe
- nicht über ihn urteilen, denn er kenne den Orient gar nicht. Man
- verzeiht einem Menschen, der in seinen Gegenstand verliebt ist und der
- erkennt, wie wenig die anderen ihn verstehen, gern ein Wort der
- Empörung; aber dieser Mensch muß doch wenigstens eine anerkannte
- Autorität sein. Herr Ssenkowski hätte tatsächlich etwas über den Orient
- veröffentlichen sollen. Einem Menschen, der noch nichts geleistet hat,
- glaubt man nicht so leicht aufs Wort, besonders wenn seine Urteile so
- leichtfertig und vom Geist der Unduldsamkeit erfüllt sind; übrigens
- findet man in seinen kleinen Aufsätzen über den Orient dieselben Fehler,
- die er beständig bei anderen tadelt. In diesen Aufsätzen sagt er
- tatsächlich nichts Neues über den Orient -- da findet man auch nicht
- einen kräftigen Zug, keinen großen Gedanken, ja nicht einmal eine
- geniale Vermutung! Es läßt sich nicht leugnen, daß Herr Ssenkowski ein
- großes Wissen hat; im Gegenteil, man merkt sofort, daß er viel gelesen
- hat; aber man spürt nirgends etwas von jener bewegenden, alles
- beherrschenden Kraft, die ihn auf ein bestimmtes Ziel hin dirigiert.
- Dieses ganze Wissen ist in einer Art Gärung begriffen, eins widerspricht
- dem andern und verträgt sich nicht mit dem andern. Untersuchen wir
- einmal seine Ansicht über die moderne schöne Literatur. In seinen
- Kritiken läßt Herr Ssenkowski einen vollständigen Mangel an einer festen
- Anschauung erkennen, so daß keiner seiner Leser mit Bestimmtheit zu
- sagen vermöchte, was dem Rezensenten am besten gefällt, wovon seine
- Seele ergriffen ward, woran er Geschmack findet: er verrät in seinen
- Rezensionen _weder einen positiven noch einen negativen Geschmack --
- sondern gar keinen_. Das, was ihm heute gefällt, wird morgen zur
- Zielscheibe seines Spotts. Er war der erste, der Herrn Kukolnik neben
- Goethe gestellt hat, um dann zu erklären, er hätte dies nur aus einer
- gewissen Laune heraus getan. Folglich sind seine Rezensionen nicht die
- Frucht seiner Überzeugung oder seines Gefühls, sondern nur das Produkt
- von Stimmungen und Verhältnissen. Walter Scott, dieses große Genie,
- dessen unsterbliche Werke ein so umfassendes und vollendetes Bild des
- Lebens geben, Walter Scott wurde von ihm ein Charlatan genannt. Und das
- mußte Rußland lesen -- das wurde zu Leuten gesagt, die bereits eine
- gewisse Bildung besaßen und die Walter Scott gelesen hatten. Man darf
- überzeugt sein, daß Herr Ssenkowski das unabsichtlich und nur aus
- Übereilung gesagt hat, denn er hat sich noch nie viel darum gekümmert,
- was er sagt, und er weiß im folgenden Artikel schon nicht mehr, was er
- im vorhergehenden geschrieben hat.
- In seinen Analysen und Kritiken sprach Herr Ssenkowski auch niemals von
- dem inneren Charakter des Werkes, das er gerade untersuchte; nie gab er
- eine genaue und präzise Bestimmung seines wahren Wertes: seine Kritik
- bestand entweder in einem bedingungslosen Lob, in dem der Rezensent sich
- von Herzen an seinen eigenen Phrasen berauschte, oder in einem Tadel,
- aus dem eine seltsame Bitterkeit sprach. Sie drehte sich um lauter
- Kleinigkeiten und beschränkte sich darauf, zwei oder drei Sätze zu
- zitieren und sie dem Spott und Hohn preiszugeben. Nie wurde etwas davon
- erwähnt, was sich der Schriftsteller in seinem Werke für eine Aufgabe
- gestellt, wie er sie ausgeführt, und wenn er sie nicht ausgeführt hatte,
- wie er sie hätte ausführen sollen. Vor allem aber beschäftigte sich Herr
- Ssenkowski mit allerhand literarischem Unrat und einer großen Menge
- aller möglichen seichten Bücher -- über sie machte er sich lustig, ergoß
- er seinen Spott und ließ bei dieser Gelegenheit jenem Witz freien Lauf,
- der einigen Lesern so wohl gefällt. Schließlich erhob er sogar ein
- großes Geschrei wegen der zwei Fürwörter »dieser« und »jener«, die ihm
- aus einem unbekannten Grunde mit dem Geiste der russischen Sprache
- unvereinbar schienen. -- Über diese zwei Fürwörter schrieb er ganze
- Traktate, und alle Aufsätze, die er über irgendein Thema verfaßte,
- schlossen immer damit, daß die Fürwörter »dieser« und »jener« durchaus
- zu verwerfen wären. Dies erinnerte an den alten Prozeß Tredjakowskis
- gegen den Buchstaben y (_is hiza_) und das i (den zehnten Buchstaben des
- russischen Alphabets), eine Sache, die erst vor kurzem von einem
- Professor von neuem aufgenommen wurde. Ein Buch, in dem Herr Ssenkowski
- diesen beiden Wörtlein begegnete, wurde feierlich als schlecht
- geschrieben abgelehnt.
- Seine eigenen Werke, seine Erzählungen und dergleichen erschienen unter
- der Firma Brambeus. Diese Erzählungen und Aufsätze in Form von
- Erzählungen fielen allgemein auf durch ihre sklavische und übertriebene
- Nachahmung moderner französischer Autoren, besonders weil Herr
- Ssenkowski die ganze zeitgenössische französische Literatur schlecht zu
- machen suchte. Es ist unbegreiflich, wie wenig Scharfsinn er in diesem
- Fall entwickelte und für wie einfältig er seine Leser hielt. Außerdem
- ist es ganz unverständlich, weshalb er einigen seiner Aufsätze das
- Prädikat »phantastisch« verlieh. Ein absoluter Mangel an Wahrheit, Natur
- und Wahrscheinlichkeit genügt noch nicht, um das Prädikat »phantastisch«
- zu rechtfertigen. Die phantastischen Werke des Barons Brambeus erinnern
- an jene Bücher, die einige Zeit lang in großer Menge erschienen, wie
- etwa das folgende: »Wenn's dir nicht paßt, so hör' nicht zu, doch stör'
- mich nicht im Lügen« und ähnliche. Hier finden wir dieselbe
- Leichtfertigkeit, ja, der Autor macht nicht einmal den Versuch, seine
- Gedanken zu rechtfertigen. Erfahrene Leser wollen oft eine ganze Reihe
- von Entlehnungen entdeckt haben, die sich der Autor in der Eile und in
- der Hast, mit der er weiterstürmte, gestattete; er kümmerte sich nur
- wenig um ihren Zusammenhang, und so verlor das, was im Original noch
- einen Sinn hatte, in der Kopie jegliche Bedeutung.
- Dies waren die Tätigkeit und die Leistungen des Leiters der
- »Lesebibliothek«. Wir hielten es für nötig, etwas ausführlicher auf sie
- einzugehen, da er in der »Lesebibliothek« Alleinherrscher war, und weil
- seine Ansichten sich mit großer Geschwindigkeit zugleich mit den
- viertausend Exemplaren des Journals über das ganze Rußland verbreiteten.
- Eine Zeitschrift, die mit den vom Buchhändler Smirdin zur Verfügung
- gestellten Mitteln herausgegeben wurde, konnte unmöglich ganz schlecht
- sein. Sie hatte schon den großen Vorzug, daß jede Nummer einen großen
- Umfang hatte und als dicker Band erschien. Das war eine angenehme
- Neuerung für die Abonnenten, besonders für die Bewohner unserer Städte
- und die Gutsbesitzer auf dem Lande. Die »Bibliothek« brachte mitunter
- interessante Aufsätze aus ausländischen Zeitschriften, und in dem
- lyrischen Teile begegnete man den Namen der Leuchten unseres russischen
- Parnasses. Am besten aber war stets die Rubrik »Vermischtes«, die eine
- bunte Menge der neuesten Neuigkeiten enthielt. Dieser Teil hatte etwas
- Lebendiges und echt Journalistisches. Die schöne Prosaliteratur, sowohl
- die Originale wie die Übersetzungen, die Erzählungen usw. ließen auf
- wenig Geschmack und wenig Verständnis bei der Auswahl schließen. In der
- »Lesebibliothek« pflegte auch etwas vorzukommen, was bis dahin in
- Rußland unerhört war. Der Leiter korrigierte und arbeitete fast alle
- Aufsätze um, die in ihr zum Abdruck kamen, und merkwürdigerweise gestand
- er das ganz kühn und offen ein: »Bei uns in der >Lesebibliothek<
- herrscht ein anderes Prinzip als bei anderen Zeitschriften,« erklärte er
- einmal, »wir behalten keine Erzählung in ihrer ursprünglichen Form bei,
- alle werden umgearbeitet, zuweilen ziehen wir zwei, zuweilen auch drei
- zu einer zusammen, und die Aufsätze gewinnen außerordentlich durch
- unsere Umarbeitungen.« Solch eine seltsame Bevormundung war bisher in
- Rußland nicht üblich.
- Viele Schriftsteller fingen an zu fürchten, das Publikum könne Aufsätze,
- die häufig ganz ohne Unterschrift erschienen, oder mit fingierten Namen
- gezeichnet waren, für Arbeiten von ihnen halten, und zogen sich deshalb
- von der Mitarbeit an dieser Zeitschrift zurück. Die Zahl der Teilnehmer
- schmolz so zusammen, daß die Herausgeber bereits im zweiten Jahre keine
- lange Liste von Namen aufstellen konnten, sondern nur dunkel andeuteten,
- daß sie die besten Schriftsteller zu ihren Mitarbeitern zählten, ohne
- sie jedoch zu nennen. Und obgleich die Zeitschrift weder ihr Format noch
- auch ihr Wesen änderte, wurden doch die Aufsätze merklich schlechter:
- ein gewisser Mangel an Sorgfalt machte sich fühlbar. Schon wurde die
- »Bibliothek« in den Hauptstädten weniger gelesen, in der Provinz dagegen
- fand sie noch denselben Absatz, und die in ihr vertretenen Anschauungen
- verbreiteten sich ebenso rasch. Wenden wir uns jetzt zu den anderen
- Zeitschriften.
- »Die Nordische Biene« brachte alle offiziellen Nachrichten und erfüllte
- in dieser Beziehung ihre Aufgabe. Sie enthielt politische Mitteilungen
- und die neuesten Nachrichten des Aus- und Inlands. Ihr Redakteur, Herr
- Gretsch, erreichte bei ihrer Leitung eine hohe Stufe der Pünktlichkeit
- und Gewissenhaftigkeit, sie erschien immer zur rechten Zeit; in
- literarischer Hinsicht aber fehlte es ihr an jeder festen und bestimmten
- Note und sie ließ keine starke Hand erkennen, die den in ihr vertretenen
- Anschauungen eine bestimmte Richtung gab. Das war eine Art Korb, in den
- ein jeder hineinwarf, was ihm gerade in den Sinn kam. Die
- Bücherrezensionen, die fast immer wohlwollend waren, wurden von den
- Freunden und mitunter von den Schriftstellern selbst geschrieben. In der
- »Nordischen Biene« erprobten mancherlei anonyme Autoren, die sich hinter
- verschiedenen Buchstaben versteckten, die Schärfe ihrer Federn -- ohne
- Zweifel noch recht junge Leute, denn in ihren Aufsätzen machte sich ein
- erhebliches Maß von Keckheit bemerkbar. Meist richteten sie ihre
- Angriffe auf Leute, die sich gar nicht verteidigen konnten, und auf arme
- hilflose Waisen. Auch las man da allerhand geistreiche Bosheiten, die
- sich übrigens alle ziemlich ähnlich sahen und gegen allerhand unsaubere
- Publikationen richteten. Das Wesen dieser Rezensionen bestand gewöhnlich
- darin, daß man das Buch nach allen Richtungen lobte und dann zum Schluß
- alle Verantwortung mit den Worten ablehnte: »Übrigens wäre es
- wünschenswert, daß der verehrte Herr Autor einige kleine stilistische
- und sprachliche Fehler verbessere« oder »Ein gutes Buch verlangt auch
- eine gute Ausstattung« und dergleichen, woraufhin sich der Verfasser des
- rezensierten Buches gewöhnlich gekränkt fühlte und sich über die
- Parteilichkeit des Kritikers beklagte. Die Bücher wurden häufig von
- denselben Rezensenten besprochen, die Berichte über die Eröffnung einer
- neuen Tabaksfabrik in der Hauptstadt, über Pomoden usw. schrieben; diese
- Berichte waren mitunter sehr geistreich, und die darin enthaltenen Witze
- ließen auf wohlerzogene Leute schließen, die ohne allen Zweifel gute
- Gründe hatten, mit den Fabrikbesitzern zufrieden zu sein. Übrigens
- konnte man von der »Nordischen Biene« auch nicht mehr verlangen; dies
- war eine stets pünktlich erscheinende, alljährliche Affiche, ihre
- Aufgabe bestand darin, das Publikum einzuladen, das Urteil aber überließ
- sie dem Leser selbst.
- Die Zeitschrift, die den Titel der »Sohn des Vaterlandes« und das
- »Nördliche Archiv« trug, blühte die ganze Zeit über im Verborgenen.
- Niemand sprach von ihr, niemand berief sich auf sie, trotzdem aber
- erschien sie regelmäßig einmal die Woche und war auf ihrer Rückseite ein
- so ungeheures Programm abgedruckt, wie man es schwerlich noch
- irgendwoanders finden wird. Der »Sohn des Vaterlandes« (so versprach das
- Programm) würde Aufsätze über Archäologie, Medizin, Jurisprudenz,
- Statistik, russische Geschichte, allgemeine Geschichte, russische
- Literatur, ausländische Literatur und endlich noch über Literatur
- überhaupt, über Geographie, Ethnographie usw., eine historische Galerie
- usw. bringen. Manch ein Leser wird die Hände zusammenschlagen, wenn er
- ein solch fürchterliches Programm liest, und meinen, dies wäre die
- gewaltigste Enzyklopädie gewesen, die es je in der Welt gegeben hat.
- Aber keine Spur davon: statt dessen erschien ein mageres, dünnes
- Büchlein im Umfang von drei Bogen, das meist mit einem Aufsatz über
- irgendeine Krankheit begann, der nicht einmal von Medizinern gelesen
- wurde. Kritische Aufsätze und gar solche von lebendigem aktuellem Inhalt
- gehörten keineswegs zu den gewöhnlichen Erscheinungen. Die politischen
- Nachrichten dieser Zeitschrift bestanden in denselben trockenen Fakten
- aus der »Nordischen Biene« und waren infolgedessen schon alle bekannt.
- Dazwischen kamen auch recht merkwürdige Originalerzählungen zum Abdruck;
- sie waren ungeheuer kurz und völlig farblos. Und selbst wenn dann einmal
- etwas Bemerkenswertes darunter vorkam, so blieb es doch gänzlich
- unbeachtet. Die Namen der Redakteure, der Herren Bulgarin und Gretsch,
- prangten nur auf dem Titelblatt, und es gab nichts, was darauf
- hindeutete, daß sie wirklich an der Herausgabe mit beteiligt waren.
- Trotzdem aber existierte das Journal nun einmal, also mußte es doch
- Leser und Abonnenten haben. Diese Leser und Abonnenten bestanden aus
- allerhand ehrenwerten, alten Herren, die in der Provinz lebten und die
- ebensosehr das Bedürfnis hatten, etwas zu lesen, wie nach dem
- Mittagessen ein Stündchen zu schlafen und sich zweimal wöchentlich
- rasieren zu lassen.
- Während dieser ganzen Zeit erschien in Petersburg noch eine rein
- literarische Zeitung, die sich gegen das Eindringen wissenschaftlicher
- Interessen und anderer ernster Beiträge zu schützen wußte; sie war weder
- politisch noch statistisch noch enzyklopädisch, sie trat für die alten
- Überlieferungen ein, hatte aber bei alledem einen besonderen Charakter.
- Diese Zeitung trug den Titel: »Literarische Beilage zum Invaliden«. In
- ihr erschienen kleine Erzählungen und Unterhaltungen ländlicher
- Gutsbesitzer über Literatur, diese waren häufig recht trivial,
- enthielten jedoch mitunter auch allerhand Bosheiten, die der Wahrheit
- sehr nahe kamen: der Leser bemerkte zu seiner Verwunderung, daß die
- Gutsbesitzer sich gegen Ende der Artikel in richtige Literaten
- verwandelten, die sich das Schicksal der modernen Literatur sehr zu
- Herzen nahmen und ihre Urteile mit ätzendem Spotte würzten. Diese
- Zeitschrift bekämpfte alle erfolgreichen Literaten, obwohl ihre ganze
- Taktik darin bestand, irgendeinen Passus zu zitieren, der auf eine
- gewisse Voreiligkeit, wie sie den Journalisten eigen ist, schließen
- läßt, und dann von sich aus eine recht boshafte Bemerkung hinzuzufügen,
- die nicht länger als eine Zeile und mit einem Ausrufungszeichen versehen
- war. Herr Wojeikow war ein eifriger Jäger; er saß wie ein Fischer mit
- seiner Angel am Ufer, ohne je die Geduld zu verlieren, obwohl meist nur
- kleine Fische auf seinen Köder anbissen, während sich die großen wieder
- losrissen und ins Wasser zurückschwammen. Man fühlte deutlich, daß der
- Redakteur eine wahrhafte literarische Ader besaß; sein Blick war stets
- mit nie erlahmender Aufmerksamkeit auf das journalistische Getriebe
- gerichtet. Ich weiß nicht, ob seine Zeitung viele Leser hatte,
- jedenfalls aber verdiente sie es, daß man hin und wieder einen Blick in
- sie warf.
- In Moskau erschien nur eine Zeitschrift: »Das Teleskop« mit einer
- kleinen Beilage von einigen Seiten, unter dem Namen »Fama«; diese
- Zeitschrift, die zu Anfang sehr lebhaft einsetzte, flaute jedoch sehr
- schnell ab und bildete ein buntes Gemisch von allerhand Artikeln ohne
- jede literarische Bedeutung. Es war augenfällig, daß die Herausgeber
- sich nicht die geringste Mühe gaben und die einzelnen Nummern auf gut
- Glück und ohne jede Sorgfalt erscheinen ließen.
- Das Monopol, das die »Lesebibliothek« an sich gerissen hatte, mußte alle
- übrigen Zeitschriften an ihrer empfindlichen Stelle treffen. Aber die
- »Nordische Biene« wurde von demselben Herrn Gretsch herausgegeben,
- dessen Name eine Zeitlang auf dem Titelblatt der »Bibliothek« stand,
- deren Chefredakteur er angeblich war, obgleich dies Amt, wie wir schon
- gesehen haben, nur ein Ehrentitel war; es war daher nur natürlich, daß
- die »Nordische Biene« alles, was in der »Bibliothek« erschien, loben und
- ihren wahren _Spiritus rector_, der unter einer Reihe von Decknamen
- schrieb, einen russischen Humboldt nennen konnte. Aber auch ohne dies
- wäre diese Zeitschrift wohl kaum als kräftige Gegnerin in Betracht
- gekommen, da sie von keinem einheitlichen Willen geleitet wurde; die
- verschiedenen Literaten blickten dort nur hin und wieder, wenn sie es
- gerade nötig hatten, hinein. Auch der »Sohn des Vaterlandes« mußte
- nachsprechen, was die »Biene« sagte. Und so konnten nur zwei
- Zeitschriften gegen seine Anschauungen Front machen. Herr Wojeikow nahm
- in der »Literarischen Beilage« einen Anlauf zur Opposition; aber diese
- Opposition bestand lediglich in kleinen Bemerkungen über allerhand
- journalistische Schnitzer und in ein paar glücklichen Witzen, die sich
- in wenigen kurzen Worten und in einem Spott äußerten, der von einzelnen
- Literaten sehr gut verstanden, von den Uneingeweihten aber kaum bemerkt
- wurde. Niemals ließ er eine ausführliche und gründliche Kritik
- erscheinen, die die Richtung der neuen Zeitschrift in irgendeiner Weise
- kennzeichnete. »Das Teleskop« arbeitete in Gemeinschaft mit der »Fama«,
- und zwar gegen die »Lesebibliothek«, aber es tat dies ohne jede Energie,
- Ausdauer und ohne die dazu notwendige Geduld und Kaltblütigkeit. Seine
- kritischen Aufsätze waren oft von Ärger über einen glücklichen Neuling
- erfüllt; es spottete über den Barontitel des Herrn Ssenkowski, machte
- einige richtige Bemerkungen über sein seltsames Kopieren der
- französischen Schriftsteller, traf aber nicht den Kern der Sache. In der
- »Fama« wiederholten sich dieselben Anspielungen auf Herrn Brambeus, und
- zwar oft in der Analyse völlig belangloser Werke. Außerdem schadete sich
- »Das Teleskop« außerordentlich durch das verspätete Erscheinen der
- Nummern und die mangelnde Sorgfalt, mit der es redigiert wurde; und so
- kam es, daß seine kritischen Artikel noch weniger verbreitet waren.
- Es ist klar, daß die Kräfte und Mittel dieser Zeitschriften gegenüber
- der »Lesebibliothek« kaum in Betracht kamen, die unter ihnen wie ein
- Elefant unter winzigen Vierfüßlern erschien. Der Kampf war zu ungleich,
- und, wie es scheint, zog man nicht in Erwägung, daß die »Lesebibliothek«
- gegen fünftausend Abonnenten hatte, daß die von ihr vertretenen
- Anschauungen selbst in solche Gesellschaftskreise drangen, wo man noch
- nie etwas von der Existenz des »Teleskops« und der »Literarischen
- Beilage« gehört hatte, und daß die Ideen und die in der »Lesebibliothek«
- erscheinenden Aufsätze von den Herausgebern derselben »Lesebibliothek«,
- die sich hinter verschiedenen Namen versteckten, aufs höchste gelobt und
- herausgestrichen wurden, und zwar mit einem Enthusiasmus, der seine
- Wirkung auf einen großen Teil des Publikums nie verfehlte; denn was dem
- Gebildeten lächerlich scheint, das nimmt der beschränkte Leser in all
- seiner Einfalt für bare Münze, und man konnte annehmen, daß bei der
- Abonnentenzahl der Bibliothek die Anzahl der letzteren weit größer war;
- dazu kommt, daß die meisten Abonnenten der »Lesebibliothek« Neulinge
- waren, d. h. solche, die früher noch keine Journale gelesen hatten und
- infolgedessen alles für die lauterste Wahrheit hielten, und daß endlich
- die »Lesebibliothek« eine starke Stütze in den viertausend Exemplaren
- der »Nordischen Biene« fand.
- Die Entrüstung über dies unerhörte Monopol wurde schließlich sehr stark.
- Endlich entschlossen sich einige Literaten in Moskau dazu, ihre eigene
- Zeitschrift herauszugeben. Diese neue Zeitschrift war eine Notwendigkeit
- nicht sowohl für das Publikum, d. h. für die größte Zahl der Leser, als
- vielmehr für die Literaten, die in verschiedenem Maße unter der
- »Bibliothek« zu leiden hatten. Sie war eine Notwendigkeit erstens für
- die, die einer Freistatt bedurften, in der sie ihre Anschauungen äußern
- konnten, denn die »Lesebibliothek« nahm keine kritischen Aufsätze auf,
- wenn sie nicht dem Geschmack des Chefredakteurs entsprachen, und
- zweitens für die, die zu ihrem Erstaunen erfahren mußten, wie der
- Redakteur die Hand an ihre eigenen Werke legte; denn Herr Ssenkowski war
- bereits so weit gelangt, daß er alle der Bibliothek eingesandten Artikel
- ohne Ansehen der Person ihrer Autoren einer Bearbeitung unterzog. Er
- korrigierte Aufsätze militärischen, historischen, literarischen,
- nationalökonomischen Inhaltes usw., und das tat er alles ohne jede böse
- Absicht, ohne sich weiter Rechenschaft abzugeben, oder sich dabei von
- einem Gefühl der Notwendigkeit und des Anstandes leiten zu lassen, ja,
- er dichtete sogar zu einer Komödie von Von-Wisin einen eigenen Schluß
- hinzu, ohne zu berücksichtigen, daß diese ja schon ohnedies einen Schluß
- hatte.
- Dies alles war für die Schriftsteller sehr peinlich, die kein einziges
- Organ hatten, in dem sie ihre Klagen vor der Welt und den Lesern
- vorbringen konnten.
- Aber schon allein das Gerücht von der Gründung eines neuen Journals rief
- die Empörung der »Lesebibliothek« wach und veranlaßte sie zu einem
- völlig unerwarteten Schritt: sie versicherte ihren Abonnenten und Lesern
- mit ungewöhnlichem Eifer, daß die neue Zeitschrift keineswegs gut
- gesinnt sei und einen streitsüchtigen Charakter haben würde. Ein
- Artikel, der bei dieser Gelegenheit in der »Nordischen Biene« erschien,
- war anscheinend von einem Menschen geschrieben, der voller Verzweiflung
- seinen vollständigen Zusammenbruch vor Augen sieht. In ihm wurde dem
- Publikum mitgeteilt, das neue Journal wolle die »Lesebibliothek«
- zugrunde richten, und dies nur deshalb, weil die Herausgeber erklärt
- hätten, sie würden eine gleiche Anzahl von Bogen erscheinen lassen wie
- die »Lesebibliothek«. Nicht wahr, ein sehr unvorsichtiges Vorgehen? In
- solch einem Falle muß man seine selbstischen Gefühle kunstvoll zu
- verbergen suchen und den richtigen Moment abwarten, um erst dann dem
- Gegner einen wohlgezielten Schlag zu versetzen. Weil ich eine
- Zeitschrift herausgebe, soll etwa darum ein anderer keine herausgeben
- dürfen? Und wie könnte ich zürnen, wenn mir jemand erklärt, er wolle
- mich zum Vorbild nehmen? Sollte ich ihm nicht vielmehr dankbar sein?
- Beweist er nicht gerade damit den hohen Grad von Achtung, den ich mir
- bei dem Publikum erworben habe? Je mehr Wetteifer, desto mehr Gewinn für
- die Leser und die Literaten.
- Aber sehen wir zu, in welchem Maße der »Moskauer Beobachter« die
- Erwartungen des nach Neuem lüsternen Publikums, die Hoffnungen der
- gebildeten Leser, die Erwartungen der Literaten und die Befürchtungen
- der »Lesebibliothek« rechtfertigte.
- Die neue Zeitschrift hatte, trotz aller ihrer eifrigen Bemühungen, sich
- überall bekannt zu machen, doch nicht die Mittel, ihr Erscheinen an
- allen Ecken und Enden Rußlands anzukündigen, da die einzigen Herolde und
- Verbreiter neuer Nachrichten seine Gegner, die »Nordische Biene« und die
- »Lesebibliothek« waren, die natürlich nie eine in wohlwollendem Ton
- gehaltene Anzeige über die neue Zeitschrift gebracht hätten. Sie begann
- auch erst spät zu erscheinen, nicht zu Beginn des neuen Jahres, also
- nicht zu der Zeit, wo gewöhnlich die Abonnements beginnen, und sie
- versäumte es, für ein regelmäßiges Erscheinen der Bände und ihre
- pünktliche Zustellung zu sorgen. Aber der Hauptgrund für den Mißerfolg
- lag doch im Charakter der Zeitschrift selbst. Schon aus den ersten
- Bänden, die zur Ausgabe gelangten, konnte man erkennen, daß die Gründung
- der Zeitschrift nur die Folge einer leidenschaftlichen Wallung war. Auch
- dem »Moskauer Beobachter« fehlte es an einer starken Triebfeder, die die
- ganze Zeitschrift im Gange hielt. Der Redakteur ließ sich nur auf dem
- Titelblatt sehen. Sein Name war fast völlig unbekannt. Bis dahin hatte
- er nur einige wertvolle statistische Aufsätze geschrieben, die indessen
- das rein literarisch gebildete Publikum gar nicht kannte. Seine
- literarische Richtung war unbekannt. Das war ein großer Fehler der
- Herausgeber des »Moskauer Beobachters«. Sie hatten vergessen, daß der
- Redakteur immer eine hervorragende Persönlichkeit sein muß. Das ganze
- Ansehen einer Zeitschrift ruht auf ihm, auf der Originalität seiner
- Anschauungen, der Lebhaftigkeit seines Stils, auf seiner Sprache, die
- allgemeinverständlich und immer unterhaltend sein muß, sowie auf der
- Frische einer unermüdlichen Wirksamkeit. Aber Herr Androssow trat im
- »Moskauer Beobachter« kaum merkbar hervor. Wenn die Herausgeber die
- Absicht hatten, einen Redakteur an die Spitze des Blattes zu stellen,
- der nur seinen Namen dazu hergab, wie das bei der allgemeinen Trägheit,
- die bei uns in Rußland herrscht, üblich geworden ist, dann hätten sie
- die redaktionelle Arbeit unter sich verteilen müssen. Aber sie
- überließen dem Redakteur die ganze Verantwortung, und der »Moskauer
- Beobachter« glich bald einem jener gelehrten Vereine, deren Mitglieder
- überhaupt gar nichts tun, ja nicht einmal zu den Sitzungen erscheinen,
- während sich der Präsident jeden Tag einfindet, in seinem Lehnstuhl
- Platz nimmt und das Protokoll dieser spärlich besuchten Sitzung abfassen
- läßt. Immerhin enthielt die Zeitschrift ein paar recht gute Aufsätze und
- Gedichte von Jasikow und Baratinski; diese Juwelen unserer russischen
- Literatur gereichten ihr zur höchsten Zierde, dennoch aber spürt man in
- der Zeitschrift nichts von dem Puls des modernen Lebens oder von einer
- regen und bewegten Tätigkeit; auch fehlte es ihr an jener
- Mannigfaltigkeit, an der es einem periodisch erscheinenden Blatte nicht
- fehlen darf. Die wertvollen Aufsätze, die in dieser Zeitschrift
- erschienen, glichen wenigen grünen Oasen, die aus einem ganzen Meer
- sandiger Steppen auftauchten. Auch schienen die Herausgeber nur geringe
- Kenntnis davon zu haben, was dem Publikum gefällt und was nicht. Oftmals
- verfielen auch gute Aufsätze der Langenweile, nur weil sie sich durch
- mehrere Nummern hinzogen und stets mit der Unterschrift versehen waren:
- »Fortsetzung folgt«. Dies war die Zeitschrift, die die Aufgabe hatte,
- den Kampf mit der »Lesebibliothek« aufzunehmen.
- Der »Beobachter« begann mit einem oppositionellen Aufsatz von Schewyrew
- über die Handelsgeschäfte, wie sie in unserer Literatur aufgekommen
- waren. Der Autor zog gegen den Handelsgeist in unserer Gelehrtenwelt zu
- Felde, d. h. gegen das allgemeine Bestreben, sich aus der literarischen
- Arbeit eine Erwerbsquelle zu schaffen. Der Hauptfehler dieses Aufsatzes
- lag darin, daß der Autor seine Aufmerksamkeit nicht auf den Kernpunkt
- richtete. Sodann donnerte er gegen alle, die für Geld schreiben, ohne
- jedoch die Anschauungen des Publikums über den inneren Wert der Ware zu
- widerlegen. Dieser Artikel war nur den Literaten verständlich, bereitete
- der »Lesebibliothek« ein Ärgernis, bot jedoch dem Publikum keinerlei
- Belehrung, das nicht einmal begriff, um was es sich handelte. Außerdem
- war dieser Ausfall sogar völlig unberechtigt, da er sich gegen ein
- unverbrüchliches Gesetz jeglicher Tätigkeit richtete. Die Literatur
- mußte sich in ein Handelsunternehmen verwandeln, weil die Zahl der Leser
- und das Bedürfnis nach Lektüre gewachsen war. Es ist nur natürlich, daß
- in solch einem Fall die unternehmungslustigen Menschen, ohne viel
- Talent, stets im Vorteil sind, wie bei jedem Handelsgeschäfte; wo ein
- gewandter und geriebener Kaufmann einem einfältigen Käufer
- gegenübersteht, trägt der erstere den Gewinn davon. Man mußte darauf
- hinweisen, worin der Betrug besteht, und nicht die Höhe der Gewinne
- abschätzen. Es ist noch kein Unglück, daß ein Literat sich ein
- einträgliches Haus oder ein paar Pferde anschafft; das Schlimme ist nur,
- daß dem armen Volk schlechte Ware geliefert wurde, und daß es sich noch
- etwas auf diese Ware zugute tut. Herr Schewyrew hätte die Aufmerksamkeit
- auf die armen Käufer und nicht auf die Händler lenken müssen. Die
- Händler sind meist zugereiste Leute; heute sind sie hier und morgen sind
- sie weiß Gott wo. Bei dieser Gelegenheit bekam auch der Buchhändler
- Smirdin einen sehr ungerechten Vorwurf zu hören: dieser hatte sich
- nichts zuschulden kommen lassen und hätte für seinen Unternehmungsgeist
- und sein redliches Wirken nichts als Dankbarkeit verdient. Kein Zweifel,
- er hat manchen Leuten zuviel Freiheit gelassen, die sich lieber mit
- Handelsgeschäften als mit der Literatur hätten beschäftigen sollen. Das
- Talent kriecht nicht und schmeichelt nicht, wohl aber die Habgier. Sich
- hierüber zu beklagen, wäre ebenso komisch und seltsam, wie wenn man sich
- über die Regierung beklagen wollte, wenn man einmal einem kurzsichtigen
- Beamten begegnet. Für das Talent ist die Nachwelt da, dieser
- unbestechliche Juwelier, der nur reinen Brillanten eine Fassung gibt.
