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  • The Project Gutenberg EBook of Sämmtliche Werke 6: Arabesken,
  • Prosaschriften, Rom, by Nikolaj Gogol
  • This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
  • almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
  • re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
  • with this eBook or online at www.gutenberg.org/license
  • Title: Sämmtliche Werke 6: Arabesken, Prosaschriften, Rom
  • Author: Nikolaj Gogol
  • Editor: Otto Buek
  • Translator: Charlotte Lolly Koenig
  • Otto Buek
  • Release Date: November 3, 2017 [EBook #55881]
  • Language: German
  • *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 6: ***
  • Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
  • Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was
  • produced from images made available by the HathiTrust
  • Digital Library and the Google Cultural Institute.
  • Nikolaus Gogol
  • Arabesken
  • Nikolaus Gogol
  • Sämmtliche Werke
  • In 8 Bänden
  • Herausgegeben
  • von
  • Otto Buek
  • Band 6
  • München und Leipzig
  • bei Georg Müller
  • 1912
  • Nikolaus Gogol
  • Arabesken, Prosaschriften, Rom
  • Herausgegeben
  • von
  • Otto Buek
  • München und Leipzig
  • bei Georg Müller
  • 1912
  • Inhalt des sechsten Bandes
  • Arabesken (Erster Teil) 1
  • Vorwort 3
  • Skulptur, Malerei und Musik 5
  • Über das Mittelalter 15
  • Ein Kapitel aus einem historischen Roman 37
  • Über den Unterricht in der Weltgeschichte 57
  • Ein Überblick über das Werden Kleinrußlands 83
  • Einige Worte über Puschkin 103
  • Über die Architektur unserer Zeit 115
  • Al-Mamun 151
  • Arabesken (Zweiter Teil) 163
  • Das Leben 165
  • Schlözer, Müller und Herder 173
  • Der Newsky-Prospekt 183
  • Über die kleinrussischen Lieder 243
  • Gedanken über Geographie 259
  • Der letzte Tag von Pompeji 275
  • Der Gefangene 289
  • Über die Völkerwanderung am Ende des V. Jahrhunderts 301
  • Memoiren eines Wahnsinnigen 349
  • Aufsätze aus Puschkins »Zeitgenossen« 387
  • Über die Strömungen in der Zeitschriftenliteratur der Jahre 289
  • 1834-1835
  • Petersburger Skizzen 427
  • Italienische Sommernächte 453
  • Rom 459
  • Anhang 533
  • Arabesken
  • I
  • 1835
  • Erster Teil
  • Deutsch von _Charlotte Lolly Koenig_
  • Diese Sammlung enthält eine Reihe von Schriften, die zu sehr
  • verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Epochen meines Lebens
  • entstanden sind. Sie sind nicht auf Bestellung geschrieben. Sie waren
  • ein Ausdruck meiner Seelenstimmung, und ich wählte mir nur solche
  • Gegenstände, die einen starken Eindruck auf mich machten. In diesen
  • Stücken werden die Leser sicherlich viel Jugendliches finden. Ich
  • gestehe, daß ich einige von diesen Schriften vielleicht garnicht in
  • diese Sammlung aufgenommen hätte, wenn ich sie ein Jahr früher
  • herausgegeben hätte, als ich mich noch viel strenger gegen meine älteren
  • Arbeiten verhielt. Aber statt gar zu streng mit seiner _Vergangenheit_
  • ins Gericht zu gehen, ist es weit besser, unerbittlich gegen seine
  • _gegenwärtigen_ Leistungen zu sein. Das, was man früher einmal
  • geschrieben hat, zu vernichten, scheint mir ebenso ungerecht, wie die
  • vergangenen Tage seiner Jugend zu vergessen. Und außerdem: wenn ein Werk
  • zwei oder drei noch nicht ausgesprochene Wahrheiten enthält, so hat der
  • Verfasser schon nicht mehr das Recht, sie dem Leser vorzuenthalten, und
  • um zweier oder dreier richtiger Gedanken willen, kann man wohl schon die
  • Unvollkommenheit des Ganzen verzeihen.
  • Sodann muß ich noch einiges über diese Ausgabe selbst sagen: als ich die
  • gedruckten Bogen las, erschrak ich selbst an vielen Stellen über die
  • Unkorrektheit des Stils, über vieles Überflüssige und Unzureichende, das
  • eine Folge meiner Unvorsichtigkeit war. Aber der Mangel an Muße und
  • andre nicht immer freundliche Lebensumstände erlaubten es mir nicht,
  • meine Manuskripte ruhig und aufmerksam durchzusehen, und so wage ich
  • denn zu hoffen, daß mich der Leser großmütig entschuldigen wird.
  • I
  • Skulptur, Malerei und Musik
  • Dank sei dem Schöpfer der Welten für seine Güte und sein Mitleid mit den
  • Menschen! Drei hehre Schwestern hat er entsandt, die Welt zu verschönen
  • und zu erquicken; ohne sie wäre die Welt eine Wüste, die klanglos ihre
  • Kreise zöge. Laßt uns unsere Wünsche enger, inniger zusammenschließen
  • und unsern ersten Becher der Skulptur weihn. Sie, die schöne Sinnenkunst
  • war es, die zuerst in diese Welt trat. Sie ist ein völlig ursprüngliches
  • Gebilde, die Spur jenes Volkes, das sich ganz, mit seiner ganzen Seele,
  • seinem ganzen Leben in ihr verkörpert hat. Sie ist das klare Abbild
  • jener leuchtenden, griechischen Welt, die vor uns im tiefen Abgrund der
  • Jahrhunderte entschwunden, schon vom Nebel verhüllt wird und nur noch
  • von dem Gedanken des Dichters erreicht werden kann: jene von Weinranken
  • und Olivenzweigen, harmonischen Träumen und prunkendem Heidentum
  • geschmückte Welt. Jene Welt, die sich beim Klang der Zimbeln im
  • gemessenen Tanz wiegte oder in bacchantischem Wirbel dahinraste, wo das
  • Gefühl des Schönen alles durchdrang: die Hütte des Bettlers, die Zweige
  • der Platane, den Marmor der Säulenhallen, den von lebhaften,
  • eigenwilligen Menschen bevölkerten Platz, das Relief, das den festlichen
  • Becher zierte, und die sich lange schlingende Reihe anmutiger
  • mythologischer Gestalten verbildlichte: wo schamhaft die Göttin der
  • Schönheit dem Schaum der Wellen entsteigt, Tritonen dahinjagen und in
  • die Hände klatschen und Poseidon silberklar aus der Tiefe seines
  • herrlichen Elements emportaucht. Jene Welt, in der die Religion nichts
  • war -- als Schönheit, als die menschliche Schönheit und die
  • göttergleiche Schönheit des Weibes -- jene ganze Welt ward festgehalten
  • von der holden Skulptur; nichts außer ihr konnte das leuchtende Dasein
  • dieser Welt so lebendig zum Ausdruck bringen. Weiß wie Milch, Schönheit,
  • Zartheit und Wollust atmend, bannte die Skulptur eine Idee und einen
  • Gedanken -- die Schönheit, die stolze Schönheit des Menschen in den
  • durchsichtigen Marmor. Selbst in der Glut der Leidenschaft und im
  • stärksten Affekt -- stets bleibt bei ihr der Mensch stolz und schön und
  • fordert unsere Bewunderung heraus durch seine freie athletische Pose.
  • Hier fließt alles in sinnlicher Schönheit zusammen; nie lassen wir beim
  • Anblick einer schmerzerfüllten Gruppe die bittere Klage unseres Herzens
  • mit ihrer Klage zusammenklingen; ja, man könnte fast sagen, wir genießen
  • den Anblick ihrer Qualen, so sehr wird der Drang unserer Seele durch die
  • plastische, ruhige Schönheit überwältigt. Die Skulptur drückt nie ein
  • anhaltendes, tiefes Gefühl aus, sie gibt nur schnelle spontane
  • Empfindungen wieder: den wilden Zorn, einen rasenden Schmerzensschrei,
  • das furchtbare Grauen, einen plötzlichen Schreck, Tränen, Stolz,
  • Verachtung und endlich die in sich selbst versunkene Schönheit. Sie
  • wandelt alle Gefühle des Beschauers in Genuß, den ruhigen Genuß, der
  • stets mit der Wonne und der Selbstzufriedenheit der heidnischen Welt
  • verbunden ist. Ihr fehlen jene geheimen, schrankenlosen Gefühle, die
  • endlose Träume mit sich führen. In ihr suchen wir umsonst nach dem
  • langen, von Umwälzungen und Erschütterungen erfüllten Leben. Ihre
  • Schönheit hat etwas Momentanes, wie die einer schönen Frau, die einen
  • Blick in den Spiegel wirft, ihrem Bilde freundlich zulächelt und
  • frohlockend weiter eilt, triumphierend eine Schar stolzer Jünglinge nach
  • sich ziehend. Sie ist bezaubernd wie das Leben, wie die Welt, wie die
  • Sinnenschönheit, der sie als Altar dient. Sie wurde zugleich mit der
  • scharf umrissenen und klar gestalteten heidnischen Welt geboren, sie
  • stellte sie dar und ist mit ihr gestorben. Vergeblich versuchte man es,
  • mit ihrer Hilfe die hohen Gestalten des Christentums zu verkörpern, sie
  • stand ihnen so fern, wie der heidnische Glaube.
  • Nie konnten die erhabenen stürmenden Gedanken des Christentums auf der
  • wollüstigen Außenseite des Marmors Platz finden. Sie wurden ganz von
  • seiner Sinnlichkeit aufgesogen.
  • Nicht so ihre beiden andern Schwestern, die Malerei und die Musik, die
  • das Christentum aus ihrer Niedrigkeit erhob und ins Gigantische
  • steigerte. Durch seine mächtige Triebkraft blühten sie erst recht empor
  • und sprengten die Fesseln der sinnlichen Welt. Wehmütig gedenke ich
  • meiner herrlichen, wolkenhaften, marmornen Skulptur! Doch ... erklinge
  • heller, mein Becher, kling' heller in meiner bescheidenen Zelle -- und
  • es lebe die Malerei. Erhaben und herrlich wie der Herbst, der reich
  • geschmückt durch das weinlaubumrankte Fenster blickt, fromm und gewaltig
  • wie das Weltall -- ja du bist schön, du herrliche Musik der Augen. Nie
  • hat die Skulptur es gewagt, deine himmlischen Offenbarungen
  • darzustellen. Nie hat sie uns jene feinen geheimnisvollen irdischen Züge
  • sehen lassen, bei deren Anblick wir das Gefühl haben, als erfülle der
  • Himmel unsere Seele, und bei denen wir das Unaussprechliche zu empfinden
  • meinen. Wie aus wolkigem Nebel treten die langen Reihen der Bilder
  • hervor, und aus altertümlichen, vergoldeten Rahmen blickst du lebendig,
  • wenngleich die unbarmherzige Zeit deine Leuchtkraft verdunkelte, und
  • wortlos und stumm steht mit gefalteten Händen vor dir der Beschauer.
  • Doch es ist nicht Sinnenglück, was aus seinen Augen strahlt, nein, sein
  • Antlitz ist von einer überirdischen Lust verklärt. Du warst nie der
  • Ausdruck einer bestimmten Nation und ihres Lebens, nein, dazu standest
  • du zu hoch, du warst der Ausdruck alles dessen, was die christliche Welt
  • an erhabenen Geheimnissen in sich birgt. Blickt hin auf das nachdenklich
  • auf die Hand gestützte Haupt; wie begeistert und tief bohrend ist ihr
  • Blick! Sie ergreift nicht nur einen kurzen Augenblick wie der Marmor,
  • sie zieht diesen Augenblick in die Länge, sie setzt das Leben fort bis
  • über die Grenzen des Sinnlichen, sie entreißt einer andern unendlichen
  • Welt Erscheinungen, für die es uns an Worten und Namen fehlt. All jenes
  • Unbestimmbare, was kein vom wuchtigen Meißel des Bildhauers
  • durchfurchter Marmorblock auszudrücken vermag, gewinnt Gestalt unter dem
  • begeisterten Pinsel des Malers. Gewiß weiß auch sie die allen
  • verständlichen Leidenschaften auszudrücken, allein die Sinnlichkeit
  • pulsiert nicht mehr so gewaltig in ihnen, und ein geistiges Element
  • scheint alles zu durchdringen. Das Leiden findet in ihr einen
  • unmittelbareren lebendigeren Ausdruck und ruft nur Mitleid hervor -- sie
  • appelliert an unsere Sympathie und nicht an unsere Genußfähigkeit. Sie
  • nimmt sich auch nicht den Menschen allein zum Vorwurf -- ihre Grenzen
  • sind weiter: sie umfaßt das ganze Weltall, alles Herrliche, was den
  • Menschen umgibt, ist ihrer Macht erreichbar. Die geheimnisvolle
  • Harmonie, das wunderbare Band zwischen Mensch und Natur -- in ihr allein
  • ist sie zu finden. Sie bindet das Sinnliche an das Geistige.
  • Aber schäume noch feuriger, mein dritter Pokal! Noch heller funkle und
  • perle über den goldenen Rand, du schäumendes Blut! -- Du funkelst zum
  • Preis der Musik! Denn sie ist noch weit feueriger und stürmischer als
  • ihre beiden Schwestern. Sie ist ganz Leidenschaft! sie entreißt den
  • Menschen plötzlich und wie mit einem Schlage der Erde, betäubt ihn durch
  • den Donner ihrer gewaltigen Töne und versenkt ihn ganz in ihre Welt. Wie
  • in die Saiten des Instrumentes, so greift sie herrisch an seine Nerven,
  • an sein gesamtes Sein und läßt sein ganzes Wesen erbeben. Er genießt
  • schon nicht mehr, er fühlt keine Teilnahme, nein, er selbst wird ganz
  • Leiden; seine Seele betrachtet keine unfaßbare Erscheinung, sie _lebt_,
  • lebt ihr eigenes Leben, gewaltsam, leidenschaftlich zerstörend.
  • Unsichtbar hat sie auf ihren süßen Klängen die ganze Welt durchdrungen,
  • strömt sie breit dahin und atmet und lebt in tausend verschiedenen
  • Gestalten. Qualvoll und rebellisch ist sie -- am mächtigsten und
  • herrlichsten wirkt sie jedoch in den unendlichen Kuppelgewölben eines
  • dunklen Domes, wo sie tausend kniende Gläubige zu _einer_ harmonischen
  • Empfindung verschmilzt und mit sich fortreißt, ihre tiefsten
  • Herzensregungen bloßlegt, ihre Sinne betört und sich mit ihnen in
  • unabsehbare Höhen emporschwingt -- ein langes Schweigen und einen lang
  • nachzitternden Ton hinter sich lassend, der in den Tiefen des hohen,
  • spitzen Turmes verklingt. Wie könnte man euch miteinander vergleichen,
  • ihr herrlichen Königinnen der Welt! Der sinnliche Zauber der Skulptur
  • erfüllt uns mit hohem Genuß, die Malerei -- mit stiller Begeisterung und
  • Träumereien -- die Musik mit Leidenschaft und innerer Unruhe. Wenn wir
  • ein plastisches Kunstwerk aus Marmor betrachten, gerät unser Geist
  • unwillkürlich in Entzücken, vor einem Gebilde der Malerei versinkt er in
  • Betrachtung -- beim Klange der Musik -- macht er sich Luft in einem
  • Schmerzenslaut -- als sei die Seele von einem einzigen Wunsch ergriffen
  • -- sich vom Körper loszureißen. Sie -- ist unser! Sie ist das Eigentum
  • der neuen Welt! Sie blieb uns, als die Skulptur, die Malerei und die
  • Baukunst uns verlassen hatten. Nie dürsteten wir so nach Begeisterung,
  • die die Seele erhebt, wie in der heutigen Zeit, wo alle die zahllosen
  • kleinen Launen und Genüsse, an deren Erfindung unser XIX. Jahrhundert
  • sich den Kopf zerbricht, uns überwältigen und erdrücken. Alles
  • verschwört sich gegen uns; diese ganze verführerische Kette raffinierter
  • Erfindungen des Luxus sucht unsere Sinne immer mehr und mehr zu betäuben
  • und einzuschläfern. Wir lechzen darnach, unsere arme Seele zu retten,
  • diesen furchtbaren Versuchern zu entfliehen und -- so stürzen wir uns in
  • die Musik. O sei unser Schutzengel, unser Heiland, Musik, verlaß uns
  • nicht! rüttle unsere kleinliche habgierige Seele immer häufiger auf!