- Herr Schewyrew bewies in seinem Aufsatz zwar einen edlen Zorn gegen die
- prosaische und unwürdige Richtung in unserer Literatur, aber auf die
- Mehrzahl des Publikums machte dieser Artikel nicht den geringsten
- Eindruck. Die »Bibliothek« antwortete nur kurz und ganz nach der Art
- ihrer gewöhnlichen Taktik; sie wandte sich an die Zuschauer, d. h. an
- ihre Abonnenten, und sagte: »Seht, was für eine unvornehme Gesinnung
- Herr Schewyrew an den Tag gelegt hat, welchen Mangel an Anstand und an
- vornehmen Gefühlen, indem er uns beschuldigte, daß wir nur für Geld
- arbeiten, während wir doch ...« usw. Das ist die allgemeine Taktik
- unserer Petersburger Zeitschriften und Tagesblätter, sowie ihnen irgend
- jemand ihre Habgier und ihre Untätigkeit zum Vorwurf macht, beklagen sie
- sich sofort bei dem Publikum über die unanständige Ausdrucksweise und
- den unvornehmen Charakter ihrer Gegner und sie erklären, der betreffende
- Aufsatz sei nur geschrieben worden, um das Publikum zu reizen und ihm
- das Geld aus der Tasche zu locken. Und daher hielten sie es ihrerseits
- für ihre heilige Pflicht, das Publikum zu warnen.
- Und so kam es denn, daß der Ausfall des »Moskauer Beobachters« an der
- »Lesebibliothek« abprallte wie eine Flintenkugel am dicken Fell eines
- Nashorns, wobei der plumpe Vierfüßler nicht einmal nieste. Nachdem der
- »Moskauer Beobachter« seine Kugel abgeschossen hatte, hüllte er sich in
- Schweigen -- ein Beweis dafür, daß er noch gar keinen wohlüberlegten
- Aktionsplan entworfen hatte und absolut nicht wußte, wie und womit er
- anfangen solle. Man hätte entweder gar nicht anfangen sollen, oder, wenn
- man einmal begonnen hatte, nicht so bald wieder aufhören dürfen. Nur
- durch eine unablässige Tätigkeit hätte der »Beobachter« durchdringen und
- seinen Namen im Publikum bekannt machen können, wie das einstmals dem
- »Telegraph« gelungen war, der in der gleichen Weise und unter beinahe
- gleichen Verhältnissen gewirkt hatte. Der »Beobachter« ließ bald darauf
- noch einige Nummern erscheinen, ohne jedoch auch nur in einer etwas zur
- Verteidigung und zur Begründung seiner Anschauungen zu sagen. Endlich,
- nachdem schon mehrere Nummern erschienen waren, druckte er einen
- Aufsatz, der sich gegen Brambeus richtete und sich auf einen vor
- längerer Zeit in der »Bibliothek« abgedruckten Artikel bezog. Dieser
- Aufsatz hatte den Namen »Brambeus und die junge Literatur« getragen, und
- Brambeus hatte sich in ihr als Gesetzgeber und Schöpfer einer neuen
- Schule und als Führer einer neuen Epoche -- der russischen Literatur
- bezeichnet.
- Dies war allerdings sehr merkwürdig. Es ist ja schon vorgekommen, daß
- Literaten sich selbst gelobt haben, indem sie sich entweder den Namen
- ihrer Freunde beilegten, oder auch in ihrem eigenen Namen; aber wenn sie
- es taten, so geschah es immerhin mit einer gewissen Schamhaftigkeit,
- worauf sie es später selbst versuchten, die ganze Sache eigenhändig
- wieder zu vertuschen, da sie fühlten, daß sie sich etwas vergeben
- hatten. Noch nie aber hat ein Autor sich selbst so frei, so ungeniert
- gelobt, wie der Baron Brambeus. Dieser originelle Artikel war allzu
- aufsehenerregend, als daß er unbemerkt bleiben konnte. Das »Teleskop«
- nahm ihn sich vor und spottete recht kurzweilig aber freilich nur ganz
- flüchtig über ihn. Auch Herr Wojeikow wies mit seiner gewöhnlichen
- Schlauheit auf ihn hin, und schließlich hatte der Aufsatz auch einen
- Artikel im »Moskauer Beobachter« zur Folge. Der Zweck dieses Artikels
- war, den Beweis zu führen, aus welchen Quellen das Talent und die
- Berühmtheit des Barons Brambeus herstammen, welche Werke fremder Autoren
- er benutzt, als ob sie sein eigenes Eigentum wären, kurz, aus was für
- Lappen sich Baron Brambeus seinen Schlafrock zusammengeflickt hätte.
- Einige anonyme Bücher, die bald danach erschienen, brachten den
- »Moskauer Beobachter« in gänzliche Vergessenheit. Selbst die
- »Lesebibliothek« hörte schließlich auf, ihn noch weiter zu erwähnen, ein
- so ohnmächtiger Gegner war er geworden; sie fuhr nach wie vor fort, über
- Wichtiges und Unwichtiges zu scherzen, und schrieb über alles, was ihr
- gerade unter die Feder kam.
- Dies waren die Taten unserer Zeitschriften. Nachdem wir diese
- dargestellt, wollen wir zusehen, ob sie in diesen zwei Jahren etwas
- geleistet haben, was in der Geschichte der Literatur niedergelegt zu
- werden verdient oder ihr einen eigenartigen Zug aufzuprägen geeignet
- wäre, zu was für Anschauungen, was für Meinungsäußerungen sie den Grund
- gelegt, was sie festgestellt und welchem Gedanken sie Bürgerrecht
- verschafft haben. Ein langes Programm, das Aufsätze über Statistik,
- Medizin, Literatur usw. verspricht, hat gar keine Bedeutung. Die
- Ankündigung, daß die Kritik wohlwollend, frei von persönlicher
- Gehässigkeit und unparteiisch sein werde, bestimmt auch noch kein festes
- Ziel. Und doch sollte ein solches Ziel die notwendige Voraussetzung
- einer jeden Zeitschrift sein. Selbst die große Zahl der in ihr
- erscheinenden Aufsätze hat noch keine Bedeutung, wenn die Zeitschrift
- keine eigene Meinung hat, und wenn in ihr keine, und sei es nur eine
- einzige Richtung, zum Ausdruck kommt, die auf ein bestimmtes Ziel
- hinweist. Die Herausgabe des »Telegraph« hatte doch offenbar den Zweck,
- alle möglichen veralteten eingewurzelten, fast mechanisch gewordenen
- Gedanken unserer derzeitigen Verfechter des Alten und der Klassiker zu
- stürzen. Der »Moskauer Beobachter«, eine der besten Zeitschriften,
- obwohl in ihm nicht viel von einer modernen Bewegung zu spüren war,
- hätte die Aufgabe gehabt, das Publikum mit den hervorragendsten
- Schöpfungen Europas bekannt zu machen, den Kreis unserer Literatur zu
- erweitern und uns neue Vorstellungen über die Schriftsteller aller
- Zeiten und Völker zu vermitteln. Hier ist nicht der Platz, davon zu
- reden, inwieweit diese beiden Zeitschriften ihren Zweck erfüllt haben;
- zum mindesten konnten die Leser in ihnen ein solches Streben bemerken.
- Aber man sehe sich einmal die Zeitschriften, die in den zwei letzten
- Jahren erschienen sind, aufmerksam an; man versuche es, den
- Grundgedanken einer jeden festzustellen. Man wird vergeblich nach einem
- solchen Grundgedanken suchen. Wenn man einen der Bände aufschlägt, ist
- man erstaunt über die Armseligkeit und Belanglosigkeit der Gegenstände,
- die dort behandelt werden. Darnach könnte man meinen, in der
- literarischen Welt habe auch nicht ein einziges wichtiges Ereignis
- stattgefunden. Und dennoch ist
- 1. der berühmte Schotte gestorben, der große Künder des Herzens, der
- Natur und des Lebens, dieser reichste, mannigfaltigste Genius des XIX.
- Jahrhunderts;
- 2. hat in der gesamten europäischen Literatur eine neue
- Geschmacksrichtung voller Unruhe, Erregung und Bewegung die Oberhand
- gewonnen. Es erschien eine Reihe unreifer, zusammenhangsloser
- jugendlicher Werke, die jedoch eine starke Begeisterung und eine
- mächtige Glut ausströmten: eine Folge der politischen Gärungen des
- Landes, in dem sie entstanden. Diese seltsame Literatur, unruhig wie ein
- Komet und ebenso unorganisch wie er, hat Europa lebhaft erregt und sich
- schnell bis an alle Enden der literarischen Welt verbreitet. Und
- wenngleich diese Erscheinungen einen universellen europäischen Charakter
- tragen, so haben sie doch auch auf Rußland einen Einfluß ausgeübt; aber
- fassen wir einmal die rein russischen literarischen Ereignisse ins Auge;
- 3. hat sich hier in hohem Maße die Lektüre von Romanen und trockenen,
- langweiligen Erzählungen verbreitet; zugleich machte sich eine
- allgemeine Gleichgültigkeit gegen die Poesie geltend;
- 4. erschienen neue Auflagen der Werke von Derschawin und Karamsin, die
- laut nach einer literarischen Kennzeichnung und nach einer wahrhaften,
- richtigen Bewertung verlangten, wie die aller übrigen älteren
- Schriftsteller; denn in der literarischen Welt gibt es keinen Tod, und
- die Toten greifen ebenso in unser Leben ein und handeln und wirken mit
- uns wie die Lebenden. Sie verlangten nach einer Rückerstattung dessen,
- was ihnen wirklich gebührt; sie forderten die Zurücknahme ungerechter
- Anklagen und falscher Wertschätzungen, die ganze Jahre hindurch und auch
- heute noch gedankenlos wiederholt werden.
- Aber haben denn unsere Zeitschriften auch -- auf Grund strenger
- Überlegung -- ausgesprochen, wer Walter Scott war, worin seine Wirkung
- bestanden hat, was die moderne französische Literatur bedeutet, unter
- welchen Bedingungen sie entstanden ist, woher sie stammt, was die
- Ursachen der falschen Geschmacksrichtung waren und worin ihr Wesen
- bestand; warum die Poesie von Prosawerken abgelöst wurde; auf welcher
- Bildungsstufe das russische Publikum steht, wer dieses russische
- Publikum ist, und was die Originalität und Eigenart unserer
- Schriftsteller ausmacht?
- Vergebens wird der Leser in dieser Richtung nach neuen Gedanken oder
- auch nur nach Spuren eines tiefen, gewissenhaften Studiums suchen.
- Auf Walter Scott hat man bei uns nur ein wenig geschimpft. Die
- französische Literatur wurde von den einen mit einem kindlichen
- Enthusiasmus aufgenommen; sie erklärten, die modernen Schriftsteller
- wären bis in die tiefsten Geheimnisse des menschlichen Herzens
- eingedrungen, die selbst einem Cervantes und Shakespeare verborgen
- geblieben wären; andere wieder schmähten sie, ohne selbst zu wissen
- warum, während sie selbst Werke im Geschmack dieser Schule schrieben,
- nur mit dem Unterschied, daß diese noch mehr Unsinn und mehr Torheiten
- enthielten. Die Frage: warum bei uns fade Romane und Erzählungen einen
- solchen Erfolg haben, hat keinen von ihnen beschäftigt, statt dessen
- brachten sie zu den schon existierenden noch ihre eigenen auf den Markt.
- Über unser Publikum sagten sie nur, es sei ein hochachtbares Publikum
- und es müsse sich auf alle Zeitschriften und alle möglichen Blätter
- abonnieren, denn diese könne ein jeder lesen: der Familienvater wie der
- Kaufmann, der Militär wie der Literat; über Derschawin, Karamsin und
- Krylow hatten sie gar nichts zu sagen, oder sie wiederholten einfach
- dasselbe, was ein Kreisschullehrer seinen Schülern erzählt, und halfen
- sich mit einem paar banalen Phrasen.
- Worüber schrieben also unsere Journalisten? Sie sprachen von den
- beliebtesten und nächstliegendsten Dingen, sie redeten von sich selbst,
- lobten in ihren Zeitschriften ihre eigenen Aufsätze, waren
- ausschließlich mit sich selbst beschäftigt und schenkten allen anderen
- Gegenständen höchstens eine kühle, leidenschaftslose Beachtung. Alles
- Große und Außerordentliche schien unsichtbar geworden zu sein. Ihre
- gleichgültige Kritik richtete sich auf Gegenstände, die kaum der Rede
- wert waren.
- Worin bestand nun der eigentliche Charakter dieser Kritik? Was in ihr am
- deutlichsten zum Ausdruck kam, war folgendes:
- 1. Eine starke Mißachtung der eigenen Meinung. Fast nie hatte man den
- Eindruck, daß der Kritiker seine Tätigkeit für etwas Wichtiges hielt,
- mit einem Gefühl der Ehrfurcht, und nachdem er sich die Sache zuvor
- überlegt hatte, an sie heranging; daß er, während er seine Feder führte,
- an die kleine Zahl seiner Zeitgenossen gedacht hätte, die eine höhere,
- edlere Bildung besaßen und vor denen er für jedes seiner Worte
- Rechenschaft ablegen mußte. Die Kritik in unseren Zeitschriften war
- meist eine Art Possenreißerei. Was tat man, wenn man das Buch eines
- Schriftstellers lobte, den man protegieren wollte? Man sagte nicht etwa
- einfach: »dieses Buch ist gut,« oder »es verdient in dieser und jener
- Hinsicht Anerkennung,« o nein: die Rezensenten erklärten, »dieses Buch
- ist wundervoll, ganz außergewöhnlich, es ist unerhört genial, es ist das
- beste russische Buch; es kostet fünfzehn Rubel, der Autor steht hoch
- über Walter Scott, Humboldt, Goethe und Byron. Kaufen Sie dies Buch,
- lassen Sie es sich einbinden und stellen Sie es in Ihre Bibliothek,
- kaufen Sie auch die zweite Auflage und stellen Sie sie gleichfalls in
- Ihre Bibliothek, es kann nie schaden, wenn man zwei Exemplare von einem
- guten Werk besitzt.« Der größte Teil der Bücher wurde ohne jede
- Überlegung und ganz kritiklos verherrlicht. Wenn man alle Bücher
- zusammenzählen wollte, die als erstklassig angepriesen wurden, so könnte
- wohl jemand glauben, es gäbe in der ganzen Welt keine reichere Literatur
- als die russische; wenn ihn nicht -- freilich erst nach einiger Zeit --
- die widersprechenden Urteile derselben Rezensenten über dieselben Werke
- nachdenklich und stutzig machen müßten. Und dieselbe Maßlosigkeit trat
- in den abfälligen Urteilen über Werke von Autoren hervor, die sich den
- Haß oder die Abneigung des Kritikers zugezogen hatten. Und so ergoß sich
- sein Zorn ebenso rückhaltslos, indem er einem momentanen Gefühl nachgab.
- 2. Der literarische Unglaube und die literarische Unbildung. Diese
- beiden Eigentümlichkeiten haben sich in der letzten Zeit in unserer
- Literatur besonders verbreitet. Nie findet man den Namen von
- Schriftstellern erwähnt, die ihre Laufbahn bereits vollendet haben, und
- die, von der Sonne des Ruhmes umstrahlt, von ihrer Höhe auf uns
- herabblicken. Kein Rezensent hat seine Augen ehrfürchtig zu ihnen
- erhoben und ihnen Beachtung geschenkt. Fast nie begegnet man den Namen
- eines Derschawin, Lomonossow, Von-Wisin, Bogdanowitsch, Batjuschkow usw.
- auf den Seiten unserer Zeitschriften. Nie hört man was über ihren
- Einfluß, der auch heute noch fortdauert und sich heute noch bemerkbar
- macht. Nie werden sie zur Vergleichung mit der heutigen Epoche
- herangezogen. Es ist, als wäre unserem Zeitalter die Wurzel
- abgeschnitten, als gäbe es keinen Ursprung, von dem wir herstammten, und
- als gäbe es für uns keine Geschichte unserer Vergangenheit. Diese
- literarische Unbildung verbreitet sich hauptsächlich unter den jüngeren
- Rezensenten, so daß unsere zeitgenössische, kritische Literatur wie
- etwas Fremdes, Angeschwemmtes erscheint. Ein, zwei Jahre vergehen, und
- die Reden, die anfänglich ziemlich laut und rege waren, verstummten und
- verhallten wie ein Ton ohne Resonanz oder wie eine Phrase, die auf dem
- gestrigen Ball fiel. Die Namen der Schriftsteller, die ihren Ruhm längst
- fest begründet, und die Namen derer, die erst nach einem solchen
- streben, sind zu einem bloßen Spielzeug geworden. Der eine Rezensent
- richtet die wieder auf, die sein Gegner fallen gelassen hat, und das
- alles geschieht ohne jede Kritik ganz gedanken- und ideenlos. Häufig
- verdankt ein Name seinen Ruhm dem Streit zweier Rezensenten. Von den
- Schriftstellern unseres Vaterlandes wird nicht geredet, dafür beginnt
- jeder Rezensent, selbst wenn er über ein ganz unbedeutendes, belangloses
- Buch schreibt, unbedingt mit Shakespeare, den er nie gelesen hat. Es ist
- heutzutage eben Mode, von Shakespeare zu reden -- also her mit dem
- Shakespeare! Er erklärt: »Wir wollen das vorliegende Buch von folgendem
- Gesichtspunkt aus betrachten. Sehen wir zu, inwieweit unser Autor mit
- Shakespeare übereinstimmt,« und dabei ist das Buch, das analysiert
- werden soll, -- ein barer Unsinn, der ohne jegliche Absicht, mit
- Shakespeare zu rivalisieren, geschrieben ist, und höchstens mit dem
- Geist und der Ausdrucksweise des Rezensenten selbst Ähnlichkeit hat.
- 3. Der Mangel an einer rein ästhetischen Genußfähigkeit und an
- Geschmack. In den Moskauer Journalen findet man noch hin und wieder
- einen gewissen Geschmack oder eine Art Liebe zur Kunst, die Kritik der
- Petersburger Zeitschriften, besonders die der sogenannten »anständigen«
- dagegen ist außerordentlich dürftig. Die besprochenen Werke werden hoch
- über die Byrons, Goethes usf. erhoben. Aber nirgends gewinnt der Leser
- den Eindruck, daß dies der Ausfluß eines Gefühls, ein Zeichen des
- Verständnisses ist, daß es aus der Tiefe einer dankerfüllten,
- tiefergriffenen Seele hervorquillt. Ihr Stil ist trotz seiner äußeren
- oft verschnörkelten, glänzenden Prunkhaftigkeit von einer ertötenden
- Kälte. Nur dann merkt man ihm eine gewisse Lebhaftigkeit und einen
- leidenschaftlichen Schwung an, wenn sich der Rezensent an einer wunden
- Stelle getroffen, wenn er sich in seiner persönlichen Würde getroffen
- fühlt. Die Gerechtigkeit verlangt, daß wir hier die Kritiken von
- Schewyrjow erwähnen, die eine lobenswerte Ausnahme bilden. Er teilt uns
- seine Eindrücke in der Form mit, wie seine Seele sie aufnimmt. Aus
- seinen Aufsätzen spricht stets ein Mensch, der nachdenkt, ja, der sich
- mitunter vom ersten Eindruck fortreißen läßt.
- 4. Die Kleinheit der Gedanken und ein kleinliches Prahlen. Wir haben
- schon gesehen, daß die Kritik sich nie mit bedeutenden Fragen
- beschäftigte. Die Aufmerksamkeit der Rezensenten war stets auf eine
- ganze Reihe inhaltsloser Bücher gerichtet, nicht etwa deshalb, um sie zu
- analysieren, sondern um die Liebenswürdigkeit des Kritikers zu beweisen
- und die Leser zum Lachen zu bringen. In wie hohem Maße die Kritik mit
- allerhand Torheiten und albernen Streitereien beschäftigt war, konnten
- die Leser bereits aus dem berühmten Prozeß gegen die beiden armen
- Fürwörter »_dieser_ und _jener_« ersehen. So weit also ist es allmählich
- mit der russischen Kritik gekommen!
- Wer aber waren denn die, die bei uns über die Literatur redeten? Während
- dieser Zeit ließen weder Schukowski, noch Krylow, noch Fürst Wjasemski
- ihre Meinung hören, auch die, die noch vor kurzer Zeit eine Zeitschrift
- herausgegeben hatten, die in mancherlei Aufsätzen ihre eigene Stimme
- erhoben und einen eigenen Geschmack und wirkliche Kenntnisse an den Tag
- gelegt hatten, waren verstummt: kann man sich da noch über solche
- Zustände in unserer Literatur wundern?
- Warum schwiegen denn die Schriftsteller, die in ihren Werken ein echtes
- ästhetisches Gefühl offenbart hatten? Hielten sie es für unter ihrer
- Würde, in die Sphäre der Tagesliteratur hinabzusteigen, wo gewöhnlich
- allerhand Kämpfer laut miteinander im Streite liegen? Wir haben kein
- Recht, hierüber zu entscheiden. Wir wollen hier nur bemerken, daß eine
- Kritik, die von echtem Geschmack und einem tiefen Verstand geleitet
- wird, daß die Kritik eines hochbegabten Talentes gleichwertig ist mit
- jeder originalen Schöpfung: aus ihr lernen wir den Schriftsteller, den
- sie analysiert, und in noch höherem Maße den Kritiker selbst kennen. Die
- Kritik eines Talentes überlebt das ephemere Dasein einer Zeitschrift.
- Für die Geschichte der Literatur ist sie geradezu unschätzbar. Unsere
- Literaturgeschichte ist noch jung. Sie hat nur wenige Koryphäen
- hervorgebracht; aber für die Kritik eines Denkers bietet sie ein reiches
- Feld dar und Arbeit für viele Jahre. Unsere Schriftsteller haben sich
- eine völlig eigenartige Form geschaffen; trotz des gemeinsamen Zuges
- unserer Literatur, der Neigung zur Nachahmung, enthalten sie doch rein
- russische Elemente, ja selbst die Art, wie wir nachahmen, hat einen ganz
- besonderen nordischen Charakter an sich und stellt auch in der
- europäischen Literatur eine beachtenswerte Erscheinung dar. Aber genug
- davon. Wir wollen diese Ausführungen mit dem aufrichtigen Wunsch
- schließen, daß sich bei uns im kommenden Jahr eine lebhaftere Tätigkeit
- entwickeln, und bei einer größeren Anzahl von Zeitschriften die
- Abhängigkeit vom Monopol immer mehr verschwinden möge, auf daß dadurch
- bei allen ein lebhafterer Wetteifer entbrenne, ihre Bestimmung zu
- erfüllen. Zum mindesten macht sich schon heute darin ein tröstliches
- Streben bemerkbar, daß einzelne Zeitschriften versprechen, im kommenden
- Jahre der Herausgabe ihrer Bände mehr Sorgfalt zuzuwenden als früher.
- Die Verleger des »Sohnes des Vaterlandes« und des »Teleskop« haben von
- Verbesserungen gesprochen. Man kann kaum daran zweifeln, daß bei
- größerer Mühewaltung mehr geleistet werden kann. Jedenfalls begleiten
- wir unseren Wunsch mit herzlicher Aufrichtigkeit und der heißen
- Fürbitte: Möge das Streben aller und eines jeden einzelnen
- tausendfältige Frucht tragen; je uneigennütziger und gewissenhafter
- seine Tätigkeit sein wird, um so mehr wohlverdiente Anerkennung und
- Dankbarkeit möge ihm zuteil werden.
- II
- Petersburger Skizzen
- 1836
- I
- Seltsam -- wohin nur die Residenz Rußlands verschlagen ward --: Bis ans
- Ende der Welt. Ein merkwürdiges Volk, diese Russen. Einst besaßen sie in
- Kiew eine Hauptstadt, da war es zu heiß, da war es nicht kalt genug; und
- so siedelte denn die russische Residenz nach Moskau über -- doch nein,
- auch hier war's noch nicht kalt genug. Herrgott! Also her mit
- Petersburg! Aber wie wildfremd sind sich dafür auch Mutter und Sohn! Was
- für eine Landschaft! Was für eine Natur! Die Luft ist mit Nebel erfüllt,
- die blasse, graugrüne Erde ist mit verkohlten Baumstümpfen, Tannen,
- Kiefern und kleinen Erdhügeln bedeckt ... Noch gut, daß einen die
- blitzschnell vorüberfliegenden, schnurgeraden Chausseen und die
- russische Troika mit Sang und Klang wie im Sturmwind an ihnen
- vorbeitragen. Und welch ein Unterschied -- welch ein Unterschied
- zwischen den beiden. Moskau ist noch bis heute ein langbärtiger
- russischer Bauer -- Petersburg dagegen ist schon ein gewandter Europäer.
- Wie sich das alte Moskau weit ausgedehnt, wie es in die Breite gewachsen
- ist! Und wie hat sich dagegen das stutzerhafte Petersburg
- zusammengezogen und in die Länge gestreckt! Von allen Seiten ist es von
- Spiegeln umstellt, hier die Newa, dort der Finnische Meerbusen!
- Wahrhaftig, es fehlt ihm nicht an Gelegenheit, sich selbst anzuschauen,
- sich zu bespiegeln! Bemerkt es nur das kleinste Stäubchen oder Flöckchen
- auf seinem Kleide, so wird's sofort entfernt. Moskau ist ein altes
- Hausmütterchen, es bäckt seine Pfannkuchen, sitzt daheim, sieht sich die
- Dinge von ferne an und läßt sich, ohne sich vom Sessel zu erheben,
- erzählen, wie es in der Welt hergeht. Petersburg dagegen ist ein flotter
- Bursche, der nie zu Hause sitzt, der immer gut angezogen ist, sich für
- Europa schön macht und den Ausländern zunickt. In Petersburg ist alles
- in steter Bewegung, vom Keller bis hinauf zur Dachkammer; um Mitternacht
- fängt man an, französische Brötchen zu backen, die am nächsten Morgen
- allesamt von der aus den verschiedensten Volksstämmen zusammengesetzten
- Bevölkerung verzehrt werden; während der Nacht leuchtet bald eins seiner
- Augen, bald das andre. Während der Nacht liegt ganz Moskau in tiefem
- Schlaf, am Morgen aber schlägt es ein Kreuz, verneigt sich nach allen
- vier Himmelsrichtungen und fährt dann mit seinen Kalatschi[14] auf den
- Markt. Moskau ist _weiblichen_[15], Petersburg männlichen Geschlechts.
- In Moskau gibt es lauter Bräute, in Petersburg lauter Freier. Petersburg
- gibt mehr acht auf seine Kleidung, hat die grellen Farben nicht gern,
- ebensowenig wie alle kühnen Abweichungen von der Mode, Moskau dagegen
- verlangt, daß, wenn's schon eine Mode geben soll, diese auch nach allen
- Regeln durchgeführt werde; trägt man lange Taillen -- dann müssen sie
- noch viel länger werden; werden große Frackaufschläge getragen, dann
- sind sie hier so groß wie das Tor einer Scheune. Petersburg -- ist ein
- Mensch von peinlicher Akkuratesse -- ein echter Deutscher, es erwägt
- alles und rechnet alles nach, und ehe es eine Abendgesellschaft gibt,
- tut es einen Blick in die Tasche; Moskau -- ist ein russischer Edelmann,
- wenn er sich einmal amüsiert, dann amüsiert er sich so, daß er hinfällt,
- und kümmert sich nicht darum, ob er mehr ausgibt, als er in der Tasche
- hat. Moskau liebt die goldene Mittelstraße nicht. Alle Moskauer
- Zeitschriften bringen am Schluß jeder Nummer, sie mögen einen noch so
- gelehrten Inhalt haben, immer ein Modebild; die Petersburger
- Zeitschriften bringen nur selten Illustrationen als Beilage, aber wenn
- sie einmal eine beifügen, dann kriegt ein Leser, der das nicht gewöhnt
- ist, einen Schreck. Die Moskauer Zeitschriften reden von Kant, Schelling
- usf. usf., in den Petersburger Journalen wird nur vom Publikum und über
- die gute Gesinnung geschrieben ... In Moskau halten die Zeitschriften
- Schritt mit dem Jahrhundert, verspäten sich aber bei Zustellung ihrer
- Nummern; in Petersburg halten die Journale nicht Schritt mit dem
- Jahrhundert, dafür erscheinen sie mit großer Pünktlichkeit zur
- festgesetzten Zeit. In Moskau bringen die Literaten ihr Geld durch, in
- Petersburg verdienen sie welches. In Moskau fährt alle Welt in dichte
- Bärenpelze eingehüllt -- und meist zu einem Diner; in Petersburg läuft
- alles in Friesröcken herum, die Hände tief in die Taschen vergraben, und
- fliegt in höchster Eile zur Börse oder ins Bureau. Moskau amüsiert sich
- bis 4 Uhr morgens und verläßt am nächsten Tage das Bett nicht vor 2 Uhr.
- Petersburg amüsiert sich auch bis 4 Uhr morgens, und doch eilt es am
- andern Tage, als ob nichts passiert wäre, schon um 9 Uhr in seinem
- Friesrock in die Kanzlei. Nach Moskau kommt Rußland mit vollen Taschen
- und kehrt erleichtert wieder zurück. Nach Petersburg kommen die Leute
- mit leerem Beutel und fahren mit einem hübschen Kapital nach allen
- Himmelsgegenden auseinander. Nach Moskau kommt Rußland in
- Winterschlitten auf holperigen Winterwegen gefahren, um zu kaufen und zu
- verkaufen: in Petersburg läuft das russische Volk im Sommer zu Fuß, um
- bei einem Bau Beschäftigung zu finden und um zu arbeiten. Moskau -- ist
- die große Vorratskammer, hier türmt sich Ballen über Ballen, und den
- kleinen Händler beachtet es kaum. Petersburg ist ganz in kleine Stücke
- zersplittert, hat sich in lauter Läden und Kaufhäuser aufgelöst und
- macht Jagd auf die ärmeren Käufer. Moskau sagt: »Wenn der Käufer mich
- braucht -- wird er mich schon finden!« Petersburg fährt Ihnen mit seinen
- Aushängeschildern direkt unter die Nase, verkriecht sich mit seinem
- »Weinausschank« bis unter den Fußboden Ihrer Wohnung und bringt seine
- Droschkenhaltestellen geradewegs in Ihrem Haustor unter. Moskau sieht
- über seine eigenen Einwohner hinweg und sendet seine Waren nach ganz
- Rußland; Petersburg verkauft seine Krawatten und seine Handschuhe an
- seine eigenen Beamten. Moskau ist eine große Markthalle; Petersburg --
- ein heller Kaufladen. Moskau ist für Rußland eine Notwendigkeit. Rußland
- ist eine Notwendigkeit für Petersburg. In Moskau begegnet man nur selten
- einem Frack mit Uniformknöpfen, in Petersburg hat jeder Frack solche
- Knöpfe. Petersburg macht sich gern über die Unbeholfenheit und
- Geschmacklosigkeit Moskaus lustig. Moskau spottet über Petersburg, weil
- hier nicht gut russisch gesprochen wird. In Petersburg spazieren um 2
- Uhr auf dem Newsky-Prospekt Leute, von denen man meinen könnte, sie
- seien aus den Modebeilagen der Journale, die in den Schaufenstern
- ausliegen, entsprungen; sogar ganz alte Damen haben hier so dünne
- Taillen, daß man lachen muß; in Moskau trifft man stets inmitten der
- Masse modern gekleideter Spaziergänger eine alte Frau mit einem
- Kopftuch, die keine Spur von Taille hat. Ich könnte noch mancherlei
- sagen, allein es ist --
- [Fußnote 14: Eine Art Semmel.]
- [Fußnote 15: Moskau = russisch Moskwa ist weiblichen, Petersburg spr.
- Pitirburg -- männlichen Geschlechts.]
- »Ein Abstand von ganz ungeheurer Größe! ...«
- II
- Es ist schwer, die allgemeine Physiognomie von Petersburg zu schildern.
- Es hat etwas, das an eine amerikanische Kolonie in Europa erinnert:
- ebensowenig ursprüngliche Nationalität und ebensoviel fremdländische
- Mischlinge, die sich noch nicht zu einer festen Masse zusammengefügt
- haben. Soviel verschiedene Nationen sich hier zusammen finden,
- ebensoviel Gesellschaftsschichten gibt es hier. Diese Kreise sind streng
- voneinander geschieden: Aristokraten, Beamte im Dienste, Handwerker,
- Engländer, Deutsche, Kaufleute, sie alle bilden Kreise, die sich nur
- ganz selten miteinander vereinigen, gewöhnlich aber für sich leben und
- sich unterhalten, ohne daß einer von dem andern etwas weiß.
- Jeder von diesen Kreisen besteht, wenn man genauer zusieht, wieder aus
- einer Menge kleiner Kreise, die gleichfalls nicht miteinander
- zusammenhängen. Nehmen wir z. B. die Beamten. Die jungen Gehilfen der
- Tischvorsteher bilden ihren eigenen Kreis, und nie wird der
- Abteilungschef zu ihnen herabsteigen. In Gegenwart eines Kanzleibeamten
- hebt wiederum der Tischvorsteher seinen Kopf um ein paar Zoll höher. Die
- deutschen Handwerker und die deutschen Beamten bilden auch ihren
- besonderen Kreis. Die Lehrer bilden einen Kreis, die Schauspieler einen,
- ja sogar die Literaten, die noch immer recht zweideutige und
- zweifelhafte Persönlichkeiten darstellen, stehen abseits für sich da.
- Mit einem Wort, es ist fast so, wie wenn eine riesengroße Postkutsche
- bei einem Gasthause vorgefahren wäre, in der alle Gäste während der
- Fahrt in ihre Mäntel gehüllt dagesessen hätten, und nur darum zusammen
- in den allgemeinen Saal träten, weil eben kein anderer Raum vorhanden
- ist. Der Versuch, öffentliche Vereine zu gründen, hat bis jetzt keinen
- Erfolg gehabt. Der Petersburger besucht auch den Klub nur, um dort
- Mittag zu essen, und nicht, um seine Zeit dort zu verbringen. Daß
- Petersburg noch nicht zu einem Gasthaus geworden ist, das liegt allein
- an einer inneren Naturanlage des Russen, der, trotzdem er sich beständig
- an den Fremden abschleift, sich immer noch eine gewisse Originalität
- bewahrt hat. Um von jedem dieser einzelnen Kreise erzählen zu können, um
- ihr Leben, das in Genüssen und Vergnügen, Hoffnungen und Schmerzen
- dahinfließt, zu studieren, müßte man zu den Leuten gehören, die gar
- nicht schreiben, weil diese Leute -- dies ist der Lohn für ihre
- Tätigkeit -- absolut keine Zeit haben. Also lassen wir die Bälle und
- Soireen beiseite. Ich will mich den Vergnügungen zuwenden, die eine
- längere Erinnerung an sich zurücklassen und die von allen
- Gesellschaftsklassen mitgemacht werden. Die Theater und Konzerte -- das
- sind die Punkte, wo alle Klassen der Petersburger Gesellschaft
- zusammenstoßen, wo sie genug Muße haben, sich aneinander sattzusehen.
- Das Ballett und die Oper -- sind der König und die Königin der
- Petersburger Theater. Sie waren noch prächtiger, rauschender,
- hinreißender als in den früheren Jahren, und die entzückten Zuschauer
- hatten völlig vergessen, daß es auch noch eine gewaltige Tragödie gibt,
- die den gleichgestimmten Herzen der stumm lauschenden Menge
- unwillkürlich die erhabensten Gefühle einhaucht, daß es eine Komödie
- gibt, die das getreue Abbild der sich vor uns hin und her bewegenden
- Gesellschaft ist: eine tief durchdachte Komödie, die durch die Tiefe
- ihrer Ironie uns zum Lachen reizt; nicht zu jenem Lachen, das durch
- einen oberflächlichen Eindruck, durch einen flüchtigen Witz oder durch
- einen Kalauer hervorgerufen wird, auch nicht zu jenem Lachen, das die
- rohe Menge in unserer Gesellschaft bewegt, die nach Verrenkungen und
- fratzenhaften Verzerrungen der Natur verlangt, sondern zu jenem
- elektrisierenden, belebenden Lachen, das, durch den blendenden
- Gedankenblitz erschüttert, unwillkürlich, frei, ungewollt, unmittelbar
- aus der Seele hervorströmt, das aus dem ruhigen Genuß geboren wird und
- nur durch einen hohen Verstand hervorgerufen werden kann. Die Zuschauer
- hatten recht, wenn sie von dem Ballett und der Oper entzückt waren ...
- Auf der dramatischen Bühne gab es Melodramen und Possen und zugereiste
- Gäste, die sich auf der französischen Bühne zu Hause fühlten, aber auf
- der russischen eine recht merkwürdige Rolle spielten. Es ist ja eine
- längst anerkannte Tatsache, daß die russischen Schauspieler sich recht
- seltsam ausnehmen, wenn sie Marquis, Vicomtes und Barone spielen, ebenso
- wie die französischen Schauspieler wahrscheinlich recht komisch wären,
- wenn sie versuchen wollten, russische Bauern darzustellen. Und wie
- machen sich Bälle, Abendgesellschaften und moderne Routs, die in den
- russischen Stücken vorkommen, auf der Bühne? Und die Possen? Die Posse
- hat sich schon längst die russische Bühne erobert und bildet die
- Unterhaltung der Mittelklassen, denn diese Leute wollen eben lachen. Wer
- hätte gedacht, daß wir nicht nur Übersetzungen, sondern auch
- Originalpossen auf der russischen Bühne zu sehen bekommen würden? Eine
- russische Posse! Es ist wirklich sehr merkwürdig, und zwar deshalb, weil
- dieses leichte, farblose Spiel nur bei den Franzosen entstehen konnte,
- bei einer Nation, deren Charakter keine tiefen, unwandelbaren Züge
- besitzt; aber wenn man den immer noch etwas schwerfälligen und rauhen
- russischen Charakter zwingt, sich als »_petit maître_« zu bewegen, dann
- kommt es mir immer so vor, wie wenn einer von unseren wohlbeleibten,
- pfiffigen und langbärtigen Kaufleuten, der bis dahin nichts anderes als
- schwere Stulpenstiefel getragen hat, statt dieser den einen Fuß mit
- einem schmalen Schuh und Strümpfen _à jour_ bekleiden wollte, während
- der andere noch im Stiefel steckt, und dann in diesem Aufzuge im ersten
- Paar der Française erscheinen wollte.
- Es sind schon fünf Jahre, seit sich das Melodrama und die Posse alle
- Theater der Welt erobert haben. Welch eine Nachäfferei! Sogar die
- Deutschen .... wer hätte das gedacht, daß selbst die Deutschen, dieses
- gediegene, zu tiefen, ästhetischen Genüssen geneigte Volk, daß die
- Deutschen jetzt Possen schreiben und spielen und geschwollene, kalte
- Melodramen zusammenkleistern und für die Bühne bearbeiten. Ja, wenn
- dieses Miasma noch auf den Wink eines mächtigen Genies hergetragen
- worden wäre! Als alle Welt der Leier Byrons nachahmte, war dies
- keineswegs lächerlich; im Gegenteil, in diesem Streben lag etwas
- Tröstliches. Aber daß Dumas, Dulange und andere -- universale
- Gesetzgeber werden konnten! ... Ich möchte schwören, das XIX.
- Jahrhundert wird sich dieser fünf Jahre schämen! O Molière! großer
- Molière! du, der du deine Charaktere so großzügig ausstattetest, mit
- einer solchen Vollkommenheit entwickeltest, der du ihre Schatten so
- eingehend studiert hast, und du strenger, umsichtiger Lessing, und du
- edel glühender Schiller, der du die Menschenwürde in so poetisch
- verklärtem Lichte dargestellt hast! schaut hin, was jetzt nach euch auf
- eurer Bühne geschieht, seht, was für ein seltsames Ungeheuer sich unter
- dem Namen des Melodramas unter uns eingeschlichen hat! Wo ist denn unser
- Leben? wo bleiben wir mit all unseren heutigen Leidenschaften und
- Seltsamkeiten? Wenn wir doch nur einen schwachen Widerschein davon in
- unseren Melodramen erblicken könnten! Aber unser Melodrama lügt in der
- schamlosesten Weise ....
- Welch unbegreifliche Erscheinung: nur das große, tiefe, ungewöhnliche
- Talent bemerkt und entdeckt das, was uns alltäglich umgibt, was
- unzertrennlich mit uns verwachsen ist, das Gewöhnliche; das dagegen, was
- nur selten geschieht, was eine Ausnahme bildet, was uns durch seine
- Häßlichkeit, durch seine Unförmlichkeit inmitten der Ordnung in
- Erstaunen setzt, ist gerade das, wonach die Mittelmäßigkeit mit beiden
- Händen greift. Und so fließt das Leben eines großen Talents wie ein
- großer breiter Strom in voller Regelmäßigkeit, rein wie ein Spiegel,
- dahin und reflektiert mit derselben Klarheit die dunklen und die hellen
- Wolken: bei der Mittelmäßigkeit dagegen fließt es hin wie eine trübe und
- schmutzige Welle und spiegelt weder die Helligkeit noch die Finsternis.
- Das _Seltsame_ ist der Gegenstand des heutigen Dramas geworden. Es kommt
- vor allem darauf an, eine Begebenheit darzustellen, die unbedingt neu,
- unbedingt merkwürdig, noch nie dagewesen und ganz unerhört sein muß: ein
- Mord, eine Feuersbrunst, die allerwildesten Leidenschaften, an die man
- in der modernen Gesellschaft gar nicht einmal denkt! Wie wenn die Söhne
- des glühenden Afrika europäische Fräcke angezogen hätten; Henker und
- Gift -- nichts als Effekt, dieser ewige unvermeidliche Effekt, und doch
- weckt keine Gestalt unsere Teilnahme. Noch nie hat ein Zuschauer das
- Theater gerührt und tränenden Auges verlassen, im Gegenteil, er setzt
- sich eilig und in einer seltsamen Erregung in den Wagen, und es dauert
- lange, bis er seine Gedanken sammeln und sich klar über sie werden kann.
- Solch ein Schauspiel bietet man unserer verfeinerten, gebildeten
- Gesellschaft! Unwillkürlich steigen die blutigen Wettkämpfe, zu denen
- ganz Rom während der Epoche höchster Macht und stumpfer Übersättigung
- zusammenströmte, vor einem auf. Aber, Gott sei Dank, wir sind noch keine
- Römer und stehen nicht vor dem Untergang unseres Daseins, sondern im
- Morgenrot des Lebens! Wenn man alle Melodramen, die in unserer Zeit
- gegeben worden sind, zusammennimmt, so könnte man glauben, in ein Museum
- geraten zu sein, in dem absichtlich alle Mißgeburten und Auswüchse der
- Natur vereinigt sind, oder besser gesagt -- man glaubt einen Kalender
- vor sich zu haben, in dem mit kalendermäßiger Kaltblütigkeit alle
- merkwürdigen Ereignisse eingetragen sind, und wo unter jedem Datum zu
- lesen steht: heute geschah an dem und dem Orte folgender
- Spitzbubenstreich; heute wurde der Räuber und Brandstifter Soundso
- geköpft; dann und dann hat der Handwerker X. seine Frau umgebracht ....
- und dergleichen mehr. Ich kann mir das Staunen eines unserer Nachkommen
- vorstellen, der das Leben unserer Gesellschaft aus unseren Melodramen
- studieren wollte.
- Da ist es denn nicht zu verwundern, daß das Ballett und die Oper noch
- eine erfreuliche Erscheinung sind und einem eine gewisse Erholung
- bieten: hier findet man doch noch einen ruhigen Genuß. Die Oper wird bei
- uns mit einem gierigen Enthusiasmus aufgenommen. Bis heute noch ist die
- Begeisterung nicht vorüber, mit der sich ganz Petersburg auf die
- lebendige, feurige Musik der »Fenella« und die wilde, von höllischen
- Genüssen erfüllte Musik »Robert des Teufels« stürzte. -- »Semiramis«,
- die noch vor fünf Jahren vom Publikum sehr kühl aufgenommen wurde,
- versetzt heute, wo die Musik Rossinis fast einen Anachronismus bildet,
- dasselbe Publikum in Verzückung. Über den Enthusiasmus, den die Oper
- »Das Leben für den Zaren« hervorgerufen hat, will ich gar nicht erst
- reden: er ist begreiflich und ganz Rußland bekannt. Über diese Oper
- müßte man entweder sehr viel oder gar nichts sagen.
- Ich rede jedoch nicht gern über die Musik oder über den Gesang. Mir
- scheint, alle musikalischen Traktate und Rezensionen müssen die Musiker
- von Fach langweilen; in der Musik ist das allermeiste unaussprechlich
- und beruht auf einer unbewußten Wirkung. Die Leidenschaften der Musiker
- -- sind keine irdischen Leidenschaften; die Musik ist nur hin und wieder
- der Ausdruck unserer Leidenschaften oder besser gesagt: sie ahmt ihre
- Stimme nach, um auf sie gestützt, sich wie ein perlender, singender
- Springquell gänzlich anderer Leidenschaften in eine andere Sphäre
- emporzuschwingen. Ich will nur noch bemerken, daß sich die Melomanie
- immer mehr verbreitet. Leute, denen man gar keine musikalische Denkart
- zutrauen würde, sitzen beständig in dem »Leben für den Zaren«, im
- »Robert«, in der »Norma«, in »Fenella« und in »Semiramis«. Beinahe
- zweimal in jeder Woche wird eine Oper aufgeführt; jede von ihnen erlebt
- unzählige Aufführungen, und trotzdem ist es häufig schwer, ein Billett
- zu bekommen. Ist das nicht eine Folge unserer slawischen zum Gesang
- neigenden Natur? Und ist es nicht eine Rückkehr zu unserer alten Zeit,
- nach einer Reise durch das fremde Land der europäischen Kultur, wo alles
- um uns herum eine fremde Sprache sprach und wo sich lauter fremde
- Menschen um uns drängten -- eine Rückfahrt in einem russischen
- Dreigespann mit seinen klingenden Glocken -- ist es nicht so, als
- erhöben wir uns von unserem Sitz, und als riefen wir, unsere Mützen
- schwenkend, aus: »In der Fremde ist es schön -- aber zu Hause ist's doch
- noch besser.«
- Was für eine herrliche Oper könnte man nach unseren nationalen Motiven
- komponieren! Zeigt mir ein Volk, das mehr Lieder hätte! Unsere Ukraine
- hallt wider von Liedern. Auf der Wolga, von ihrer Quelle bis zum Meere,
- ertönen -- die ganze Reihe der dahintreibenden Barken entlang -- die
- Lieder der Schiffsknechte. Unter Gesang werden in ganz Rußland aus
- Balken von Fichtenholz die Hütten gezimmert. Mit Gesang fliegen die
- Ziegel von Hand zu Hand und wachsen Städte wie Pilze empor. Alte Frauen
- singen, wenn der kleine Russe in Windeln gewickelt wird, wenn er sich
- verheiratet und wenn er begraben wird. Alles, was reist, Adlige und
- Bürgerliche, fliegen beim Gesang des Kutschers dahin. Am Schwarzen Meer
- singt der bartlose braune Kosak mit dem pechschwarzen Schnurrbart,
- während er seine Flinte ladet, ein altes Lied; und dort am anderen Ende
- Rußlands erlegt der russische Händler rittlings auf einer Eisscholle
- sitzend, den Walfisch mit seiner Harpune und singt ein Lied dazu. Und da
- sollte es uns an Stoff zu einer nationalen Oper fehlen! Die Oper Glinkas
- ist nur ein schöner Anfang. Er hat es mit viel Glück verstanden, in
- seinem Werk zwei slawische Tonsprachen zu vereinigen; man hört es
- deutlich, wo der Russe und wo der Pole spricht; aus dem Gesang des einen
- hört man die freie, weite Melodie des russischen Liedes heraus, aus dem
- des anderen den kecken, schnellen Rhythmus der polnischen Mazurka.
- Das Petersburger Ballett ist hervorragend. Bei dieser Gelegenheit muß
- ich ein paar Worte über das Ballett überhaupt sagen. Die
- Ballettaufführungen in Paris, Petersburg und Berlin haben eine hohe
- Vollendung erreicht; aber man muß gestehen, daß der Fortschritt nur in
- der wachsenden Pracht der Kostüme und der Dekorationen besteht, das
- eigentliche Wesen des Balletts, jedoch, die Erfindung hält nicht Schritt
- mit der Ausstattung, die Ballettschreiber bringen nur wenig Neues in den
- Tänzen. Bisher fehlt es noch an dem eigentlich Charakteristischen. Sehen
- wir einmal zu: an allen Enden der Welt gibt es überall Nationaltänze;
- der Spanier tanzt ganz anders als der Schweizer, der Schotte wiederum
- anders als der Deutsche (bei Teniers), der Russe anders als der Franzose
- und der Asiate. Selbst in den verschiedenen Provinzen desselben Staates
- wechseln die Tänze. Der Russe des Nordens tanzt nicht so wie der
- Kleinrusse, wie der Südslawe, der Pole oder Finne; der Tanz des einen
- ist ausdrucksvoll, der des andern gefühllos, der eine ist wild und
- rasend, der andere ruhig, der eine gewaltsam und schwerfällig, der
- andere leicht und ätherisch. Woher stammt diese Mannigfaltigkeit der
- Tänze? Sie stammt aus dem Charakter der Völker, aus ihrer Lebensweise
- und der Art ihrer Beschäftigung. Ein Volk, das ein stolzes,
- kriegerisches Leben führt, bringt diesen Stolz auch in seinem Tanz zum
- Ausdruck; bei einem sorglosen, freien Volk spiegelt sich auch in den
- Tänzen eine grenzenlose Freiheit und eine poetische Selbstvergessenheit;
- ein Volk, das in einem heißen Klima lebt, läßt auch in seinen
- Nationaltänzen Glut, Leidenschaft und Eifersucht spüren. Der Schöpfer
- eines Balletts kann zur Charakterisierung seiner tanzenden Helden, wenn
- er sich nur von einem feinen Geschmack leiten läßt, aus diesem reichen
- Stoffe wählen, soviel er will. Es versteht sich von selbst, daß er, wenn
- er erst einmal den Grundcharakter erfaßt hat, ihn noch weiter entwickeln
- und sich weit über sein Original emporschwingen kann, so wie ein
- musikalisches Genie aus einem einfachen Liede, das es auf der Straße
- hört, ein ganzes Gedicht macht. Wenigstens wird der Tanz erst dann einen
- tieferen Sinn erhalten, und so kann diese leichte, luftige und feurige
- Sprache, die bis jetzt immer noch etwas beengt und beschränkt erscheint,
- sich zu höherer Form und Plastik entwickeln.
- Die Petersburger sind große Freunde des Theaters. Wenn Sie einmal an
- einem frischen, kalten Morgen, während der rosig goldene Himmel von
- durchsichtigen Rauchwolken, die aus den Schornsteinen aufsteigen,
- durchzogen wird, auf dem Newsky-Prospekt spazieren sollten, dann treten
- Sie um diese Zeit ins Foyer des Alexandra-Theaters: Sie werden erstaunt
- sein über die hartnäckige Geduld, mit der die hier versammelte
- Volksmenge in dichten Haufen den Billettverkäufer belagert, der seine
- Hand aus dem Kassenfenster herausstreckt. Wie viel Lakaien aller Art
- drängen sich hier, der eine im grauen Mantel mit einer bunten seidenen
- Krawatte, aber ohne Mütze, und ein anderer, bei dem der dreistöckige
- Kragen der Livree einem bunten Tintenwisch aus Tuch in Gestalt eines
- Schmetterlings gleicht. Hier drängen sich auch jene Beamten, die sich
- die Stiefel von ihren Köchinnen putzen lassen, und die niemand haben,
- den sie nach einem Theaterbillett schicken können. Hier können Sie auch
- sehen, wie ein echtrussischer Held plötzlich die Geduld verliert, auf
- den Schultern der ganzen Menge bis zur Kasse vordringt und sein Billett
- empfängt. Dann erst wird Ihnen klar werden, wie sich bei uns die Liebe
- zum Theater bemerkbar macht. Und was wird auf unseren Bühnen gegeben? --
- Melodramen und Vaudevilles! ... Ich hasse diese Melodramen und
- Vaudevilles.
- Die Lage der russischen Schauspieler ist sehr traurig. Vor ihnen zittert
- und brodelt ein aufnahmefähiges Publikum, und sie müssen Leute
- darstellen, die sie noch nie gesehen haben. Was sollen sie mit diesen
- seltsamen Helden anfangen, die weder Franzosen noch Deutsche sind,
- sondern halbverrückte Leute, die weder eine bestimmte Leidenschaft noch
- eine charakteristische Physiognomie haben? Wie soll man da zeigen, was
- man kann, wie sollen sich unter solchen Verhältnissen Talente
- entwickeln? Gebt uns um Gottes willen wahrhaft russische Charaktere,
- gebt uns uns selber, unsere Gauner und unsere Querköpfe! herauf mit
- ihnen auf die Bühne und gebt sie dem Gelächter aller preis! Das Lachen
- -- ist etwas wahrhaft Großes, es raubt uns weder das Leben, noch unser
- Eigentum, und doch steht der Schuldige da wie ein Hase, dem man die
- Beine zusammengebunden hat. Wir haben uns so sehr an die farblosen
- französischen Stücke gewöhnt, daß wir uns beinahe fürchten, unsere
- eigenen zu sehen. Wenn man uns einen lebendigen Charakter vorführt, so
- glauben wir gleich, das sei eine persönliche Anspielung, weil die
- dargestellte Person weder einem _Paysan_, einem Theater-Tyrannen, einem
- Reimschmied, einem Richter oder dergleichen verbrauchten Typen gleicht,
- die von zahnlosen Autoren förmlich in ihre Stücke geschleppt werden, so
- wie man etwa einen jener unvermeidlichen Figuranten auf die Bühne
- schleppt, die vor dem Publikum mit dem gleichen stereotypen Lächeln ihre
- im Laufe von vierzig Jahren bis zur Virtuosität einstudierten »Pas«
- herunterholzen. Wenn man z. B. sagt, daß es in einer Stadt einen nicht
- ganz nüchternen Hofrat gibt, so fühlen sich gleich alle Hofräte
- beleidigt, und manch ein anderer »Rat« sagt wohl gar: »Wie ist das nur
- möglich, ich habe einen Verwandten, der ist Hofrat: ein vortrefflicher
- Mensch! wie kann man denn sagen, daß es einen betrunkenen Hofrat gibt!«
- Als ob ein einziger einen ganzen Stand um seine Ehre bringen könnte! Und
- solch eine Empfindlichkeit ist bei uns tatsächlich in allen
- Gesellschaftsklassen verbreitet. Braucht es etwa noch der Beispiele? Man
- denke nur an den »Revisor«.
- Es ist wirklich peinlich. Es wäre doch wirklich höchste Zeit,
- einzusehen, daß nur eine getreue Darstellung von Charakteren -- nicht in
- ihren längst bekannten immer aufs neue wiederholten allgemeinen Zügen --
- sondern in einer Form von wahrhaft nationalem Gepräge, die uns durch
- ihre Lebendigkeit überrascht, so daß wir ausrufen: »Ja aber, mir
- scheint, das ist doch ein Bekannter von mir!« -- daß nur solch eine
- Darstellung einen wesentlichen Nutzen bringt. Wir haben aus dem Theater
- ein Spielzeug in der Art jener Rasselchen gemacht, womit man Kinder
- herbeilockt, wir haben vergessen, daß das Theater ein Katheder ist, von
- dem aus man einer ganzen großen Menge eine lebendige Lehre vorträgt, auf
- ein Beispiel hinweist, wo uns beim festlichen Lichterglanz, beim Lärm
- der Musik, unter einstimmigem Gelächter, ein weitbekanntes, verstecktes
- Laster gezeigt wird, und wo, begleitet von der geheimen Stimme der
- allgemeinen Teilnahme, ein allbekanntes, sich ängstlich verbergendes,
- edles Gefühl ans Licht gezogen wird.
- Aber genug vom Theater. Ich habe schon zuviel davon geredet. Der
- Winterkarneval schließt mit einer lauten und lärmenden Woche ab; dann
- fliegt die eine Hälfte der Petersburger auf Schaukeln durch die Luft
- oder saust wie der Wirbelwind die Rodelbahn hinunter, während sich die
- andere Hälfte in eine lange Kette von Wagen verwandelt, die sich kaum
- vorwärtsbewegt, immer wieder aufgehalten von dem für Ordnung sorgenden
- Gendarmen; da gibt's den ganzen Tag über und am Abend alle möglichen
- Vorstellungen, und der ganze Admiralitätsplatz ist mit Nußschalen
- bedeckt ....
- Still und finster ist die Zeit der großen Fasten. Es ist einem, als
- vernehme man eine Stimme, die einem zuruft: »Halt ein, Christenmensch:
- sieh zu, wie du lebst.« Die Straßen sind leer. Man sieht keine Wagen.
- Ein sinnender Zug liegt auf den Gesichtern der Vorübergehenden. Ich
- liebe dich, du Zeit der Nachdenklichkeit und des Gebets! Freier und mit
- mehr Überlegung werden meine Gedanken dahinfließen, und diese ganze
- seichte, eitle Gesellschaft wird sicherlich müde und verschlafen
- daliegen und vergessen, zu mir zu kommen und mich mit ihrem trivialen
- Gerede über Whist, Literatur, Auszeichnungen und Theater zu plagen.
- Die Fastenzeit in Petersburg ist das Fest der Musik. Um diese Zeit
- kommen hier Musiker aus allen Teilen Europas zusammen. Das
- Monstre-Konzert zum Besten der Invaliden hat immer etwas Gewaltiges;
- vierhundert Musiker! das macht einen mächtigen Eindruck! Wenn der
- harmonische Zusammenklang von vierhundert Tönen unter dem dröhnenden
- Gewölbe emporhallt, dann muß, wie mir scheint, auch die Seele jedes
- Zuhörers, und wäre sie noch so armselig, von einer ganz ungewöhnlichen
- Erschütterung durchzittert werden.
- Während der Fastenzeit fällt dann und wann ein Sonnenstrahl in die
- Petersburger Atmosphäre. Der westliche Teil, der dem Meere zugewandt
- ist, wird heller. Der Norden blickt von der Wiborger Seite weniger
- finster herüber. Immer häufiger halten die Wagen auf der Straße, und die
- Insassen steigen aus, um auf dem Trottoir spazierenzugehen. Seit dem
- Jahre 1836 ist der Newsky-Prospekt, dieser laute, ewig bewegte, emsige,
- vorwärtsdrängende Newsky-Prospekt ganz heruntergekommen: der Treffpunkt
- der vornehmen Welt ist an den Englischen Kai verlegt worden. Der
- verstorbene Kaiser liebte den Englischen Kai. Er ist auch wirklich
- wundervoll. Aber jetzt, wo der Korso dahin verlegt worden ist, habe ich
- erst bemerkt, daß der Kai etwas zu kurz ist. Die Spaziergänger sind
- trotzdem noch im Vorteil, denn die Hälfte des Newsky-Prospekts war immer
- von Handwerkern und Beamten besetzt, und man hatte hier die Aussicht,
- dreimal soviel Püffe zu bekommen, wie an irgendeinem anderen Ort.
- Warum eilt nur unsere Zeit, die durch nichts zu ersetzen ist, so schnell
- dahin? Wer ruft sie zu sich? Was bilden doch die großen Fasten für einen
- ruhigen, stillen Zeitabschnitt! Was kann man in diesen sieben Wochen
- nicht alles vollbringen? Jetzt will ich mich endlich ernstlich an meine
- Arbeit machen. Jetzt werde ich endlich vollenden, was mich der Lärm und
- die allgemeine Unruhe nicht vollenden ließen. Aber ach, die erste Woche
- geht schon zu Ende! Ich habe noch nicht angefangen und schon kommt die
- zweite hinter ihr hergejagt, schon ist die erste Hälfte der dritten
- vorüber, schon kommt die vierte heran, schon beginnt der große Jahrmarkt
- im Gostinnij Dwor[16], und eine ganze Galerie von jungen Weidenruten mit
- wächsernen Früchten und Blumen blüht unter den dunklen Hallen auf. Als
- ich an dieser bunten Allee, in deren Dunkel eine Menge von roh
- geschnitztem Kinderspielzeug aufgetürmt war, vorüberging, wurde mir
- recht peinlich zumute. Ich ärgerte mich über die rotwangigen
- Kinderfrauen, die sich hier in ganzen Trupps herumtrieben, über die
- Kinder, die ganz glücklich vor diesem Haufen eines ihnen so viel
- Vergnügen bereitenden Plunders stehenblieben, und über den schwarzen
- untersetzten Griechen mit dem großen Schnurrbart, der sich moldauischer
- Konditor titulierte und allerhand zweifelhafte und undefinierbare
- Leckereien feilbot. Die auf den Tisch ausgebreiteten Stiefelbürsten,
- bleiernen Äffchen, Gabeln und Messer, Honigkuchen und kleinen Spiegel
- widerten mich an. Die bunte Menge aber drängt sich und schiebt sich
- immerfort weiter, überall begegnet man demselben Ausdruck in den Zügen;
- mit derselben Neugierde wie im vorigen Jahr, wie vor zwei und drei und
- mehr Jahren, blickt man auf all die Dinge; ich aber und jeder einzelne
- Mensch von diesem Volk sind schon nicht mehr dieselben, es sind andere
- Gefühle, die es heute bewegen, nicht die, die es im vergangenen Jahr
- bewegten, die Gedanken sind finsterer geworden, von den Lippen strahlt
- uns kein so heiteres Seelenlächeln entgegen wie ehedem, und jeden Tag
- verliert es etwas von seiner früheren Lebhaftigkeit!
- [Fußnote 16: Eine große Markthalle in Petersburg.]
- Auf der Newa gab es früh Eisgang. Ohne von den Winden beunruhigt zu
- werden, taute das Eis noch beinahe vor dem eigentlichen Eisgang auf und
- war so locker, daß es sich, während es von der Strömung fortgetragen
- wurde, von selbst auflöste. Bei nahezu gleicher Zeit sandte auch der
- Ladoga-See seine Eismassen hinunter. Die Hauptstadt war plötzlich wie
- verwandelt. Die Spitze des Glockenturms der Peter-Pauls-Kirche, die
- Festung, die Wilhelmsinsel, die Wiborger Seite und der englische Kai --
- alles nahm ein malerisches Aussehen an. Rauchwolken ausstoßend, kam der
- erste Dampfer herangeflogen! Von Wassilij Ostrow und nach ihm hin fuhren
- die ersten, mit Beamten, Soldaten, alten Kinderfrauen und englischen
- Kanzleibeamten besetzten Kähne über die Newa. Ich kann mich nicht
- erinnern, daß wir in jüngster Zeit so ein stilles, heiteres Wetter
- gehabt haben. Es war am Abend vor Ostersonntag, als ich den Boulevard
- der Admiralität betrat und auf ihm bis zum Landungsplatz der Dampfer
- schritt, von dem einem zwei Jaspis-Vasen entgegenleuchten; da lag mit
- einem Male die Newa offen vor mir, auf der Wiborger Seite schimmerte das
- helle Rot des Himmels durch einen blauen Nebel hindurch, die Häuser der
- Petersburger Seite waren in ein beinahe violettes Licht getaucht, das
- ihr unschönes Äußere verhüllte, die Kirchen, über deren gewölbte Flächen
- der Nebel seine monotone Decke breitete, schienen wie auf einen
- Hintergrund von hellrosa Stoff gemalt oder aufgeklebt, und in dieser
- violetten und hellblauen Finsternis blitzte allein die Turmspitze der
- Peter-Pauls-Kirche auf und spiegelte sich im unendlichen Wasserspiegel
- der Newa -- da schien mir's, als sei ich gar nicht in Petersburg,
- sondern als wäre ich in eine andere Stadt versetzt, in der ich schon
- einmal gewesen war, wo ich alles kenne und wo es das gibt, was
- Petersburg nicht hat ... Da war auch der bekannte Ruderknecht, den ich
- schon mehr als ein halbes Jahr nicht gesehen hatte, er machte sich am
- Ufer mit seinem Kahn zu schaffen, vertraute Reden klangen an mein Ohr;
- und dann das Wasser und der Sommer, die es in Petersburg nicht gab.