  • greife mit deinen Tönen kräftiger in unsere schlummernden Gefühle! Rege,
  • wühle sie auf und verscheuche, wenn auch nur für Augenblicke, diesen
  • fürchterlichen kalten Egoismus, der mit aller Gewalt unsere Welt erobern
  • will. O laß bei dem machtvollen Strich deines Bogens die verwirrte Seele
  • des Räubers, wenn auch nur für kurze Momente, von Gewissensbissen
  • gemartert werden, laß den Spekulanten seine Rechnungen vergessen und die
  • Frechheit und Schamlosigkeit vor den Schöpfungen des Genies eine
  • ungewollte Träne vergießen. O verlasse uns nicht, du, die du unsere
  • Gottheit bist. Der große Baumeister der Welt hat uns in seiner
  • unergründlichen Weisheit in stummes Schweigen gebannt, aber dem wilden
  • unentwickelten Menschen pflanzte er den Gedanken der Baukunst ein. Mit
  • einfachen Mitteln, ohne Hilfe des Mechanismus richtet er Berge von
  • Granit auf, türmt sie steil zum Himmel empor und sinkt vor ihrer
  • formlosen Größe in die Knie. Der alten heiteren Sinnenwelt sandte er die
  • herrliche Skulptur, die uns die reine keusche Schönheit brachte, und die
  • ganze antike Welt ward zu einem Loblied auf die Schönheit. Das
  • ästhetische Schönheitsgefühl einte sie zu einem harmonischen Ganzen und
  • hielt sie fern von rohen Gelüsten! Den finsteren, unruhigen
  • Jahrhunderten, wo oft nur die Lüge und die rohe Kraft triumphierten, und
  • wo der Dämon des Aberglaubens und der Unduldsamkeit alle Lebensfreude
  • verscheuchte, schenkte er die begeisternde Malerei, die die Welt die
  • überirdischen Erscheinungen und die himmlischen Genüsse der Heiligen
  • sehen ließ. Aber unserem jungen und zugleich altersschwachen Jahrhundert
  • sandte er die gewaltige Musik -- um uns im Sturme zu ihm zu führen. Doch
  • wenn uns auch die Musik noch verläßt, was soll dann aus unsrer Welt
  • werden!?
  • 1831.
  • II
  • Über das Mittelalter
  • Niemals haben die Ereignisse der Weltgeschichte eine solche
  • Gewichtigkeit und Bedeutsamkeit angenommen, nie hat sie eine so große
  • Zahl von individuellen Erscheinungen gezeitigt, wie im Mittelalter. Alle
  • Weltbegebenheiten strömen, je näher sie diesen Jahrhunderten liegen,
  • nach langer Unbeweglichkeit mit gesteigerter Geschwindigkeit wie in
  • einen Strudel, in einen wildbrodelnden Wirbel zusammen, um, nachdem sie
  • von diesem in Umschwung gebracht, sich untereinander vermischt haben,
  • neugeboren in frischen Wellen wieder emporzutauchen. In diesen
  • Jahrhunderten fand eine große Umwandlung der ganzen Welt statt. Sie sind
  • der Knoten, in dem die alte und die neue Welt zusammentreffen. Man kann
  • dem Mittelalter in der Geschichte der Menschheit dieselbe Bedeutung
  • anweisen, wie sie das Herz im menschlichen Körperbau einnimmt, in das
  • alle Adern einmünden und von dem sie alle ausgehen. Wie ging diese
  • vollständige Umwandlung vor sich? Welches sind die ursprünglichen
  • Elemente, die sich in ihr erhielten? Was kam Neues hinzu? In welcher
  • Weise vermengte sich Altes und Neues? Was entstand aus dieser
  • Vermengung? Wie bildete sich das majestätische, stolze Gebäude der
  • Neuzeit? Dies sind so schwerwiegende Fragen, wie es wohl in der ganzen
  • Geschichte kaum wichtigere gibt. Alles, was wir besitzen, dessen wir uns
  • bedienen, was wir vor den früheren Jahrhunderten voraushaben, der ganze
  • Bau und die kunstvolle Zusammensetzung unserer Administration, die
  • Beziehungen der verschiedenen Stände untereinander, ja diese Stände
  • selbst, unsere Religion, unsere Rechte und Privilegien, unsere Sitten
  • und Gebräuche, selbst unser ganzes Wissen, das sich in so schnellem
  • Fortschritt vorwärts bewegt -- dies alles hat entweder seinen Keim und
  • Ursprung in dem dunklen geheimnisvollen Mittelalter oder hat sich doch
  • aus ihm entwickelt und herausdifferenziert. In ihm ruhen die
  • ursprünglichen Elemente und das Fundament alles Neuen; ohne ein
  • eingehendes, aufmerksames Studium dieser Epoche bleibt die neue
  • Geschichte unzulänglich und unklar, der Forscher, der von ihr ausgeht,
  • gleicht dem Besucher einer Fabrik, der sich über die schnelle
  • Herstellung der Produkte wundert, da sie beinahe vor seinen Augen
  • entstehen, und dabei vergißt, in das finstre Erdgeschoß hinabzusehen, wo
  • die großen mächtigen Schwungräder verborgen sind, die den Anstoß zum
  • Ganzen geben; solch eine Geschichte gleicht der Statue eines Künstlers,
  • der keine Anatomie studiert hat.
  • Warum aber hat man sich trotz der großen Bedeutung dieser merkwürdigen
  • Epoche immer so ungern mit ihrer Erforschung beschäftigt? Warum beeilt
  • man sich, wenn man zum Mittelalter kommt, stets, es so schnell wie
  • möglich durchzunehmen und abzutun? Und warum haben sich nur wenige, sehr
  • wenige Menschen, ergriffen von der Größe des Gegenstandes, die Mühe
  • genommen, einige von den angeführten Fragen zu beantworten? Mir scheint,
  • es liegt daran, weil man dem Mittelalter stets den letzten Platz
  • angewiesen hat. Man hielt diese Epoche eben für gar zu barbarisch und
  • unkultiviert, und infolgedessen blieb sie in der Tat immer dunkel und
  • unerforscht und wurde nie richtig in ihrem Werte erkannt und in ihrer
  • genialen Größe dargestellt. Barbarisch kann man nur ihren Anfang nennen,
  • aber selbst diese finstre Zeit birgt schon mancherlei, was unsere
  • Neugierde zu reizen geeignet wäre. Schon der Prozeß der Vereinigung
  • zweier Welten, der antiken und der neuen, der grelle Widerspruch in
  • ihren Formen und ihren Eigentümlichkeiten, diese altersschwachen,
  • absterbenden Elemente der Antike, die sich durch die neue Umgebung
  • hindurchziehen, wie Flüsse, die ins Meer strömen, aber noch lange ihr
  • süßes Wasser nicht mit den salzigen Wellen vermengen, sind
  • _interessanter_ -- diese rohen, mächtigen Kräfte der neuen Zeit, die
  • hartnäckig allen fremden Einflüssen widerstehen, um sie endlich doch
  • unfreiwillig in sich aufzunehmen, die mühevolle Anstrengung, mit der
  • diese europäischen Wilden die römische Kultur für sich zurechtschneiden,
  • diese Bruchstücke, oder besser gesagt Fetzen römischer Formen und
  • Gesetze inmitten der neuen noch unbestimmten, denen es noch an Gestalt,
  • Grenze und Ordnung fehlt, dieses ganze Chaos, in denen die Elemente der
  • furchtbaren Majestät des heutigen Europas und seiner tausendfältigen
  • Kraft ungegliedert durcheinanderbrodeln: dies alles ist _fesselnder_ für
  • uns und regt unsere Neugierde mehr an, als die starre Zeit des römischen
  • Weltreiches unter der Herrschaft kraftloser Imperatoren.
  • Ein zweiter Grund, warum man sich so ungern mit der Geschichte des
  • Mittelalters beschäftigt, ist -- die angebliche Trockenheit, die man mit
  • ihr zu verbinden geneigt ist. Man betrachtet sie wie eine Menge
  • verschiedener ungeordneter Ereignisse, wie einen Haufen
  • unzusammenhängender und sinnloser Begebenheiten, die kein gemeinsames
  • Band umschließt, das sie alle zu einem Ganzen vereinigt. In der Tat,
  • ihre schreckliche und ungewöhnliche Kompliziertheit muß im ersten
  • Augenblick chaotisch erscheinen; aber wenn man nur aufmerksamer und
  • tiefer hineinblickt, so findet man bald Zusammenhang, Zweck und Richtung
  • darin. Übrigens leugne ich nicht, daß man den Instinkt und das
  • Verständnis haben muß, das nur wenigen Historikern verliehen ist, um
  • dies alles zu entdecken. Einigen freilich ward die beneidenswerte Gabe
  • zuteil, alles in bewunderungswürdiger Klarheit und Folgerichtigkeit zu
  • sehen und darzustellen. Von ihrem Zauberstab berührt, beleben sich die
  • Ereignisse und bekommen ihr eigenes Gepräge und Interesse; ohne sie
  • dagegen erscheinen sie einem jeden noch lange trocken und sinnlos.
  • Abgesehen etwa von einem stumpfsinnigen Dahinvegetieren der Völker ist
  • alles, was immer geschehen mag, interessant, sofern es nur in
  • wahrheitsgemäßen Chroniken aufgezeichnet ist. Überall gibt es einen
  • durchgehenden Faden, wie jedes Gewebe seine Struktur hat, obwohl diese
  • häufig vollständig in dem Einschlag verschwindet; und wie ein jeder
  • Edelstein eine unsichtbare Lichtquelle enthält, die erstrahlt, wenn er
  • der Sonne zugewendet wird so verliert sich dieser Faden nur da, wo die
  • Überlieferung aufhört. So zieht sich auch in den ersten Jahrhunderten
  • des Mittelalters durch die Masse der Ereignisse das unaufhörliche
  • Erstarken der päpstlichen Macht und die Entwicklung des Feudalismus wie
  • ein unsichtbarer Faden hindurch. Fast könnte es scheinen, als kämen die
  • Tatsachen ganz unabhängig voneinander zustande und drängten mit ihrem
  • Glanz den einsamen, noch unbedeutenden römischen Erzbischof in den
  • Schatten; ein mächtiger Herrscher oder sein Vasall tut sich hervor,
  • scheint nur in eigenem Interesse zu handeln, und doch strömten alle
  • wesentlichen Vorteile daraus unbemerkt nach Rom. Alles, was geschah,
  • schien absichtlich und zum Vorteil des Papstes zu geschehen. Hildebrandt
  • hat den Vorhang ein wenig gelüftet und uns die Macht gezeigt, die die
  • Päpste schon frühzeitig errungen hatten. Die Geschichte des Mittelalters
  • verdient am wenigsten den Vorwurf der Langenweile. Nirgends finden wir
  • so viel Buntheit, so viel Handlung und Leben, solch krasse Gegensätze,
  • so viel grelles Licht, wie in diesen Jahrhunderten: man könnte es mit
  • einem gewaltigen Gebäude vergleichen, dessen Fundament aus festem, für
  • die Ewigkeit gefügtem jungem Granit, und dessen dicke Mauern aus
  • allerhand neuem und altem Material zusammengesetzt sind, so daß der eine
  • Ziegelstein gotische Runen, der andere eine römische Vergoldung trägt;
  • arabisches Schnitzwerk, griechische Karniese, gotische Fenster -- alles
  • ist hier vereinigt zu einem Turm von außergewöhnlicher Buntheit und
  • Mannigfaltigkeit. Aber man kann wohl sagen, diese Grellheit sei nur ein
  • äußeres Kennzeichen der mittelalterlichen Vorgänge; ihre innere
  • Bedeutung besteht in ihren ungeheuren, gigantischen Dimensionen, in
  • ihrer geradezu unerhörten Kühnheit, wie sie wohl nur der Jugend eigen
  • ist, und ihrer Originalität, die sie zu einer einzigartigen Erscheinung
  • macht; in der Tat treffen wir weder in der alten noch in der neuen
  • Geschichte etwas an, was ihnen gleich oder auch nur ähnlich wäre.
  • Werfen wir einen Blick auf die Ereignisse, die einen so mächtigen
  • Einfluß ausübten. Das wichtigste Thema der mittelalterlichen Geschichte
  • ist der Papst. Er ist der mächtige Beherrscher dieser frühen
  • Jahrhunderte, er bewegt alle ihre Kräfte und lenkt, wie der Donnergott,
  • mit einem Wink seiner Hand ihre Schicksale. Mit einem Wort, die ganze
  • Geschichte des Mittelalters ist die Geschichte der Päpste. Ihre
  • unüberwindliche Herrschsucht, ihre nie versagenden Mittel voller
  • Scharfsinn und Weisheit -- Folgen ihres hohen Alters -- ihr Despotismus
  • und der Despotismus der zahllosen Legionen einer mächtigen Geistlichkeit
  • -- dieser eifrigen Untertanen des geistlichen Oberhaupts, die alle Enden
  • der Welt, wo das Zeichen des Kreuzes eingedrungen war, mit stählernen
  • Fesseln an sich banden -- das ist eine so ungeheure Erscheinung, die
  • einzig in ihrer Art ist und die sich niemals wiederholt hat. Ich will
  • nicht von den Mißbräuchen und der unerträglichen Schwere dieser Fesseln
  • des geistlichen Despoten sprechen. Wenn wir tiefer in diese großartige
  • Erscheinung eindringen, werden wir in ihr die wunderbare Weisheit der
  • Vorsehung erkennen, hätte diese allbezwingende Macht nicht alles in ihre
  • Hände gebracht, hätte sie die Völker nicht nach ihrem Willen gelenkt und
  • angetrieben, so wäre Europa zerbröckelt, und das gemeinsame Band hätte
  • gefehlt; wahrscheinlich wären einzelne Staaten zu Macht und Ansehen
  • gelangt und dann plötzlich wieder in Verfall geraten und zugrunde
  • gegangen, andere hätten ihre Unkultur zum Schaden ihrer Nachbarn nicht
  • aufgegeben, die Bildung und die Entwickelung der Volksseele hätte sich
  • ungleichmäßig vollzogen; an einem Ende hätten Kultur und Sitte Fuß
  • gefaßt, während am anderen barbarische Finsternis ihr Wesen getrieben
  • hätte. Europa hätte sich nicht in sich festigen, und nie in ein
  • Gleichgewicht kommen können, durch das es sich heute so wunderbar
  • erhält. Es wäre weit länger in einem chaotischen Zustande verblieben und
  • hätte sich nie durch die stählerne Macht des Enthusiasmus zu einem
  • gewaltigen Bollwerk erhoben, das den Eroberern aus dem Osten durch seine
  • Festigkeit standzuhalten vermochte; ohne diese großartige Erscheinung
  • hätte Europa vielleicht ihrem Ansturm nachgegeben, und statt des Kreuzes
  • wäre der mohammedanische Halbmond auf seinen Zinnen aufgepflanzt worden.
  • Wenn wir die wunderbaren Wege der Vorsehung betrachten, so beugen wir
  • unwillkürlich unsere Knie. Es ist, als sei den Päpsten die Macht eigens
  • dazu gegeben worden, damit sich die jungen Staaten während dieser Zeit
  • kräftigen und befestigen könnten; damit sie erst lernen sollten, sich
  • selbst unterzuordnen, um dann später, als sie das notwendige Alter
  • erreicht hatten, auch andere zu beherrschen, und damit sie ihre Energie
  • entwickeln konnten, ohne die das Leben der Völker farblos und kraftlos
  • ist. Kaum waren die Völker imstande, sich selbst zu regieren, da begann
  • auch die Macht des Papstes plötzlich zu schwanken und zu zerfallen, als
  • hätte sie ihre Mission erfüllt und wäre überflüssig geworden, ungeachtet
  • aller Anstrengung und des heißen Wunsches, die sinkende Macht
  • festzuhalten. In dieser Beziehung war die päpstliche Macht dem Gerüst,
  • den Tragbalken eines Gebäudes vergleichbar; anfänglich sind sie höher
  • und erscheinen wichtiger als der Bau selbst, aber sobald dieser eine
  • gewisse Höhe erreicht hat, werden sie als überflüssig abgetragen.