- Ich liebe den Frühling außerordentlich. Sogar hier in diesem rauhen
- Norden ist er meine liebste Jahreszeit. Mir scheint, kein Mensch in der
- ganzen Welt liebt ihn so wie ich. Mit ihm kehrt meine Jugend zu mir
- zurück; im Frühling ist meine Vergangenheit mehr als eine bloße
- Erinnerung -- sie liegt vor meinem Blick und treibt mir Tränen in die
- Augen. Ich war durch die hellen, klaren Tage des Ostersonntags so
- berauscht, daß ich den großen Jahrmarkt auf dem Admiralitätsplatz gar
- nicht bemerkte. Nur ganz von ferne sah ich, wie eine Schaukel einen
- jungen Burschen, Arm in Arm mit einer Dame in elegantem Hut, hoch in die
- Luft trug, und an einer Ecke streifte mein Auge das große Schild einer
- Schaubude, auf dem ein ungeheurer roter Teufel mit einer Axt in der Hand
- abgebildet war. Sonst habe ich nichts mehr gesehen.
- Es ist fast, als ob das Leben der Residenz mit dem Ostersonntag seinen
- Abschluß findet, und es scheint, als mache sich hierauf alles, was wir
- auf der Straße sehen, auf die Reise. Die Vorstellungen und die Bälle
- nach Ostern sind nichts als die Reste von denen, die vor der Fastenzeit
- stattfanden, oder besser gesagt -- sie sind die letzten Gäste, die
- später aufbrechen als die anderen, am Kamin noch einige Worte wechseln,
- und die Hand vor den Mund legen, um ihr Gähnen zu verbergen. Die Stadt
- trocknet ganz aus, auch die Trottoirs sind trocken. Die Petersburger
- Gentlemen spazieren im bloßen Rock, jeder mit einem andern Spazierstock
- herum; statt der schweren Kutschen sieht man halbgedeckte Droschken und
- Kabrioletts über das glatte Straßenpflaster rollen. Jetzt werden auch
- viel weniger Bücher gelesen. Schon sieht man in den Schaufenstern statt
- der wollenen Strümpfe Sommermützen und Reitpeitschen ausliegen. Mit
- einem Wort, während des ganzen Monats April scheint ganz Petersburg im
- Aufbruch begriffen. Es ist so angenehm, die sitzende, seßhafte
- Lebensweise aufzugeben und von einem weiten Weg unter einen andern
- Himmel nach den grünen Hainen des Südens, nach Ländern, in denen eine
- neue Luft weht, zu träumen. Der hat es gut, dem am Ende einer
- Petersburger Straße die in die Wolken ragenden Berge des Kaukasus, die
- Seen der Schweiz, das mit Lorbeeren und Anemonen geschmückte Italien
- oder das trotz seiner Öde noch herrliche Griechenland winkt .... Aber
- halt ein, mein Gedanke: noch türmen sich zu meinen beiden Seiten die
- Häuser Petersburgs empor ....
- III
- Italienische Sommernächte
- Erste Nacht.
- Sie waren so süß und so qualvoll, diese schlaflosen Nächte. Er saß krank
- in seinem Lehnstuhl. Ich war bei ihm. Der Schlaf wagte es nicht, meine
- Lider zu berühren. Stumm und gehorsam schien er das Heiligtum unseres
- nächtlichen Wachseins zu achten. Es war mir so süß, neben ihm zu sitzen
- und ihn anzuschaun. Schon seit zwei Nächten sagten wir uns _du_. Wie
- viel näher war er mir seitdem gerückt. Er saß immer gleich sanft, still
- und ergeben da. Gott! wie freudig, mit welcher Heiterkeit hätte ich
- seine Krankheit auf mich genommen! Und wenn mein Tod ihm seine
- Gesundheit hätte zurückgeben können, wie bereitwillig hätte ich mich ihm
- in die Arme geworfen!
- * * * * *
- Heute nacht war ich nicht bei ihm. Ich hatte mich endlich entschlossen,
- wieder einmal zu Hause zu schlafen. Oh! wie häßlich, wie trivial war
- diese Nacht und mein verächtlicher Schlaf! Ich schlief schlecht,
- obgleich ich alle Nächte in der vergangenen Woche schlaflos verbracht
- hatte. Der Gedanke an ihn peinigte mich. Ich sah ihn vor mir, wie er
- mich flehend und vorwurfsvoll anblickte. Ich sah ihn mit den Augen der
- Seele. Wie ein Verbrecher eilte ich am nächsten Morgen in aller Frühe zu
- ihm. Er erblickte mich von seinem Bett aus und lächelte mit jenem
- Engelslächeln, das ihm jetzt eigen war. Er reichte mir die Hand und
- drückte sie liebevoll. »Verräter!« sagte er. »Du bist mir untreu
- geworden.« -- »Mein Engel,« rief ich aus, »verzeihe mir. Ich habe
- gefühlt, wie du gelitten. Ich habe mich die ganze Nacht gequält. Meine
- Ruhe war keine Ruhe. Verzeihe mir.« Er war so gütig. Mild drückte er
- meine Hand. Wie war ich da für die Qualen meiner so sinnlos verbrachten
- Nacht belohnt! -- »Mein Kopf ist mir so schwer,« sagte er. Ich fächelte
- ihm mit einem Lorbeerzweig Kühlung zu. »Oh, wie kühl, wie schön das
- ist!« sagte er. Seine Worte waren ... ach, wie waren diese Worte ...!
- Was hätte ich damals nicht dafür gegeben -- auf welche irdischen Güter,
- diese verächtlichen, gemeinen, häßlichen Güter hätte ich damals nicht
- verzichtet ... nein ... oh, sprechen wir nicht davon! O du, in dessen
- Hände diese formlosen, schwachen Zeilen, dieser matte Ausdruck meiner
- Gefühle, kommen -- wenn sie überhaupt in deine Hände kommen -- du wirst
- mich verstehn. Sonst wirst du sie nie zu sehen bekommen. Du wirst
- verstehn, wie häßlich dieser ganze Haufen von Schätzen und Ehren, dieser
- tönenden Lockungen der Holzpuppen ist, die man Menschen nennt. Oh! mit
- welcher Freude, mit welcher Wut wollte ich alles zerstampfen und
- zertreten, was das mächtige Zepter des Kaisers des Nordens zu
- verschenken hat, wenn ich nur wüßte, daß ich damit ein Lächeln auf
- seinem Antlitz erkaufen könnte, das mir eine kleine Erleichterung
- ankündigt.
- »Warum hast du mir einen so schlimmen Mai gebracht?« sagte er, als er
- erwachte; er saß im Lehnstuhl, er hörte den Wind, der hinter den
- Fensterscheiben brauste, die süßen Wohlgerüche wilder Jasminblüten und
- weißer Akazien mit sich führte und sie mit den Rosenblättern durch die
- Luft trug.
- * * * * *
- Um 10 Uhr ging ich zu ihm hinunter. Ich hatte ihn vor drei Stunden
- verlassen, um selbst etwas auszuruhn und etwas zurechtzumachen, um ihm
- eine kleine Abwechslung zu verschaffen, damit mein Erscheinen ihm später
- mehr Freude bereite. Ich kam um 10 Uhr zu ihm hinunter. Er saß schon
- über eine Stunde allein. Die Gäste, die bei ihm gewesen waren, hatten
- ihn längst verlassen. Er saß allein. Die Qual der Einsamkeit war auf
- seinem Gesicht zu lesen. Als er mich erblickte, winkte er leicht mit der
- Hand. »O du mein Retter,« sagte er. Noch heute klingen mir diese Worte
- im Ohre. »O du mein Engel, du hast dich gelangweilt?« »Oh! wie habe ich
- mich gelangweilt!« antwortete er. Ich küßte ihn auf die Schulter. Er
- reichte mir seine Wange. Wir küßten uns; er drückte noch immer meine
- Hand.
- Achte Nacht.
- Er lag nicht gern im Bett und legte sich fast nie nieder. Er zog seinen
- Lehnstuhl und die sitzende Stellung vor. Aber in dieser Nacht sagte ihm
- der Arzt, er müsse sich ausruhn. Mißmutig stand er auf, stützte sich auf
- meine Schulter und ging zu seinem Bett. Mein liebes Herz! Sein müder
- Blick, sein bunter warmer Rock, sein langsamer Schritt, ich sehe das
- alles noch, es steht mir vor Augen. Er lehnte sich an meine Schulter und
- flüsterte mir ins Ohr, indem er einen Blick auf das Bett warf: »Jetzt
- bin ich verlassen.« -- »Wir wollen nur eine halbe Stunde im Bett
- bleiben,« sagte ich ihm, »dann setzen wir uns wieder in deinen Stuhl!«
- Ich blickte auf dich, du liebe, zarte Blüte! Die ganze Zeit, während du
- im Bett oder im Lehnstuhl schliefst oder nur schlummertest, folgte ich
- jeder deiner Bewegungen, bei jedem Blick aus deinen Augen wie durch eine
- unerklärliche Gewalt an dich gebannt.
- Wie seltsam neu war mir damals mein Leben, und doch war mir's, als sei
- das alles nur eine Wiederholung von etwas Fernem, längst Dagewesenem!
- Aber mir scheint, es ist schwer, eine Vorstellung davon zu geben, mir
- war's, als kehre ein flüchtiger, neuer Abschnitt meiner Jugend zu mir
- zurück, einer Zeit, wo die junge Seele nach Freundschaft und
- Verbrüderung mit ihren jungen Altersgenossen dürstet, nach einer
- wahrhaft jugendlichen Freundschaft voller lieber, beinahe kindlicher
- Kleinigkeiten und gegenseitiger Beweise einer zärtlichen Anhänglichkeit;
- wo es so süß ist, einander Aug' in Auge zu schauen, wo man häufig sogar
- zu dem überflüssigsten Opfer bereit ist. Alle diese süßen, jungen,
- frischen Gefühle -- die, ach, nur die Bewohner einer unwiederbringlich
- verlorenen Welt sind -- alle diese Gefühle kehrten zu mir zurück. Mein
- Gott, warum nur? Ich blickte auf dich, meine liebe, junge Blüte! Wehte
- mich darum dieser liebliche Duft der Jugend so plötzlich an, um mich
- dann mit einemmal in eine noch größere, tödliche Erstarrung der Gefühle
- zu stürzen, und um mich plötzlich um zehn Jahre älter zu machen, damit
- ich noch verzweifelter, noch hoffnungsloser auf mein dahinschwindendes
- Leben sehen sollte? So flammt ein ausgehendes Licht noch ein letztes Mal
- in der Luft auf und erleuchtet noch einmal zitternd die düstren Mauern,
- um dann für immer zu erlöschen.
- Rom
- Ein Fragment
- Deutsch von Otto Buek
- Sieh dir den Blitz an, wenn er durch kohlschwarze Wolken bricht und
- schier unerträglich aufleuchtet in einer wahren Flut von Licht: so sind
- die Augen der Albanerin Anunziata. An ihr erinnert alles an jene alten
- Zeiten, als der Marmor aufzuleben begann und der Meißel in der Hand des
- Bildhauers blitzte. Ein schwerer Zopf dichter, pechschwarzer Haare
- schlang sich in zwei Ringen hoch um das Haupt, um in vier langen Locken
- auf den Hals herabzufallen. Wem sie den leuchtenden Schnee ihres
- Antlitzes zuwenden mochte -- ihr Bild prägte sich jedem tief ins Herz
- hinein. Wandte sie jemand ihr Profil zu -- so strömte ein wunderbarer
- Adel von ihm aus, und der schöne Schwung der Linien übertraf alles, was
- je eines Malers Pinsel geschaffen hat. Oder drehte sie einem den Rücken
- und ließ sie ihm ihren Hinterkopf mit dem herrlichen, aufwärts gekämmten
- Haar, den leuchtenden Hals und die überirdische, nie gesehene Schönheit
- ihrer Schultern sehen -- so wirkte sie auch da wie ein Wunder. Aber am
- herrlichsten war sie, wenn sie ihre Augen auf jemand richtete, ihn ansah
- und kalte Schauer in sein Herz goß. Hell wie Erz tönte ihre volle
- Stimme. Kein geschmeidiger Panther hätte es an Kraft, Stolz und
- Schnelligkeit der Bewegungen mit ihr aufnehmen können. In jedem Teile
- ihres herrlichen Körpers erschien sie wie die Krone der Schöpfung, von
- den Schultern bis hinab zu dem lebenatmenden Fuß von antiker Bildung --
- ja bis zur letzten Zehe dieses Fußes. Wohin sie gehen mochte -- stets
- ließ sie ein Bild vor dem Auge erstehen: wenn sie abends mit der
- getriebenen Bronzevase auf dem Haupte zum Brunnen eilte, so schien sich
- die ganze Umwelt mit einer wunderbaren Harmonie zu erfüllen: die
- herrlichen Linien des Albanergebirges verloren sich sanfter in der
- Ferne, blauer als sonst erschien die Tiefe des römischen Himmels,
- schlanker strebte die Zypresse zur Höhe, und der schönste unter den
- Bäumen des Südens, die römische Pinie, hob sich mit ihrer schirmartigen,
- wie in der Luft schwebenden Spitze zarter und reiner vom Himmel ab. Und
- alles, der Brunnen, wo auf den Marmorstufen die Albanermädchen, eine
- größer und schlanker als die andre, in Haufen beieinander standen und
- mit ihren kräftigen, silbernen Stimmen durcheinanderschwatzten, während
- in klingendem, diamantenem Strahl das Wasser emporsprang und
- nacheinander die untergehaltenen kupfernen Krüge füllte, -- der Brunnen,
- die Mädchengruppen, -- alles schien allein um ihretwillen da zu sein, um
- ihre sieghafte Schönheit noch heller erstrahlen, um erkennen zu lassen,
- daß sie über alles herrscht und gebietet, wie eine Königin über ihr
- Hofgesinde. Oder, wenn an einem Feiertage die dunkle Baumgalerie, die
- von Albano nach Castel Gandolfo führt, voll festlich gekleideter
- Menschen ist, wenn unter ihrer dunklen Wölbung die Minenti stutzerhaft
- in Sammetkleidern mit leuchtenden Gürteln und einer goldfarbenen Blume
- an ihrem Kastorhut einherspazieren, wenn zahlreiche Esel mit
- halbgeschlossenen Augen schlanke, kräftige Albanerinnen und
- Frascatanerinnen in malerischer Haltung mit weithin schimmerndem, weißem
- Kopfputz im Schritt oder im Galopp vorübertragen, oder mühsam,
- fortwährend stolpernd und so gar nicht malerisch mit einem langen,
- unbeweglichen, in einen erbsgrauen, undurchdringlichen Mantel gehüllten
- Engländer vorüberziehen, der aus Furcht, seine Füße könnten die Erde
- berühren, mit spitzwinklig emporgezogenen Beinen dasitzt, oder mit einem
- Künstler in einer schlichten Bluse, einem an einem Riemen befestigten
- Holzkasten und einem kecken Van-Dyk-Bärtchen vorbeitraben, während
- Schatten und Sonnenlicht abwechselnd über die ganze Gruppe huschen --
- selbst dann, d. h. selbst an solch einem Feiertage ist es einem weit
- wohler zumute, wenn sie da ist, als wenn sie fehlt. Die Passage läßt sie
- strahlend und ganz in Licht gehüllt aus ihrer finstern, dunklen Tiefe
- heraustreten. Der Purpurstoff ihres albanischen Kleides flammt wie Gold,
- das ein Sonnenstrahl berührt hat. Eine wundersame Feiertagsstimmung
- leuchtet einem jeden von ihrem Anlitz entgegen, und wer ihr begegnet,
- bleibt wie angewurzelt stehen: der stutzerhafte Minenti mit der Blume am
- Hut stößt einen Schrei der Überraschung aus, das Gesicht des Engländers
- im erbsgrauen Mantel verwandelt sich in ein Fragezeichen, und der
- Künstler mit dem Van-Dyk-Bärtchen ...; doch dieser bleibt viel länger
- auf einem Flecke stehen, als alle andern, wie wenn er sich dächte: ja,
- das wäre ein herrliches Modell für eine Diana, eine stolze Juno, eine
- verführerische Grazie wie überhaupt für jede Frau, die jemals auf einer
- Leinwand dargestellt ward! Und er fügt wohl in Gedanken kühn hinzu: ja,
- das wäre ein Paradies, wenn ein solches Wunder mein bescheidenes Atelier
- für immer schmücken könnte.
- Wer aber ist _er_, dessen Blick sich so viel leidenschaftlicher und wie
- gebannt an ihre Spuren heftet! Wer ist er, der jedes ihrer Worte, jede
- ihrer Bewegungen und Gedankenregungen so aufmerksam auf ihrem Gesichte
- verfolgt. Ein fünfundzwanzigjähriger Jüngling, ein römischer Fürst, der
- Nachkomme einer Familie, die einst die Ehre, den Stolz und die Schmach
- des Mittelalters bildete und die nun in einem wunderbaren alten Schloß
- auf ihr nahes Ende wartete. Dieses mit Fresken von Guercin und Caracci
- gezierte Schloß beherbergte eine Bildergalerie voll nachgedunkelter
- Gemälde, verblichener Stoffe, lazurblauer Tische und wurde von einem
- _Maestro di casa_ verwaltet, der selbst grau wie ein Falke war.
- Vor kurzem erst hatten ihn die römischen Straßen erblickt: diese
- schwarzen Augen, die hinter dem über die Schulter geworfenen Mantel
- Blitze hervorschleuderten, diese Nase von antiker Kontur, das Elfenbein
- seiner Stirn und die auf sie herabfallende wehende Locke seidenen
- Haares. Nach fünfzehnjähriger Abwesenheit war er wieder in Rom
- aufgetaucht; nun ein stolzer Jüngling, er, der noch vor kurzem ein Kind
- gewesen war.
- Aber der Leser muß unbedingt erfahren, wie das alles geschah, und daher
- wollen wir schnell die Geschichte dieses jungen, aber an starken
- Eindrücken schon so reichen Lebens an uns vorüberziehen lassen. Seine
- frühste Jugend hatte der Fürst in Rom verlebt; er erhielt eine
- Erziehung, wie sie bei den hohen römischen Würdenträgern, deren Leben
- sich seinem Ende entgegenneigt, üblich ist. Ein Abbé vertrat bei ihm die
- Stelle des Lehrers, Aufsehers, Gouverneurs usw.; dieser war ein strenger
- Klassiker, ein Verehrer der Briefe Pietro Bembos, der Werke des Giovanni
- della Casa und einiger fünf oder sechs Gesänge Dantes, die er beim Lesen
- stets mit lebhaften Ausrufen wie: »_Dio che cosa divina!_« begleitete,
- um nach ein paar Zeilen gleich wieder hinzuzufügen: »_Diavolo che divina
- cosa!_« Darin bestand das ganze künstlerische Werturteil und die ganze
- Kritik der von ihm so bewunderten Werke -- im übrigen aber sprach er nur
- über Broccoli und Artischocken, -- dies war sein Lieblingsthema, und er
- wußte ganz genau, zu welcher Jahreszeit das Kalbfleisch am besten sei
- und in welchem Monat man damit beginnen könne, junges Ziegenfleisch zu
- essen; über all diese Gegenstände unterhielt er sich am liebsten auf der
- Straße, wo er gewöhnlich einen andern Abbé zu treffen pflegte; er trug
- schwarze seidene Strümpfe, in die er zuvor ein Paar wollene
- hineinstopfte, wodurch er seine dicken Waden geschickt zur Geltung zu
- bringen wußte, nahm regelmäßig einmal im Monat eine Portion _Olio di
- ricino_ in einer Tasse Kaffee als Purgiermittel ein und wurde, wie alle
- Abbés, mit jedem Tag und jeder Stunde wohlbeleibter. Es ist begreiflich,
- daß sich der junge Fürst bei einer solchen Erziehung kein großes Wissen
- aneignete. Er erfuhr nur, daß die lateinische Sprache die Mutter der
- italienischen sei, daß es drei Arten von Monsignori gibt: solche in
- schwarzen Strümpfen, solche in violetten Strümpfen und endlich solche,
- die beinahe so viel bedeuten, wie ein Kardinal; er lernte einige Briefe
- Pietro Bembos -- meist Glückwunschschreiben an die zu jener Zeit
- lebenden Kardinäle -- kennen, machte nähere Bekanntschaft mit der
- Corsostraße, wo er häufig mit dem Abbé spazierenging, sowie ferner mit
- der Villa Borghese und mit zwei bis drei Läden, vor denen der Abbé
- haltzumachen pflegte, um sich Papier, Federn und Schnupftabak zu kaufen,
- und endlich noch mit der Apotheke, wo jener sein _Olio di ricino_ bezog.
- Das war der ganze Horizont, der das Wissen des Zöglings umschloß. Von
- den anderen Ländern und Staaten hatte der Abbé nur in ganz unklaren und
- unsicheren Andeutungen gesprochen: er hatte erwähnt, daß es ein sehr
- reiches Land, Frankreich, gäbe, daß die Engländer gute Kaufleute seien
- und eine große Vorliebe für das Reisen hätten, daß die Deutschen -- sehr
- viel tränken und daß im Norden ein barbarisches Land Moscovien liege, in
- dem eine furchtbare Kälte herrsche, bei der ein menschliches Gehirn
- leicht in die Brüche gehen könne. Wahrscheinlich hätte der Zögling bis
- zu seinem fünfundzwanzigsten Jahre kaum noch etwas über diese Tatsachen
- hinaus erfahren, wenn es dem alten Fürsten nicht plötzlich eingefallen
- wäre, die alte Erziehungsmethode fallen und dem Sohne eine europäische
- Bildung geben zu lassen, was wohl zum Teil dem Einfluß einer
- französischen Dame zuzuschreiben war, auf die der Fürst seit einiger
- Zeit überall -- im Theater wie auf Spaziergängen -- beständig seine
- Lorgnette richtete, wobei er alle Augenblicke sein Kinn in sein
- ungeheures weißes Jabot versenkte und sich eine schwarze Locke auf
- seiner Perücke zurechtstrich. So wurde denn der junge Fürst nach Lucca
- geschickt, um hier die Universität zu beziehen. Dort entfaltete sich
- während eines sechsjährigen Aufenthaltes seine lebhafte italienische
- Natur, die unter der langweiligen Aufsicht des Abbés nur geschlummert
- hatte: Es zeigte sich, daß der Jüngling eine nach erlesenen Genüssen
- dürstende Seele und eine starke Beobachtungsgabe besaß. Die italienische
- Universität, wo die Wissenschaft unter der harten Hülle trockener,
- scholastischer Formen dahinvegetierte, befriedigte die jüngere
- Generation nicht mehr, an deren Ohr schon die Kunde von dem lebendigen
- Geiste gedrungen war, die hie und da über die Alpen kam. Der Einfluß
- Frankreichs machte sich bereits in Oberitalien bemerkbar: er wurde
- zugleich mit allerhand neuen Moden, Vignetten, Vaudevilles und
- gekünstelten Produkten der zügellosen, ungeheuerlichen und
- leidenschaftlichen französischen Muse, die aber dennoch Spuren eines
- starken Talentes erkennen läßt, hierher getragen. Die starke politische
- Bewegung, die sich seit der Julirevolution in den Zeitschriften
- bemerkbar machte, fand auch hier ihr Echo. Man träumte von der
- Wiederherstellung der entschwundenen ruhmvollen italienischen
- Vergangenheit und blickte voller Empörung auf die verhaßte weiße Uniform
- der österreichischen Soldaten. Aber die zu ruhigen Genüssen reizende
- italienische Natur machte sich nicht Luft in einem Aufstand, zu dem sich
- der Franzose ohne lange Bedenken entschlossen hätte: all diese Gefühle
- strömten nur in dem einen unbestimmten Wunsch zusammen, das wahre Europa
- jenseits der Alpen kennen zu lernen. Die ewige Bewegung, die es
- durchflutete, und sein heller Glanz erschienen in lockender Ferne. Dort
- war alles neu, stand alles im Gegensatz zu dem ehrwürdigen Alter
- Italiens, dort hatte das XIX. Jahrhundert und das wahre europäische
- Leben begonnen. Ein heißes Sehnen riß die Seele des jungen Fürsten
- dorthin; er träumte von hellem Licht und Abenteuern, und jedesmal
- umwölkte ein drückendes Gefühl der Wehmut seinen Geist, wenn er der
- Unmöglichkeit inne wurde, seinen Wunsch erfüllt zu sehen: er kannte den
- unbeugsamen, despotischen Willen des alten Fürsten, und er fühlte sich
- außerstande, es mit ihm aufzunehmen -- da erhielt er plötzlich einen
- Brief von dem Fürsten, in dem dieser ihm befahl, nach Paris zu reisen,
- seine Studien in der dortigen Universität zu beendigen und nur in Lucca
- die Ankunft eines Onkels abzuwarten, um sich mit diesem zusammen auf die
- Reise zu begeben. Der junge Fürst sprang vor Glück in die Höhe, küßte
- seine sämtlichen Freunde ab, gab ihnen in einer Osterie, die in der
- Umgegend der Stadt lag, ein Festmahl und war zwei Wochen später bereits
- unterwegs mit einem Herzen, das jedem Gegenstand mit frohem Pochen
- entgegenschlug. Als man den Simplon passiert hatte, leuchtete ein
- freudiger Gedanke in seinem Kopfe auf; er befand sich auf der andern
- Seite der Alpen: er war in Europa. Die wilde Unform der Schweizer Alpen,
- die sich ohne weite Perspektiven und ohne jene weich in der Ferne
- verlaufenden Tiefen in die Höhe türmten, erschreckte zunächst seinen an
- die hohe Ruhe und an die heitere wollüstige Schönheit der italienischen
- Natur gewöhnten Blick. Aber er erheiterte sich mit einem Schlage beim
- Anblick der europäischen Städte, der prachtvollen hellen Gasthöfe und
- des Komforts, der jeden Reisenden erwartete, so daß er sich's bequem
- machen konnte, wie wenn er zu Hause wäre. Diese kokette Sauberkeit und
- dieser Glanz -- das war ihm alles neu. In den deutschen Städten fühlte
- er sich ein wenig überrascht durch den etwas seltsamen Körperbau der
- Deutschen und den Mangel an Grazie, Harmonie und Schönheit, für die der
- Italiener ein angeborenes Gefühl im Busen trägt; auch die deutsche
- Sprache machte einen unangenehmen Eindruck auf sein musikalisches Ohr,
- aber nun lag die französische Grenze vor ihm, und sein Herz erbebte. Die
- leichten, hüpfenden Laute einer modernen europäischen Sprache trafen
- zärtlich kosend sein Ohr, und mit Wonne suchte er ihr sanft gleitendes
- Geräusch aufzufangen; schon in Italien waren ihm diese Laute als etwas
- Hohes erschienen, befreit von allen krampfhaften Bewegungen, wie sie den
- starken Sprachen aller Völker der gemäßigten Zone eigen sind, die sich
- noch nicht gewöhnt haben, sich in maßvollen Grenzen zu halten. Einen
- noch größeren Eindruck aber machten auf ihn die Frauen, diese seltsamen,
- leicht dahinschwebenden Geschöpfe. Er war überrascht über diese
- flüchtigen Wesen mit den kaum hervortretenden zarten Formen, den kleinen
- Füßen, dem feinen ätherischen Gliederbau, dem Feuer der Augen, das
- Hingabe und Sympathie ausströmte, und ihrem leichten, kaum über
- Andeutungen hinausgehenden Geplauder. Voller Ungeduld erwartete er die
- Ankunft in Paris, das er in seiner Einbildung mit Türmen und Palästen
- ausschmückte; er machte sich ein eigenes Phantasiebild von dieser Stadt,
- und mit pochendem Herzen gewahrte er endlich die ersten Anzeichen der
- Nähe der Hauptstadt: Plakate an den Mauern, Buchstaben von ungeheurer
- Größe, immer zahlreicher werdende Omnibusse und Diligencen, -- und nun
- erschienen die ersten Häuser der Vorstadt. Doch jetzt war er in Paris
- und fühlte sich dunkel von der ungeheueren Außenseite der Stadt
- umfangen; Staunen erfaßte ihn, als er die Bewegung und all den Glanz in
- den Straßen erblickte, dies wirre Durcheinander der Dächer, den Wald der
- Schornsteine, die dichten stillosen Häusermassen mit den eng
- beieinanderstehenden bunten Läden, die häßlichen nackten,
- zusammenhangslosen Fassaden, diese zahllose bunte Menge goldener
- Buchstaben, die alle Wände bedeckten, bis auf die Dächer und sogar auf
- die Schornsteine emporkletterten, die hellen unteren Stockwerke, die aus
- lauter Spiegelgläsern bestanden, und in die man bequem hineinsehen
- konnte. Dies also war Paris, dieser ewig kochende Krater, dieser
- Springbrunnen, der eine wahre Funkengarbe von Neuigkeiten, von
- Aufklärung, Moden, erlesenem Geschmack und winzigen, aber mächtigen
- Gesetzen ausspie, denen sich selbst die Tadler nicht zu entziehen
- vermochten: diese große Ausstellung aller Erzeugnisse der Kunst,
- höchster Meisterschaft und aller Talente, die sich in den
- unbedeutendsten Winkeln Europas verbergen, die drängende Sehnsucht und
- der schönste Traum eines Zwanzigjährigen, diese Wechselstube und dieser
- Jahrmarkt Europas. Ganz betäubt und unfähig, sich zu sammeln, streifte
- er durch die Straßen, die von allerlei Volk wimmelten und von
- zahlreichen Rinnen, die die Räder vorüberrollender Omnibusse
- hinterließen, durchfurcht waren, bald gefesselt durch den Anblick eines
- Cafés und seiner wunderbaren, geradezu königlichen Ausstattung, bald
- wieder überrascht durch die berühmten gedeckten Passagen, wo ihn das
- dumpfe Geräusch von einigen tausend Fußgängern betäubte, meist jungen
- Leuten, die sich wie eine kompakte Masse vorwärts bewegten, und völlig
- geblendet von dem flimmernden Glanz der Kaufläden, die von oben her
- durch ein auf das Glasdach der Galerie fallendes Licht erleuchtet
- wurden. Zuweilen auch blieb er vor einem der vielen Plakate stehen, die
- in Millionen Exemplaren und dicht nebeneinanderhängend, das Auge durch
- ihre Buntheit beunruhigten: das waren laute Ankündigungen von etwa
- vierundzwanzig Vorstellungen, die hier täglich stattfanden, und einer
- schier unendlichen Anzahl aller möglichen Konzerte; und als nun endlich
- dies ganze märchenhafte Durcheinander gegen Abend bei der zauberischen
- Gasbeleuchtung aufflammte -- als alle Häuser plötzlich gleichsam
- durchsichtig wurden und von unten herauf lebhaft zu leuchten begannen,
- da geriet er vollends in Verwirrung: die Fenster und die Gläser der
- Magazine schienen ganz verschwunden, ja überhaupt nicht mehr vorhanden
- zu sein, und das ganze Innere schien unbewacht unmittelbar an der Straße
- zu liegen, einen flimmernden Glanz um sich zu verbreiten und sich tief
- innen in den Gläsern zu spiegeln. _Ma quest' è una cosa divina!_
- wiederholte der lebhafte Italiener fortwährend.
- Sein Leben floß schnell dahin, wie das Leben vieler Pariser und das der
- zahlreichen jungen Ausländer, die nach Paris kommen. Bereits um neun Uhr
- befand er sich, kaum, daß er aus dem Bett gesprungen war, in einem
- prachtvollen Café mit modernen Fresken unter Glas und einer von Gold
- strotzenden Decke. Auf den Tischen lagen ganze Stöße von Zeitungen und
- Zeitschriften gewaltigen Formats, und ein Kellner von vornehmem Äußern
- schritt mit einer wundervollen Kaffeekanne in der Hand an den Gästen
- vorbei. Hier trank er mit der Genußsucht eines Sybariten aus einer
- ungeheuren Tasse den fetten Kaffee, lehnte sich wohlig in das weiche
- elastische Sofa zurück und dachte an die niedrigen, dunklen
- italienischen Cafés mit ihren unsauberen Bottegas und ihren schmutzigen,
- ungewaschenen Gläsern. Dann vertiefte er sich in die Lektüre der
- ungeheuren Zeitungen und gedachte der schwindsüchtigen kleinen
- Zeitschriften Italiens, des »Diario di Roma«, des »Il Pirato« und
- ähnlicher, in denen nichts wie harmlose politische Nachrichten und
- womöglich Anekdoten über die Thermopylen und den Perserkönig Darius zu
- lesen waren. Hier dagegen spürte man überall die glühende Leidenschaft,
- die dem Schriftsteller die Feder geführt hatte. Hier überstürzten sich
- die Fragen förmlich, jede Erwiderung rief eine neue hervor -- hier
- schien sich ein jeder nach Kräften durchzusetzen, sich recht breit zu
- machen und großzutun: irgendeiner drohte mit einer baldigen politischen
- Umwälzung und verkündigte einen Zusammenbruch des Staates, jede kaum
- merkliche Bewegung in der Kammer und im Ministerium, jede ihrer Aktionen
- wuchs sich zu einer gewaltigen, machtvollen Bewegung der hartnäckigen
- Parteien aus und hallte als lautes, wütendes Geschrei aus den Journalen
- wider. Ja, der Italiener verspürte etwas wie Furcht, wenn er dies las
- und daran dachte, daß vielleicht schon morgen die Revolution ausbrechen
- könnte; wie von einem Dunst umnebelt verließ er das Lesezimmer, und erst
- die Straßen von Paris vermochten es, den ganzen Ballast in einem
- Augenblick aus seinem Kopfe zu vertreiben. Dieser über alle Gegenstände
- dahinhüpfende Glanz, diese bunte Bewegung erschienen ihm nach der
- schweren Lektüre fast wie zarte Blumen, die sich an dem Rande eines
- Abgrundes angesiedelt hatten. Mit einem Schlage befand er sich wieder
- ganz auf der Straße und war bald gleich allen andern in jeder Hinsicht
- ein müßiger Flaneur. Er sah sich die fröhlichen, graziösen
- Verkäuferinnen an, die gleich kaum erblühten Knospen im ersten Lenz der
- Jugend prangten, und die alle Pariser Kaufläden anfüllten, als wenn die
- rauhe Gestalt des Mannes etwas Anstößiges an sich hätte und hinter den
- großen Fensterscheiben wie ein schwarzer Fleck erschienen wäre. Er sah,
- wie die bis zur Koketterie schmalen, mit den feinsten Seifen gewaschenen
- Händchen ihm lockend entgegenglänzten, wie sie damit beschäftigt waren,
- das Konfektpapier zu falten, während die Augen hell und unverwandt auf
- die Vorübergehenden gerichtet waren; er sah, wie sich an einer andern
- Stelle ein blondes, lieblich geneigtes Köpfchen, die langen Wimpern tief
- in die Seiten eines Moderomans versenkt, am Fenster abzeichnete, und wie
- die Schöne gar nicht bemerkte, daß bereits ein ganzer Haufen junger
- Leute vor ihr stand, ihren schneeweißen Hals, ja, jedes Härchen auf dem
- Kopfe betrachtete, und selbst das leise Wogen des Busens belauschte, das
- die Lektüre begleitete. Er blieb auch vor einem Bücherladen stehen, wo
- ihm seltsame Buchstaben gleich Hieroglyphen entgegenblickten, oder wo
- sich dunkle Vignetten gleich schwarzen Spinnen von dem dicken glänzenden
- Papier abhoben, Vignetten, die meist mit einem solchen Schwung und einer
- solchen Leidenschaft hingeworfen waren, daß es oft ganz unmöglich war,
- herauszubekommen, was sie eigentlich darstellten. Oder er sah sich eine
- Maschine an, die für sich allein einen ganzen Laden ausfüllte und die
- hinter der großen Spiegelscheibe in voller Tätigkeit war, indem sie eine
- ungeheure Walze, die Schokolade zerrieb, hin und her wälzte. Er blickte
- auch in die Läden hinein, vor denen die Pariser Krokodile, die Hände in
- den Taschen und mit offenem Munde, stundenlang herumstehen: da sah man
- wohl einen gewaltigen roten Hummer aus dem grünen Gemüse hervorgucken,
- oder eine getrüffelte Pute mit der lakonischen Überschrift »300 Frank«
- thronen, oder gelbe und rote Fische mit goldigen Flossen und Schwänzen
- in Glasvasen herumschwimmen. Oder er schlenderte auf den breiten
- Boulevards herum, die das ganze enge winklige Paris majestätisch
- durchquerten; da sah man, wie sich mitten in der Stadt gewaltige Bäume
- bis zur Höhe eines sechsstöckigen Hauses emporreckten, und wie sich
- Scharen von Fremden und ein Haufen urwüchsiger Pariser Löwen und Tiger,
- die in den Novellen und Erzählungen nicht immer richtig dargestellt
- sind, auf dem Asphalttrottoir drängten. Und wenn er genug herumflaniert
- und des Schauens satt war, dann begab er sich in ein Restaurant, wo die
- mit Spiegelscheiben ausgeschlagenen Wände längst im Glanze des Gaslichts
- erstrahlten und unzählige Gruppen von Damen und Herren widerspiegelten,
- die hinter den kleinen im Saale verstreuten Tischen saßen und sich
- geräuschvoll unterhielten. Nach dem Diner eilte er sogleich ins Theater,
- wobei ihm nur die Wahl schwer wurde, für welches er sich entscheiden
- sollte: denn jedes hatte seine eigene Berühmtheit, jedes seinen
- hervorragenden Autor, jedes seine besonderen Schauspiele. Überall wurden
- Novitäten aufgeführt. Dort gab es ein glänzendes Vaudeville,
- lebensprühend, oberflächlich und jeden Tag neu, wie der Franzose selbst,
- ein Stück, das vielleicht in drei müßigen Minuten entstanden war, und
- beim Publikum, dank der unerschöpflichen Laune des Schauspielers, von
- Anfang bis zu Ende unaufhörliche Lachstürme entfesselte. Dort wieder gab
- man ein Drama voller Glut und Leidenschaft. -- Und unwillkürlich
- verglich er die trockene, dürftige Schaubühne Italiens, wo der alte
- Goldoni, den schon alle auswendig konnten, unaufhörlich wiederholt, oder
- allerhand neue Komödien aufgeführt wurden, deren Harmlosigkeit und
- Naivität selbst ein Kind hätten langweilen müssen -- unwillkürlich
- verglich er jene mageren Erzeugnisse mit dieser lebendigen, hastigen
- dramatischen Flut, wo das Eisen geschmiedet wurde, solange es noch heiß,
- und wo jedermann besorgt war, seine Novität könne vorzeitig kalt werden.
- Wenn er sich dann gründlich ausgelacht, aufgeregt und satt gesehen
- hatte, kehrte er müde und ganz überwältigt von all den Eindrücken nach
- Hause zurück und sank ins Bett, den einzigen Gegenstand, den der
- Franzose bekanntlich in seiner Stube nicht entbehren kann. Wenn er ein
- Arbeitszimmer, ein Mittagessen und des Abends einen beleuchteten Raum
- braucht, dann sucht er ein öffentliches Gebäude auf. Aber der Fürst
- unterließ es trotzdem nicht, mit diesem abwechslungsreichen Müßiggang
- auch die geistige Betätigung zu verbinden, nach der seine Seele voller
- Ungeduld dürstete. Er besuchte auch die Vorlesungen sämtlicher berühmter
- Professoren. Das lebendige, oftmals Begeisterung ausströmende Wort, die
- neuen Gesichtspunkte und die neuen Seiten, die der redegewandte
- Professor den Dingen abzugewinnen wußte, hatten für den jungen Italiener
- etwas Überraschendes. Er fühlte plötzlich, wie eine Hülle von seinen
- Augen sank, wie die Gegenstände, die er früher kaum bemerkt hatte, nun
- plötzlich in einem neuen, hellen Lichte erstrahlten, und wie der alte
- Plunder von allerhand Kenntnissen, die er sich bisher angeeignet hatte
- und die bei der übergroßen Zahl der jungen Leute gewöhnlich wieder
- spurlos in Vergessenheit geraten, da es ihnen an Gelegenheit zur
- Anwendung fehlt, plötzlich lebendig zu werden begann und nun, mit neuem
- Auge angesehen, sich für immer in seinem Gedächtnis befestigte. Er
- unterließ es auch nicht, sich alle berühmten Prediger, Publizisten und
- Redner, die Diskussionen in der Kammer und überhaupt alles anzuhören,
- was den Ruhm von Paris bildet und in Europa laut von sich reden macht.
- Und trotzdem es ihm häufig an den Mitteln fehlte, da er vom alten
- Fürsten nur einen geringen Wechsel erhielt, wie er wohl einem Studenten,
- aber keinem Fürsten angemessen ist, fand er dennoch Gelegenheit, sich
- alles anzusehen, sich Zutritt bei allen Zelebritäten zu verschaffen,
- deren Ruhm die europäischen Blätter beständig ausposaunen, indem eins
- das andre wiederholt, ja, er lernte sogar die Modeschriftsteller
- persönlich kennen, deren seltsame Schöpfungen, wie die vieler andrer,
- einen so starken Eindruck auf seine junge leidenschaftliche Seele
- gemacht hatten, und in denen alle Welt eine bisher noch nie
- angeschlagene Saite und bislang noch von niemand erfaßte Regungen der
- Leidenschaften zu vernehmen glaubte. Mit einem Wort, das Leben des
- jungen Italieners nahm eine große, vielgestaltige Wendung und ward von
- dem mächtigen Glanze europäischen Lebens umstrahlt. Welche Unzahl von
- Eindrücken an einem einzigen Tage: sorgloser Müßiggang und ein unruhiges
- Erwachen, eine leichte Beschäftigung der Augen und eine angestrengte
- Arbeit des Geistes, ein Vaudeville im Theater, eine Predigt in der
- Kirche, der politische Wirbel in den Zeitschriften und in der Kammer,
- das Händeklatschen in den Auditorien, der erschütternde Donner des
- Konservatoriumsorchesters, der ätherische Glanz der tanzenden Bühne, der
- laute Lärm auf den Straßen -- welch ein mächtig flutendes Leben für
- einen fünfundzwanzigjährigen Jüngling! Es gibt keinen herrlicheren Punkt
- als Paris, und für nichts in der Welt hätte er ein solches Leben
- hingegeben. Wie angenehm und lustig ist's doch, mitten im Herzen Europas
- zu leben, wo man immer höher emporsteigt, während man vorwärtsschreitet,
- wo man fühlt, daß man ein Glied der großen universellen Gemeinschaft
- ist. Ja mitunter kam ihm sogar der Gedanke, Italien gänzlich Valet zu
- sagen und sich für immer in Paris niederzulassen. Italien erschien ihm
- jetzt wie ein finsterer, mit Schimmel bedeckter Winkel Europas, wo alles
- Leben und jede Bewegung erstorben war.
- So entflohen vier heiße Jahre seines Lebens -- vier Jahre von ungeheurer
- Bedeutung für einen Jüngling -- doch am Schluß dieses Abschnittes
- erschien ihm gar manches schon nicht in demselben Lichte wie ehemals.
- Von vielem fühlte er sich enttäuscht. Dasselbe Paris, das unaufhörlich
- neue Fremde anzog, diese nie erlöschende Leidenschaft der Pariser machte
- auf ihn längst nicht mehr den Eindruck wie früher. Er sah, wie diese
- große Vielseitigkeit und Bewegtheit des Lebens verging, ohne Folgen
- blieb und in der Seele keinen fruchtbaren Niederschlag hinterließ. In
- dem Wirbel dieser ewigen siedenden Bewegung und Tätigkeit entdeckte er
- nun eine furchtbare Untätigkeit und ein schreckliches Vorherrschen des
- Wortes über die Tat. Er sah, wie jeder Franzose scheinbar nur mit dem
- erhitzten Kopfe arbeitete, wie diese Lektüre der mächtigen
- Zeitungsblätter den ganzen Tag in Anspruch nahm und keine Stunde für das
- praktische Leben übrigließ, wie jeder Franzose in diesem seltsamen
- Strudel einer von Druckerschwärze beherrschten papierenen Politik
- erzogen wurde und ohne jede Kenntnis des Standes, dem er angehörte, ohne
- alle die ihm zukommenden Rechte und Lebensverhältnisse auch in der
- Praxis kennen gelernt zu haben, sich schon der einen oder andern Partei
- anschloß, sich all ihre Interessen feurig und leidenschaftlich zu Herzen
- nahm, und seinen Gegnern heftig entgegentrat, ohne seine Interessen,
- noch seine Gegner von Angesicht zu kennen -- und das Wort _Politik_ fing
- schließlich an, unserem Italiener lebhaften Ekel zu erregen.
- In den Bewegungen des Geistes, des Handels ... überall und in allem
- glaubte er nur gewaltsame Anstrengungen und ein ewiges Streben nach
- neuen Sensationen zu entdecken. Der eine suchte aus allen Kräften dem
- andern, wenn auch nur für einen Moment, den Rang abzulaufen. Der
- Kaufmann verwandte sein ganzes Kapital auf die Ausstattung seines
- Ladens, um die Menge durch seinen Glanz und seine Pracht anzulocken. Der
- Buchhandel nahm seine Zuflucht zu allerhand Bildern und Illustrationen,
- mit denen die Bücher ausgestattet wurden, sowie zu einem luxuriösen
- Buchschmuck, um hierdurch die erkaltende Aufmerksamkeit wieder auf sich
- zu lenken: In ihren Romanen und Novellen suchten die Schriftsteller den
- Leser durch die Seltsamkeit unerhörter Leidenschaften und durch
- Darstellung häßlicher Ausgeburten der menschlichen Natur zu fesseln.
- Alles schien sich einem frech und ohne Aufforderung von selbst
- anzubieten und aufzudrängen, wie eine Dirne, die die Männer nachts auf
- der Straße einzufangen sucht; alles streckte in wildem Wetteifer seine
- Hand möglichst weit aus, wie ein drängender Haufe zudringlicher Bettler.
- Selbst in der Wissenschaft und in den so durchgeistigten Vorlesungen,
- deren Wert er unbedingt anerkennen mußte, glaubte er die Absicht
- herauszufühlen, Vorzüge ans Licht zu stellen, mit ihnen zu prahlen und
- sich selbst in Szene zu setzen: überall gab es glänzende Episoden, aber
- dem Ganzen fehlte doch der mächtige, feierliche, erhabene Fluß. Überall
- das Bestreben, bisher unbeachtete Tatsachen aufzuspüren und ihnen eine
- ungeheure Bedeutung beizulegen, oft zum Nachteil der Einstimmigkeit und
- Harmonie des Ganzen, nur um sich den Ruhm einer Entdeckung zu sichern;
- und schließlich dieses fast durchgängige, dreiste Selbstbewußtsein,
- dieser völlige Mangel einer Erkenntnis unserer Unwissenheit -- und
- unserem Italiener fiel ein Vers ein, in dem der italienische Dichter
- Alfieri in einer boshaften Laune den Franzosen den Vorwurf macht:
- _Tutto fanno, nulla sanno,_
- _Tutto sanno, nulla fanno._
- _Gira volta son Francesi,_
- _Piu gli pesi, men ti danno._
- Eine trübselige Stimmung bemächtigte sich des jungen Fürsten. Vergebens
- versuchte er es, sich zu zerstreuen und Menschen aufzusuchen, die er
- achtete, aber seine italienische Natur wollte nicht mit der
- französischen zusammenstimmen. Er schloß zwar schnell Freundschaften,
- aber ein Tag genügte, um den Franzosen bis zur letzten Faser seines
- Wesens kennen zu lernen; am nächsten Tage gab es schon nichts mehr an
- ihm zu erforschen. Weiter als bis zu einer gewissen Tiefe konnte man
- keine Frage in seine Seele versenken, und die scharfe Klinge des
- Gedankens wollte nicht weiter eindringen, und doch hatte der Italiener
- ein viel zu tiefes Gefühl, um eine ihm völlig befriedigende Antwort bei
- einem leichtsinnig veranlagten Menschen finden zu können. So stieß er
- auf eine seltsame Leere, selbst in den Herzen derer, denen er seine
- Achtung nicht versagen konnte. Und er erkannte zuletzt, daß die ganze
- Nation, bei all ihren glänzenden Eigenschaften, ihrem edlen Streben,
- ihren ritterlichen Aufwallungen, dennoch blaß und unvollkommen blieb:
- ein leichtes Vaudeville, daß sie selbst geschaffen hatte. Über ihr ruhte
- keine erhabene Idee von hoher Würde. Überall gab es nur Andeutungen von
- Gedanken, aber die _eigentlichen_ Gedanken fehlten: überall gab es nur
- halbe und keine ganzen Leidenschaften, alles blieb unvollendet, flüchtig
- hingeworfen, mit rascher Hand skizziert; die ganze Nation war eine
- glänzende Vignette, und nicht das Bild eines großen Meisters.
- War es nur eine melancholische Stimmung, die ihn plötzlich überfallen
- hatte und ihn nun alles in einem solchen Lichte sehen ließ, oder lag der
- Grund dazu in dem wahrhaften, frischen, inneren Gefühl der Italiener --
- genug, dies Paris mit all seinem Lärm und Glanz wurde ihm bald eine
- drückende Wüste, und unwillkürlich flüchtete er sich bis an die ödesten
- und entlegensten Enden der Stadt. Nur die italienische Oper besuchte er
- noch; nur da allein schien seine Seele auszuruhen, und die Klänge der
- heimatlichen Sprache wuchsen jetzt für ihn bis zu ihrer ganzen Macht und
- Fülle empor. Immer häufiger sah er jetzt sein ihm fast gänzlich aus dem
- Gedächtnis entschwundenes Italien vor sich: dort irgendwo in weiter
- Ferne und in einem eigentümlichen, verlockenden Lichte; sein mahnender
- Ruf wurde mit jedem Tage deutlicher vernehmbar, und so entschloß er sich
- denn am Ende, an seinen Vater zu schreiben, er möge ihm erlauben, nach
- Rom zurückzukehren, da er kein Bedürfnis empfände, länger in Paris zu
- bleiben. Zwei Monate lang blieb jede Antwort, ja sogar der gewohnte
- Wechsel aus, den er schon längst zu erwarten hatte. Anfänglich wartete
- er geduldig, da er den launischen Charakter seines Vaters kannte,
- endlich aber bemächtigte sich seiner eine gewisse Unruhe. Er ging jede
- Woche mehrmals zu seinem Bankier und erhielt doch immer nur die gleiche
- Antwort, daß keinerlei Nachrichten aus Rom eingetroffen seien. Schon war
- seine Seele der Verzweiflung nahe. Die Mittel zur Bestreitung seines
- Lebensunterhalts waren schon seit langer Zeit erschöpft, schon hatte er
- mehrfach beim Bankier eine Anleihe machen müssen, doch auch dies Geld
- war bereits ausgegeben, und schon lange Zeit aß, frühstückte und lebte
- er auf Kredit; man begann ihn bereits schief und unfreundlich anzusehen,
- -- aber nicht einmal seine Freunde wollten das geringste von sich hören
- lassen. Ein Gefühl tiefer Vereinsamung überfiel ihn. Voller Erwartung
- und Unruhe irrte er durch diese ihm tödliche Langeweile einflößende
- Stadt. Jetzt im Sommer erschien sie ihm noch weit unerträglicher; die
- große Menge der Reisenden hatte sich in die Bäder begeben, oder befand
- sich in den großen europäischen Gasthöfen und unterwegs. Eine gewisse
- Öde und Leere warf ihre Schatten auf alles. Die Gebäude und Straßen von
- Paris waren unerträglich; die Gärten verschmachteten elend inmitten der
- Häuser, auf die die Sonne heiß herniederbrannte. Halbtot blieb er an der
- Seine auf einer schweren, lastenden Brücke oder am schwülen Ufer stehen,
- und versuchte es, sich selbst zu vergessen, oder sich durch irgendeinen
- Anblick zu zerstreuen; eine unendliche Langeweile verzehrte ihn, und ein
- unbekannter Wurm nagte an seinem Herzen. Endlich erbarmte sich das
- Schicksal seiner -- und eines Tages überreichte ihm sein Bankier einen
- Brief. Er stammte von seinem Onkel, der ihm mitteilte, daß der alte
- Fürst nicht mehr am Leben sei, und daß er nun kommen könne, um über die
- Erbschaft zu verfügen; dies erfordere seine persönliche Anwesenheit,
- weil die Vermögensverhältnisse sich in großer Unordnung befänden. Der
- Brief enthielt auch noch eine magere Banknote, die gerade dazu reichte,
- die Reise und den vierten Teil seiner Schulden zu bezahlen. Der junge
- Fürst wollte keinen Augenblick länger zögern, er wußte den Bankier, wenn
- auch nicht ohne Mühe, dazu zu bewegen, auf die Bezahlung der Schuld zu
- warten, und besorgte sich einen Platz im Postwagen. Eine schwere Last
- schien von seiner Seele genommen zu sein, als Paris in der Ferne vor ihm
- versank und die frische Luft der Felder ihn anwehte. Zwei Tage darauf
- war er schon in Marseille; er wollte jedoch nicht eine einzige Stunde
- ruhen und bestieg noch am selben Abend das Dampfschiff. Er fühlte sich
- durch das Mittelmeer heimatlich berührt; umspülte es doch die Küsten
- seines Vaterlandes, und schon beim Anblick seiner unendlichen Wogen
- fühlte er sich erfrischt. Es ist schwer, die Empfindung zu schildern,
- die ihn beschlich, als er die erste italienische Stadt -- das
- prachtvolle Genua erblickte. Doppelt so schön erschienen ihm nun die
- mächtig emporstrebenden bunten Glockentürme, die gestreiften Kirchen aus
- weißem und schwarzem Marmor und das ganze Amphitheater mit den vielen
- Türmen, das ihn beim Einlaufen des Dampfers plötzlich von allen Seiten
- umgab. Nie zuvor hatte er Genua gesehen. Diese funkelnde Buntheit der
- Häuser, Kirchen und Paläste inmitten dieser feinen ätherischen Luft, die
- in einer fast unbegreiflichen Bläue erstrahlte, -- war ganz
- unvergleichlich. Er stieg ans Ufer und befand sich sogleich in diesen
- dunklen, wunderbaren, engen, mit Fliesen ausgelegten Straßen, über denen
- oben nur ein ganz schmaler Spalt blauen Himmels sichtbar war. Dieses
- dichte Nebeneinander der hohen gewaltigen Häuser, dieser Mangel jeden
- Wagengerassels, diese kleinen dreieckigen Plätze und dazwischen die
- gewundenen Linien der Straßen, die wie kleine Korridore aussehen und
- unzählige Läden Genuesischer Gold- und Silberschmiede beherbergen, --
- das alles hatte für ihn etwas Überraschendes. Die malerischen
- Spitzenmäntel der Frauen, die kaum merklich von dem warmen Siroccowind
- hin und her bewegt wurden, ihr fester Tritt, der helle Klang der Stimmen
- auf den Straßen, die offenstehenden Tore der Kirchen, der Weihrauchduft,
- den sie ausströmten -- dies alles wehte ihn an wie ein Hauch aus fernen,
- längst vergangenen Zeiten. Es fiel ihm ein, daß er schon seit vielen
- Jahren nicht mehr in der Kirche gewesen war, in der Kirche, die in jenen
- aufgeklärten Gegenden Europas, wo er geweilt hatte, ihre hohe, reine
- Bedeutung eingebüßt hatte. Vorsichtig trat er ein und sank stumm neben
- dem prachtvollen, marmornen Säulengang auf die Knie; er betete lange,
- ohne selbst zu wissen, um was er bat -- er dankte Gott dafür, daß
- Italien ihn wieder in seinen Schoß aufgenommen, daß ihn wieder ein
- Bedürfnis nach dem Gebet überkommen hatte, daß seine Seele so feierlich
- gestimmt war ..., und das war sicherlich das schönste Gebet. Mit einem
- Wort, er ließ Genua wie eine wundervolle Station hinter sich zurück:
- hier hatte er den ersten Kuß Italiens empfangen. Und mit demselben
- heiteren Gefühl sah er Livorno, das öde Pisa und das von ihm bisher so
- wenig gekannte Florenz an sich vorüberziehen. Majestätisch grüßten ihn
- die schwere facettierte Kuppel des florentinischen Doms, die dunklen
- Paläste einer königlichen Architektur und die strenge Größe der kleinen
- Stadt. Dann ging's weiter über den Apennin, auch hier begleitete ihn
- dieselbe heitere Seelenstimmung, und als dann endlich nach einer
- sechstägigen Reise in klarer Ferne auf blauem Himmelsgrunde eine sich
- herrlich rundende Kuppel aufleuchtete -- oh! wie viel Gefühle drängten
- sich da plötzlich in seiner Brust! Nie hatte er ähnliche gekannt, und er
- hätte sie auch nicht aussprechen können. Aufmerksam betrachtete er jeden
- Hügel und jede Erhebung. Und nun waren endlich auch der Ponte Molle und
- das Stadttor da, jetzt nahm ihn der schönste aller Plätze auf, die
- Piazza del Popolo; der Monte Pincio mit seinen Terrassen, Treppen,
- Statuen und den sich oben ergehenden Menschen tauchte auf! Gott! wie
- fing da sein Herz an zu pochen! Der Vetturino jagte über die Corsostraße
- dahin, auf der der Fürst einst so unschuldig und treuherzig mit dem Abbé
- spazierengegangen war, als er noch nichts andres wußte, als daß die
- lateinische Sprache die Mutter der italienischen sei. Und nun zogen auch
- wieder alle Häuser an ihm vorbei, an denen er jede Einzelheit auswendig
- kannte: der Palazzo Ruspoli mit seinem ungeheueren Café, die Piazza
- Colonna, der Palazzo Sciarra, der Palazzo Doria, und endlich bogen die
- Reisenden in die engen Gassen ein, auf die die Ausländer so schimpfen;
- hier lärmte es nicht und wimmelte es nicht von Menschen, und nur selten
- begegnete man dem Laden eines Barbiers mit ein paar gemalten Lilien über
- der Tür, oder dem eines Hutmachers, der einen breitkrempigen
- Kardinalshut vor dem Eingang aufgehängt hatte, oder endlich einem Laden
- mit geflochtenen Stühlen, die gleich hier am Ort und mitten auf der
- Straße hergestellt wurden. Endlich machte der Wagen vor einem
- großartigen Palais im Stil Bramantes halt. In dem kahlen, noch nicht
- aufgeräumten Flur ließ sich niemand sehen. Auf der Treppe wurde der
- Ankömmling von dem alten gebrechlichen _Maestro di casa_ begrüßt, weil
- der Portier wie gewöhnlich mit seinem Stab ins Café gegangen war, wo er
- die größte Zeit zu verbringen pflegte. Der Alte öffnete eilig die Läden,
- und allmählich wurde es hell in den gewaltigen, altertümlichen Sälen.
- Ein trauriges Gefühl bemächtigte sich des Fürsten -- ein Gefühl, das ein
- jeder versteht, der nach einer Abwesenheit von mehreren Jahren nach
- Hause zurückkehrt, wo einem alles so viel älter und verödeter vorkommt,
- und wo jeder Gegenstand, den wir seit unserer Kindheit kennen, eine so
- trübselige Sprache redet. Und je heiterer die Erinnerungen sind, die
- sich an ihn knüpfen, um so drückender ist das Gefühl der Wehmut, das bei
- seinem Anblick unser Herz ergreift. Der Fürst durchschritt die lange
- Flucht der Säle, betrat flüchtig das Arbeitszimmer und das Schlafzimmer,
- wo vor noch gar nicht langer Zeit der alte Besitzer des Schlosses auf
- einem Bett einzuschlafen pflegte, über dem sich ein Baldachin mit
- Quasten und einem Wappen erhob, und aus dem er gewöhnlich in Pantoffeln
- und im Schlafrock ins Arbeitszimmer trat, um ein Glas Eselsmilch zu
- trinken, da er gern dick werden wollte. Dann besichtigte er das
- Ankleidezimmer, wo der Alte sich einst mit der peinlichsten Sorgfalt
- einer alten Kokette geputzt hatte; pflegte er sich doch von hier aus in
- seinem Wagen, begleitet von seinen Lakaien zum Corso nach der Villa
- Borghese zu begeben, wo er seine Lorgnette unaufhörlich auf eine
- Engländerin richtete, die gleichfalls hier ihre Spazierfahrt machte. Auf
- den Tischen und in den Schubladen konnte man noch die Reste von
- Schminke, Puder und aller möglichen Farben finden, mit deren Hilfe sich
- der Greis zu verjüngen suchte. Der _Maestro di casa_ erzählte, er habe
- noch zwei Wochen vor seinem Tode den festen Entschluß gefaßt, zu
- heiraten, und hätte sogar ausdrücklich zu diesem Zwecke eine
- Konsultation mit ausländischen Doktoren abgehalten, um mit diesen zu
- beraten, wie man wohl _con onore i doveri di marito_ erfüllen könne,
- aber eines schönen Tages sei er nach einem Besuche bei einigen
- Kardinälen und einem Prior ganz müde nach Hause zurückgekehrt, habe sich
- in seinen Lehnsessel gesetzt und sei den Tod der Gerechten gestorben,
- obwohl sein Tod noch seliger gewesen wäre, wenn es ihm nach den Worten
- des _Maestro di casa_ ein paar Minuten früher eingefallen wäre, nach
- seinem Beichtvater _il padre_ Benvenuto zu schicken. Der junge Fürst
- hörte sich das alles zerstreut an, ohne mit seinen Gedanken bei der
- Sache zu sein. Nachdem er sich von der Reise und den seltsamen
- Eindrücken erholt hatte, machte er sich daran, seine Angelegenheiten zu
- ordnen. Er war erschrocken über die Verwirrung, die hier herrschte.
- Alles, vom Kleinsten bis zum Größten, befand sich in einem geradezu
- unmöglichen Durcheinander. Vier nie enden wollende Prozesse wegen ein
- paar verfallener Schlösser und Güter in Ferrara und Neapel, alle
- Einnahmen schon auf drei Jahre im voraus völlig erschöpft; Schulden und
- tiefste Armut inmitten von höchstem Prunk und Luxus -- das war das Bild,
- das sich den Augen des Fürsten darbot. Der alte Fürst war eine
- unbegreifliche Mischung von Geiz und Verschwendung gewesen. Er hielt
- sich ein großes Personal von Bedienten, die er nicht bezahlte, die
- nichts außer ihrer Livree erhielten und sich mit den Trinkgeldern der
- Ausländer begnügen mußten, die beim Fürsten erschienen, um sich die
- Galerie anzusehen. Der Fürst hatte Jäger, Offizianten, _Lakaien_, die
- hinter seinem Wagen herfuhren, und _Lakaien_, die nirgends hinfuhren und
- nur tagelang in einem nahegelegenen Café oder in einer benachbarten
- Osteria saßen und schwatzten. Der junge Fürst entließ sofort das ganze
- Gesindel, all diese Lakaien und Jäger, und behielt nur den alten
- _Maestro di casa_; er hob fast den ganzen Marstall auf, verkaufte alle
- Pferde, die nie gebraucht worden waren, berief die Rechtsanwälte zu
- sich, um weitere Beschlüsse über die Prozesse zu fassen, und wußte es so
- einzurichten, daß von den vier Prozessen nur noch zwei übrigblieben; auf
- die übrigen Prozesse verzichtete er, da sie ja doch gänzlich
- aussichtslos waren. Er nahm sich vor, sich von nun ab in allem
- einzuschränken und in seinem Leben die strengste Ökonomie walten zu
- lassen. Das wurde ihm nicht sehr schwer, da er sich schon früh gewöhnt
- hatte, sich einzuschränken. Es wurde ihm auch nicht schwer, dem Verkehr
- mit seinen Standesgenossen zu entsagen; -- übrigens bestand diese ganze
- Gesellschaft nur aus zwei oder drei aussterbenden Familien, deren
- Erziehung ganz auf ein paar dürftigen Brocken französischer
- Bildungselemente beruhte, ferner aus einem reichen Bankier, um den sich
- ein Kreis von Ausländern scharte, und in ein paar unnahbaren,
- zugeknöpften, unfreundlichen Kardinälen, die ihr Leben in größter
- Zurückgezogenheit beim Tresettspiel (einer Art Schafskopf) mit ihrem
- Kammerdiener oder Barbier verbrachten. Mit einem Wort, er sonderte sich
- gänzlich von allen Menschen ab, widmete sich ganz dem Studium Roms und
- erinnerte in dieser Beziehung sogar an die Ausländer, die zunächst durch
- die unbedeutende schmucklose Außenseite der Stadt mit ihren dunklen
- fleckigen Häusern überrascht sind und sich, von Gasse zu Gasse irrend,
- erstaunt fragen: wo ist denn das gewaltige, alte Rom? um es erst später
- wahrhaft kennen zu lernen, wenn das antike Rom allmählich aus den engen
- Gassen hervorzutreten beginnt: hier in Form einer dunklen Arke, dort in
- Form marmorner, in die Mauer eingelassener Karniese, einer verwitterten
- Porphyrsäule, eines Giebels inmitten eines übelriechenden Fischmarkts;
- oder als ein vollständiger Porticus vor einer neueren Kirche, oder
- endlich ganz abseits und dort in der Ferne, wo die bewohnte Stadt ein
- Ende nimmt; hier wächst es plötzlich aus tausendjährigem Efeulaub und
- Aloen mitten aus der offenen Ebene in seiner ganzen Größe hervor: als
- ungeheures Kolosseum, als Triumphpforte, als Ruinen der unübersehbaren
- Cäsarenpaläste, der kaiserlichen Bäder, der Tempel und Gräberhallen, die
- auf dem offenen Felde verstreut liegen; jetzt bemerkt der Fremde schon
- nichts mehr von den neuen engen Straßen und Gassen, ganz umfangen von
- der antiken Welt; in seiner Erinnerung erstehen die gewaltigen Gestalten
- der Cäsaren, und sein Ohr glaubt den Schrei und das Beifallsgeklatsch
- des römischen Volks zu vernehmen.