  • Der Gedanke an das Mittelalter verbindet sich unwillkürlich mit dem an
  • die Kreuzzüge -- diese außerordentliche Erscheinung, die sich wie etwas
  • Gigantisches von den anderen wunderbaren und ungewöhnlichen
  • Begebenheiten abhebt. Wo und in welcher Zeit finden wir etwas, was ihnen
  • an Originalität und Größe gleichkäme? Das ist kein Krieg um ein
  • geraubtes Weib, kein Erzeugnis des Hasses zweier unversöhnlicher
  • Nationen, nicht der blutige Kampf zwischen zwei habsüchtigen Herrschern,
  • zwei unersättlichen Eroberern um eine Krone oder einen Fetzen Landes, ja
  • nicht einmal ein Krieg für die Freiheit und Unabhängigkeit eines Volkes
  • -- o nein -- keine Leidenschaft, kein egoistischer Wunsch, kein
  • persönlicher Vorteil ist die Triebfeder dieser Kämpfe; alles ist nur von
  • dem einzigen Gedanken erfüllt: das Grab des göttlichen Heilandes zu
  • befreien. Von allen Enden Europas strömen die Völker, Kreuze vor sich
  • hertragend, zusammen, Könige und Grafen in schlichten Bußgewändern
  • stellen sich an die Spitze, bewaffnete Mönche treten in die Reihen der
  • Krieger, Erzbischöfe und Einsiedler befehligen, das Kreuz in Händen,
  • zahllose Truppenmengen -- und alle stürmen sie fort zum Kampf für ihren
  • Glauben. Die Macht einer Idee umfaßt alle Völker. Liegt nicht etwas ganz
  • Großes in diesem Gedanken? Mit Unrecht nennt man die Kreuzzüge ein
  • sinnloses Unternehmen. Wäre es nicht merkwürdig, wenn der Jüngling schon
  • gleich die Sprache des reifen Mannes spräche? Sie waren das Produkt der
  • damaligen Zeit, und des damaligen Zeitgeistes. Dies Unternehmen war die
  • Tat eines Jünglings -- aber eines Jünglings, der ein geborenes Genie
  • war. Was für unzählige, wunderbare, unvorhergesehene Folgen haben die
  • Kreuzzüge gezeitigt! Die ganze Masse mußte erzogen und gebildet werden,
  • sie mußte die Welt kennen lernen, die ihr zum Teil verborgen blieb, weil
  • die Geistlichkeit davor stand, und die ganze Masse stürzt sich in einen
  • andern Weltteil, dorthin, wo die erlöschende arabische Kultur danach
  • strebt, ihr ihre Flamme zu übergeben: ganz Europa streift in Asien
  • herum. Sind wir nicht berechtigt, uns zu wundern! Gewöhnlich ist es
  • irgendein Fremder, der aus einem kultivierten Lande kommt und die
  • Aufklärung und die ersten Kenntnisse in ein unbekanntes Land trägt, er
  • bringt den Wilden allmählich eine gewisse Bildung bei -- doch dieser
  • Prozeß vollzieht sich langsam und ungleichmäßig. Hier dagegen sehen wir
  • das Gegenteil; hier kommt das Volk als ganze Masse, um sich die Bildung
  • zu holen, und obgleich es lange im fremden Lande verweilt, verschmilzt
  • es nicht mit seinen Lehrern, nimmt weder deren Luxus noch deren Laster
  • an, bewahrt seine Ursprünglichkeit und kehrt auch nach Aneignung vieler
  • asiatischer Gebräuche nicht als Asiate sondern als Europäer nach Europa
  • zurück. Ich will mich gar nicht einmal über die anderen Folgen, wie z.
  • B. die Veränderungen in der feudalen Verwaltung und Regierung auslassen,
  • die ohne andauernde Entfernung vieler kräftiger Männer aus dem Lande
  • nicht möglich gewesen wären.
  • Aber werfen wir einen Blick auf die anderen Ereignisse, die die
  • mittelalterliche Geschichte ausfüllen. Wenn sie auch im Vergleich mit
  • den Kreuzzügen nur Erscheinungen zweiten Ranges sind, so sind sie doch
  • nichtsdestoweniger von wunderbarem Reiz und verleihen dem Mittelalter
  • einen gewissen phantastischen Glanz -- sie sind ein Produkt einer
  • herrlichen Jugend, die noch von ganz großen und starken Hoffnungen
  • erfüllt ist, einer unvernünftigen Jugend vielleicht, die aber auch in
  • ihrer Unvernunft etwas Bezauberndes hat. Wir wollen die Begebenheiten in
  • chronologischer Reihenfolge betrachten.
  • Beginnen wir mit jener glanzvollen Zeit, als die Araber -- diese Zierde
  • der morgenländischen Völker -- auf dem Schauplatz erschienen. Sie
  • verdanken ihre ganze glorreiche Existenz einem einzigen Menschen und der
  • von ihm gestifteten Religion, einer Religion, so reich wie die Nächte
  • und Abende des Orients, so üppig wie die Natur an den Ufern des
  • Indischen Ozeans, so erhaben und grüblerisch, wie nur die gewaltigen
  • Wüsten Asiens sie hervorbringen konnte. Mit unerhörter Schnelligkeit
  • errichten diese braunen Turbanträger ihre Kalifate an drei verschiedenen
  • Enden des Mittelländischen Meeres. Ihre Phantasie, ihr Geist und alle
  • ihre Fähigkeiten, mit denen die Natur die Araber so reichlich
  • beschenkte, entwickeln sich vor den Augen des erstaunten Okzidents und
  • prägen sich in verschwenderischer Fülle in ihren Palästen, Moscheen,
  • Gärten, und Fontänen aus, und zwar ebenso plötzlich wie in ihren
  • Märchen, die nur so von Perlen und Edelsteinen orientalischer Poesie
  • strotzen. Noch ein Jahrhundert, und schon ist es verschwunden, dieses
  • außergewöhnliche Volk, so daß wir uns staunend fragen: hat es wirklich
  • gelebt und existiert oder war es nur eine Schöpfung unserer Phantasie?
  • Wie wunderbar und voll von Widersprüchen ist ferner das Erscheinen der
  • Normannen, dieses Volkes, das der zürnende Norden wütend aus seinen
  • Eisfeldern hervorschleuderte! Eine Handvoll kühner Männer, denen der
  • düstre Odin und die Schneeberge Skandinaviens auf den Fersen zu folgen
  • scheinen, breiten panischen Schrecken über ganze gewaltige Staaten und
  • Reiche aus. Geführt von ihren Königen, kommen ihre beweglichen
  • Königreiche auf dem nördlichen Eismeer dahergeschwommen und alles sinkt
  • nieder vor diesen wenigen, im Strom, im Wellengang, in der furchtbaren
  • Armut Skandinaviens und ihrer wilden Religion gestählten Fremdlingen.
  • Auch die gewaltigen Eroberungszüge und die weite Verbreitung der
  • mongolischen Völker war beinah etwas Übernatürliches. Die inneren
  • grenzenlosen Gefilde Asiens, bis dahin den Augen aller Völker verborgen,
  • leuchteten plötzlich in schrecklicher Majestät auf, diese endlosen
  • Steppen, Seen und ungeheuren Wüsten, wo sich alles in einer
  • unermeßlichen Breite und in unendlichen Ebenen verläuft, wo der
  • gewaltige Flächenraum durch das vereinzelte Auftreten von Menschen nur
  • noch riesenhafter und elementarer wirkt. Diese Steppen, die von
  • baumhohem Gras oder flutenden Kornfeldern bedeckt sind, die keines
  • Menschen Hand je gesäet und geschnitten hat, diese Steppen, wo Rinder
  • und Roßherden weiden, die von Urzeiten her noch niemand gezählt hatte
  • und deren wahre Anzahl selbst ihren Besitzern unbekannt blieb, diese
  • Steppen erblickten eines Tags einen Tschingis-Chan, der angesichts
  • seiner kleinen, schlitzäugigen, plattnasigen und breitschulterigen
  • Mongolen das Gelübde ablegte: die Welt zu erobern -- und das
  • menschenreiche Peking wird im Lauf eines Monats ein Raub der Flammen,
  • ein Millionenvolk wird von mongolischen Pfeilen niedergestreckt, und der
  • König der Tungusen geht mit Hunderttausenden seiner Untertanen auf einem
  • festgefrorenen See zugrunde, die Rinderherden werden bis an die Grenzen
  • Indiens getrieben, und ganze Scharen von Roßherden irren an den Ufern
  • der Wolga herum. Mit einem Worte: es ist, als ob sich in diesen
  • Eroberungszügen die ganze ungeheure Größe Asiens spiegelte. Eine so
  • rapide Überflutung hat weder die alte noch die neue Geschichte je
  • gesehen.
  • Ich will hier nicht von dem bedeutenden Handelszentrum Venedig reden,
  • diesem kleinen Fleckchen Erde, das von einer einzigen Stadt eingenommen
  • wurde; eine Stadt, eine einzige Stadt, die keinem Reich angehörte,
  • preßte der ganzen Welt ihr Gold aus, und ihre königlichen Kaufleute
  • übertrafen mit ihren Schiffen, die stolz alle Meere durchkreuzten, mit
  • ihren Palästen am Adriatischen Meere den Ruhm so manches Monarchen.
  • Diese Erscheinung halte ich nicht für außergewöhnlich und einzig
  • dastehend. Sie wiederholt sich häufig in der Geschichte, wenn auch mit
  • Abweichungen und in mancherlei anderer Form. Unvergleichlich viel
  • origineller ist das Leben in Europa während der Kreuzzüge und nach
  • ihnen, in jener Zeit, wo die Grenzen der Staaten noch unklar und
  • unbestimmt waren; wo der Königstitel noch ein Name ohne viel Bedeutung
  • war und wo es noch Millionen von Grundbesitzern gab, die in ihren
  • Ländern wie kleine Selbstherrscher regierten, wo ganz Europa von
  • uneinnehmbaren Schlössern mit Türmen und Zinnen und von trotzigen
  • Festungen übersäet war, wo sich die Kraft der Ritter durch den
  • beständigen Kampf und die ewigen Fehden ins Übermenschliche, Löwenhafte
  • steigerte, als sie sich vom Kopf bis zu den Füßen in Eisen hüllten,
  • dessen Last trugen, die vordem kein Mensch hätte heben können, und wo
  • Stolz und Trotz sich zu einem rohen Unabhängigkeitsgefühl entwickelte.
  • Man sollte glauben, dieser rohe Mut hätte die Seele abhärten und
  • erstarren lassen und sie ebenso gefühllos machen müssen, wie ihre
  • undurchdringlichen Panzer. Aber wunderbarerweise wurden diese wilden
  • Männer gezähmt und gebändigt durch eine Erscheinung, die in schroffstem
  • Widerspruch zu ihren Sitten stand: durch die allgemeine und grenzenlose
  • Verehrung der Frauen. Die Frau wird im Mittelalter zur Gottheit; ihr
  • zuliebe werden Turniere veranstaltet und Lanzen zerbrochen, ihr rotes
  • oder blaues Band flattert am Helm oder Panzer und flößt übernatürliche
  • Kräfte ein; um ihretwillen bezwingt auch der wildeste Ritter seine
  • Leidenschaften und bändigt sie machtvoll wie seinen arabischen Hengst;
  • ihr zuliebe legt er sich wundersame Gelübde auf, die an Strenge und
  • Härte gegen sich selbst nicht ihresgleichen haben, und dies alles nur um
  • der hohen Würde teilhaftig zu werden, vor seiner Gottheit in die Knie
  • sinken zu dürfen. Noch bewunderungswürdiger aber als diese begeisterte
  • Liebe ist ihre Wirkung auf die Sitten. Die Vornehmheit der europäischen
  • Gesinnung ist die Folge dieser Liebe. Das Wanderleben, das jedem
  • einzelnen Tausende von Erfahrungen und Abenteuern eintrug und ganz
  • Europa in eine bewegte auf und ab wogende Hauptstadt verwandelte, hat
  • später in den Europäern den Durst nach Entdeckung neuer Welten rege
  • gemacht. Die immerwährenden Fehden und Kriege, die ständige Unsicherheit
  • der Lebensverhältnisse, haben nicht etwa wie das gewöhnlich in den
  • Geschichtsperioden zu geschehen pflegt, in denen der Luxus die Wunden
  • sittlicher Gebreste der Völker zerfrißt, wo die Unersättlichkeit des
  • persönlichen Vorteils, Gemeinheit, Schmeichelei und die Sucht nach
  • verfeinerten Lastern hervorruft, den allgemeinen Geisteszustand und die
  • Spannkraft der Europäer geschwächt, nein, sie haben sie noch gestählt
  • und entwickelt.
  • Die Laster der kultivierten Völker wagten es nicht, den europäischen
  • Ritterstand anzutasten. Fast scheint es, als hätte die Vorsehung
  • ununterbrochen über ihn gewacht und ihn mit der Sorgfalt eines treuen
  • Erziehers unablässig behütet und geschützt. Zugleich mit dem Aufkommen
  • des neuen Luxus und Lebenskomforts, der durch Venedig und die Hansa in
  • Europa eingeführt wurde und die Ritter immer mehr ihren Gelübden und
  • ihrem strengen Leben entfremdete, ihre Genußsucht schürte und ihren
  • religiösen Enthusiasmus schwächte, begannen sich merkwürdige Verbände,
  • wie man sie nie vorher gekannt hatte, zu bilden, die als strenge
  • Richter, als unerbittliches Gewissen über die Völker Europas wachten.
  • Nie weiß die Geschichte von Gesellschaften zu berichten, die
  • untereinander mit so unlösbaren Banden verknüpft waren, wie diese
  • geistlichen Ritterorden. Jede Tätigkeit um des eigenen Vorteils oder der
  • eigenen Existenz willen, die doch sonst immer der Zweck aller Verbände
  • ist, lag ihnen fern. Allem entsagen, was dem einzelnen wünschenswert
  • ist, und nur für die ganze Menschheit leben; -- als strenge Hüter der
  • Welt leben, allein zum Schutz des christlichen Glaubens -- sich ihm
  • allein widmen, ihm alles zum Opfer bringen und alles von sich werfen,
  • was im entferntesten dem eigenen Vorteile dient -- ist das nicht eine
  • wunderbare Erscheinung! Nur aus dem Mittelalter konnte solch eine Kraft
  • und solche Energie entspringen. Kaum aber fingen die Ritterorden an, von
  • ihren ursprünglichen Zielen abzuweichen und ihre Augen auf andere Zwecke
  • zu lenken, angelockt durch die Habsucht und die Beutegier, da ließen sie
  • Üppigkeit und Luxus immer mehr Gefallen am persönlichen Leben finden,
  • und so wurden sie denen immer ähnlicher, deren Überwachung sie sich
  • selbst zur Aufgabe gemacht hatten, und es entstehen die furchtbaren
  • unerbittlichen Femgerichte, die unabwendbar waren, wie die göttlichen
  • Anordnungen, und nicht mehr die Züge des Gewissens gegenüber der
  • leichtsinnigen Welt trugen, sondern eine furchtbare und grausige
  • Darstellung des Todes und des Gerichtes bildeten. Keine Macht, kein
  • Landbesitz, ja, selbst nicht die Krone auf dem Haupt konnte ihre
  • Urteilsprüche abwenden oder mildern. Unbekannt und unsichtbar wie das
  • Schicksal, irgendwo im Waldesdickicht, in tiefen, feuchten
  • unterirdischen Gewölben wogen und prüften diese Richter das ganze Leben
  • und das Vergehen dessen, der inmitten seiner unermeßlichen Ländereien,
  • im Kreise seiner nach Hunderten zählenden ergebenen Vasallen sich's
  • nicht einmal träumen ließ, daß es auf der Welt eine höhere Macht geben
  • könnte als die seine. Wenn diese unterirdischen Richter einmal den
  • Urteilsspruch gefällt hatten, -- dann war alles verloren. Vergebens
  • versuchten es die Herrscher mit ihrer drohenden Macht, die Annäherung an
  • ihre Person zu erschweren, umsonst schloß ihr Gold die Lippen und zwang
  • alle, ihr Lob zu singen -- der unerbittliche Dolch erreichte sie am Ende
  • der Welt, stahl sich durch die glänzende Schar ihrer Höflinge und traf
  • sie hinterrücks an der Seite ihrer Freunde. Mutet es uns nicht wie ein
  • fast märchenhaftes Wunder an! Nur da sind die Handlungen eines Menschen
  • so unabwendlich, so übernatürlich, so ungewöhnlich, wo er außerhalb der
  • Gesellschaft steht, jedes Schutzes einer gesetzlichen Macht entbehrt und
  • nicht weiß, was das Wort »Unmöglichkeit« bedeutet.