- Aber es ging ihm doch auch wieder nicht so, wie dem Ausländer, der
- allein für seinen Titus Livius und Tacitus schwärmt, an allem
- vorübersieht und für nichts Sinn hat, außer für die Antike, und der in
- einer edeln und pedantischen Aufwallung gern die ganze neue Stadt
- niederreißen würde -- nein, er fand alles gleich schön, die antike Welt,
- die sich unter dem dunklen Architrav regte, das gewaltige Mittelalter,
- das überall die Spuren gigantischer Künstler und einer wunderbaren
- Freigebigkeit der Päpste hinterlassen hatte, und endlich die an dieses
- sich anschließende neue Zeit mit ihren zahlreich sich drängenden neuen
- Völkern. Ihm gefiel diese wunderbare Verschmelzung zu einem Ganzen,
- dieser Charakter einer dicht bevölkerten Hauptstadt und dieser Charakter
- einer einsamen Wüste, die sich hier miteinander mischten, diese Paläste
- und Säulen, dieses Gras und das wilde Gebüsch, das sich an den Mauern
- dahinzog, der lärmende Markt inmitten dunkler, einsamer, unten
- verdeckter Massen, das helle Geschrei des Fischhändlers in der
- Säulenhalle, der Limonadenverkäufer vor dem Pantheon mit seiner
- fliegenden und mit grünem Laub geschmückten Bude; ihm gefiel selbst die
- Unscheinbarkeit dieser dunklen, unordentlichen Straßen, der Mangel aller
- hellen, gelben Farbe an den Häusern, dieses Idyll inmitten der Stadt,
- die Ziegenherde, die auf dem Straßenpflaster ausruhte, das Schreien der
- Kinder und diese reine feierliche Stille, die unsichtbar auf allen
- Dingen zu liegen schien, und die auch den Menschen umfing. Ihm gefielen
- diese unaufhörlichen Überraschungen, diese Plötzlichkeiten, die einem in
- Rom so auffallen. Wie ein Jäger, der am frühen Morgen auf die Jagd geht,
- oder wie ein alter Ritter, der auf Abenteuer auszieht, so machte er sich
- jeden Tag auf, um neue und immer neue Wunder aufzusuchen; er blieb
- unwillkürlich stehen, wenn sich plötzlich inmitten einer ärmlichen Gasse
- ein Palast vor ihm auftürmte, der eine finstere und strenge Größe
- atmete. Seine schweren unerschütterlichen Mauern waren aus dunklem
- Travertin errichtet, seine Spitze krönte eine prachtvolle, wunderbar
- ausgeschmückte, kolossale Karniese, die mächtige Tür war mit marmornen
- Tragbalken ausgelegt, und die Fenster mit ihrem herrlichen
- architektonischen Schmuck boten einen majestätischen Anblick dar. Oder
- es blickte ihm plötzlich auf einem kleinen Platz ein malerischer Brunnen
- entgegen, der sich selbst und seine vom Moos verunstalteten granitenen
- Stufen mit feuchtem Naß besprengte, oder eine finstere, schmutzige
- Straße endete plötzlich mit einer glänzenden architektonischen
- Dekoration eines Bernini, mit einem gen Himmel strebenden Obelisk, mit
- einer Kirche oder einer Klostermauer mit ihren kohlschwarzen Karniesen,
- die auf dem dunkelblauen Himmel im Glanze der Sonne aufflammten; je
- weiter sich die Straßen in die Tiefe verloren, um so häufiger wurden die
- Paläste und die architektonischen Schöpfungen eines Bramante, Borromini,
- Sangallo, della Porta, Vignola, Buonarotti, und es wurde ihm endlich
- klar, wie man nur hier in Italien das Gefühl hat, daß es eine
- Architektur gibt, und etwas von ihrer strengen künstlerischen Größe
- ahnt. Aber noch größer war der geistige Genuß, wenn er in das Innere der
- Kirchen und Paläste trat, wo sich Arken, flache Pfeiler und runde Säulen
- aus allen möglichen Marmorarten, unterbrochen von blauen
- Basaltkarniesen, von Porphyr, Gold und antiken Steinen, miteinander zu
- einer wundervollen Harmonie verbanden, sich einstimmig einem tief
- durchdachten Plane fügend, und wo sich hoch über dies alles die
- unsterbliche Schöpfung des Pinsels erhob. Sie waren von einer hohen
- Schönheit, diese tief durchdachten Ausschmückungen der Säle, voll von
- einer königlichen Größe und architektonischen Pracht, die sich in diesem
- fruchtbaren Zeitalter überall ehrfürchtig vor der Malerei zu beugen
- wußte, als der Künstler noch Architekt, Maler und sogar Bildhauer in
- einer Person war. Diese mächtigen Schöpfungen des Pinsels, wie sie heute
- schon nicht mehr vorkommen, erhoben sich finster vor ihm auf den dunklen
- Mauern, sie, die noch immer aller Nachahmung unerreichbaren,
- unbegreiflichen Vorbilder. Und wenn er nun in das Innere eines solchen
- Gebäudes eintrat und sich immer tiefer in dem Anblick versenkte, dann
- glaubte er zu fühlen, wie sich sein Geschmack, dessen Keim seine Seele
- schon immer barg, beinahe merklich entwickelte. Wie kleinlich und
- armselig erschien ihm gegenüber dieser majestätischen, wunderbaren
- Pracht aller Prunk des XIX. Jahrhunderts, der höchstens brauchbar war,
- Läden auszuschmücken, und der nichts als Möbeltischler, Tapezierer,
- Zimmerleute, Vergolder und einen ganzen Haufen von Handwerkern
- hervorgebracht, die Welt -- der Raffaele, Tiziane und Michelangelos
- beraubt und die Kunst bis zum Handwerk herabgedrückt hatte! Wie elend
- erschien ihm jetzt all dieser Luxus, der einen nur beim ersten Blick
- verblüfft, und den man bald mit Gleichmut betrachtet, angesichts dieses
- erhabenen Einfalls, seine Mauern mit unsterblichen Gebilden des Pinsels
- auszuschmücken, dieser wunderbaren Idee der Besitzer jener Paläste --
- sich einen ewigen Gegenstand des Genusses zu verschaffen in Stunden, wo
- man ausruht von der Arbeit und von den lärmenden Sorgen des Lebens, sich
- in einen Winkel zurückzieht, weit abseits von allen Menschen, in ein
- altertümliches Sofa zurückgelehnt, seinen Blick stumm auf die Wand
- richtet und mit der Seele tief in die Geheimnisse des Pinsels eindringt,
- ganz in die Betrachtung der in der Schönheit webenden geistigen Ideen
- verloren! Denn unendlich erhebt die Kunst den Menschen, indem sie den
- Regungen unserer Seele eine wunderbare Schönheit und einen hohen Adel
- verleiht. Wie klein erschien ihm vor dieser unerschütterlichen,
- fruchtbaren Pracht, die den Menschen mit Gegenständen umgab, die seine
- Seele mit Bewegung erfüllten und veredelten, der heutige kleinliche
- Schmuck, wie er alljährlich von der unruhigen Mode ausgespien und wieder
- zerstört wird, diesem seltsamen, unbegreiflichen Produkt des XIX.
- Jahrhunderts, vor dem sich die Weisen stumm beugen, dieser verheerenden
- Vernichterin alles dessen, was ungeheuer, erhaben und heilig ist. Wenn
- er sich derartigen Überlegungen hingab, schoß ihm unwillkürlich der
- Gedanke durch den Kopf: »Rührt nicht vielleicht daher jene gleichgültige
- Kälte, die unser gegenwärtiges Zeitalter umfängt, jenes gemeine
- Geschäftsinteresse und diese vorzeitige Abstumpfung der Sinne, die noch
- nicht einmal Zeit hatten, zu erwachen und sich zu entwickeln? Man
- beraubte den Tempel seiner Heiligtümer, und der Tempel ist kein Tempel
- mehr. Fledermäuse und böse Geister haben ihre Wohnstätte in ihm
- aufgeschlagen.«
- Je tiefer sein Blick in die Dinge eindrang, um so mehr überraschte ihn
- die ungewöhnliche Fruchtbarkeit jenes Zeitalters, und unwillkürlich
- mußte er ausrufen: »Wie und wann vermochten sie nur all dies zu
- erschaffen?« Dieser wunderbare Charakter, der Rom auszeichnete, wuchs
- für ihn mit jedem Tag zu immer mächtigerer Größe empor. Eine Galerie
- neben der andern, und immer noch wollten sie kein Ende nehmen. Dort jene
- Kirche barg irgendein Wunderwerk des Pinsels, dort jene verwitternde
- Mauer entzückte den Blick durch eine Freske, deren Farben bereits zu
- erlöschen drohten, und dort auf den hoch emporgetürmten Marmorblöcken
- und Säulen, die aus alten heidnischen Tempeln hierher gebracht worden
- waren, leuchtete einem ein von einem unsterblichen Pinsel
- ausgeschmückter Plafond entgegen. Das alles glich einer tief verborgenen
- Goldader, die mit gewöhnlicher Erde bedeckt und nur dem Bergmann allein
- bekannt war. Wie voll war seine Seele jedesmal, wenn er nach Hause
- zurückkehrte, und wie verschieden war dieses von ruhiger, feierlicher
- Stille erfüllte Gefühl von jenen unruhigen Eindrücken, mit denen Paris
- seine Seele so sinnlos bestürmt hatte, wenn er müde und abgespannt nach
- Hause zurückkehrte und nur selten fähig war, sich über das Ergebnis
- dieser Empfindungen Rechenschaft abzulegen.
- Jetzt erschien ihm die unscheinbare und dunkle Außenseite Roms, über die
- die Ausländer so sehr klagen, noch mehr zu diesen innern Schätzen der
- Stadt zu stimmen. Es wäre ihm geradezu peinlich gewesen, nach alledem
- auf eine moderne Straße mit ihren prunkvollen Läden, den stutzerhaft
- gekleideten Menschen und den eleganten Equipagen hinauszutreten: dies
- wäre ihm fast wie eine unheilige Zerstreuung, ja wie eine
- Tempelschändung vorgekommen. Diese bescheidene Stille, dieser
- eigentümliche Charakter der römischen Bevölkerung, dieser Schatten des
- XVIII. Jahrhunderts, der noch in Form eines schwarzen Abbés in einem
- Dreimaster mit schwarzen Strümpfen und Schuhen oder eines purpurnen
- altertümlichen Kardinalswagens mit seinen vergoldeten Achsen, Rädern,
- Karniesen und Wappen durch die Straßen huschte, gefiel ihm weit besser,
- denn dies alles stimmte so gut mit der Gravität und Würde Roms überein:
- dieses lebendige, nie hastende Volk, das ruhig und malerisch durch die
- Straßen schritt, den Mantel über den Arm geschlagen oder die Jacke über
- der Schulter, ohne jenen schwerfälligen Ausdruck in den Gesichtern, der
- ihm so seltsam bei den blauen Blusenträgern und überhaupt an der ganzen
- Bevölkerung von Paris aufgefallen war.
- Hier erschien selbst die Armut in einem heiteren Lichte, sorglos und
- unbekannt mit Qualen und Tränen streckte sie unbefangen und schön ihre
- Hand aus; hier wirkte alles schön und heiter: die malerischen Regimenter
- von Mönchen, die in langen weißen und schwarzen Kleidern über die
- Straßen gingen, ein schmutziger rothaariger Kapuziner, der plötzlich in
- seinem hellen kamelfarbenen Kleide in der Sonne aufleuchtete, endlich
- dieses ganze Künstlervolk, das sich hier von allen Weltenden
- zusammenfand, die engen Fetzen europäischer Kleidung fortwarf und in
- freien, malerischen Kostümen einherging, ihre würdigen majestätischen
- Bärte, wie wir sie auf den Porträts Leonardo da Vincis und Tizians
- finden, und die so wenig Ähnlichkeit mit dem häßlichen, schmalen
- Bärtchen haben, das sich der Franzose zurecht schneidet und dann fünfmal
- im Monat stutzen lassen muß. Hier bekam der Künstler ein Gefühl für das
- lange wallende Haar, das er sich in dichten Locken herunterfallen ließ.
- Hier erhielt selbst der Deutsche mit seinen krummen Beinen und seinem
- ungegliederten Körperbau einen bedeutenden Ausdruck, ließ sich seine
- goldenen Locken über die Schultern fallen und kleidete sich in eine
- leicht gefaltete griechische Bluse oder einen Sammetrock, wie er unter
- dem Namen Cinquecento bekannt ist und wie ihn nur die Künstler in Rom
- tragen. Auf ihren Gesichtern lagen die Spuren einer strengen Ruhe und
- einer friedlichen Arbeit. Selbst die Gespräche und Meinungsäußerungen,
- die man auf den Straßen, in den Cafés, in den Osterien vernahm, hatten
- keine Ähnlichkeit mit denen, die der Fürst in den anderen Straßen
- Europas gehört hatte, ja sie waren ihnen geradezu entgegengesetzt. Hier
- hörte man nichts von gefallenen Fonds, von Kammerdebatten oder von der
- spanischen Frage. Hier sprach man nur von einer neuerdings entdeckten
- antiken Statue, von der Kraft des Pinsels der großen Meister, hier
- stritt man sich und diskutierte über das neu ausgestellte Werk eines
- modernen Künstlers, über Volksfeste, oder man hörte hier Reden, in denen
- der Mensch sein Inneres preisgab, und die in Europa durch langweilige
- Salongespräche und politische Unterhaltungen verdrängt sind, die selbst
- jeden beseelten Ausdruck aus den Gesichtern vertrieben haben.
- Oft verließ er die Stadt, um sich in der Umgegend umzusehen, und dann
- setzten ihn neue Wunder in Erstaunen. Wie herrlich waren diese stummen
- Wüsten der römischen Felder, die mit Ruinen antiker Tempel übersät, sich
- mit unbeschreiblicher Ruhe ringsherum erstreckten. Bald ließ die dichte
- Decke gelber Blüten sie ganz wie in Gold getaucht erscheinen, bald
- wieder ließen die roten Blüten wilden Mohns sie aufglühen wie eine
- neuentfachte Kohle. Nach vier verschiedenen Seiten bot sich ein
- vierfacher wunderbarer Anblick dar. Auf der einen Seite flossen die
- Felder unmittelbar in einer scharfen ebenen Linie mit dem Horizont
- zusammen. Die Arken der Wasserleitungen schienen in der Luft zu schweben
- und gleichsam auf den glänzenden silbernen Himmel aufgeklebt zu sein.
- Auf der andern Seite sah man hinter den Feldern die Berge
- hindurchschimmern. Sie türmten sich nicht wild und jäh aus der Ebene
- empor, wie in Tirol oder in der Schweiz, sondern in harmonischen
- fließenden Linien, sich hebend und senkend und umstrahlt von der
- herrlichen Klarheit der Luft, schienen sie zum Himmel emporfliegen zu
- wollen. An ihrem Fuße zog sich eine lange Arkade von Wasserwerken gleich
- einem langgestreckten Fundament dahin, der Gipfel der Berge glich der
- luftigen Fortsetzung eines wunderbaren Gebäudes, und die Farbe des
- Himmels war hier schon nicht mehr silbern, sondern hatte jenen
- unbeschreiblichen Ton des jungen Flieders. In einer dritten Richtung
- wurden diese Felder gleichsam durch Berge begrenzt, aber hier traten sie
- näher an sie heran, türmten sich höher empor, traten mit ihren
- Vorderreihen noch stärker hervor und verschwanden in sanften Abstufungen
- in der Ferne. Die dünne blaue Luft ließ ihre Farben wunderbar abgetönt
- erscheinen, und durch diese blaue ätherische Hülle hindurch sah man kaum
- merklich die Häuser und Villen von Frascati durchschimmern, hier leise
- und sanft berührt von den Strahlen der Sonne, dort untertauchend in dem
- Helldunkel kaum erkennbarer Heine, die in der Ferne erglühten. Aber wenn
- man sich plötzlich umdrehte, dann lag mit einemmal ein neues Bild vor
- einem. Die Felder gingen unmittelbar in die Stadt Rom über. Die Ecken
- und die Linien der Häuser zeichneten sich scharf und klar ab, in
- scharfen Konturen rundeten sich die Kuppeln, die Statuen des
- lateranischen Johann und die majestätische Kuppel der Peterskirche, die
- immer höher und höher emporstrebte, je mehr man sich von ihr entfernte,
- und die endlich den ganzen Horizont einsam beherrschte, wenn die ganze
- Stadt bereits verschwunden war. Noch mehr aber liebte er es, diese
- Felder während eines Sonnenunterganges von der Terrasse einer der Villen
- von Frascati oder Albano zu betrachten. Dann erschienen sie wie ein
- unübersehbares Meer, das hinter dem dunklen Gitter der Terrasse
- erglänzte und aufstieg. Alle Unebenheiten und Linien verschwanden in dem
- sie umspielenden Lichte. Anfangs erschienen sie noch grünlich, und hie
- und da erkannte man noch die Arken und Grabmäler, die auf ihnen
- verstreut waren, dann aber spielten sie plötzlich in regenbogenfarbenem
- Lichte, in hellen, durchscheinenden, gelben Tönen, und kaum noch konnte
- man die Ruinen der antiken Baudenkmäler erkennen. Endlich aber färbten
- sie sich immer tiefer purpurrot, verschlangen selbst die unendliche
- Kuppel und flossen in ein tiefes Himbeerrot zusammen, und nur noch der
- in der Ferne glänzende goldene Streifen des Meeres trennte sie von dem
- Horizont, der ebenso purpurrot dalag, wie sie. Niemals aber hatte er
- gesehen, daß die Felder gleich dem Himmel wie in Flammen getaucht waren.
- Lange stand er, ganz erfüllt von einer unbeschreiblichen Wonne, in
- diesen Anblick versunken, da, und dann hatte er wieder alles vergessen,
- selbst sein Entzücken. Und wenn dann auch die Sonne untergegangen war,
- der Horizont schnell erlosch und sich noch schneller, ja beinahe
- plötzlich die Felder verdunkelten, wenn dann der Abend sein finsteres
- Antlitz zeigte, Leuchtkäfer in feurigen Fontänen über den Ruinen
- emporschwirrten und jenes plumpe geflügelte Insekt, das aufrecht
- herangeflogen kommt wie ein Mensch und unter dem Namen Teufel bekannt
- ist, ihm plötzlich sinnlos ins Auge flog, dann erst merkte er, daß die
- Kälte der südlichen Nächte bereits herabgesunken war und ihn ganz
- durchschüttelte, und er beeilte sich, in die Straßen der Stadt zu
- kommen, um nicht an dem Fieber, wie es hier im Süden verbreitet ist, zu
- erkranken.
- So floß sein Leben in dem Genuß der Natur, der Künste und der Antike
- dahin. Bei dieser Lebensweise erfaßte ihn plötzlich stärker als je der
- Wunsch, sich tiefer in die Geschichte Italiens zu versenken, die er
- bisher nur fragmentarisch und in einzelnen Episoden kennen gelernt
- hatte. Ohne dies wäre ihm die Gegenwart unvollständig und unvollkommen
- erschienen, und so machte er sich gierig daran, die Archive, die
- Chroniken und Memoiren zu studieren. Er konnte sie jetzt nicht bloß so
- lesen wie irgendein Italiener, der ewig in der Stube hockt, sich mit
- Leib und Seele in die beschriebenen Vorgänge versenkt und über der
- großen Zahl der Personen und der Ereignisse, die sich um ihn drängen,
- die große Masse, das Ganze übersieht; -- er konnte jetzt alles ruhig
- überschauen, wie aus einem Fenster des Vatikan. Sein Aufenthalt
- außerhalb Italiens inmitten des Lärms und der Bewegung tätiger Völker
- und Staaten diente ihm als strenge Prüfung und Probe bei allen Schlüssen
- und Folgerungen, und verlieh seinem Auge eine reiche Vielseitigkeit und
- einen allumfassenden Blick. Wenn er jetzt in den Geschichtsbüchern las,
- war er noch mehr und ohne alle Voreingenommenheit überrascht durch die
- Größe und den Glanz der italienischen Vergangenheit. Er war ganz
- erstaunt über die schnelle und vielseitige Entwicklung des Menschen auf
- einem so schmalen, engbegrenzten Fleckchen Erde, durch die mächtige und
- kraftvolle Regsamkeit aller Kräfte. Er sah, wie hier der Mensch in
- voller Tätigkeit war, wie jede Stadt ihre eigene Sprache sprach und ihre
- große Geschichte besaß, die ganze Bände ausfüllte, und wie hier mit
- einem Schlage alle Arten und Gestalten des bürgerlichen Lebens und der
- Regierungsformen entsprangen: -- ewig bewegte Republiken voll starker
- unbotmäßiger Charaktere, und mitten unter ihnen -- allmächtige Despoten,
- eine ganze Stadt voll königlicher Kaufleute, von geheimen Fäden der
- Regierung umsponnen unter der monarchischen Scheingewalt des einen
- Dogen; die Fremden, die herbeigerufen worden waren und nun inmitten der
- einheimischen Bewohner lebten, die starken Zusammenstöße und
- Abwehrmaßregeln im Schoße eines unbedeutenden Städtchens, der fast
- märchenhafte Glanz der Herzöge und Monarchen winziger Länder, alle die
- Mäzene, Protektoren und Inquisitoren, diese ganze Reihe großer Männer,
- die um ein und dieselbe Zeit zusammentrafen, die Lyra, der Zirkel, das
- Schwert und die Palette, diese Tempel, die mitten im Streit, im Kampf
- und während mächtiger Unruhen errichtet wurden, diese Feindschaften, die
- Blutrache, diese Züge des Großmuts und diese ganze Masse romantischer
- Ereignisse im bürgerlichen Leben, mitten im Wirbel des politischen,
- gesellschaftlichen Daseins, und das wundersame Band, das sich um dies
- alles schlang, eine so erstaunliche Entfaltung aller Seiten des
- politischen und bürgerlichen Lebens, ein solches Erwachen aller
- menschlichen Elemente in einem so engen Bezirk, die an andern Orten
- immer nur in Bruchstücken und auf großen Flächen zur Darstellung kamen!
- -- Und das alles war plötzlich verschwunden, plötzlich dahin, alles war
- erloschen wie erkaltete Lava und von Europa selbst aus seinem Gedächtnis
- getilgt, wie ein alter unnützer Plunder.
- Nirgends, nicht einmal in den Journalen läßt uns das arme Italien seine
- des Diadems beraubte Stirn sehen; mit seiner politischen Bedeutung hat
- es jeden Einfluß auf die Welt verloren.
- »Wie aber,« dachte er, »wird denn sein Ruhm nie wieder auferstehen? Gibt
- es denn gar kein Mittel, ihm seinen entschwundenen Glanz wiederzugeben?«
- Und er gedachte der Zeit, als er noch als Student der Universität, als
- er in Lucca von der Zurückführung der ruhmreichen Vergangenheit geträumt
- hatte; er erinnerte sich, wie dies der liebste Gedanke der italienischen
- Jugend gewesen war und wie sie gutmütig und treuherzig beim vollen
- Becher davon geschwärmt hatten. Und nun mußte er erkennen, wie
- kurzsichtig diese jungen Leute gewesen waren und wie kurzsichtig die
- Politiker sind, die dem Volke Trägheit und Sorglosigkeit vorwerfen. Und
- eine dunkle Ahnung des mächtigen Fingers, vor dem der Mensch verstummt
- und sich demütig beugt, des mächtigen Fingers, der den Weltereignissen
- ihr Ziel und ihren Gang vorschreibt, bemächtigte sich seiner und
- erfüllte sein Gemüt mit Staunen und Ehrfurcht. Aus dem Schoße Italiens
- hatte Er den armen von seinem eigenen Heimatlande verfolgten Genueser
- emporsteigen lassen, der allein sein ganzes Vaterland zugrunde richten
- sollte, indem er ein neues unbekanntes Land und neue weite Seewege
- entdeckte. Der Horizont der Welt erweiterte sich; das Leben Europas
- erhielt einen mächtigen Schwung und ward erfüllt von lebhafter Bewegung.
- Schiffe begannen die Welt zu umsegeln und machten die mächtigen Kräfte
- des Nordens frei. Das Mittelmeer verödete, und wie das versandende Bett
- eines Flusses, versandete Italien, das in dem Wettstreit zurückgeblieben
- war. Noch steht Venedig, noch spiegeln sich seine erloschenen Paläste in
- den Wellen des Adriatischen Meeres, und ein herzzerreißender Schmerz
- erfüllt die Seele des Fremden, wenn ihn der Gondelführer gebeugten
- Hauptes an den kahlen Mauern und zerstörten Brüstungen stummer marmorner
- Balkone vorüberrudert. Stumm liegt Ferrara da und schreckt uns mit dem
- drohend finstern Anblick seines herzoglichen Schlosses. Traurig und öde
- stehen in ganz Italien die gebeugten Türme und die architektonischen
- Wunder inmitten einer Generation, die gleichgültig zu ihnen emporsieht.
- Laut schallt das Echo durch die einst so lebhaften Straßen, und der
- ärmliche Vetturino hält vor einer schmutzigen Osteria, die sich in einem
- prunkvollen Schloß angesiedelt hat. Im härenen Bußkleid des Bettlers
- wandelt das heutige Italien einher, und wie staubige Lumpen hängen an
- ihm die Fetzen seines verblichenen Königsmantels.
- In einer Aufwallung tiefen Seelenschmerzes hätte er mitunter sogar
- Tränen vergießen können. Aber dann bemächtigte sich seiner von selbst
- ein großer trostreicher Gedanke, und ein höheres Ahnungsvermögen gab ihm
- die Gewißheit, daß Italien noch nicht gestorben sei, daß die Spuren
- seiner ewigen unerschütterlichen Macht über die ganze Welt sich noch
- fühlbar machten, daß sein gewaltiger Genius ewig über dem Lande schwebt,
- er, der von Anbeginn das Schicksal Europas in seinen Busen gelegt hatte,
- der das Kreuz in die finsteren europäischen Wälder trug, der mit dem
- Schifferhaken der bürgerlichen Ordnung den an ihren fernen Grenzen
- hausenden halbwilden Menschen an sich zog, der die Glut des Verkehrs und
- des Welthandels entfachte, die Listen der Politik und das verwickelte
- Federwerk der bürgerlichen Verhältnisse spielen ließ, all seine
- geistigen Kräfte glanzvoll entfaltete, seine Stirn mit dem heiligen
- Kranze der Poesie umwand, und als der _politische_ Einfluß Italiens
- bereits zu schwinden begann, die Welt mit herrlichen Wundern erfüllte:
- mit Kunstwerken, die den Menschen mit nie geahnten Genüssen und
- göttlichen Gefühlen beschenkten, wie sie bisher noch nie den Schächten
- seiner Seele entstiegen waren. Und als nun auch das Jahrhundert der
- Kunst zur Neige ging und die ganz von ihren Rechnungen und Geschäften in
- Anspruch genommenen Menschen für sie erkalteten, da schwebt er über der
- Welt und wird er getragen von den klagenden Seufzern der Musik, und an
- den Ufern der Seine, an der Newa, an der Themse, an der Moskwa, am
- Mittelmeer und am Schwarzen Meer, an den Küsten Algeriens und auf
- fernen, vor kurzem noch halbbarbarischen Inseln ertönt begeisterter
- Beifall zum Preise der unser Ohr mit Wohllaut erfüllenden Sänger. Und
- endlich beherrscht er selbst durch sein ehrwürdiges Alter und als Bild
- des Verfalls und der Verwesung drohend die Welt: diese erhabenen
- architektonischen Wunder blieben uns erhalten wie ein mahnender
- Schatten, als ein ewiger Vorwurf, um Europa seinen kleinlichen
- chinesischen Luxus und seine kindliche, spielerische, geistige
- Zersplitterung entgegenzuhalten. Dieser ganze Haufen untergegangener
- Welten und diese wunderbare Mischung mit der ewig blühenden Natur -- das
- alles existiert nur zu dem Zweck, um die Welt aufzurütteln, um den
- Bewohner des Nordens zuweilen wie im Traum diesen Süden sehen zu lassen,
- es existiert nur, damit der Gedanke an ihn, ihn aus dem kalten Leben und
- all der Geschäftigkeit, die die Seele verhärtet und erstarren läßt,
- herausreiße und über sich emporhebe, indem sich plötzlich ein
- leuchtender, den Menschen weit mit sich forttragender Ausblick vor ihm
- auftut, ihm eine coliseische mondbeglänzte Nacht, das in Schönheit
- sterbende Venedig, ein unsichtbares Leuchten des Himmels und das warme
- Gekose der herrlichen Luft vorzaubert -- auf daß er wenigstens _einmal_
- in seinem Leben ein _schöner Mensch_ sei.