  • Auch die ganze Art der Tätigkeit, wie sie in der Mitte und am Ende des
  • Mittelalters herrschte -- dieses allgemeine Streben nach der
  • geheimnisvollen Wissenschaft, dieser Wunsch nach Erkenntnis und
  • Erforschung der rätselhaften Naturkräfte, diese Unersättlichkeit, mit
  • der sich alle der Zauberei und der Magie hingeben, in alledem gärt und
  • brodelt jene europäische Neugierde, ohne die die Wissenschaft sich nie
  • so entwickelt und die jetzige Vollkommenheit erreicht hätte. Selbst der
  • naive Geisterglaube und die Beschuldigung des Umgangs mit Geistern haben
  • für uns ein ganz besonderes Interesse. Die Beschäftigung mit der
  • Alchimie, der Krone mittelalterlicher Gelehrsamkeit, der Schlüssel alles
  • Wissens, entsprang dem kindlichen Wunsch, das vollkommene Metall zu
  • entdecken, das dem Menschen die Macht über alles verleihen sollte. Man
  • stelle sich nur ein kleines deutsches Städtchen im Mittelalter vor:
  • diese schmalen, unregelmäßigen Straßen, diese hohen, bunten, gotischen
  • Bauten und dazwischen ein uraltes baufälliges Häuschen, das allgemein
  • für unbewohnt gilt und auf dessen von Rissen durchzogenen Mauern Moos
  • und Alter ihre Wohnstätte aufgeschlagen haben; diese zugenagelten
  • Fenster -- das ist die Behausung des Alchemisten. Nichts läßt auf die
  • Gegenwart eines lebenden Wesens schließen -- aber in dunkler Nacht
  • steigt ein bläulicher Rauch aus dem Schornstein auf und verrät das
  • unermüdliche Wachen des Greises, der über seinem Problem grau ward, aber
  • die Hoffnung noch immer nicht sinken lassen will -- scheu schleicht der
  • fromme, mittelalterliche Handwerker an dieser Stätte vorbei, wo seiner
  • Meinung nach Geister ihr Heim aufgeschlagen haben, in Wahrheit aber
  • wirkt dort an Stelle der Geister der ewige Wunsch und der
  • unüberwindliche Wissensdrang, der nur von sich selbst lebt, sich stets
  • von neuem an sich selbst entzündet und selbst durch Mißerfolge noch
  • mächtiger angefacht wird -- dieses Urelement des ganzen europäischen
  • Geistes -- das von der Inquisition, die bis in die tiefsten Gründe der
  • menschlichen Gedanken eindrang, vergeblich verfolgt wird; aber er reißt
  • sich immer wieder los und er gibt sich trotz Furcht und Schrecken nur
  • noch mit größerem Genuß seinem Studium hin.
  • Und die Inquisition! Welch düstere, furchtbare Erscheinung! Diese
  • grausige, blinde Inquisition, die über unzählige Gewölbe und
  • unterirdische Klöster gebot, die an nichts anderes glaubte als an ihre
  • furchtbaren Folterwerkzeuge, in deren Erfindung der Mensch einen
  • geradezu höllischen Scharfsinn an den Tag legte. Diese Inquisition, die
  • unter der Mönchskutte ihre eisernen Krallen hervorstreckte und alle ohne
  • Unterschied ergriff, die einer seltsamen oder ungewöhnlichen
  • Beschäftigung nachgingen, sie liefert wieder einen Beweis für die große
  • Wahrheit, daß, wenn auch die physische Natur des Menschen durch Qualen
  • dazu gezwungen wird, die Stimme der Seele zum Schweigen zu bringen, doch
  • in der großen Masse der ganzen Menschheit der Geist noch immer über den
  • Körper triumphiert hat.
  • Sind das nicht alles ganz einzigartige Erscheinungen? Geben sie uns
  • nicht das Recht, das Mittelalter eine wunderbare Epoche zu nennen? Das
  • Wunderbare bricht sich hier bei jedem Schritte Bahn und gewinnt während
  • dieser jugendlichen zehn Jahrhunderte die Herrschaft über alles! Ich
  • nenne sie jugendlich, weil in ihnen alles Junge lebendig ist: alles, was
  • Mut, Leidenschaft, Begeisterung atmet, was nicht an die Folgen denkt,
  • nie die kalte Berechnung zur Hilfe ruft und noch keine Vergangenheit
  • besitzt, auf die es zurückblicken könnte. Alles am Mittelalter -- ist
  • Poesie und Willkür! Man merkt sofort den Umschwung, wenn man das Gebiet
  • der neuen Geschichte betritt. Der Unterschied ist zu auffallend; und
  • unser Seelenzustand gleicht dann den Meereswellen, die sich anfänglich
  • in Bergen und Tälern aufbäumen und senken, um gleich darauf wieder als
  • unendliche Fläche still und ruhig dahinzufließen. Im Mittelalter
  • erscheinen die einzelnen Handlungen und Taten der Menschen ganz
  • unüberlegt, die wichtigsten Ereignisse widersprechen einander in jeder
  • Beziehung und bilden große Kontraste. Fassen wir sie jedoch alle zu
  • einem Ganzen zusammen -- so erkennen wir die bewunderungswürdige
  • Weisheit, die darin waltet! Wenn man das Leben des einzelnen Menschen
  • mit dem Leben der Menschheit vergleichen könnte, so müßte man das
  • Mittelalter die Schulzeit des Menschen nennen. Da flossen seine Tage
  • fast unbemerkt von der Welt dahin, seine Taten sind noch nicht so
  • kraftvoll und reif, wie dies für die Welt erforderlich ist, und niemand
  • erfährt etwas von ihnen. Dafür aber entspringen alle seine Handlungen
  • einer triebartigen Leidenschaft und enthüllen mit einem Schlage alle
  • inneren Regungen der Menschen; ohne sie wäre auch seine spätere
  • Wirksamkeit in der Gesellschaft unmöglich.
  • Sehen wir ferner zu, welch ungeheure Ereignisse das Mittelalter
  • umrahmen: das große Kaiserreich, das die ganze Welt beherrschte, eine
  • zwölf Jahrhundert alte Nation, geht an Erschöpfung und Gebrechlichkeit
  • zugrunde, und mit ihr versinkt die halbe Welt, stürzt das ganze Altertum
  • mit seiner halbheidnischen Denkungsart, seinen geschmacklosen
  • Schriftstellern, seinen Gladiatoren, Statuen, seinem überladenen Luxus
  • und seinen raffinierten Lastern zusammen. Dies ist der Anfang des
  • Mittelalters, und sein Abschluß wird durch ein ungeheures Ereignis
  • gekennzeichnet, eine allgemeine Explosion, die alles in die Luft
  • sprengte und alle jene furchtbaren Gewalten, die bis dahin die Welt so
  • despotisch umklammerten, vernichtete. Die Macht der Päpste wird
  • erschüttert und fällt zusammen, und ebenso geht es mit der Unwissenheit
  • und Unkultur. Die Schätze und der Welthandel Venedigs werden
  • unterminiert, und wenn das allgemeine Chaos nach dieser großen Umwälzung
  • sich klärt und entwirrt, erscheint folgendes Bild vor den erstaunten
  • Augen der Nachwelt: Könige, die ihr Zepter mit kräftiger Hand
  • festhalten; Schiffe, die mit mächtig geblähten Segeln das Mittelmeer
  • durchschneiden und die Wogen des unendlichen Ozeans befahren; statt des
  • ohnmächtigen Schwerts hält der Europäer die Feuerwaffe in den Händen;
  • gedruckte Bogen fliegen von einem Ende der Welt zum andern: und das
  • alles ist ein Ergebnis des Mittelalters. Der ungeheure Druck der
  • Mächtigen und die unerträgliche Knechtung des Volks waren scheinbar nur
  • dazu da, um den allgemeinen Ausbruch hervorzurufen. Nur indem die
  • menschliche Vernunft all ihre Kräfte zusammennahm, konnte sie die harte
  • Rinde, die sie umgab, durchbrechen. Vielleicht hat auch nur daher kein
  • Jahrhundert so viele riesengroße Erfindungen aufzuweisen, wie das
  • fünfzehnte, das das Mittelalter in so glänzender Weise beschließt: diese
  • gewaltige Zeit, die an einen mächtigen, majestätischen gotischen Dom
  • erinnert, finster und dunkel wie die sich durchkreuzenden Gewölbe, bunt
  • wie seine vielfarbigen Fenster und die Menge des ihn schmückenden
  • Zierates, und erhaben und voller Leidenschaft, wie die zum Himmel
  • strebenden Mauern und Türme, die in eine in den Wolken verschwindende
  • Spitze auslaufen.
  • III
  • Ein Kapitel aus einem historischen Roman[1]
  • [Fußnote 1: Dieser Abschnitt ist dem Roman »Der Hetman« entnommen,
  • dessen erster Teil vom Autor verbrannt wurde, weil er ihn nicht
  • befriedigte. Wir bringen an dieser Stelle die zwei einzigen Kapitel, die
  • überhaupt im Druck erschienen sind.]
  • Unterdessen überschritt unser Abgesandter die Grenze, die heute den
  • Pirjatinsker Kreis von dem Lublinschen Kreise trennt. Damals gab es in
  • Kleinrußland noch keine allgemeine Landstraßen, dafür aber kannte ein
  • jeder irgendeinen kleinen Weg, der nach seiner Meinung der allerkürzeste
  • war. Diese Wege waren meistens recht uneben, liefen zwischen Gräben
  • dahin oder an einer Böschung entlang, überschritten eine Schlucht, und
  • nur die von den Pferdehufen hinterlassenen Spuren bezeichneten ihre
  • Richtung. Man brauchte nur eine Reise anzutreten, um sogleich mit jedem
  • Nachtlager vorliebnehmen zu müssen. Die größte Unbequemlichkeit für den
  • Reisenden, der mit der Gegend unbekannt war, bestand aber darin, daß er
  • sich im Umkreise von 25 bis 30 Schußweiten bei den Bewohnern nach dem
  • Wege erkundigen mußte und daß die Aussagen sich fast immer
  • widersprachen.
  • Unser Reiter ritt in Gedanken versunken dahin, hielt die Zügel nur
  • schlaff in Händen und ließ den Kopf hängen, bisweilen nur stolperte das
  • feurige Roß, sein treuer Kamerad, über Erdhügel und Baumstümpfe und riß
  • ihn aus seinen Träumereien, die sich aber bald wieder wie eine
  • Perlenschnur um sein Haupt schlangen. Zum erstenmal hatte er solch einen
  • Auftrag auszuführen. Er war hinausgesandt in die weiten Steppen der
  • Ukraine! Gott allein nur wußte, wohin ihn der Weg führen würde! Wer war
  • nur dieser Gletschik? ... Und was hatte Kasimir mit dem Anführer einer
  • Bande, der sich Oberst des Mirgorodschen Regiments nannte, zu tun? ...
  • Man hatte ihm keine genügenden Erklärungen gegeben, weder über seinen
  • Charakter, noch seine Stärke, noch darüber, was für Beziehungen er
  • hatte, noch auch zu wem ... Wozu also diese Vorsicht, die man im
  • Gespräch mit ihm beobachten sollte? Warum sollte er so weit reiten --
  • nur um ihm Nachricht von den Ereignissen zu bringen, die Warschau so
  • beunruhigten? Welchen Nutzen hätte auch ein so weit entfernter
  • Verbündeter bringen können? Er schalt innerlich auf sich selbst, weil er
  • Brigitte nicht genauer nach allem ausgefragt hatte; ihr waren sicherlich
  • die Gründe für diese merkwürdige Botschaft mehr oder weniger bekannt.
  • Die Sonne nahm langsam Abschied von der Erde. Malerische Wolken, deren
  • Ränder von feurigen Strahlen vergoldet wurden, zogen, fortwährend ihre
  • Gestalt ändernd und sich wieder auflösend, am Himmel hin. Die Dämmerung
  • breitete mürrisch einen grauen Nebel über alles und schloß die Läden vor
  • den Fenstern, aus denen noch soeben ein Licht auf Gottes Welt gefallen
  • war. Nach einem langen Ritt durch die Steppe gelangte unser Reisender in
  • einen Wald. Die vom Herbst unbarmherzig ihres grünen Laubes beraubten
  • Bäume erinnerten an ein großes Sieb und schienen in der nächtlichen
  • Kühle zu zittern. Gelbe Blätter lagen unordentlich am Boden wie
  • Speisereste und zerbrochene Scherben nach einem Gelage, und nur ihr
  • Rascheln unter den Hufen des Rosses ließ die Gegenwart unseres Reiters
  • erkennen. Zwischen den kahlen Wipfeln der Bäume lugte der dunkle Himmel
  • hervor. Ein scharfer Wind erhob sich im Felde und entsandte trübselige
  • Seufzer bis in das Waldesdickicht.
  • Unwillkürlich stutzte der Reiter und hemmte unschlüssig sein Roß; was
  • sollte er beginnen, der Weg war vollkommen verschwunden, und vor ihm lag
  • nichts wie dichter Wald und das Ungewisse; da drang plötzlich ein lautes
  • »Zop, zop« an sein Ohr, ein schwer beladener Wagen kam knarrend
  • dahergefahren, und ein paar Stiere tauchten hinter den Bäumen auf. Man
  • muß sich in die Lage unseres Reisenden hineinversetzen, um seine Freude
  • über eine solche Begegnung zu verstehen. In diesem Augenblick erschien
  • auch der Mond am Himmel. Ein silbernes Licht, von furchtsamen Schatten
  • der Bäume durchkreuzt, fiel wie ein Gitter auf die Erde, erleuchtete
  • weithin die Umgegend, und Laptschinsky sah einen kräftigen ältlichen
  • Bauer vor sich. Der graue herabhängende Schnurrbart saß ihm stolz in dem
  • gebräunten, scharf geschnittenen, muskulösen Gesicht, und ein Zug
  • asiatischer Sorglosigkeit lag gutmütig darüber. Durch die schwarzen
  • Brauen zog sich schon manch silbernes Fädchen hindurch; die kleinen
  • braunen Augen sprühten Feuer, und zuweilen leuchtete etwas wie
  • Schlauheit oder Treuherzigkeit daraus hervor. Er hatte eine schwarze
  • Kosakenmütze mit einem blauen Dach auf dem Kopfe. Ein kurzer Pelz ohne
  • Tuchüberzug diente ihm als undurchdringlicher Schutz gegen die Kälte und
  • wurde von einem hellen, farbigen Gürtel festgehalten. Zum Überfluß hatte
  • er sich noch einen gewöhnlichen Mantel aus dickem, schmutziggrauem Stoff
  • übergeworfen, wie ihn noch heute die kleinrussischen Bauern tragen. Im
  • Gürtel staken eine Flinte und ein krummer tatarischer Säbel, -- denn in
  • jenen unruhigen Zeiten hielt jeder Kosak -- ob Krieger oder Bauer, es
  • für unumgänglich notwendig, immer eine Waffe bei sich zu tragen.
  • »Gott helf!« sagte er, hielt seine Stiere an und entblößte zum Zeichen
  • der Hochachtung, die die einfachen Bauern zu jener Zeit noch den
  • Kriegern zu erweisen pflegten, seinen Kopf, der nur noch ganz oben mit
  • einem Haarbüschel geschmückt war. Hier müssen wir uns erinnern, daß
  • Laptschinsky gezwungen gewesen war, sein schmuckes Kostüm mit der
  • bescheidenen Kleidung eines Kosakenführers zu vertauschen, um allen
  • Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehen, die er sich seitens der
  • Einwohner zugezogen hätte, weil diese alles haßten, was den Namen Pole
  • trug oder auch nur zu ihnen gehörte.
  • Unser Reiter dankte mit einem leichten Nicken des Kopfes für den Gruß.
  • »Weißt du nicht, Landsmann, ob es von hier noch weit bis zur
  • Ramodanowschen Landstraße ist?« fragte er mit freundlicher Miene.
  • »Das kann ich nicht so ohne weiteres sagen, Euer Gnaden, warten Sie
  • mal!« Und er begann zu rechnen, was man aus den mechanisch
  • zusammengedrückten Fingern entnehmen konnte. »Bis zur Ramodanowstraße?
  • ... Wie soll ich Euch sagen? ... sie ist nicht gerade sehr nahe. Ich muß
  • gestehen, daß unsere Kosaken ein wenig Angst gekriegt haben: jemand hat
  • das Gerücht verbreitet, daß die ganze polnische Schlachta uns an der
  • Ssula einen Besuch abstatten wolle. In ihrem blinden Eifer haben sie
  • alle Brücken zerstört, da werden Euer Gnaden vielleicht einen großen
  • Umweg machen müssen. Übrigens, der Himmel mag's wissen, ich wiederhole
  • nur, was die anderen sagen ... es kann ja auch sein, daß Ihr einen
  • kürzeren Weg findet ... aber Sie wissen, jetzt ist es Herbst ... da kann
  • es auch recht weit werden ... Aber wenn man recht bedenkt, so scheint es
  • doch wieder viel näher. Ja, es wäre eine andere Sache, wenn es Wegweiser
  • gäbe, wie Euer Gnaden sie gewiß auf den Straßen in Polen gefunden haben,
  • wenn Sie dort gewesen sind.«
  • Man muß sich nicht über die Widersprüche, die den Monolog unsers
  • Landmanns auszeichneten, wundern. Abgesehen von der tatsächlichen
  • Unkenntnis, liebten es die Kleinrussen stets, auch an den
  • allerbekanntesten Dingen zu zweifeln. Ein Kleinrusse wird euch auch noch
  • heutzutage nie eine kurze, klare Antwort geben, er wird sich erst
  • zehnmal verbessern und manchesmal seinen Partner mit Absicht so in
  • Verwirrung bringen, daß jener zu seinem Staunen erfahren wird, daß es
  • bis zu einem bestimmten Ort sehr weit und zugleich sehr nahe ist.
  • »In welcher Richtung muß ich denn nun aber weiterreiten?« fragte unser
  • Reisender und blickte prüfend auf seinen Lehrmeister.
  • Unser Bauer sah sich den Mann von Kopf bis zu Fuße an.
  • »Euer Gnaden wollen jetzt gleich weiterreiten?«
  • »Und warum nicht?«
  • »Gott bewahre! jetzt würde sogar unsereiner, d. h. ein Hiesiger, sich's
  • sehr überlegen, ehe er weiterreiten würde. Weißt du, Mosjpane, wir
  • brauchen ja nur noch eine kleine Weile zu fahren, -- nicht länger als
  • ein tüchtiger Bauer dazu braucht, eine halbe Fuhre Getreide zu
  • zermahlen, dann hören wir schon die Hunde auf meinem Hofe bellen. Es ist
  • immer besser, in einer warmen Hütte zu schlafen -- morgen magst du dann
  • mit Gott weiterreiten.«
  • Diesen Vorschlag konnte unser Reisender nicht von der Hand weisen, ja es
  • schien fast, als ob er ihn erwartet hätte.
  • »Und wohin führt Sie der Weg, Mosjpane?« fragte der Bauer unterwegs
  • seinen zukünftigen Gast.
  • »Ich reise weit, bis an das andere Ufer der Worskla zu dem Mirgoroder
  • Oberst, Gletschik. Hör' mal, Landsmann, kennst du ihn vielleicht?«
  • »Wie sollte ich diesen alten Hund nicht kennen! Und woher kommt ihr?«
  • »Aus dem großen Lager bei Lochwitza.«
  • »Wie kommt denn das, Euer Gnaden; wir haben doch gar nicht gehört, daß
  • bei Lochwitza ein Lager aufgeschlagen ist.«
  • Hierbei durchbohrte er den Fremden mit seinen Augen, als wolle er ihn
  • auf Herz und Nieren prüfen. »Ja, natürlich, wie soll ein Bauer etwas von
  • Kriegssachen verstehen; es sind noch keine Gerüchte bis in unsere Einöde
  • gedrungen.«
  • Unser Gesandter stutzte und überlegte sich's, daß man auch im Gespräch
  • mit einem simplen Bauer die Vorsicht nicht außer acht lassen dürfe,
  • dachte eine Weile nach und fuhr dann fort: »Sieh mal Landsmann, mit
  • Bestimmtheit kann ich es dir freilich nicht sagen. Ich selbst bin nicht
  • im Lager gewesen, aber der Saporoger Hauptmann, Schljaiko, dem ich bei
  • Lochwitza begegnet bin, hat mir einen Brief an den Mirgoroder Oberst
  • mitgegeben, als er vernahm, daß ich nach jener Gegend reite. Er jagte
  • dahin wie ein Verrückter, trotz aller Fragen konnte ich nichts
  • Zuverlässiges erfahren ... Ich war erst vor kurzem aus Warschau
  • zurückgekehrt ... Sieh mal, möglicherweise hatte er Grund, mir zu
  • mißtrauen ... d. h. ... er ... nun ich glaube, du verstehst mich.«
  • »Was reden Euer Gnaden, kann denn ein Bauer verstehn, was die Herren
  • untereinander sprechen! Bei Gott, nein, wie soll unsereiner das
  • verstehen. Unsere Schädel sind ja ganz anders gebaut als die Köpfe der
  • Herrn ... weiß der Teufel, was das ist! ... sie haben mehr Ähnlichkeit
  • mit einem Kohlkopf als mit einem Menschenkopf ...«
  • »Oh, du bist mir ein Schlauer!« dachte Laptschinsky und nahm sich vor,
  • seine Worte so bedächtig wie möglich zu setzen.
  • Er ritt die ganze Zeit im Schritt und paßte den leichten Gang seines
  • stolzen Rosses den langsamen Schritten der schwerfälligen Stiere an,
  • denen der Bauer mit phlegmatischer Würde, den Stock schwenkend und seine
  • Pfeife rauchend, voranschritt. Der Rauch hüllte sein braunes Gesicht wie
  • in eine Wolke ein; zuweilen, wenn es von der aufflackernden Flamme
  • beleuchtet wurde, erinnerte es an einen Vampir, der hie und da aus dem
  • undurchdringlichen Sumpfnebel auftauchte und von dem ein wundersamer
  • Funkenstrom ausging. Dies veranlaßte Laptschinsky, ihm immer wieder in
  • die Augen zu sehen, um sich zu vergewissern, ob es wirklich noch
  • derselbe Mann sei, den er soeben getroffen hatte.
  • Aber unser Bauer verscheuchte selbst alle Zweifel und ließ seinem Gast
  • keinen Augenblick Zeit zum Grübeln.
  • »Haben Euer Gnaden schon von solch einem Wunder gehört?« fragte er, ohne
  • die Pfeife aus dem Munde zu nehmen; »siehst du dort im Dunkeln weit vor
  • uns die Tanne?«
  • Zu seinem großen Erstaunen sah der Reisende wirklich eine Tanne. Wie
  • hatte die ihren Weg hierher gefunden? denn hier zu Lande, d. h. in
  • Kleinrußland, hätte das Auge wohl selbst im Umkreise von hundert Werst
  • keine dieser Bewohnerinnen des Nordens entdecken können. Unwillkürlich
  • starrte er sie an: sie allein schien sich inmitten dieser kahlen Bäume
  • etwas wie Leben erhalten zu haben. Aber konnte man das Leben nennen? Es
  • war eine Mumie, die man nur mit Verwunderung unter nackten Skeletten
  • entdeckt, und die allein der Verwesung Trotz geboten hatte. Man gewahrt
  • an ihr dieselben Züge und dieselbe herrliche menschliche Form, aber,
  • Gott, in welchem Zustande! Ein unbeschreibliches, unbegreifliches Gefühl
  • von Wehmut und Grauen erfaßt die Seele beim Anblick dieses elenden
  • Betruges, durch den die geschäftige Kunst etwas dem Leben Ähnliches zu
  • ergreifen und festzuhalten versucht.
  • »Das ist noch kein großes Wunder, daß da eine Tanne steht. Wunderbar ist
  • nur dieses: Jetzt wo wir miteinander plaudern, sind es wohl fünfzig
  • Jahre her, daß hier, wohl gar an diesem selben Platze, in prächtigen
  • Gemächern ein großer, vornehmer Herr hauste. Ob er nun ein Woiwode, ein
  • Hauptmann oder ein einfacher Gutsbesitzer gewesen ist, weiß ich Euch
  • nicht zu sagen; ich weiß nur, daß er Pole war und nicht unserer Religion
  • angehörte. Er lebte, wie alle die unsaubern polnischen Herren leben;
  • sein Haus war von früh bis zum Abend von Wein und Gesang erfüllt, ein
  • Zittern überlief jeden ehrlichen Christenmenschen, wenn er die Schreie
  • vernahm, die aus dem Walde drangen. Die Gutsknechte ritten alle Gehöfte
  • ab und plünderten deren arme Bewohner. Aber mehr noch. Sie fingen bald
  • an, auch noch die heiligen Kirchen zu plündern und zu bestehlen, und
  • trieben es so schlimm, ... hol' sie der Teufel, ich mag gar nicht sagen,
  • was sie alles verübten. Man hätte sie alle erschlagen sollen ... Euer
  • Gnaden ... Aber das ging nicht, denn es waren ihrer vielleicht
  • hundertfünfzig Knechte, und jeder war mit einer Hellebarde, einem
  • Luntengewehr und einer ganzen Kriegsrüstung bewaffnet. Da erbot sich ein
  • Kirchensänger, -- wie er hieß und aus welchem Kirchspiel er stammte, das
  • weiß ich bei Gott nicht, Euer Gnaden, -- der also erbot sich, in den
  • Wald zu gehen. Wenn es jetzt nicht Nacht und der Boden nicht mit
  • Blättern bedeckt wäre, könnte ich Ihnen vielleicht noch die Reste von
  • diesem Teufelsnest zeigen. Um diese Zeit, -- offenbar hatte Gott es
  • schon so bestimmt -- feierten sie gerade irgendeinen ihrer verfluchten
  • Feiertage. Der Kirchensänger war aufs Schlimmste gefaßt und sagte zu
  • sich: >Gott, steh mir bei!< und schob sich mutig durch das Tor, das von
  • dem sich drängenden Volk versperrt wurde. Zimbeln und Trommeln
  • erschallten und dröhnten wie bei einer Hochzeit, und die betrunkenen
  • Herren und ihre Knappen tanzten einen wilden Krakowiak. Als sie nun den
  • Kirchensänger erblickten, Euer Gnaden, da riefen sie alle: >Was will der
  • Pope hier!< Der Herr aber sprach: >He, ihr Knappen, schenkt dem Popen
  • etwas Schnaps ein! mag er doch mit uns braven Christen einen Krakowiak
  • tanzen, und helft ihm ordentlich mit dem Stock auf die Beine!< Der
  • Sänger fing nun, offenbar des Heiligen Geistes voll, an, den Ketzern
  • ihre Sünden und ihr gottloses Leben vorzuhalten, ihnen die Qualen des
  • Jenseits zu schildern und ihnen klarzumachen, wie sie einmal in der
  • Hölle tanzen würden, dann aber nicht mehr freiwillig, sondern
  • angetrieben von den glühenden Gabeln der Teufel! >Ah, du willst uns hier
  • auch noch was vorpredigen? He, Knappen! bringt den Popen auf den Chor
  • und legt ihm eine Binde um den Hals, damit er sich nicht erkältet!< Da
  • packten die Knechte den unglücklichen Sänger und schleppten ihn mit
  • unmenschlichem Gelächter und Gejohle zu der Tanne, an der uns unser Weg
  • vorbeiführt. Seht, Euer Gnaden, das war nun eben die Sache. Die Tanne
  • stand gerade vor dem Hause und wie mit Absicht unmittelbar vor dem
  • Fenster des herrschaftlichen Schlafzimmers. Als nun die Nacht alle
  • verscheucht und der eine auf seiner Latte, der andere darunter lag, kam
  • es unserem Herrn plötzlich so vor, als ob etwas Kaltes auf ihn
  • heruntertropfe. >Hol's der Teufel,< dachte der Herr, >was tropft denn da
  • herunter?< Er erhob sich von seinem Lager und sah plötzlich, wie die
  • stachlichten Tannenzweige die Mauer durchdrangen und sich -- als wären
  • sie lebendig, -- immer weiter und weiter ausstreckten, bis sie ihn
  • erreicht hatten. Unser Pan bekreuzigte sich vielleicht zum erstenmal in
  • seinem Leben, als er sah, daß Menschenblut von den Zweigen herabtropfte.
  • Erst war es kalt wie Eis, dann aber verbrannte es ihn so heftig, daß er
  • aufsprang und zum Fenster lief. Seine Beine drohten ihm den Dienst zu
  • versagen, als er hinausging. Die Tanne war ganz blau wie eine Leiche und
  • sie nickte ihm fürchterlich mit ihrem schwarzen, sich hochaufbäumenden
  • Barte zu. Anfänglich glaubte unser Herr, daß ihm der Wein in den Kopf
  • gestiegen wäre; in der folgenden Nacht aber war es ebenso und das ganze
  • Hausgesinde wußte wie aus einem Munde zu erzählen, wie der ganze Wald
  • widerhallte von Grabesliedern, die schreckliche Stimmen zu Ehren der
  • Toten sängen, so daß einem ein Schauder über den Rücken laufe und die
  • Haare zu Berge stünden. Was taten sie nicht alles? Sie begruben den Leib
  • des Sängers mit allen Ehren, dann wollten sie die Tanne umhaun, aber die
  • Axt konnte ihr nichts anhaben. Bei jedem Schlag, den das Beil tat, wurde
  • es schartig, der Baum aber stöhnte wie ein ungetauftes Kind. Endlich
  • entschlossen sie sich, diesen verfluchten Ort zu verlassen. Tag für Tag
  • versammelte sich das Gesinde, sattelte die Pferde, lud alles Hausgerät
  • auf und brach frühmorgens auf, eh noch die Teufel sich den Sand aus den
  • Augen gerieben hatten, sie ritten und ritten bis zum späten Abend; man
  • könnte meinen, sie müßten weiß Gott wie weit gekommen sein -- doch nun
  • schlagen sie ihr Nachtlager auf, und blicken um sich; was sie sehen,
  • sind lauter bekannte Dinge: derselbe finstre Wald, dasselbe Haus, die
  • verfluchte Tanne; sie streckt ihre Äste aus, wie ein Paar Arme, ergreift
  • den Pan, übergießt ihn mit Blut und der schwarze zerwühlte Bart nickt
  • ihm unheimlich zu, wie ehemals.«
  • Hier warf der Erzähler seinem Zuhörer einen herausfordernden Blick zu,
  • seine funkelnden Augen blitzten in der dunklen Nacht noch heller, und er
  • stellte mit Wohlgefallen den Eindruck fest, den seine Erzählung auf
  • jenen gemacht hatte. In der Tat, unser Reisender konnte ein gewisses
  • Gefühl des Schreckens nicht loswerden, das sich heimlich in seine Seele
  • schlich, und er sah sich unruhig um.