- In einem solchen feierlichen Augenblick söhnte er sich mit dem
- Niedergang und Verfall seines Vaterlandes aus, und nun glaubte er,
- überall Keime des ewigen Lebens und einer besseren Zukunft zu erblicken,
- die uns der ewige Schöpfer der Welt unablässig bereitet. In solchen
- Augenblicken dachte er auch häufig über die Bedeutung des römischen
- Volkes für die Gegenwart nach; und es schien ihm, als ob hier noch ein
- ganz unverbrauchtes Material vorliege. In den Epochen des Glanzes hatte
- es auch nicht ein _einziges_ Mal eine bedeutende Rolle gespielt; nur die
- Päpste und die adligen Familien hatten ihre Namen ins Buch der
- Geschichte eingezeichnet, das Volk aber war unbeachtet geblieben. Das
- Spiel der Interessen in ihm und um es herum hatte nicht in seinen Kreis
- eingegriffen und es nicht mit sich fortgerissen; noch war es unberührt
- von jeglicher Bildung geblieben, die wie ein Sturmwind die in ihm
- schlummernden Kräfte aufgerüttelt hätte. Etwas von kindlicher Güte und
- Vornehmheit lag in seiner Natur. Dieser Stolz auf den römischen Namen,
- der Grund weshalb ein großer Teil der Bürger, die sich für Nachkommen
- der alten Quiriten hielten, nie eine ehrliche Verbindung mit andern
- Bevölkerungsklassen einging; dieser aus Gutmütigkeit und Leidenschaft
- gemischte Charakter, ein Beweis für seine Schönheit und Reinheit (der
- Römer vergißt nie das Gute oder Böse, das ihm angetan wird; er ist
- entweder gut oder böse, verschwenderisch oder geizig, seine Laster und
- Tugenden ruhen noch in ihren ursprünglichen Schächten und haben sich
- noch nicht zu einem unbestimmten Ganzen vermischt wie beim Menschen
- unserer Zivilisation, der alle möglichen Leidenschaften, jedoch nur in
- ganz geringen Dosen besitzt und bei dem sie alle unter der
- Oberherrschaft des Egoismus stehen); diese Unmäßigkeit und diese
- Neigung, aus dem Vollen zu genießen -- ein allgemein verbreiteter Zug
- bei allen starken Völkern -- das alles wurde für ihn von großer
- Bedeutung. Und dann diese strahlende ungekünstelte Heiterkeit, wie wir
- sie heute kaum bei einem andern Volke finden, überall, wo der Fürst
- hingekommen war, hatte er den Eindruck gewonnen, als mache man mühsame
- Anstrengungen, das Volk zu _zerstreuen_ und zu unterhalten; hier dagegen
- unterhielt es sich selbst, hier wollte es selbst mit teilnehmen; während
- des Karnevals war es kaum zu zügeln; alles, was es im Laufe eines Jahres
- zurückgelegt hatte, war es bereit, in diesen einundeinhalb Wochen wieder
- durchzubringen; für ein Kostüm konnte es sein ganzes Geld ausgeben; der
- einfache Mann verkleidet sich als Bajazzo, als Weib, als Poet, als
- Doktor oder Graf, schwatzt euch allerhand törichtes Zeug vor oder hält
- euch wohl gar eine Vorlesung, ob ihr nun zuhört oder nicht -- und diese
- Fröhlichkeit ergreift alle miteinander wie ein Wirbel, vom
- vierzigjährigen Mann bis zum jüngsten Burschen, der letzte Bettler, der
- nichts hat, was er anziehen könnte, wendet seinen Kittel um, schwärzt
- sich sein Gesicht mit Kohle, schließt sich dem bunten Haufen an und
- läuft mit. Und diese Heiterkeit entspringt ganz einfach seiner Natur,
- sie ist kein Produkt des Rausches, denn dasselbe Volk pfeift einen
- Betrunkenen aus, wenn es ihm auf der Straße begegnet. Und dann -- diese
- Züge eines angeborenen künstlerischen Instinkts und Gefühls! hatte doch
- einmal in Gegenwart des Fürsten eine einfache Frau einen Künstler auf
- einen Fehler in seinem Gemälde aufmerksam gemacht; er sah, wie dieses
- Gefühl sich in der malerischen Kleidung und in dem Schmuck der Kirchen
- ausprägte, sah wie das Volk in _Gensano_ die Straßen mit Blumenteppichen
- bedeckte, wie die vielfarbigen Blumenblätter sich zu bunten Flecken und
- Schatten verwandelten und auf dem Pflaster zu allerhand Figuren
- gruppierten -- zu dem Wappen eines Kardinals, zum Bilde des Papstes, zu
- einem Namenszug, zu Vögeln, Tieren und verschieden gestalteten
- Arabesken; er sah, wie die Eßwarenhändler, die Pizzicaruoli am Abend vor
- Ostersonntag ihre Läden ausschmückten: die Schinken, die Würste, die
- weißen Schweinsblasen, die Zitronen und allerhand Blätter ordneten sich
- zu einem bunten Mosaik zusammen, das einen _Plafond_ darstellte. Die
- zylindrischen Parmesankäse und andere Käsesorten bildeten ganze
- Säulenreihen, indem sie sich übereinander türmten; Talgkerzen
- gruppierten sich zu dem mosaikartigen Gewebe eines Vorhanges, der die
- inneren Wände schmückte; da sah man ganze Statuen und historische
- Gruppen, die einen christlichen oder biblischen Stoff darstellten, aus
- schneeweißem Talg gegossen, den der erstaunte Beschauer für Alabaster
- halten mußte -- der ganze Boden verwandelte sich in einen heiteren
- Tempel, in dem vergoldete Sterne erstrahlten, der von kunstvoll
- aufgehängten _Ampeln_ erleuchtet wurde und in dessen Spiegelscheiben
- sich zahllose Haufen von Ostereiern spiegelten. Zu alledem ist ein
- gewisser Geschmack erforderlich, und der Pizzicaruolo machte das nicht,
- weil es ihm etwas einbrachte, sondern nur um andere und sich selbst an
- diesem Anblick zu erfreuen. Und endlich war dies ein Volk, das sich
- seiner eigenen Würde bewußt war: hier bildete es das Volk: _il popolo_,
- und nicht den gemeinen Pöbel; es war sich bewußt, die wahren Urelemente
- des ersten Quiritenzeitalters in sich zu tragen; nicht einmal die
- fremden Reisenden, diese Verführer, die die Korruption in die müßig
- dahinlebenden Völker tragen, -- brachten es fertig, dies Volk zu
- verderben, obwohl sich freilich infolge der Überflutung mit fremden
- Gästen die Gasthäuser und die Landstraßen mit einer Klasse von
- verächtlichen Leuten bevölkern, nach denen sich der Reisende häufig ein
- Urteil über das ganze Volk bildet. Sogar die Torheit der
- Regierungsmaßnahmen, dieser zusammenhanglose Haufen aller möglichen
- Gesetze, die zu den verschiedensten Zeiten und unter ganz
- verschiedenartigen Verhältnissen entstanden waren, und noch bis heute
- nicht wieder aufgehoben sind, unter denen es sogar Edikte gibt, die aus
- der alten römischen Republik stammen, selbst sie haben es nicht
- vermocht, in diesem Volke das hohe Rechtsbewußtsein zu entwurzeln. Er
- verfolgt den unehrlichen Gläubiger mit seinem Tadel, begleitet den
- Leichenzug der Verstorbenen mit Pfeifen und spannt sich großmütig vor
- den Leichenwagen, der den Leib eines vom Volke geliebten Mannes mit sich
- führt. Selbst das Betragen der Geistlichkeit, das häufig Ärgernis
- erregen könnte und in andern Ländern Sittenlosigkeit und Korruption zur
- Folge haben würde, scheint keinen Eindruck auf das Volk zu machen: denn
- es versteht die Religion von ihren heuchlerischen Dienern zu
- unterscheiden und ist noch nicht angekränkelt von dem kalten Geist des
- Unglaubens. Und schließlich haben es selbst die Not und die Armut, diese
- unvermeidlichen Begleiterscheinungen eines stagnierenden Staates, nie zu
- finsteren Übeltaten verleitet: dieses Volk bleibt immer heiter, erträgt
- alles mit Ruhe, und nur in Romanen und Erzählungen lesen wir von
- Mordtaten und Messerstechereien auf den Straßen. Aus diesen Zügen ersah
- der Fürst, daß er es hier mit einem starken, noch unberührten Volke zu
- tun hatte, dem sich offenbar in der Zukunft noch ein großes Feld der
- Betätigung eröffnen mußte. Die europäische Bildung hatte es, wie es
- schien, mit Absicht übergangen und keine ihrer Vollkommenheiten in
- seinem Busen Wurzeln schlagen lassen. Selbst die geistliche Herrschaft,
- dieses seltene Schattengebilde, das sich aus einer vergangenen Zeit
- herübergerettet hatte, hatte sich gleichsam nur zu dem Zwecke erhalten,
- um die Nation vor fremden Einflüssen zu behüten, damit keiner der
- ehrgeizigen Nachbarn sich an ihm vergreife, und damit sein stolzes
- Volkstum in stiller Einsamkeit warte, bis seine Stunde kommen werde. Und
- dennoch hatte man hier in Rom nicht den Eindruck der Totenstarre; selbst
- diese Ruinen und die prunkvolle Armut strömten nichts von jener
- peinigenden, wühlenden Stimmung aus, die uns bei der Betrachtung der
- Überreste einer bei lebendigem Leibe verwesenden Nation befällt. Hier
- war man von dem entgegengesetzten Gefühl beherrscht: von einer heiteren,
- feierlichen Ruhe. Und jedesmal, wenn der Fürst an dies alles dachte,
- versank er unwillkürlich in Sinnen, und es schien ihm, als läge eine
- seltsame geheimnisvolle Bedeutung in dem Worte: »das ewige Rom«.
- Die Folge davon war, daß er sich mit immer größerem Eifer dem Studium
- seines Volkes hingab. Er beobachtete es auf den Straßen und in den
- Cafés, von denen jedes sein eigenes Publikum hatte; in dem einen
- verkehrten die Antiquare, in einem andern die Jäger und die Schützen, in
- einem dritten die Bedienten der Kardinäle, in einem vierten die
- Künstler, in einem fünften die ganze römische Jugend und die römischen
- Dandys. Er beobachtete es in den Osterien, in den echten römischen
- Osterien, in die sich nie ein Fremder verirrt, wo sich ein römischer
- _Nobile_ zuweilen neben einem _Minente_ niederläßt, und wo an heißen
- Tagen alle Anwesenden ihre Röcke und Krawatten ablegen; oder er besuchte
- eine jener kleineren ärmlichen aber malerischen Vorstadtschenken mit
- ihren luftigen Fenstern ohne Glasscheiben, wo die Römer mit ihren
- Familien oder in zahlreicher Gesellschaft einkehrten, um dort zu Mittag
- zu essen, oder, wie sie sich ausdrückten, __per far allegria__. Er ließ
- sich neben ihnen am Tische nieder, speiste mit ihnen zu Mittag und
- beteiligte sich an ihren Unterhaltungen, immer wieder erstaunt über
- ihren schlichten, gesunden Menschenverstand und über die Lebhaftigkeit
- und Originalität, mit der diese ungebildeten Leute zu erzählen
- verstanden. Die beste Gelegenheit jedoch, sie kennen zu lernen, bot sich
- ihm während der Zeremonien und Festlichkeiten, wenn die ganze
- Bevölkerung Roms plötzlich an der Oberfläche erscheint und eine schier
- unendliche Menge holder Schönheiten vor einem auftauchen, von deren
- Existenz man bisher keine Ahnung hatte, und wie man ihnen nur noch auf
- den Basreliefs und in den Anthologien der Alten begegnet. Diese großen,
- tiefen Augen, diese Alabasterschultern, diese pechschwarzen Haare, die
- sich in tausendfältigen Formen ums Haupt schlingen oder auf die
- Schultern herabfallen, malerisch durchbohrt von einem goldenen Pfeil,
- diese Hände, dieser stolze Gang -- dies alles erinnerte ihn an die
- ernste, klassische Schönheit, und hatte nichts gemein mit dem
- leichtsinnigen Reiz graziöser Frauen. Hier glichen die Frauen mehr den
- Bauten Italiens: sie glichen entweder Palästen oder ärmlichen Hütten,
- sie waren entweder vollendete Schönheiten oder ganz häßlich; die
- Mittelmäßigkeit war hier überhaupt nicht vertreten, _hübsche_ Frauen gab
- es hier nicht. Und er genoß ihren Anblick, wie er die Verse einer
- herrlichen Dichtung genoß, deren Schönheit sich noch weit über die der
- andern erhebt, und die in der Seele einen kühlen, erfrischenden Schauer
- hervorrufen.
- Allein, bald gesellte sich zu all diesen Genüssen ein Gefühl, das all
- den andern den Krieg erklärte -- ein Gefühl, das die mächtigsten
- Leidenschaften aus ihrem geistigen Schlummer erweckte, Leidenschaften,
- die sich in demokratischer Rebellion gegen die hohe Seeleneinheit
- auflehnten: er erblickte Anunziata. Und so sind wir denn endlich bei dem
- hehren Bildnis angelangt, das sein helles Licht über den Anfang unserer
- Erzählung verbreitete.
- Es war zur Zeit des Karnevals. »Heute gehe ich nicht zum Corso,« sagte
- der Principe zu seinem _Maestro di casa_, während er aus dem Hause trat,
- »der Karneval fängt an, mich zu langweilen; ich finde die Gartenfeste
- und die Aufzüge, wie sie im Sommer stattfinden, viel schöner.«
- »Ja ist denn das ein Karneval?« versetzte der Alte. »Das ist ein
- Karneval für Kinder. Ich erinnere mich eines Karnevals! Da sah man auf
- dem ganzen Corso auch nicht einen Wagen, und auf den Straßen gab's die
- ganze Nacht Musik; die Maler, die Architekten und Bildhauer stellten
- ganze Gruppen und veranstalteten große Aufführungen, und das Volk -- der
- Herr Fürst verstehen doch -- das _ganze_ Volk, alle -- alle Vergolder,
- Rahmenbauer, Mosaikleger, sämtliche schönen Frauen, die ganze Signoria
- und alle Nobili -- sie alle, alle ... machten mit ... _o quanta
- allegria_! Das war ein richtiger Karneval. Aber heutzutage, was ist denn
- das für ein Karneval! Ach! ...« sagte der Alte, zuckte die Achseln, und
- dann sagte er noch einmal »Ach«, zuckte nochmals die Achseln und fügte
- schließlich hinzu: »_E una porcheria!_« -- Der _Maestro di casa_
- unterstützte seinen Ausruf in einer lebhaften Aufwallung seines
- Temperaments mit einer äußerst kräftigen Geste, beruhigte sich aber
- sogleich wieder, als er bemerkte, daß der Fürst schon längst nicht mehr
- vor ihm stand, sondern sich schon lange auf der Straße befand. Da er
- keine Lust hatte, sich am Karneval zu beteiligen, hatte er weder eine
- Maske mitgenommen noch auch ein Drahtnetz vors Gesicht gelegt. Er hüllte
- sich tief in seinen Mantel und wollte sich über den Corso nach dem
- andern Stadtteil begeben. Aber das Menschengewühl war zu groß. Er
- drängte sich zwischen zwei Menschen hindurch, wobei ihm eine Ladung Mehl
- auf den Kopf geschüttet wurde; ein bunter Harlekin schlug ihm während er
- mit seiner Kolombine an ihm vorbeistürmte mit seiner Knarre auf die
- Schulter, von allen Seiten flogen ihm »_confetti_« und Blumensträuße ins
- Gesicht, von beiden Seiten flüsterte ihm jemand ins Ohr, von rechts ein
- Graf und von links ein Arzt, der ihm eine lange Vorlesung über den
- Inhalt seines Blinddarmes hielt. Es war völlig unmöglich zwischen all
- den Menschen hindurchzukommen, denn die Volksmenge wuchs immer mehr an,
- und die lange Kette der Wagen machte halt, da sie nicht mehr vorwärts
- kommen konnte. Jetzt richtete sich die Aufmerksamkeit der Menge auf
- einen mutigen Burschen, der auf Stelzen die Häuserreihen entlang
- schritt, obwohl ihm jeden Augenblick die Stelzen unter den Beinen
- weggeschlagen werden konnten und er Gefahr lief, sich auf dem Pflaster
- zu Tode zu fallen. Aber deswegen schien er sich keine Sorge zu machen.
- Er trug einen ausgestopften Riesen auf seiner Schulter, den er mit einer
- Hand festhielt, und in der andern Hand ein Stück Papier mit einem Sonett
- und einem darangehefteten Schwanz, wie man sie bei Papierdrachen findet,
- und schrie dazu aus voller Kehle: »_Ecco il gran poeta morto! Ecco il
- suo sonetto colla coda._« (Da ist der verstorbene große Dichter! Das ist
- sein Sonett mit dem Schwanz [_coda_][17].) Der verwegene Bursche hatte
- eine so dichte Menschenmenge um sich geschart, daß der Fürst in dem
- Gedränge kaum noch zu atmen vermochte. Endlich setzte sich die ganze
- Menge hinter dem toten Poeten in Bewegung, auch die lange Wagenreihe,
- worüber der Fürst sehr erfreut war, obgleich ihm in dem Gedränge der Hut
- vom Kopfe geschlagen worden war, nach dem er jetzt eilig griff. Als er
- noch damit beschäftigt war, den Hut aufzuheben, schlug er die Augen auf
- und blieb wie angewurzelt stehen: vor ihm stand ein Mädchen von einer
- unbeschreiblichen Schönheit, sie hatte ein leuchtendes albanisches
- Kostüm an und kam in Gesellschaft von zwei andern gleichfalls schönen
- Frauen daher, die aber neben ihr verblaßten, wie die Nacht vor dem Tage.
- Das war ein herrliches Wunderbildnis. Alles mußte vor ihrem Glanze
- dahinschwinden. Wenn man sie ansah, wurde es einem klar, warum die
- italienischen Dichter schöne Frauen mit der Sonne verglichen. Ja, das
- war eine Sonne, das war die vollkommenste Schönheit! Aller Glanz, der
- uns zersplittert und auf die einzelnen Schönen dieser Welt verteilt
- entgegenstrahlt, war hier in einer einzigen vereinigt. Wenn man ihren
- Busen und ihre Büste ansah, erkannte man sogleich die Mängel des Busens
- und der Büste anderer schöner Frauen. Im Vergleich mit ihrem dichten
- glänzenden Haar mußte jedes andere Haar dünn und farblos erscheinen.
- Ihre Hände mußten jeden Menschen zum Künstler machen! denn wie ein
- Künstler hätte er sie ewig anschauen mögen und es nie gewagt, sie
- anzuhauchen. Im Vergleich mit ihren Füßen mußten die Füße aller
- Engländerinnen, aller Deutschen, aller Französinnen und der Frauen aller
- andern Nationen wie Holzspäne erscheinen, nur die antiken Bildhauer
- haben die hehre Idee ihrer Schönheit in ihren Statuen festgehalten. Ihre
- Schönheit war vollkommen und wie dazu geschaffen, jedermann in gleicher
- Weise zu blenden. Hierzu bedurfte es nicht eines besonderen Geschmacks;
- angesichts solcher Vollendung mußten alle Geschmacksrichtungen
- zusammentreffen; vor ihr mußten alle andächtig auf die Knie sinken, der
- Gläubige wie der Ungläubige wären vor ihr niedergefallen, wie vor einer
- plötzlichen Erscheinung der Gottheit. Der Fürst sah, wie die ganze Menge
- und alle Anwesenden, soviel ihrer da waren, sie anstarrten, wie sich ein
- unwillkürliches mit Entzücken gemischtes Staunen in den Zügen der Frauen
- malte, wie sie immer wieder ausriefen: »_O bella!_« wie alle ohne
- Ausnahme sich in Künstler verwandelt zu haben schienen und ganz im
- Anschauen des schönen Wesens verloren waren. Aber im Gesicht des
- Mädchens war nichts zu lesen, außer einem lebhaften Interesse für den
- Karneval: sie sah nur die Menge und die Masken, merkte nichts von den
- auf sie gerichteten Augen und hörte kaum auf die hinter ihr stehenden
- Herren in Sammetjacken, anscheinend ihre Verwandten, die sie
- wahrscheinlich hieher begleitet hatten. Der Fürst suchte von den Leuten,
- die neben ihm standen, zu erfahren, wer und woher wohl dies wunderschöne
- Mädchen sei, aber man antwortete ihm überall bloß mit einem Achselzucken
- und einer unbestimmten Geste und fügte vielleicht noch hinzu: »Ich weiß
- nicht, wahrscheinlich ist's eine Fremde[18].« Unbeweglich und mit
- angehaltenem Atem schien er sie mit seinen Blicken verschlingen zu
- wollen. Endlich richtete auch das schöne Mädchen ihre tiefen Augen auf
- ihn, um sie jedoch sogleich verlegen von ihm abzuwenden. Ein Schrei
- weckte ihn aus seinen Träumereien: vor ihm stand ein mächtiger Wagen.
- Eine Anzahl Masken in roten Blusen rief ihn beim Namen, bestreute ihn
- mit Mehl und begleitete ihre Späße mit dem langgezogenen Rufe »hu ... hu
- ... hu!« In einem Nu war er unter dem lauten Gelächter der Umstehenden
- von Kopf bis zu den Füßen mit Mehl überschüttet. Ganz weiß wie Schnee,
- ja selbst mit weißen Augenwimpern, eilte der Fürst nach Hause, um sich
- umzuziehen.
- [Fußnote 17: In der italienischen Poetik gibt es eine besondere Form,
- die unter dem Namen Sonett mit dem Schwanz (_con la coda_) bekannt ist
- -- sie wird dann angewandt, wenn das Gedicht den ganzen Gedanken nicht
- zu fassen vermag und daher ein Zusatz erforderlich wird, der oft größer
- ist als das eigentliche Sonett.]
- Als er zu Hause angekommen war und sich umgekleidet hatte, war soviel
- Zeit verstrichen, daß nur noch einundeinhalb Stunden bis zum Ave-Maria
- übrigblieben. Die Wagen kehrten bereits leer vom Corso zurück: die
- Insassen hatten sich auf die Balkons zurückgezogen, um sich das Volk
- anzusehen, das sich in Erwartung der Pferderennen noch immer durch die
- Straßen drängte. Als er in den Corso einbog, stieß er auf einen Wagen,
- der mit Männern und Frauen angefüllt war. Die Männer trugen Jacken, die
- Frauen hatten Blumenkränze auf dem Haupt und Zimbeln und Kastagnetten in
- den Händen. Die Insassen des Wagens schienen in heiterer Stimmung nach
- Hause zurückzukehren, er war an der Seite mit Girlanden geschmückt, und
- die Speichen und Reifen der Räder waren mit grünen Zweigen umwunden.
- Aber das Herz des Fürsten wurde kalt, als er sah, daß im Wagen, inmitten
- der Frauen, das schöne Mädchen saß, das einen so tiefen Eindruck auf ihn
- gemacht hatte. Ein strahlendes Lächeln erleuchtete ihr Antlitz, und
- unter Schreien und Singen rollte der Wagen schnell an ihm vorbei. Sofort
- machte der Fürst sich auf und eilte ihm nach, aber ein langer Zug von
- Musikanten kam ihm in den Weg: eine Geige von schreckenerregender Größe
- kam auf einem sechsrädrigen Wagen dahergefahren. Ein Mann saß rittlings
- auf dem Gestell, und ein anderer, der ihr zur Seite ging, strich mit
- einem gewaltigen Fiedelbogen über vier dicke Stricke, die die Saiten
- darstellen sollten. Die Herstellung dieser Geige hatte wahrscheinlich
- viel Mühe und große Unkosten an Zeit und Geld verursacht. Voran schritt
- ein Mann mit einer ungeheueren Trommel. Eine große Menge Volks, junge
- Burschen und Knaben folgten in hellen Scharen dem Musikantenaufzug, und
- die ganze Prozession wurde beschlossen durch einen in Rom wegen seiner
- Leibesfülle bekannten Pizzicaruolo, der eine Klistierspritze von der
- Größe eines Kirchturms in der Hand trug. Als der Zug die Straße
- verlassen hatte, sah der Fürst, daß es schon zu spät war und daher
- keinen Sinn mehr hatte, hinter dem Wagen herzulaufen; zudem wußte er ja
- auch nicht, welchen Weg er eingeschlagen hatte. Dennoch aber konnte er
- den Gedanken nicht aufgeben, das schöne Mädchen wieder aufzufinden.
- Seine Einbildungskraft zauberte ihm immer wieder dieses strahlende
- Lachen und den offenen Mund mit der langen Reihe wundervoller Zähne vor.
- »Das ist ein Blitzstrahl und kein Weib!« sagte er immer wieder zu sich
- selbst und fügte stolz hinzu: »Sie ist eine Römerin: ein solches Weib
- konnte nur in Rom geboren werden. Ich muß sie unbedingt wiedersehn; ich
- trage Verlangen nach ihrem Anblick, nicht um sie zu lieben -- nein, ich
- möchte sie nur ansehen, ihre ganze Gestalt betrachten: ihre Augen, ihre
- Hände, ihre Finger, ihre glänzenden Haare. Ich will sie nicht küssen,
- ich möchte sie nur ansehen. Wie nur? So muß es doch auch sein, das liegt
- im Wesen der Natur; sie hat kein Recht, ihre Schönheit zu verbergen und
- mit sich fortzutragen. Die vollendete Schönheit ward der Welt ja darum
- geschenkt, damit jeder sie anschaue, und auf daß er ihr Bild ewig in
- seinem Herzen trage. Wenn sie nur _schön_, nur eine gewöhnliche
- Schönheit und kein Wesen von dieser höchsten Vollkommenheit wäre, dann
- hätte sie wohl das Recht, einem _Einzelnen_ anzugehören, er könnte sie
- in eine Wüste forttragen und der Welt ihren Anblick vorenthalten. Aber
- die vollkommene Schönheit muß jedem sichtbar sein. Läßt denn ein
- Architekt einen prachtvollen Tempel in einer engen Gasse errichten?
- Nein, er stellt ihn auf einen offenen Platz hin, damit der Mensch ihn
- von allen Seiten betrachten und sich an ihm erfreuen könne. >Ward etwa
- deshalb das Licht angezündet,< sagt der göttliche Meister, >auf daß man
- es verberge und unter den Scheffel stelle. Nein das Licht ward
- angezündet, auf daß es auf dem Tische stehe, allen Helligkeit spende und
- auf daß sich alle im Lichte bewegen.< Nein, ich muß sie unbedingt
- sehen!« So sprach der Fürst zu sich selbst, dachte dann lange nach und
- ging alle Mittel durch, die ihn zu seinem Ziele führen könnten; endlich
- schien er eins gefunden zu haben: sofort und ohne einen Augenblick zu
- zögern begab er sich in eine der entlegenen Gassen, deren es in Rom sehr
- viele gibt, wo es nicht einmal einen Kardinalspalast mit einem gemalten
- Wappen auf dem ovalen Holzschilde gibt, wo sich über jedem Fenster und
- jeder Tür der engen Häuschen eine Nummer befindet, wo sich das Pflaster
- bucklig emportürmt und wieder senkt, und wohin sich von Fremden
- höchstens ein geriebener deutscher Künstler mit seinem Feldstecher und
- seinem Farbenkasten verirrt, oder etwa noch ein Ziegenbock, der hinter
- der vorübergehenden Herde zurückgeblieben ist und stehenbleibt, um sich
- diese merkwürdige Straße anzuschauen, die er noch nie gesehen hat. Hier
- hört man die sonoren Stimmen der Römerinnen; in allen Fenstern ertönt
- Geplauder und lebhafte Wechselrede. Hier herrscht volle Aufrichtigkeit,
- und der Passant kann hier alle häuslichen Geheimnisse erfahren; selbst
- Mutter und Tochter sprechen hier nicht anders miteinander, als indem
- beide ihre Köpfe zum Fenster hinausstecken. Männer sieht man hier
- überhaupt nicht. Kaum erglänzt der erste Strahl der Morgensonne, und
- schon öffnet sich das Fenster, und _siora_ Susanna blickt auf die Straße
- hinaus. In einem anderen Fenster erscheint _siora_ Grazia, noch damit
- beschäftigt, sich den Rock anzuziehen, sodann öffnet _siora_ Nanna das
- Fenster, auf sie folgt _siora_ Lucia, die sich das Haar kämmt, und
- endlich streckt _siora_ Cecilia ihre Hand aus dem Fenster, um sich die
- Wäsche zu holen, die auf einer Schnur vor dem Hause hängt und nun ihre
- Strafe dafür erhält, daß sie so widerspenstig war und sich so schwer
- erreichen ließ: denn Donna Cecilia drückt sie zornig zusammen und wirft
- sie mit den Worten: _che bestia!_ auf den Boden. Hier lebt alles, hier
- ist alles in Bewegung, hier fliegt plötzlich ein Schuh aus dem Fenster,
- um einen unartigen Jungen oder einen Ziegenbock zu treffen, der mit
- einem einjährigen Kind an einem Korb steht, es beschnuppert und seinen
- Kopf vorbeugt, um ihm zu zeigen, was zwei Hörner sind. Hier blieb nichts
- unbekannt, hier wußte man alles. Die Signoras waren über alles
- unterrichtet, was auf der Welt passierte, sie wußten, was _siora_
- Giudita sich für ein Tuch gekauft hatte, bei wem es heut Fisch zum
- Mittagessen gab, wer Barbaruccias Geliebter und welcher Kapuziner der
- beste Beichtvater war. Nur selten flocht auch der Gatte ein Wort ein,
- der meist auf der Straße an die Mauer gelehnt dastand, eine kurze Pfeife
- in den Zähnen hielt, und es für seine Pflicht hielt, wenn er von einem
- Kapuziner reden hörte, ein paar Worte wie: »Das sind alles Gauner!«
- hinzuzufügen, worauf er wieder fortfuhr, seine Nase in Rauchwolken
- einzuhüllen. Hier kam nie ein Wagen vorbeigefahren, außer etwa ein
- zweirädriger Rumpelkasten, der von einem Maultier gezogen wurde und Mehl
- für den Bäcker mitführte, gewöhnlich wurde er auch von einem schläfrigen
- Esel begleitet, der kaum dazu zu bewegen war, seinen Korb mit den
- Broccoli bis an seinen Bestimmungsort zu schleppen, trotz aller Hühs der
- Straßenjungen, die seine unempfindlichen Lenden mit Steinwürfen
- regalierten. Hier gibt es keine Magazine außer ein paar kleinen Läden,
- wo Brot, Bindfaden und Glasflaschen feilgeboten werden, und einem
- dunklen, engen Café, das sich in einer Straßenecke befindet, da konnte
- man stets den Anblick eines beständig auf die Straße herauslaufenden
- Bottegas genießen, der den Signoris in kleinen Blechkannen Kaffee oder
- eine in Ziegenmilch gekochte Schokolade, die unter dem Namen »Aurora«
- bekannt ist, servierte. Alle Häuser gehörten hier zwei, drei, mitunter
- aber auch vier Hausbesitzern, von denen der eine nur den
- lebenslänglichen Nießbrauch, ein zweiter nur eine Etage besaß, deren
- Mietzins er jedoch nur zwei Jahre lang erheben durfte, wonach der Stock
- auf Grund eines Testaments auf zehn Jahre an den _padre_ Vincenzo fiel,
- dessen rechtlicher Anspruch jedoch von einem Verwandten des
- ursprünglichen Besitzers, der in Frascati wohnte, und der schon
- rechtzeitig für die Einleitung eines Prozesses gesorgt hatte,
- angefochten wurde. Es gab auch solche Hausbesitzer, die nur ein einziges
- Fenster in einem bestimmten Hause und zwei andere in einem andern Hause
- besaßen, und die Einkünfte von dem Fenster, für das der unordentliche
- Mieter übrigens den Mietzins meist schuldig blieb, mit einem Bruder
- teilten, -- mit einem Wort, hier gab es in Hülle und Fülle Material für
- unaufhörliche Prozesse und reichen Broterwerb für die Advokaten und
- Kuriale, die Rom überschwemmten. Alle Damen, von denen soeben gesprochen
- wurde, sowohl die vornehmsten, die stets mit ihrem vollen Namen genannt
- wurden, wie die geringeren Ranges, die nur mit Diminutiven beehrt
- wurden: alle Tettas, Tuttas, Nannas usw. hatten meistens gar nichts zu
- tun; das waren Gattinnen von Rechtsanwälten, kleinen Beamten, kleinen
- Kaufleuten, Trägern, Facchinos, gewöhnlich aber Frauen unbeschäftigter
- Bürger, deren ganzes Talent darin bestand, sich geschickt mit ihren
- nicht mehr ganz intakten Mänteln zu drapieren. Viele von den Signoras
- standen den Malern Modell. Hier gab es Modelle aller Arten. Wenn sie
- Geld hatten, verbrachten sie ihre Zeit mit ihren Männern oder in großer
- Gesellschaft in den Osterien, hatten sie kein Geld -- so waren sie
- deshalb auch nicht betrübt, sondern saßen am Fenster und blickten auf
- die Straße hinaus. Heute war die Straße stiller als sonst, weil ein Teil
- der Bewohner mit der Volksmenge nach dem Corso gezogen waren. Der Fürst
- ging auf die alte verfallene Tür eines Häuschens zu, die zahlreiche
- Löcher aufwies, so daß selbst der Hauswirt lange mit dem Schlüssel nach
- dem Schlüsselloch suchen mußte. Er war eben im Begriff, nach dem Ring zu
- greifen, als er plötzlich die Worte vernahm: »Signor Principe will Peppe
- sehen?« Er hob das Haupt und erblickte _siora_ Tutta, die ihren Kopf aus
- dem dritten Stock hervorstreckte.
- [Fußnote 18: Die Römer nennen alle, die nicht in Rom leben, Fremde
- (_forestieri_), auch wenn sie nur zehn Meilen außerhalb der Stadt
- wohnen.]
- »So ein vorlautes Frauenzimmer!« rief _siora_ Susanna aus dem
- gegenüberliegenden Fenster. »Der Principe ist vielleicht gar nicht
- deswegen gekommen, um Peppe zu sehen!«
- »Natürlich, um Peppe zu sehen! Nicht wahr, Herr Fürst? Doch nur um Peppe
- zu sprechen? Nicht wahr? Herr Fürst? Um Peppe zu sprechen?«
- »Ach was, Peppe! Was für einen Peppe,« fuhr _siora_ Susanna, mit beiden
- Händen gestikulierend, fort. »Der Fürst hat gerade Zeit, jetzt an Peppe
- zu denken! Jetzt ist doch Karneval. Der Fürst will sicher mit seiner
- Cousine Marchesa Montelli, und mit seinen Freunden eine Wagenfahrt
- unternehmen und in die Stadt fahren, _per far allegria_. Peppe! Peppe!«
- Der Fürst war höchst erstaunt, solche Details über die Art, wie er seine
- Zeit verbringen wollte, zu vernehmen, aber er hat keinen Anlaß, sich zu
- wundern, denn _siora_ Susanna wußte alles.
- »Nein, meine lieben _signore_,« sagte der Fürst, »ich muß in der Tat
- Peppe sprechen.«
- Diesmal jedoch war es _siora_ Grazia, die die Antwort erteilte; sie
- hatte schon längst ihren Kopf aus einem Fenster der zweiten Etage
- herausgestreckt und saß lauschend da. Sie schnalzte zur Antwort ein
- wenig mit der Zunge und machte eine bezeichnende Bewegung mit dem Finger
- -- das gewöhnliche Zeichen der Verneinung bei den Römerinnen -- und
- fügte dann hinzu: »Er ist nicht zu Hause.«
- »Aber vielleicht wissen Sie, wo er ist, wohin er gegangen ist?«
- »Eh, wohin wird er gegangen sein!« versetzte _siora_ Grazia, indem sie
- ihren Kopf ein wenig auf die Seite neigte, »vielleicht -- in die
- Osteria, am Platz beim Brunnen; wahrscheinlich hat ihn jemand
- aufgefordert; er ist halt irgendwohin gegangen: _chi lo sa_ (wer will es
- wissen).«
- »Wenn der Principe ihm irgend etwas zu bestellen hat,« fiel hier Signora
- Barbaruccia ein, die am gegenüberliegenden Fenster saß und im Begriff
- war, sich einen Ohrring ins Ohr zu hängen: »Sie brauchen es mir nur zu
- sagen, ich will es ihm ausrichten.«
- »Nein, lieber nicht,« dachte der Fürst und dankte für ein solches
- Entgegenkommen. In diesem Augenblick lugte aus einer Nebengasse eine
- mächtige schmutzige Nase hervor, die wie eine ungeheure Axt über den
- gleich darauf zum Vorschein kommenden Lippen und über dem ganzen Gesicht
- schwebte: das war Peppe in eigener Person.