  • Indessen kamen sie an der Tanne vorüber. Der silberne Mondschein fiel
  • gerade auf ihre traurigen Äste, ihre langen Schatten, die sich fast wie
  • eine Fortsetzung der Zweige ausnahmen, brachen sich an denen der anderen
  • Bäume und legten sich wie eine unendliche Leiter auf den Erdboden.
  • Nachdem der Reiter vorübergeritten war, wandte er seinen Kopf noch
  • einmal um. Sanft schaukelte der Wind die Wipfel der Tanne, da aber
  • schien es ihm, daß ein böser Geist von schrecklicher majestätischer
  • Gestalt ihm langsam folgte, traurig mit dem schaurigen Bart nickte und
  • seine dunkelgrünen Arme ausstreckte, um ihn zu ergreifen.
  • »Nun, und was geschah weiter?« fragte er den Mann, der plötzlich stumm
  • geworden war, und er versuchte es, sich die Angst nicht merken zu
  • lassen, die ihn unwillkürlich erfaßt hatte.
  • »Was? Nun dem Herrn erging es schlecht; er entließ sein ganzes Gesinde
  • und wurde ein Einsiedler; erst nachdem er zweiundfünfzig Seelenmessen
  • für den verstorbenen Kirchensänger gelesen hatte, verschwand der Spuk.
  • Was dann weiter aus dem Einsiedler geworden ist, das wird Ihnen wohl
  • niemand sagen können. Drei Tage vor Johannisnacht aber tropft Tag und
  • Nacht ein feuchter Tau von diesem Baume herab. Ja, man behauptet sogar,
  • daß eine verlorene Seele hier im Walde umherirrt. Meine Schwiegermutter
  • erzählte mir noch vor vier Jahren, als sie noch bei Verstande war, daß
  • sie dem Teufel einmal im Walde begegnet sei; und er hätte eine rote
  • Jacke getragen, gerade so wie der verstorbene Pan es zu tun pflegte.
  • Zop, zop, zop! Hüh! Na, da wären wir, Euer Gnaden.«
  • Laptschinsky erblickte tatsächlich eine kleine Pforte, die aus wenigen
  • quer übereinanderliegenden Brettern zusammengefügt war, wie man sie auch
  • jetzt noch bei allen kleinrussischen Bauern finden kann. Hundegebell
  • erfüllte den Wald, und ein altes Weib, das sich schnell einen Pelz
  • übergeworfen hatte, trat heraus, um das Tor zu öffnen. Unser Reiter sah
  • einen kleinen Hof vor sich, den ein Zaun aus Schilfrohr einfaßte, im
  • Hintergrunde sah man ein paar Scheunen und Ställe, die gleichfalls mit
  • Dächern aus Schilfrohr gedeckt waren und eine gewöhnliche kleinrussische
  • Hütte.
  • Auf dem Hof lagen eine Menge Bienenkörbe herum, viele von ihnen hingen
  • auch an den Bäumen, die ihre eigentümlich geformten Zweige von allen
  • Seiten in den Hof herabhängen ließen, als könnte diesen Riesen das
  • einfache, bukolische Leben ein anziehendes Schauspiel darbieten. Hinter
  • dem Hof zog sich noch ein Gebäude hin, das man in der Dunkelheit nicht
  • recht erkennen konnte. All dieses ließ darauf schließen, daß das Gut
  • einem recht wohlhabenden Kosaken gehörte; denn zu jener Zeit konnte man
  • nicht bei jedem soviel Pracht und Überfluß finden.
  • Während der Hausherr mit dem Abladen seiner Säcke beschäftigt war, hatte
  • Laptschinsky vollauf Zeit, das Innere seiner Behausung zu betrachten. Es
  • war fast alles genau so, wie man es heute noch bei den kleinrussischen
  • Bauern findet: der Tür gegenüber befanden sich einige Fenster und vor
  • ihnen stand ein Tisch, auf dem er ein Roggenbrot und etwas Salz
  • bemerkte; dieses wird nie fortgenommen zum Zeichen, daß hier jeder Gast
  • stets einer freundlichen Aufnahme gewärtig sein kann. Um die ganze Stube
  • zogen sich breitere und schmälere Bänke aus Lindenholz hin; neben der
  • Tür stand ein mächtiger Ofen, der unten eine große Öffnung hatte; diese
  • war von einem dichten Gitter umschlossen, hinter dem Hühner, Gänse,
  • Truthähne und Hauskaninchen hervorguckten. Jeder von diesen der Sprache
  • beraubten Hausgenossen machte sich auf seine Art bemerkbar, piepte,
  • gackerte, schnatterte und gab zu verstehen, daß er durchaus keines von
  • den Geringsten unter Gottes Geschöpfen sei. Auf dem Fußboden saß ein
  • vierjähriger Knabe und schlug mit dem mächtigen Stengel einer
  • Sonnenblume auf einen umgestülpten Topf; während ein anderer, der ein
  • Jahr älter sein mochte, einen Kater an der Kehle hielt und ein Lied dazu
  • sang, das sich ihm wohl, weil er es so oft von seiner Mutter gehört, für
  • sein ganzes Leben eingeprägt hatte. Vor einer großen eisenbeschlagenen
  • Kiste saß ein elfjähriges Mädchen, sie hielt einen Säugling auf dem
  • Schoß, der aus vollem Halse schrie, obgleich sie zu seiner Unterhaltung
  • mit einem großen Hängeschloß klapperte und das Kind mit dem neuen
  • Ankömmling schreckte. An der Wand hingen: eine Sichel, ein Säbel, eine
  • Flinte, deren Hahn abgeschraubt war und in der Nähe auf einem Regal lag,
  • wohin man ihn wahrscheinlich gelegt hatte, weil er reparaturbedürftig
  • war, ferner ein Beil, eine türkische Pistole, noch eine Flinte, eine
  • Sense ohne Stiel und eine kurze Nagaika -- alles Waffen, die seit
  • undenklichen Zeiten miteinander im Streite liegen und die der
  • unbegreifliche Mensch zwingt, trotz ihres so unverträglichen Charakters
  • miteinander in Frieden zu leben.
  • »Bitte nehmt mirs nicht übel, daß ich Euch etwas warten ließ, Euer
  • Gnaden!« sagte der eintretende Hausherr, »der verfluchte Jahrmarkt hat
  • mir so sehr den Kopf verwirrt, daß er mir noch immer brummt. Ein wahres
  • Glück, daß meine Alte nicht zu Hause ist, sonst hätte sie ihn mir
  • tüchtig gewaschen. Nur meine Schwiegermutter und ich sind zu Hause.«
  • Bei diesen Worten trat dieselbe Alte herein, die ihnen vorhin das Tor
  • geöffnet hatte. Der Reisende betrachtete sie mit einem eigentümlich
  • wehmütigen Gefühl. Es war ihm so, als sähe er ein dem Grabe verfallenes
  • Wesen vor sich, in dem eine starke Natur noch einen Rest von Leben
  • festzuhalten suchte, um dem Menschen die ganze Nichtigkeit eines langen
  • Lebens, nach dem er so gierig strebt, vor Augen zu führen. Auf ihren von
  • Runzeln durchfurchten Zügen lag die Gleichgültigkeit des Todes. Kein
  • Funken von Leben oder Interesse war in ihren Augen zu entdecken; nur hie
  • und da richteten sie einen ihrer trüben Blicke auf ihn; doch der hätte
  • sich sehr geirrt, der irgend etwas wie Neugierde in ihnen zu lesen
  • geglaubt hätte. Sie blieben an keinem Gegenstande haften, und alles
  • erschien ihnen in Nebel gehüllt, wie einem Menschen, der sich den Schlaf
  • noch nicht ganz aus den Augen gerieben hat.
  • Während Laptschinsky solchen Gedanken nachhing, kletterte die Alte auf
  • den Ofen; dies war ihr gewöhnlicher Aufenthalt, ihre ganz Welt, die ihr
  • ebenso geräumig und belebt schien, wie die anderer Menschen; der
  • Hausherr wandte sich seinen Kindern zu. »Sieh mal an, Fedot!« sagte er
  • und hob den Jungen mit der Sonnenblume mit einem Griff bis an die Decke,
  • »wo hast du diesen fürchterlichen Stengel her? Damit kannst du ja einen
  • Menschen totschlagen! Was machst du da, Karpo? Du erwürgst ja den Kater!
  • Ich habe dir was Süßes mitgebracht! Komm doch her, du Hundesohn, was
  • stehst du da und hältst Maulaffen feil? Seht, Euer Gnaden, so geht's,
  • hundertmal habe ich ihm schon gesagt, daß ich sein Vater bin, aber er
  • will's immer nicht glauben, der Taugenichts! Und du Schreihals, wirst du
  • noch lange brüllen? Reich' mir mal den Stock, ich will's ihm schon
  • zeigen. Reich' ihn nur mal her, Marjusja; ich werf' ihn gleich aus dem
  • Fenster, da können ihn die Wölfe fressen, oder die Polen ...«
  • »Gott hat dich reich mit Kindern gesegnet, Landsmann!« sagte unser Gast
  • zum Hausherrn.
  • »Ja, 's sind ihrer nicht wenige, Mosjpane, ich habe ihrer sieben. Zwei
  • sind in der Fremde, die sind schon verheiratet, aber der Teufel mag
  • wissen, was die für eine Mitgift bekommen haben: je ein paar Fuß Land,
  • wo nichts außer Steppengras und Beifuß wächst. Nun Fedot, sagst du
  • nicht, danke? Der Herr gibt dir einen Pfefferkuchen, und du verbeugst
  • dich nicht einmal? Bitte küssen Sie ihn nicht, seine ganze Fratze ist ja
  • voller Asche. Als er hörte, daß ich zum Jahrmarkt fahre, da gab es ein
  • Geschrei! Nimm mich mit, Vater! -- Ja, was soll ich denn mit dir? Wie
  • soll ich dich mitnehmen, man wird dich dort totdrücken! -- Nein, man
  • wird mich schon nicht totdrücken! Nimm mich mit, nimm mich mit! -- Ja,
  • aber es gibt doch so viele Zigeuner, die stehlen dich mir noch am Ende
  • weg, -- dann heißt's auf Nimmerwiedersehn! -- Nein, nimm mich mit, so
  • ging's in einem fort weiter. Was sollte man da machen? Er fing so an zu
  • heulen, daß Gott erbarm'. Endlich gelang es mir, ihn zu beruhigen, ich
  • versprach ihm, ein Lebkuchenpferd mit einem goldenen Kopf mitzubringen.
  • Nun, Marjusja, auf die Mutter wollen wir nicht warten, bring' uns das
  • Abendbrot. Großmutter schläft sicher schon. Also Euer Gnaden,« fuhr er
  • fort und wandte sich plötzlich, sich am Tisch niederlassend, an den Gast
  • »zu wem sagtest du, willst du reiten? Jetzt wo ich alt bin, da gleicht
  • mein Kopf einem Sieb, man mag noch so viel reingießen, er ist immer
  • leer; sprich so klug, wie du willst, ich vergesse doch alles.«
  • »Wie Landsmann? ich sagte dir doch -- zu Gletschik,« antwortete der
  • Gast, etwas erstaunt über diese merkwürdige Vergeßlichkeit.
  • »Zum Mirgoroder Oberst? Da hast du gar nicht nötig, weit zu reiten; kein
  • anderer als er selbst in eigener Person sitzt vor dir, Mosjpane!«
  • Wenn in diesem Augenblick eine Flintenkugel an Laptschinskys Ohr
  • vorbeigesaust wäre, er hätte nicht mehr erstaunt sein können. Ihm so
  • plötzlich und unerwartet, so unvorbereitet zu begegnen, wo seine
  • Gedanken ganz anderswo umherschweiften -- wo er -- doch nein -- es
  • konnte nicht sein, sicherlich hatte er falsch verstanden. Und seine
  • Augen richteten sich starr auf seinen Wirt, als wollte er sich
  • vergewissern, daß sein Gehör ihn betrogen hätte.
  • 1830.
  • IV
  • Über den Unterricht in der Weltgeschichte
  • I
  • Die Weltgeschichte in ihrer wahren Bedeutung ist nicht die besondere
  • Geschichte der einzelnen Völker und Reiche, ohne allen Zusammenhang,
  • ohne allgemeinen Plan und allgemeinen Zweck, sie ist keine Reihe von
  • Begebenheiten ohne alle Ordnung, in lebloser, trockener Form
  • vorgetragen, wie man sie sehr häufig darzustellen pflegt: ihr Gegenstand
  • ist etwas ganz Großes: sie soll _die ganze Menschheit_ umfassen und zwar
  • mit einem Blick und in einem vollständigen Bilde, sie soll zeigen, wie
  • sie sich aus ihrer ursprünglichen armseligen Kindheit entwickelt hat,
  • sich allmählich in verschiedenen Richtungen vervollkommnete und endlich
  • die Epoche der Jetztzeit erreichte. Diesen ganzen gewaltigen Prozeß, den
  • der freie Menschengeist durchgemacht hat, der von seiner Wiege an mit
  • ungeheurer Anstrengung und mit blutigen Mitteln gegen die Roheit, die
  • Natur und gegen furchtbare Hindernisse aller Art ankämpfen mußte,
  • darzustellen -- das ist der Zweck der Weltgeschichte. Sie soll alle
  • Völker der Erde, die durch Zeit, Zufall, Gebirge oder Meere getrennt
  • sind, sammeln, in ein geordnetes Ganzes vereinigen und ein großartiges,
  • vollkommenes Epos daraus formen; Ereignisse, die keinen Einfluß auf die
  • Welt ausgeübt haben, gehören nicht in sie hinein. Alle Weltereignisse
  • müssen so fest ineinandergefügt sein, so eng ineinander eingreifen, wie
  • die Glieder einer Kette; wenn nur ein Glied springt, zerreißt die ganze
  • Kette. Dieses Band muß man natürlich nicht in buchstäblichem Sinne
  • verstehen: das ist kein sichtbares, greifbares Band, durch das man oft
  • Geschehnisse oder Systeme, wie sie häufig ganz unabhängig von den
  • Tatsachen in den Köpfen zustande kommen, und die man nachträglich mit
  • den Weltereignissen künstlich verbindet, gewaltsam zusammenfügt. Dieses
  • Band darf nur in einer allgemeinen Idee in dem ununterbrochenen
  • Entwicklungsgang der Menschheit bestehen, im Verhältnis, zu dem die
  • Reiche und die Ereignisse nur temporäre Formen und Gleichnisse sind. Die
  • Welt muß in ihrer ungeheueren Majestät dargestellt werden, in der sie
  • sich uns darbietet, durchdrungen von den geheimnisvollen Wegen der
  • Vorsehung, die sich in ihr in so wunderbarer unbegreiflicher Weise
  • kundgeben. Das Interesse muß durchaus und zwar in so hohem Maße angeregt
  • werden, daß die Zuhörer vom Wunsche gequält werden, immer mehr zu
  • erfahren, sie müssen unfähig sein, sich den Vortrag nicht bis zum Schluß
  • anzuhören oder das Buch zu schließen; -- und wenn sie das doch tun, so
  • nur zu dem Zweck, um wieder von vorn anzufangen; es muß ihnen klar
  • werden, wie das eine Ereignis ein anderes gebiert und wie ohne das
  • Vorhergehende auch das Folgende nicht da wäre. Nur so kann eine
  • Weltgeschichte geschaffen werden.
  • II
  • Alles, was in der Geschichte vorkommt: die Völker und die Ereignisse
  • müssen lebendig dargestellt werden, und sozusagen den Zuhörern oder
  • Lesern vor Augen stehen; jedes Volk, jedes Reich muß seine eigene Welt,
  • seine eigene Farbe bewahren, jedes Volk muß sich mit all seinen Taten,
  • seinem Einfluß auf die Welt und so, wie es war, gleichsam in dem Kostüm,
  • in dem es ehemals auf Erden wandelte, klar und deutlich von den übrigen
  • Völkern abheben. Allein um das zu erreichen, muß man nur ganz wenige
  • Züge zusammenfügen -- aber es müssen die eigenartigsten Züge sein, die
  • ein Volk vor allen anderen auszeichnen. Um die charakteristischen Züge
  • ausfindig zu machen, dazu gehört ein klarer Verstand, der imstande ist,
  • alle unauffälligen Nuancen, die dem gewöhnlichen Auge entgehen, zu
  • entdecken, und dazu eine große Geduld, die notwendig ist, um eine Menge
  • häufig ganz uninteressanter Bücher zu durchstöbern. Allein was einer
  • entdeckt hat, kann er andern leicht mitteilen, und so können die Zuhörer
  • es erfahren, ohne selbst die Archive zu durchforschen.
  • III
  • Der Lehrer muß auch die Geographie zu Hilfe nehmen, aber nicht in jener
  • kläglichen Gestalt, wie das häufig geschieht, d. h. indem man nur den
  • Ort, wo etwas vorgefallen ist, auf der Karte aufweist. Nein, die
  • Geographie soll uns so manches erklären, was uns ohne sie unbegreiflich
  • erscheinen würde. Sie soll uns lehren, wie die Bodenbeschaffenheit und
  • Lage eines Landes ihren Einfluß auf das Leben ganzer Nationen ausübte;
  • wie sie ihnen einen besonderen Charakter aufdrückte; wie häufig Gebirge,
  • die ewigen von der Natur selbst aufgerichteten Grenzen, den Ereignissen
  • eine gewisse Richtung gaben und das Weltbild veränderten, indem sie die
  • weitere Ausbreitung eines Volkes, das verwüstend durch die Länder zog,
  • aufhielten, oder ein kleines Volk wie in einer uneinnehmbaren Festung
  • einschlossen; wie diese starke Position, die Tatkraft eines Volkes zu
  • wunderbarer Entfaltung brachte, während sie ein anderes zur Starrheit
  • verdammte; die Geographie kann uns Aufschluß geben über den Einfluß der
  • Lage eines Landes auf dessen Sitten, Gebräuche, seine Verwaltung und
  • seine Gesetze; hierbei kann der Schüler erfahren, wie die Staaten
  • entstehen, und daß es nicht allein die Menschen sind, die sie errichten,
  • sondern daß die geographische Lage des Landes die Staatsform unmerklich
  • herbeiführt und entwickelt; daß daher die Staatsformen etwas Heiliges
  • sind und daß ihre Abschaffung unfehlbar das Unglück eines Volkes zur
  • Folge haben muß.
  • IV
  • Die großen, universalen Ereignisse müssen in ein klares Licht gestellt
  • und mit all ihren weltumwälzenden Folgen in den Vordergrund gerückt
  • werden, nicht so wie das viele Lehrer tun, die sich damit begnügen zu
  • erklären, dies oder jenes sei ein bedeutendes Ereignis, und nur die
  • nächsten Folgen anführen, wie wenn sie abgehackte Äste aufschichteten,
  • statt die Vorgänge in ihrer ganzen Breite zu entwickeln, alle geheimen
  • Ursachen einer bedeutsamen Erscheinung ans Tageslicht zu ziehen um zu
  • zeigen, wie ihre Folgen gleich gewaltigen Zweigen in die folgenden
  • Jahrhunderte hineinragen, sich immer mehr verästeln, um endlich ganz zu
  • verschwinden, oder aber kaum merklich bis in unsere Zeit fortwirken und
  • verklingen, wie ein mächtiger Ton in der Felsschlucht, der gleich nach
  • seiner Geburt wieder erstirbt aber noch lange in seinem Echo widerhallt.
  • Solche Ereignisse müssen in dieser Weise dargestellt werden, damit jeder
  • klar erkennt, daß sie die mächtigen Leuchttürme der Weltgeschichte sind,
  • daß diese auf ihnen ruht, wie die Erde auf dem ursprünglichen
  • Granitgestein oder wie das Tier auf seinem Knochengerüst.
  • V
  • Jetzt noch ein Wort über die Art und Weise des Vortrags. Der Vortrag des
  • Professors muß hinreißend und feurig sein. Er muß die Aufmerksamkeit der
  • Zuhörer im höchsten Grade fesseln. Wenn auch nur einer von ihnen
  • imstande wäre, seine Gedanken während der Vorlesung umherschweifen zu
  • lassen, fällt die ganze Schuld auf den Professor: er hat es dann eben
  • nicht verstanden, interessant zu sein und den Willen wie die Gedanken
  • seiner Zuhörer zu meistern. Es ist schwer, sich es vorzustellen, wenn
  • man es nicht an sich selbst erprobt hat, was für einen schlechten
  • Einfluß es hat, wenn der Vortrag eines Professors matt und trocken ist
  • und wenn ihm die Lebhaftigkeit fehlt, die es dem Hörer unmöglich macht,
  • seine Gedanken, und sei es auch nur für einen Augenblick, auf andre
  • Dinge zu richten. Dann wird ihm auch die größte Gelehrsamkeit nichts
  • helfen, man wird ihn nicht anhören, ja, selbst die größten Wahrheiten
  • werden, von ihm vorgetragen, ohne jeden Einfluß auf die Hörerschaft
  • bleiben, denn ihr Alter ist das Alter der Begeisterung und der starken
  • seelischen Erschütterungen; dann kann es häufig geschehen, daß die
  • unwahrsten Gedanken, die ihnen anderswo in glänzender und anmutiger Form
  • dargeboten werden, sie augenblicklich begeistern und ihrer Entwickelung
  • eine ganz falsche Richtung geben. Was aber geschieht erst, wenn der
  • Professor noch dazu an der alten Schulmethode mit ihren toten
  • scholastischen Regeln festhält, ohne doch selbst die dazu nötige
  • geistige Überzeugungskraft zu besitzen; wenn den jugendlichen, noch in
  • Entwickelung begriffenen Geistern dieser Mangel klar wird und sie sich
  • darüber erheben, so fangen die Zuhörer an, ihren Lehrer zu verachten.
  • Dann reizen sie sogar die richtigen Bemerkungen, die er zuweilen macht,
  • zum Lachen, und in den jungen Seelen regt sich in Denken und Handeln der
  • Widerspruch gegen den Lehrer. In seinem Munde erhalten die
  • allerheiligsten Worte: wie Anhänglichkeit an die Religion,
  • Vaterlandsliebe und Kaisertreue für sie etwas Banales. Leider können wir
  • gar nicht selten beobachten, was das für furchtbare Folgen hat, und
  • daher sollte man nie außer acht lassen, daß das Alter der Hörer das
  • Alter der starken Eindrücke ist; man muß einen hinreißenden Schwung und
  • eine begeisternde Kraft besitzen, um diesen Enthusiasmus auf das Schöne
  • und Gute zu richten; und daher muß der Vortrag des Professors selbst von
  • Enthusiasmus durchdrungen sein. Seine Überzeugungen müssen so fest, so
  • natürlich sein und so sehr aus seinem tiefsten Wesen hervorquellen, daß
  • die Zuhörer die Wahrheit schon erkennen lernen, noch ehe er sie ganz vor
  • ihren Augen enthüllt hat. Der Vortrag des Professors muß sich zeitweise
  • ins Erhabene steigern, er muß hohe Gedanken enthalten und erwecken,
  • dabei aber muß er doch einfach und für jeden verständlich bleiben:
  • wahrhafte Größe erscheint stets in erhabener Schlichtheit; denn wo Größe
  • ist -- da ist auch Einfachheit! Der Professor darf sich nicht damit
  • begnügen, nur von einzelnen verstanden zu werden, nein, alle sollen ihn
  • verstehen. Um sich leicht verständlich zu machen, muß er nicht mit
  • Gleichnissen geizen. Wie oft wird das Klare durch ein Gleichnis noch
  • weit klarer.
  • Diese Gleichnisse muß er stets einem Gebiet entnehmen, das seinen
  • Zuhörern gut bekannt ist. Dann wird sowohl das Ideale wie das Abstrakte
  • verständlich. Er muß nicht zuviel reden; dadurch ermüdet er die
  • Aufmerksamkeit seiner Hörer, denn eine allzu große Kompliziertheit der
  • Gegenstände, ihr Übermaß erschwert es dem Zuhörer, alles in seinem
  • Gedächtnis festzuhalten. Jede Vorlesung eines Professors muß unbedingt
  • ein Ganzes bilden und den Eindruck des Abgeschlossenen machen, sie muß
  • sich dem Geist des Zuhörers als eine wohlgeordnete Dichtung darstellen,
  • und sie müssen von vornherein erkennen, was dies Ganze enthalten soll
  • und was es tatsächlich enthält; dann werden auch sie bei der
  • Wiedererzählung immer das Ziel und das Ganze im Auge behalten. Dies ist
  • besonders notwendig in der Geschichte, wo kein Ereignis ziel- und
  • planlos eintritt.
  • VI
  • Auf Grund vieler Beobachtungen und einer langen Prüfung meiner selbst
  • wie meiner Zuhörer halte ich folgenden Lehrplan für den besten:
  • Vor allem halte ich es für unbedingt notwendig, den Hörern eine
  • vollständige Skizze von der Geschichte der Menschheit zu geben, und zwar
  • in wenigen, aber starken Worten und in ununterbrochener Reihenfolge,
  • damit sie das Ganze dessen, wovon die Vorlesungen handeln sollen, mit
  • einem Blick überschauen; sonst werden sie den ganzen Mechanismus der
  • Geschichte nicht so klar und nicht so schnell erfassen, wie es ja auch
  • unmöglich ist, eine Stadt vollständig kennen zu lernen, indem man nur
  • durch all ihre Straßen hindurchgeht, dazu muß man einen erhöhten
  • Standpunkt einnehmen, von dem aus die Stadt wie auf der Handfläche vor
  • einem liegt. Ich will hier einen Entwurf dieser Skizze geben, um zu
  • zeigen, in welcher Art und in welchem Zusammenhang die Geschichte
  • dargestellt werden muß.
  • Vor allem muß ich darlegen, wie die Menschheit im Orient ihren Ursprung
  • nimmt. Ich muß zuerst den Orient mit seinen alten patriarchalischen
  • Staaten, mit seinen in ein tiefes Geheimnis gehüllten und dem einfachen
  • Volke noch unverständlichen Religionen schildern; die hebräische
  • Religion bildet hierin eine Ausnahme, denn in ihr hat sich die reine und
  • ursprüngliche Kunde von dem wahrhaftigen Gott erhalten. Ich würde
  • schildern, wie diese alten Reiche durch Intoleranz und chinesische
  • Ängstlichkeit, gleich unübersteiglichen Mauern, voneinander getrennt
  • waren, wie nur das Volk der Phönizier, dieses erste Seevolk der Alten
  • Welt, diese starren Reiche durch seinen Handel und seine Industrie
  • unfreiwillig miteinander in Berührung brachte, und wie der erste
  • Welteroberer Cyrus mit seinem frischen, starken Perservolk den ganzen
  • Osten seiner Macht unterwarf und so viele verschieden geartete Völker
  • gewaltsam zusammenschweißte; doch blieben die Sitten, die Religionen und
  • die Staatsformen in all diesen Reichen unverändert; die Könige
  • verwandelten sich nur in Satrapen, und der ganze Orient beugte sich
  • unter eine höchste Gewalt, den König der Könige, den Beherrscher
  • Persiens. Ich würde darstellen, wie diese Völker durch den
  • gemeinschaftlichen Verkehr allmählich ihre Besonderheiten und ihre
  • Nationalität verloren und zusammen mit dem König der Könige, der, fast
  • wie ein Gott verehrt, dem Volke unsichtbar blieb, dem asiatischen Luxus
  • verfielen. -- Hier mache ich halt und wende mich dem anderen Teil der
  • Alten Welt, d. h. Europa zu. Ich muß nun schildern, wie sich hier das
  • griechische Volk, diese höchste Blüte der Antike entfaltete; sein
  • lebhafter Verstand, seine Wißbegierde, sein republikanischer Geist,
  • seine so anders gearteten Staatsformen, seine poetische Religion, seine
  • klaren, lebendigen Ideen widersprachen in jeder Beziehung dem
  • gewichtigen, geheimnisvollen Wesen des Orients; ich würde nun schildern,
  • wie die Kultur Griechenlands sich zu ungewöhnlichem Glanz entwickelte,
  • wie endlich ein ehrgeiziger Grieche das ganze Land der monarchischen
  • Gewalt unterwarf, und wie dieser große Mann den gigantischen Plan faßte,
  • den Orient mit Europa zu vereinigen und die griechische Kultur überall
  • hinzutragen. Um nun die drei Weltteile fester miteinander zu verbinden,
  • wird die Stadt Alexandrien gegründet, der Held stirbt und mit ihm stürzt
  • auch das Weltreich in Trümmer. Aber seine Taten bleiben lebendig, und
  • ihre Früchte reifen; das berühmte alexandrinische Zeitalter bricht an,
  • die ganze Alte Welt drängt sich in den Häfen Alexandriens, die
  • griechischen Gelehrten weilen in allen Städten, die Nationalitäten
  • verschwinden aufs neue, und die Völker schmelzen wieder zusammen.
  • Unterdessen aber reift in Italien fast unbemerkt die eherne Gewalt der
  • Römer heran.
  • Ich würde nun schildern, wie dieses wilde kriegerische Volk sich ein
  • Reich nach dem anderen unterwirft, sich an den zusammengeraubten Gütern
  • bereichert und den ganzen Orient verschlingt. Seine Legionen dringen
  • selbst bis in die Länder Europas, deren Besitz den Menschen nichts mehr
  • zu bieten vermag. Schon Cäsar setzt seinen Fuß auf Britanniens Boden,
  • und der römische Adler weht über den Felsen von Albion ... Während
  • dessen speien die unbekannten Steppen Mittelasiens ganze Massen fremder
  • Völker aus, die andere Stämme verdrängen und vor sich herjagen und sie
  • nach Europa treiben, sie folgen ihnen auf den Fersen durch die Wälder
  • Germaniens, und durch unpassierbare Sümpfe gegen die Römer gedeckt,
  • machen sie erst im Norden halt, drohend wie ein furchtbares Ungetüm, das
  • des ihm verfallenen Opfers harrt. Allmählich haben alle Reiche ihre
  • Unabhängigkeit verloren. Die ganze Welt ist in römische Provinzen
  • eingeteilt. Die Römer eignen sich alles von den unterworfenen Völkern an
  • -- erst ihre Laster, dann auch die Kultur -- wieder mischt sich alles
  • durcheinander. Alle Menschen werden Römer -- und doch gibt es keinen
  • wahren Römer mehr. Und während lasterhafte Imperatoren,
  • Prätorianerheere, freigelassene Sklaven und Veranstalter grausiger
  • Schauspiele die Welt tyrannisieren, findet in ihrem Schoße unbemerkt ein
  • gewaltiges Ereignis statt: inmitten der Alten Welt wird eine neue
  • geboren. Von niemand erkannt, vollzieht sich die Fleischwerdung des
  • göttlichen Heilandes -- und das ewige Wort ertönt, unverstanden von den
  • Großen der Welt, in den Gefängnissen und Wüsten und erwartet
  • geheimnisvoll die neuen Völker. Endlich senkt sich ein rätselhafter
  • lethargischer Schlaf auf die ganze antike Welt, jene schreckliche
  • Starrheit und jenes furchtbare Absterben des Lebens, während dessen die
  • Kultur weder vorschreitet noch sich zurückentwickelt, Kraft und
  • Charakter verschwinden, und sich alles in eine elende, armselige
  • Etikette und in jämmerliche, lasterhafte Charakterlosigkeit verwandelt.
  • Unterdessen erfolgt in Asien ein neuer Stoß, der wie ein elektrischer
  • Funke die ganze Kette durchläuft: ein Volk drängt und jagt das andere
  • vor sich her, dieses treibt das dritte vorwärts, und die am meisten
  • vorgeschobenen Nationen erscheinen schon an den Grenzen des römischen
  • Reiches, während die armseligen Welteroberer ihre letzten Kräfte
  • zusammenraffen, um sich zu retten; erst versuchen sie sich mit Gold
  • loszukaufen, dann dingen sie ein Heer von Verteidigern; sie treten den
  • Eindringlingen eine Provinz nach der anderen ab, bis auf die letzte und
  • endlich auch Rom, alle Gebildeten, die sich noch eine Spur von
  • Kenntnissen bewahrt haben, fliehen nach Osten, und der Rest, die
  • Ungebildeten und Schwachen, geht in der Masse des neuen Volkes unter.