- »Da ist Peppe!« rief _siora_ Susanna. »Da kommt Peppe, _sior_ Principe!«
- rief Signora Grazia lebhaft aus ihrem Fenster.
- »Er kommt, Peppe kommt!« trompetete _siora_ Cecilia aus einer
- Straßenecke.
- »Principe, Principe! Das ist ja Peppe! Da ist Peppe! (_ecco_ Peppe,
- _ecco_ Peppe!)« schrien die Kinder auf der Straße.
- »Ich seh, ich sehe,« sagte der Fürst, ganz betäubt von dem lauten
- Geschrei.
- »Da bin ich, _eccellenza_. Da bin ich!« sagte Peppe, indem er die Mütze
- abnahm. Man merkte es ihm an, daß er schon etwas vom Karneval abgekriegt
- hatte. Er war auf einer Seite mit einer Ladung Mehl bedacht worden: der
- ganze Rücken und eine Seite waren ganz weiß, der Hut war eingekeilt und
- das ganze Gesicht mit weißen Tupfen bedeckt. Peppe war schon deswegen
- merkwürdig, weil er sein ganzes Leben lang den Diminutivnamen Peppe
- getragen hatte. Er hatte sich durchaus nicht bis zum Giuseppe
- aufschwingen können, obwohl er bereits grau zu werden begann. Er stammte
- sogar aus einer guten und wohlhabenden Kaufmannsfamilie, aber er hatte
- sein letztes Häuschen in einem Prozeß verloren. Schon sein Vater, ein
- Mensch von derselben Gattung wie Peppe, trotzdem er _sior_ Giovanni
- genannt wurde, hatte sein ganzes Vermögen aufgezehrt, und nun fristete
- Peppe gleich vielen andern notdürftig sein Leben, so wie es gerade kam:
- bald nahm er Dienste bei einem Ausländer, bald spielte er den Boten bei
- einem Rechtsanwalt, bald brachte er einem Künstler das Atelier in
- Ordnung, bald wieder diente er als Wächter in einem Weinberg oder in
- einer Villa und je nach dem Amt, das er bekleidete, wechselte er auch
- beständig sein Kostüm. Mitunter begegnete man Peppe in einem weiten Rock
- und einem runden Hut auf der Straße, bald wieder in einem engen Kaftan,
- der an zwei drei Stellen geplatzt war, und so enge Ärmel hatte, daß
- Peppes lange Arme wie zwei Besenstiele aus ihnen hervorguckten, zuweilen
- aber erschien er in einem ganz undefinierbaren Kostüm, wobei er die
- einzelnen Kleidungsstücke noch nicht einmal richtig angezogen hatte:
- mitunter konnte man fast glauben, er habe die Jacke an Stelle der Hosen
- angezogen und sie hinten, so gut es eben ging, zugebunden. Er war stets
- zu allen möglichen Diensten bereit und übernahm allerlei Aufträge,
- häufig sogar, ohne daß dabei etwas für ihn abfiel. Er lief hin und
- verkaufte für die in seiner Straße wohnenden Damen allerhand alten
- Plunder: in Pergament gebundene Bücher eines verarmten Abbés oder
- Antiquars oder das Gemälde eines Künstlers; er ging morgens zu den Abbés
- und nahm ihre Hosen und Schuhe, um sie zu putzen, mit sich nach Hause,
- wobei er es dann meist vergaß, sie zur rechten Zeit wieder
- zurückzubringen, bloß aus dem übereifrigen Wunsch, sich irgendeinem
- Dritten gefällig zu erweisen, und die Abbés hatten dann den ganzen Tag
- über Zimmerarrest, da sie ja nicht ohne Hosen und Stiefel ausgehen
- konnten. Oft fiel ihm eine beträchtliche Geldsumme zu. Aber er verfügte
- über sie nach römischer Art, d. h. schon am folgenden Tage war fast
- nichts mehr davon übrig, und dies nicht etwa deshalb, weil er das Geld
- für sich verbrauchte oder verschwendete, sondern weil er alles in der
- Lotterie verspielte, für die er eine große Leidenschaft besaß. Es gab
- kaum eine Nummer, mit der er es nicht schon versucht hatte. Jede
- unbedeutende, ganz alltägliche Begebenheit erhielt für ihn eine große
- Bedeutung. Wenn es sich einmal ereignete, daß er irgendeinen Plunder auf
- der Straße fand, so sah er gleich in seinem Wahrsagebuch nach, unter
- welcher Nummer er dort verzeichnet stand, um sich sofort das
- entsprechende Lotteriebillett zu besorgen. Einmal träumte er, daß der
- Satan, -- den er ohnedies aus einem unbekannten Grunde jedesmal zu
- Beginn des Frühlings im Traume sah -- daß ihn der Satan bei der Nase
- gepackt hielt und über die Dächer sämtlicher Häuser schleifte, von der
- St. Ignatiuskirche, über den ganzen Corso durch die Tre Ladronigasse bis
- nach der Via della Stamperia, bis er endlich auf der Treppe der Trinita
- haltmachte und sagte: »Das hast du dafür, daß du zum heiligen Pankratius
- gebetet hast, Peppe! Deine Nummer wird nicht gewinnen.« Dieser Traum
- machte in der ganzen Straße großes Aufsehen, und besonders _siora_
- Cecilia und _siora_ Susanna regten sich sehr über ihn auf; aber Peppe
- deutete ihn in seiner Weise: er holte sofort sein Wahrsagebuch und fand
- hier, daß der Teufel 13, die Nase 24 und der heilige Pankratius 30
- bedeutet, und kaufte sich noch am selbigen Morgen alle drei Nummern.
- Dann addierte er alle drei Zahlen zusammen, was 67 ergab und besorgte
- sich noch Nummer 67. Wie gewöhnlich waren alle vier Nummern Nieten. Ein
- anderes Mal geriet er in Streit mit einem Weinbauer, einem dicken Römer
- namens _sior_ Raphael Tomacelli. Was der Anlaß zu diesem Streite war,
- das weiß Gott allein; es gab jedoch zwischen ihnen einen sehr lauten,
- von lebhaften Handbewegungen begleiteten Disput, und schließlich wurden
- beide kreidebleich -- ein drohendes Zeichen, auf das hin gewöhnlich alle
- Frauen entsetzt ans Fenster eilen und der vorüberkommende Spaziergänger
- sich in Sicherheit zu bringen sucht -- mit einem Wort, ein Zeichen
- dafür, daß beide Parteien gleich zum Messer greifen werden. Und in der
- Tat, der dicke Tomacelli hatte bereits seine Hand in den ledernen
- Stiefelschaft gesteckt, der seine dicke Wade eng umspannte, um sein
- Messer hervorzuholen, und rief: »Warte nur, ich krieg dich schon, du
- Kalbskopf!« als sich Peppe plötzlich mit der Hand vor den Kopf schlug
- und eilig das Schlachtfeld verließ. Es war ihm eingefallen, daß er sich
- noch nie ein Lotteriebillett auf das Stichwort »Kalbskopf« gekauft
- hatte. Er sah im Wahrsagebuch nach, unter welcher Nummer der »Kalbskopf«
- verzeichnet stand, und lief schleunigst nach der Lotteriekollekte, so
- daß alle Straßenbewohner, die sich bereits auf ein blutiges Schauspiel
- gefaßt gemacht hatten, durch diese unerwartete Wendung aufs höchste
- überrascht wurden, ja selbst Raphael Tomacelli ließ sein Messer wieder
- in den Stiefelschaft gleiten, wußte lange nicht, was er nun beginnen
- sollte und sagte schließlich: »_Che uomo curioso!_« (Seltsamer Mensch!)
- Übrigens ließ sich Peppe dadurch, daß die Billette stets Nieten waren,
- und daß das Geld weggeworfen war, nicht im mindesten beirren. Er war
- fest überzeugt, daß er einmal reich werden würde, und wenn er an einem
- Laden vorüberging, unterließ er es nie, zu fragen, was ein jeder
- Gegenstand koste. Als er einmal erfuhr, daß ein großes Haus verkauft
- werden sollte, begab er sich zum Verkäufer, um sich bei diesem genauer
- danach zu erkundigen, und als seine Bekannten sich über ihn lustig
- machten, versetzte er treuherzig: »Was lacht ihr, warum lacht ihr? Ich
- will es doch nicht gleich kaufen, sondern später einmal, wenn ich Geld
- haben werde. Das ist doch gar nicht so seltsam ... Ein jeder sollte sich
- ein Vermögen erwerben, um seinen Kindern, den Armen, oder für einen
- Kirchenbau und andre schöne Dinge etwas zu hinterlassen ... _Chi lo
- sa._« Der Fürst kannte ihn schon lange, sein Vater hatte ihn sogar
- einmal als Bedienten engagiert, aber sehr bald wieder davongejagt, weil
- Peppe seine Livree bereits in einem Monat aufgetragen und die ganzen
- Toiletten des alten Fürsten durch einen unvorsichtigen Stoß mit dem
- Ellenbogen aus dem Fenster auf die Straße geworfen hatte. »Hör mal,
- Peppe!« sagte der Fürst. »Was befehlen _eccellenza_?« versetzte Peppe,
- der barhaupt vor dem Fürsten stand, »der Herr Fürst braucht nur zu
- sagen, >Peppe!< und schon bin ich da! Daher brauchen der Herr Fürst nur
- zu sagen: >Hör mal, Peppe!< so erwidere ich schon: _ecco me eccelenza_!«
- »Du mußt mir folgenden Dienst leisten, Peppe!« ... Bei diesen Worten sah
- der Fürst sich um, und bemerkte, daß sich sämtliche _siore_ Grazias,
- sämtliche Susannen, Barbarucci, Tettas und Tuttas, soviel ihrer da
- waren, neugierig aus dem Fenster lehnten; die arme _siora_ Cecilia aber
- war beinahe im Begriff, auf die Straße herunterzufallen. »Hm, die Sache
- steht schlimm!« dachte der Fürst, »komm Peppe, folge mir!«
- Mit diesen Worten schritt er voran, während Peppe ihm gesenkten Hauptes
- folgte und vor sich hinmurmelte: »Eh! diese Weiber sind so neugierig,
- weil's eben Weiber sind, weil sie eben neugierig sind.«
- Lange schritten sie, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, aus
- einer Straße in die andere. Peppe dachte bei sich: »Der Fürst will mir
- wahrscheinlich einen wichtigen Auftrag geben, weil er nicht in Gegenwart
- der andern davon reden will; folglich habe ich ein schönes Geschenk oder
- gar Geld von ihm zu erwarten. Wenn mir der Fürst aber Geld gibt, was
- soll ich damit anfangen? Soll ich es dem Cafébesitzer _sior_ Serviglio
- geben, dem ich schon lange was schuldig bin? _Sior_ Serviglio wird in
- der ersten Fastenwoche sicherlich sein Geld von mir zurückfordern, denn
- er hat all sein Geld für den Bau der ungeheuren Geige verbraucht, an der
- er drei Monate lang eigenhändig gearbeitet hat, um während des Karnevals
- mit ihr durch alle Straßen zu ziehen, jetzt wird _sior_ Serviglio
- wahrscheinlich noch lange statt Rostbraten nur Ziegenfleisch und in
- Wasser gekochte Broccoli essen, bis er sich wieder mit seinem Café genug
- Geld verdient hat. Oder soll ich _sior_ Serviglio noch nicht bezahlen,
- sondern ihn bloß zum Mittagessen in eine Osteria auffordern? Denn _sior_
- Serviglio ist ein -- _vero Romano_ und wird mir um der ihm erwiesenen
- Ehre willen die Rückzahlungsfrist noch ein wenig verlängern; die
- Lotterie beginnt bestimmt in der zweiten Woche der Fasten. Wie soll ich
- nur bis dahin das Geld verwahren? Die kann ich es so verstecken, daß
- weder Giacomo noch Meister Petruccio, der Drechsler, etwas davon
- erfährt, die mich sicherlich bitten werden, ihnen etwas zu leihen?
- Giacomo hat nämlich all seine Kleider bei den Juden im Gettho versetzt,
- Meister Petruccio hat gleichfalls seine Kleider zum Juden ins Gettho
- getragen, und hat einen Unterrock und das letzte Tuch seiner Frau in
- Stücke gerissen, um sich als Weib zu verkleiden ... wie soll ich es nur
- anstellen, daß ich ihnen nichts leihen muß?« Dies waren die Gedanken,
- die Peppe durch den Kopf gingen.
- Der Fürst seinerseits aber dachte: »Peppe kann herauskriegen, wo das
- schöne Mädchen wohnt, wer sie ist und kann sie mir auffinden. Erstens
- kennt er alle Menschen und hat daher eher als alle andern Gelegenheit,
- in der Menge einem Freund zu begegnen, er kann von diesem etwas
- erfahren, kann in alle Cafés und Osterien hineinblicken und kann sogar
- jemand ansprechen, da er durch seine Figur bei niemand Verdacht erregt.
- Er schwatzt zwar mitunter zuviel und ist recht zerstreut, aber wenn man
- ihn bei seiner Römerehre faßt und ihm sein Ehrenwort abnimmt, so wird er
- das Geheimnis schon zu bewahren wissen.«
- So dachte der Fürst, während er die Straßen durchschritt; endlich blieb
- er stehen, als er gewahrte, daß er die Brücke längst überschritten hatte
- und sich schon lange auf _der_ Seite Roms befand, die jenseits des
- Tibers liegt, daß er bereits bergan ging und daß die Kirche S. Pietro in
- Montorio nicht mehr fern war. Um nicht auf dem Wege stehenzubleiben,
- betrat er den Platz, von dem aus man ganz Rom überblicken kann und sagte
- zu Peppe gewandt: »Hör mal, Peppe: ich muß dich um einen Dienst bitten.«
- »Was wünschen _eccellenza_?« versetzte Peppe.
- In diesem Augenblick aber sah der Fürst Rom vor sich liegen; wie ein
- herrliches, leuchtendes Panorama breitete sich die ewige Stadt vor ihm
- aus. Auf der ganzen hellen Masse der Häuser, Kirchen, Kuppeln und
- Turmspitzen lag der leuchtende Glanz der herabsinkenden Sonne. Einzeln
- und in ganzen Gruppen traten eines hinter dem andern die Häuser, die
- Dächer, die Statuen, die schwebenden Terrassen und die Galerien hervor;
- dort funkelten die dünnen Spitzen der Türme und Kuppeln einer Masse und
- spielten mit der kapriziösen Buntheit bemalter Laternen in tausend
- Farben, dort trat ein ganzer Palast hervor, dort die schön geschmückte
- Spitze der Antoninussäule mit dem Kapitäl und der Statue des Apostels
- Paulus; mehr rechts strebten die Gebäude des Kapitols mit ihren Rossen
- und Statuen in den Himmel, noch mehr rechts über der leuchtenden Masse
- der Häuser und Dächer erhob sich majestätisch und streng das finstere
- Massiv des coliseischen Kolosses, dort wieder funkelte eine Flucht von
- Mauern, Terrassen und Kuppeln, in blendendes Sonnenlicht getaucht. Und
- über der ganzen blitzenden Masse grüßten die Wipfel steinerner Eichen
- fern aus den Villen der Ludovisi und Medici mit ihrem dunklen Laub
- herüber, über ihnen ragte ein Wald von römischen Pinien empor, die ihre
- zarten Stämme mit den kuppelförmigen Wipfeln in die Luft streckten. Und
- dieses ganze Bild wurde seiner ganzen Länge nach begrenzt von
- dunkelblauen Bergen, die sich zart und durchsichtig wie die Luft am
- Horizont erhoben und von einem phosphoreszierenden Lichte umwoben
- wurden. Kein Wort und kein Pinsel hätte die wunderbare Harmonie und den
- einträchtigen Zusammenhang aller Züge dieses Bildes schildern können!
- Die Luft war so rein und durchsichtig, daß die zarteste Linie der fernen
- Gebäude klar hervortrat und daß alles so nahe erschien, wie wenn man es
- mit der Hand greifen konnte. Das letzte kleinste architektonische
- Ornament, der Arabeskenschmuck eines Gesimses -- alles zeichnete sich
- mit einer unbeschreiblichen Deutlichkeit ab. In diesem Augenblick
- ertönte ein Kanonenschuß und ein ferner, in eins zusammenfließender
- Schrei der Volksmenge -- das Zeichen, daß die reiterlosen Rosse schon
- vorbeigaloppiert waren und damit der Karnevalstag seinen Abschluß
- gefunden hatte. Die Sonne sank immer tiefer herab und näherte sich dem
- Erdrand; ihr Abglanz auf der Masse der Bauwerke wurde immer rosiger und
- glühender, die Stadt erschien jetzt noch belebter und näher, die Pinien
- noch dunkler, das Blau der Berge wurde noch tiefer, sie
- phosphoreszierten noch stärker, und der erlöschende Himmelsäther wurde
- noch wundersamer und feierlicher! ... O Gott, welch ein Anblick! Und
- ganz hingerissen von all der Herrlichkeit vergaß der Fürst sich selbst,
- die Schönheit Anunziatas, das rätselhafte Schicksal seines Volkes und
- alles, was es auf dieser Welt gab.
- Anhang
- I
- Arabesken
- Die Arabesken sind in der ersten Januarhälfte des Jahres 1835
- erschienen; die Unterschrift des Zensors trägt das Datum »den 10.
- November 1834«.
- Arabesken (Erster Teil)
- I. _Skulptur, Malerei und Musik._ Der Entwurf zu diesem Aufsatz stammt
- aus dem Jahre 1831, die endgültige Bearbeitung für den Druck fällt in
- das Jahr 1834.
- II. _Über das Mittelalter._ Dieser Aufsatz, Gogols Antrittsvorlesung,
- ist im August 1834 niedergeschrieben.
- III. _Ein Kapitel aus einem historischen Roman._ Wurde zum erstenmal in
- dem Almanach »Nordische Blumen für das Jahr 1831« (»_Ssewernyje zwety na
- 1831 god_«) abgedruckt. Die Unterschrift des Zensors trägt das Datum
- »den 18. Dezember 1830«.
- IV. _Über den Unterricht in der Weltgeschichte._ Dieser Aufsatz ist im
- Dezember 1833 geschrieben. In der ersten Hälfte des Jahres 1834 wurde er
- noch einmal überarbeitet und erschien dann in der neuen Fassung im
- Februarheft der »Zeitschrift des Kultusministeriums« (»_Journal
- Ministerstwa Narodnawo prossweschtschenja_«) Jahrgang 1834.
- V. _Ein Überblick über das Werden Kleinrußlands._ Der erste Entwurf zu
- diesem Aufsatz stammt aus dem Jahre 1833; im März 1834 wurde er für den
- Druck neu bearbeitet und erschien zum erstenmal im Aprilheft der
- »Zeitschrift des Kultusministeriums«, Jahrgang 1834, unter dem Titel
- »Ein Abschnitt aus der Geschichte Kleinrußlands«, Band I, Buch I,
- Kapitel I.
- VI. _Einige Worte über Puschkin._ Der erste Entwurf stammt aus dem Jahre
- 1832, die letzte Bearbeitung für den Druck aus dem Jahre 1834.
- VII. _Über die Architektur unserer Zeit._ Dieser Aufsatz ist in der
- zweiten Hälfte des Jahres 1833 begonnen, 1834 wurde er vor der
- Drucklegung noch einmal überarbeitet.
- VIII. _Al-Mamun._ Dieses Essay stammt aus dem Jahre 1834.
- Arabesken (Zweiter Teil)
- I. _Das Leben._ Der Entwurf zu dieser Skizze stammt aus dem Jahre 1832,
- die letzte Bearbeitung aus dem Jahre 1834.
- II. _Schlözer, Müller und Herder._ Der erste Entwurf zu diesem Aufsatz
- stammt aus dem Jahre 1832, die letzte Fassung aus dem Jahre 1834.
- III. _Der Newsky-Prospekt._ Diese Novelle wurde 1833 oder im Anfang des
- Jahres 1834 begonnen. Im Oktober 1834 wurde sie für den Druck
- fertiggestellt.
- Bei der Umarbeitung erhielt folgende Stelle der ursprünglichen
- Handschrift eine neue Fassung: »Wenn Piragow seine Uniform angehabt
- hätte, so hätte wahrscheinlich die Achtung vor seinem Rang und seiner
- Würde die wilden Teutonen sicherlich von ihrem Unternehmen abstehen
- lassen; aber er war ja nur als Zivilist und als Privatperson erschienen
- -- im Rock und ohne Epauletten. In rasender Wut rissen die Deutschen ihm
- den Rock vom Leibe; Hoffmann setzte sich ihm mit dem ganzen Gewicht
- seines Leibes auf die Beine, Kunz packte ihn am Kopfe und Schiller
- ergriff ein Rutenbündel, das bei ihm den Dienst eines Besens versah. Ich
- muß zu meinem großen Bedauern gestehen, daß der Leutnant Piragow äußerst
- schmerzhafte Prügel bezog.« (Vergl. Seite 238.)
- IV. _Über die kleinrussischen Lieder._ Dieser Aufsatz ist im März des
- Jahres 1834 niedergeschrieben und im Aprilheft der »Zeitschrift des
- Kultusministeriums«, Jahrgang 1834, erschienen.
- V. _Gedanken über Geographie._ Dieser Aufsatz erschien zum erstenmal in
- der ersten Nummer der »Literaturzeitung« (»_Literaturnaja Gaseta_«) im
- Januarheft des Jahrgangs 1831 unter dem Titel »Einige Gedanken über die
- Art, wie man Kinder in der Geographie unterrichten soll«. Die neue
- Fassung, wie sie in den Arabesken vorliegt, stammt aus dem Jahre 1834.
- VI. _Der letzte Tag von Pompeji._ Ist im August des Jahres 1834
- geschrieben.
- VII. _Der Gefangene._ Stammt aus dem Jahre 1830.
- VIII. _Über die Völkerwanderung am Ende des V. Jahrhunderts._ Ist
- wahrscheinlich im September des Jahres 1834 geschrieben.
- IX. _Memoiren eines Wahnsinnigen._ Stammt aus dem Jahre 1834.
- II
- Aufsätze aus Puschkins »Zeitgenossen«
- I. _Über die Strömungen in der Zeitschriftenliteratur der Jahre
- 1834-1835._ Dieser Aufsatz wurde im Februar 1836 begonnen und erschien
- in neuer Bearbeitung im April des Jahres 1835 im ersten Bande des
- »Zeitgenossen« (»_Sowremennik_«) von Puschkin.
- II. _Petersburger Skizzen 1836._ Dieser Aufsatz besteht aus zwei Teilen.
- Der erste Teil stammt aus dem Jahre 1835, der zweite aus dem April und
- Mai des Jahres 1836. Beide Teile wurden zum erstenmal im sechsten Bande
- von Puschkins »Zeitgenossen« abgedruckt, der erst nach seinem Tode
- erschien und die vom 2. Mai 1837 datierte Unterschrift des Zensors
- trägt.
- III. _Italienische Sommernächte._ Der Entwurf zu diesen Skizzen stammt
- aus dem Jahre 1839.
- III
- Rom
- Ein Fragment
- S. T. Aksakow, dem Gogol diese Erzählung 1839 selbst vorgelesen hat,
- nennt sie die »Italienische Novelle Anunziata«. Die Erzählung ist noch
- vor dem September desselben Jahres in Rom niedergeschrieben. Gegen Ende
- des Jahres 1841 wurde das Fragment vor der Drucklegung noch einmal
- überarbeitet. Es erschien in der dritten Nummer des »Moskwitjanin« (»der
- Moskauer«) vom Jahre 1842.
- * * * * *
- Diese Nachträge und Anmerkungen sind der russischen Ausgabe von
- _Tichonrawow_ und _Schenrock_ (Petersburg 1901) entnommen.
- _Der Herausgeber._
- Druck von Mänicke und Jahn, Rudolstadt.
- Anmerkungen zur Transkription
- Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten. Auch
- Variationen in der Transliteration der russischen Namen wurden nicht
- verändert.
- Im Original ist in den »Memoiren eines Wahnsinnigen« im letzten
- Eintrag (Seite 384) der Monatsname »Februar« um 180 Grad gedreht
- (kopfstehend) geschrieben.
- Offensichtliche Fehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt
- (vorher/nachher):
- [S. 3]:
- ... kann man wohl schon die Unvollkommenheit deines Ganzen ...
- ... kann man wohl schon die Unvollkommenheit des Ganzen ...
- [S. 10]:
- ... apelliert an unsere Sympathie und nicht an unsere
- Genußfähigkeit. ...
- ... appelliert an unsere Sympathie und nicht an unsere
- Genußfähigkeit. ...
- [S. 27]:
- ... plötzlich in schrecklicher Majestät auf, diese endenlosen ...
- ... plötzlich in schrecklicher Majestät auf, diese endlosen ...
- [S. 31]:
- ... der inmitten seiner unvermeßlichen Ländereien, im Kreise ...
- ... der inmitten seiner unermeßlichen Ländereien, im Kreise ...
- [S. 31]:
- ... singen -- der unerbitterliche Dolch erreichte sie am Ende ...
- ... singen -- der unerbittliche Dolch erreichte sie am Ende ...
- [S. 34]:
- ... ist, und niemand erfährt etwas von von ihnen. ...
- ... ist, und niemand erfährt etwas von ihnen. ...
- [S. 39]:
- ... der heute den Pirjatinsker Kreis von dem Lublinschen ...
- ... die heute den Pirjatinsker Kreis von dem Lublinschen ...
- [S. 40]:
- ... des Mirgorodschen Regiments nannte, zu tun! ... Man ...
- ... des Mirgorodschen Regiments nannte, zu tun? ... Man ...
- [S. 43]:
- ... heuzutage nie eine kurze, klare Antwort geben, er wird ...
- ... heutzutage nie eine kurze, klare Antwort geben, er wird ...
- [S. 44]:
- ... doch gar nicht gehört, daß bei Lochwitze ein Lager
- aufgeschlagen ...
- ... doch gar nicht gehört, daß bei Lochwitza ein Lager
- aufgeschlagen ...
- [S. 50]:
- ... nachdem er zweiundfünzig Seelenmessen für den verstorbenen ...
- ... nachdem er zweiundfünfzig Seelenmessen für den verstorbenen ...
- [S. 54]:
- ... erwürgst ja den Kater? Ich habe dir was Süßes mitgebracht! ...
- ... erwürgst ja den Kater! Ich habe dir was Süßes mitgebracht! ...
- [S. 74]:
- ... Nordosten in drohender Majestät die Wacht; die bebefreiten ...
- ... Nordosten in drohender Majestät die Wacht; die befreiten ...
- [S. 125]:
- ... kein harmonisches Ganze mehr. ...
- ... kein harmonisches Ganzes mehr. ...
- [S. 125]:
- ... so wurden dieser schließlich primitiv und einfach bis zur ...
- ... so wurde dieser schließlich primitiv und einfach bis zur ...
- [S. 127]:
- ... Wölbung nach den Wolken strebt oder in einen gegewaltigen ...
- ... Wölbung nach den Wolken strebt oder in einen gewaltigen ...
- [S. 140]:
- ... mit ihrem bunten Gewande, und ihrem kostbarem Halsgeschmeide. ...
- ... mit ihrem bunten Gewande, und ihrem kostbaren Halsgeschmeide. ...
- [S. 146]:
- ... Äußere annehmen, bald wieder einen fröhlichen Ausdruck, ...
- ... Äußeres annehmen, bald wieder einen fröhlichen Ausdruck, ...
- [S. 158]:
- ... die keine bestimmte Gesetze kennen, liegt die ...
- ... die keine bestimmten Gesetze kennen, liegt die ...
- [S. 161]:
- ... Fanatismus, -- einen Fantismus, der die Massen
- auseinanderriß, ...
- ... Fanatismus, -- einen Fanatismus, der die Massen
- auseinanderriß, ...
- [S. 168]:
- ... des Menschen. Alles ist vergänglich. Gemein ist alle ...
- ... Menschen. Alles ist vergänglich. Gemein ist alle ...
- [S. 179]:
- ... ein unzertrennliches Ganze ist das Ziel, nach dem seine ...
- ... ein unzertrennliches Ganzes ist das Ziel, nach dem seine ...
- [S. 192]:
- ... Lesen von Journälen beschäftigen, mit einem Wort, ...
- ... Lesen von Journalen beschäftigen, mit einem Wort, ...
- [S. 197]:
- ... Epaulette bringen sie schon in solch eine Vewirrung, daß ...
- ... Epaulette bringen sie schon in solch eine Verwirrung, daß ...
- [S. 199]:
- ... Licht dies Lächeln vorgegaukelt hatt. Allein, der ...
- ... Licht dies Lächeln vorgegaukelt hatte. Allein, der ...
- [S. 263]:
- ... nie ein schönes Ganze zurückbleiben. -- Es werden ...
- ... nie ein schönes Ganzes zurückbleiben. -- Es werden ...
- [S. 271]:
- ... in Kiew, einen King Bench? Über diese wird das ...
- ... in Kiew, einen King Bench! Über diese wird das ...
- [S. 273]:
- ... ein organisches Ganze zu bilden. ...
- ... ein organisches Ganzes zu bilden. ...
- [S. 283]:
- ... Schrecken und doch wieder seinen Schreck plötzlich
- vergessend, ...
- ... Schrecken und doch wieder ihren Schreck plötzlich vergessend, ...
- [S. 306]:
- ... der Zivilisation wären überhaupt um viele Jahrhunderte ...
- ... der Zivilisation wäre überhaupt um viele Jahrhunderte ...
- [S. 331]:
- ... von selbst, daß diese Taten in seine Untertanen keinen allzu ...
- ... von selbst, daß diese Taten in seinen Untertanen keinen allzu ...
- [S. 399]:
- ... durchaus zu verwerfen wären. Dies erinnnerte an den ...
- ... durchaus zu verwerfen wären. Dies erinnerte an den ...
- [S. 410]:
- ... Beobochter« die Erwartungen des nach Neuem ...
- ... Beobachter« die Erwartungen des nach Neuem ...
- [S. 410]:
- ... Biene« unb die »Lesebibliothek« waren, die natürlich nie ...
- ... Biene« und die »Lesebibliothek« waren, die natürlich nie ...
- [S. 424]:
- ... allerhand Kämpfer laut miteinander im Streite liegen. ...
- ... allerhand Kämpfer laut miteinander im Streite liegen? ...
- [S. 424]:
- ... mit jeder orginalen Schöpfung: aus ihr lernen wir den ...
- ... mit jeder originalen Schöpfung: aus ihr lernen wir den ...
- [S. 444]:
- ... Verhältnissen Talente entwickeln. Gebt uns um Gottes ...
- ... Verhältnissen Talente entwickeln? Gebt uns um Gottes ...
- [S. 444]:
- ... Autoren förmlich in ihre Stücken geschleppt werden, so wie ...
- ... Autoren förmlich in ihre Stücke geschleppt werden, so wie ...
- [S. 462]:
- ... hob sich mir ihrer schirmartigen, wie in der Luft schwebenden ...
- ... hob sich mit ihrer schirmartigen, wie in der Luft schwebenden ...
- [S. 462]:
- ... klingendem, diamentenem Strahl das Wasser emporsprang ...
- ... klingendem, diamantenem Strahl das Wasser emporsprang ...
- [S. 492]:
- ... Adel verleiht. Wie klein erschien ihm vor dieser
- unschütterlichen, ...
- ... Adel verleiht. Wie klein erschien ihm vor dieser
- unerschütterlichen, ...
- [S. 497]:
- ... ründeten sich die Kuppeln, die Statuen des lateranischen ...
- ... rundeten sich die Kuppeln, die Statuen des lateranischen ...
- [S. 501]:
- ... ihm seinen entschwundenen Glanz wiederzugeben.« Und ...
- ... ihm seinen entschwundenen Glanz wiederzugeben?« Und ...
- [S. 501]:
- ... er gedacht der Zeit, als er noch als Student der Universität, ...
- ... er gedachte der Zeit, als er noch als Student der
- Universität, ...
- [S. 529]:
- ... er kann von diesen etwas erfahren, kann in alle Cafés ...
- ... er kann von diesem etwas erfahren, kann in alle Cafés ...
- End of the Project Gutenberg EBook of Sämmtliche Werke 6: Arabesken,
- Prosaschriften, Rom, by Nikolaj Gogol
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- things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
- even without complying with the full terms of this agreement. See
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- works. See paragraph 1.E below.
- 1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
- or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
- Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
- collection are in the public domain in the United States. If an
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