  • Ich würde schildern, wie in Europa ein neues Leben beginnt, wie
  • barbarische Reiche innerhalb der ihnen von der Natur gezogenen Grenzen
  • entstehen und das Christentum annehmen. Ich würde die feudalen Rechte,
  • die Vasallenstaaten schildern, und darstellen, wie der mächtige Papst,
  • der ursprünglich nur römischer Bischof war, zu einem gewaltigen
  • Herrscher wird und seiner großen geistlichen Macht allmählich auch die
  • weltliche hinzufügt. Unterdessen wird im Osten der Rest der Römer von
  • einem neuen starken Volk bedrängt und unterworfen, das ganz plötzlich
  • und in beinahe phantastischer Weise auf der steinigen arabischen
  • Halbinsel geboren, von dem halb wahnsinnigen Enthusiasmus Muhammeds und
  • seiner echt orientalischen Religion fast bis zur Raserei getrieben wird.
  • Ich würde schildern, wie dieses Volk mit dem krummen asiatischen Säbel
  • in der Hand durch den Islam die Überbleibsel früherer griechischer
  • Kultur verdrängt, und wie überraschend schnell diese herrliche Nation
  • aus einem Eroberer zu einem Kulturträger wird, sich zu vollem Glanz
  • entfaltet, und wie dieses Volk mit seiner herrlichen Phantasie, seinen
  • tiefen Gedanken und seiner lebendigen Poesie plötzlich erlischt und von
  • den Nomaden, die vom Kaspischen Meere herkommen, verdunkelt wird, indem
  • es ihnen den Islam als Erbe hinterläßt. Fast um dieselbe Zeit tauchten
  • in Europa die Normannen, diese Korsaren der nördlichen Meere, auf: mit
  • unerhörter Kühnheit kommen sie, trotz ihrer geringen Zahl, plündernd
  • dahergezogen, erobern ganze Reiche, vertauschen ihre barbarische
  • Religion gegen das Christentum und führen Europa ihre Kraft und ihre
  • Sitten zu.
  • Indessen wird der Papst allmählich der unumschränkte Beherrscher
  • Europas, und selbst der von allen Völkern geachtete deutsche Kaiser wagt
  • es nicht, sich wider ihn zu erheben; auf seinen Wink verlassen ganze
  • Völker, Vasallen und Könige ihr Land und ihre Besitztümer, nähen das
  • rote Kreuz auf ihre Achseln und ziehen begeistert nach Palästina. Ich
  • würde erzählen, wie ganz Europa sich aufmacht und nach Asien zieht --
  • wie der Osten und der Westen und die beiden großen Mächte Islam und
  • Christentum aufeinandertreffen und wie dieses Ereignis das Rittertum
  • erzeugt, das in ganz Europa zur Herrschaft gelangt; es entstehen die
  • Ritterorden, die ihre Mitglieder zu einem ehelosen Leben in der
  • Einsamkeit verdammen, nur um dem einen Ziel zu dienen, und so beginnt
  • das tiefreligiöse christliche Zeitalter. Ich würde darlegen, wie dann
  • die religiöse Begeisterung die Grenzen, die ihr die Hand des göttlichen
  • Heilands gezogen hatte, überschreitet und wie um dieselbe Zeit, ganz
  • ohne daß Europa es bemerkt, eine große, weltgeschichtliche Episode
  • anbricht. Um diese Zeit entsteht das nach seiner Größe unermeßliche
  • Reich des Dschingis-Chan und verschlingt alle Länder Asiens, die den
  • Europäern unbekannt waren. In Europa besaßen nur die Klöster eigenes
  • Land und feste Wohnsitze; alles verwandelt sich in fahrendes Rittertum,
  • alles nomadisiert, alles irrt unruhig hin und her; jeder ist zugleich
  • Krieger und Befehlshaber, Vasall und Herrscher, jeder gehorcht und
  • gebietet zugleich -- es ist das Jahrhundert der größten Zersplitterung
  • und zugleich der größten Einheit. -- Jeder unterwirft sich nur dem
  • eigenen Willen, und doch sind alle in einem Ziel, in einem Gedanken
  • verbunden. Nachdem die armen Landleute viel Ungemach erlitten,
  • beschließen sie, sich von ihren Unterdrückern unabhängig zu machen und
  • in Städten zu vereinigen. Es bildet sich der Mittelstand, die Städte
  • fangen an, reich zu werden, und im Norden Europas entsteht die Hansa,
  • als Schutzwall gegen die Raubritter, diese verbindet bald durch ihren
  • Handel allmählich alle nordeuropäischen Staaten. Im Süden aber erblüht
  • als Frucht der Kreuzzüge das durch seine Handelsgewalt so imponierende
  • Venedig, diese Königin des Meeres, diese herrliche Republik, mit ihrer
  • außerordentlich komplizierten und merkwürdigen Verfassung. Alle
  • Reichtümer Europas und Asiens gehen unmerklich in ihre Hände über. So
  • wie der Papst Europa durch seine religiöse Macht beherrscht, ebenso
  • beherrscht es Venedig durch seinen unermeßlichen Reichtum. Der
  • geistliche Despot ließ kein Mittel unversucht, den venezianischen Handel
  • zu zerstören, aber alles war vergeblich, bis endlich ein Bürger Genuas
  • durch seine Entdeckung der Neuen Welt ihn vernichtete. Schließlich müßte
  • ich schildern, wie sich der Aktionskreis der Geschichte plötzlich
  • erweitert und der Handel des Mittelmeers zurückgeht. Die Europäer eilen
  • habgierig nach Amerika und führen von dort Berge von Gold ein. Der
  • Atlantische und der Große Ozean sind in ihrer Macht, um dieselbe Zeit
  • dringen die päpstlichen Missionare bis in das nordöstliche Asien und
  • Afrika vor, und die Welt tut sich fast plötzlich in ihrer unendlichen
  • Größe auf. Jetzt aber beginnt man in Europa allmählich, an der
  • Rechtmäßigkeit der päpstlichen Gewalt zu zweifeln, und wie ehemals ein
  • armer Genueser den Handel Venedigs vernichtete, so erschütterte jetzt
  • ein Augustinermönch, Luther, die Macht des Papstes. Ich würde erzählen,
  • wie dieser Gedanke in dem Kopf des bescheidenen Mönches entstand, und
  • wie er seine Thesen kraftvoll und trotzig verteidigte; wie dann der
  • Papst bei seinem Sturz noch furchtbarer und erfinderischer wurde, wie er
  • die schreckliche Inquisition und den, durch seine unsichtbare Macht
  • Schrecken verbreitenden Jesuitenorden schuf, wie letzterer sich über die
  • ganze Welt verbreitete, überall eindrang und einschlich und geheime
  • Verbindungswege mit allen Enden der Welt herstellte.
  • Aber je härter der Papst wurde, um so eifriger arbeiteten die
  • Druckerpressen. Ganz Europa teilte sich in zwei Parteien, und diese
  • feindlichen Lager griffen endlich zu den Waffen, ein langer, harter
  • Krieg innerhalb und außerhalb der Staaten entbrannte plötzlich in ganz
  • Europa. Jetzt wurde nicht mehr mit Pfeil und Bogen gekämpft, sondern mit
  • Kanonen und Kugeln, mit Donner und Blitz; dieser furchtbare Streit wurde
  • mit Hilfe der schrecklichen und unheilvollen Erfindung eines Mönchs und
  • Alchimisten ausgefochten. Die geistliche Macht sinkt immer mehr, und die
  • weltlichen Herrscher erstarken. Dann müßte man darstellen, wie sich
  • Europa nach diesen Kriegen veränderte. Die einzelnen Staaten und Völker
  • schließen sich immer inniger zu unteilbaren Massen zusammen. Die frühere
  • Teilung der Gewalten, die im Mittelalter vorherrschte, hat aufgehört.
  • Die ganze Macht konzentriert sich nunmehr in einer Person. Hierdurch
  • kommen die starken Charaktere mehr zur Geltung, der Wirkungskreis der
  • Herrscher, ihrer Minister und Feldherrn erweitert sich. Ganz von selbst
  • entsteht in Europa ein Völkerbund, der mit Waffengewalt die
  • Unantastbarkeit eines jeden Reiches verteidigen will. Unterdessen
  • ergreifen unermüdliche holländische Kaufleute, die ihr Land mit Gewalt
  • dem Meere abgerungen, Besitz von den Inseln des Indischen Ozeans und
  • verdienen Millionen durch die Kultur der kostbaren, exotischen Gewächse,
  • sie reißen, wie einstmals Venedig, den Handel der ganzen Welt an sich,
  • bis ein hervorragender Fürst, die Unantastbarkeit der Staaten
  • mißachtend, auch diesen Handel wieder vernichtet. Ich würde das
  • glänzende Zeitalter schildern, das dieser König (Ludwig XIV.)
  • herbeiführte; Frankreich strotzte förmlich von Erzeugnissen des Luxus,
  • die französischen Fabriken, die französischen Gelehrten taten sich
  • überall hervor, Paris wurde die Hauptstadt der Welt, wo sich ganz Europa
  • ein Rendezvous gab, und französische Sprache, französische Sitten und
  • französische Etikette verbreitete sich über die europäische Welt. Aber
  • indem dieser ehrgeizige König die Unantastbarkeit fremden Besitzes
  • mißachtete und den holländischen Handel zugrunde richtete, zerstörte er
  • auch seinen eigenen Staat und vernichtete seine eigene Größe. Schnell
  • macht sich das britische Inselvolk, das bis dahin sein Ziel langsam aber
  • sicher verfolgt hatte, diesen Umstand zunutze und steht plötzlich als
  • Beherrscher des ganzen Welthandels da, bald setzt es in Indien Millionen
  • um, besteuert Amerika, und wo es ein Meer gibt, da weht die britische
  • Flagge. Ihr tritt Napoleon, dieser Riese des XIX. Jahrhunderts, in den
  • Weg, und er bedient sich dabei einer anderen Waffe -- eines absoluten
  • militärischen Despotismus; mit seinen stürmischen Bewegungen bringt er
  • ganz Europa außer Fassung und legt ihm sein eisernes Protektorat auf.
  • Umsonst wettert Pitt im englischen Parlament gegen ihn, umsonst bringt
  • er seine schrecklichen Bündnisse zustande. Niemand hat den Mut, Napoleon
  • zu widerstehen, bis er selbst sich ins Verderben stürzt, indem er einen
  • Vorstoß nach Rußland macht, wo ihn ein unbekanntes Land, die Härte des
  • Klimas und ein durch eine rauhe Taktik gestähltes Heer zugrunde richten.
  • Rußland, das diesen Riesen an seiner uneinnehmbaren Feste zerschellen
  • ließ, hält nun im weiten Nordosten in drohender Majestät die Wacht; die
  • befreiten Staaten nehmen wieder ihr früheres Aussehen und ihre alten
  • Formen an und schließen von neuem einen Bund zum Schutz ihres Besitzes.
  • Die Bildung und die Kultur, die sich durch nichts hemmen läßt, beginnt,
  • sich allmählich auch in den unteren Klassen zu verbreiten, die
  • Dampfmaschinen lassen die Industrie eine bewunderungswürdige
  • Vollkommenheit erreichen, leisten den Menschen, gleich unsichtbaren
  • Geistern, Hilfe und lassen seine Kraft immer schrecklicher, zugleich
  • aber auch wohltätiger werden: mit heiligem Schaudern erkennt er, wie das
  • Wort aus Nazareth endlich sich über die ganze Welt ergießt.
  • Wenn die Weltgeschichte in eine so kurze aber vollständige Skizze gefaßt
  • wird, und alle Ereignisse in dieser Weise untereinander verbunden
  • werden, dann wird nichts dem Gedächtnis der Zuhörer entschwinden, und in
  • ihren Köpfen wird sich unwillkürlich ein Ganzes bilden. Und schließlich
  • wird diese Skizze sich nach allen Seiten hin erweitern und eine
  • vollständige Geschichte der Menschheit darstellen.
  • VII
  • Nach der Darstellung der ganzen Menschheitsgeschichte würde ich die
  • Geschichte der einzelnen Staaten und Völker, die den großen Mechanismus
  • der Weltgeschichte bilden, behandeln. Natürlich muß auch hier bei der
  • Betrachtung jedes Einzelnen die Fülle und Abgeschlossenheit gewahrt
  • werden. Ich muß die Geschichte jedes Staates mit einem Blick von ihrem
  • Anfang bis zu ihrem Ende umfassen, muß zeigen, wie ein Reich gegründet
  • wurde, wann es seine höchste Macht und seinen höchsten Glanz erreichte,
  • wann und warum es unterging (wenn es überhaupt unterging) und wie es die
  • Gestalt annahm, die es noch heutzutage besitzt; wenn ein Volk vom
  • Angesicht der Erde verschwunden ist, dann müßte man aufzeigen, wie ein
  • neues an seine Stelle trat und was dies letztere von dem früheren
  • übernommen hat.
  • VIII
  • Damit das Vorgetragene sich dem Gedächtnis noch tiefer einprägt, ist
  • nach Beendigung des Kursus noch eine wiederholende Übersicht notwendig.
  • Damit aber diese Wiederholungen ihren Zweck besser erfüllen, muß man
  • sich bemühen, ihnen das Interesse und die Anziehungskraft der Neuheit zu
  • geben. Nach der Geschichte der Welt im allgemeinen und der eines jeden
  • Landes und Volkes im besonderen ist es ratsam, eine Übersicht über alle
  • Erdteile zu geben und hierbei auf ihre Verschiedenheiten und die
  • Besonderheiten der sie bewohnenden Völker hinzuweisen, damit die Zuhörer
  • selbst ihre Schlüsse daraus ziehen können.
  • Zuerst müßte man mit Asien anfangen, dieser großen Wiege der jungen
  • Menschheit, des Kontinents der ungeheuren Umwälzungen, wo plötzlich
  • ganze Völker von furchtbarer Größe auftauchen und ebenso plötzlich
  • wieder von anderen verschlungen werden; wo so viele Nationen eine nach
  • der anderen für immer verschwinden, während die Regierungsformen und der
  • Geist der Völker dieselben bleiben; noch heute ist der Asiat immer
  • gleich hochmütig und stolz, schnell begeistert und von Leidenschaft
  • ergriffen; und ebenso schnell verfällt er wieder der Trägheit und dem
  • tatenlosen Genußleben; zugleich ist dieser Erdteil der Schauplatz der
  • großen Widersprüche und einer gewaltigen Unordnung; noch immer wandert
  • ein Volk von unübersehbarer Menschenzahl mit unzähligen Roßherden
  • sorglos von Ort zu Ort, während am anderen Ende, irgendwo in der Wüste,
  • ein rasender Fanatiker, ganz blaß und abgemagert vom beständigen Fasten,
  • über einer neuen Religion brütet, die einmal ganz Asien erfassen, das
  • ganze Volk in eine leidenschaftliche Begeisterung versetzen, gleichsam
  • in einen undurchdringlichen Panzer hüllen und es seinem Verderben
  • entgegenführen soll; zugleich aber ist es möglich, daß dicht daneben ein
  • anderes Volk lebt, das, von Luxus umgeben und angefressen von
  • asiatischer Übersättigung, schon alle diese Phasen und Krisen längst
  • hinter sich hat. Nur hier können diese merkwürdigen Gegensätze
  • existieren, die wir an den Bäumen des Südens beobachten, wo sich an
  • demselben Zweige eine Blüte entfaltet, eine andre schon eine Frucht
  • ansetzt, eine dritte reift und zugleich eine vierte überreif zu Boden
  • fällt.
  • Dann muß man zu Europa übergehen, dessen Geschichte einen ganz
  • entgegengesetzten Charakter hat, wo das Leben der Völker im Gegensatz zu
  • Asien viel länger und viel großartiger ist und alles Ordnung und
  • Regelmäßigkeit atmet; hier bewegen sich die Völker Schritt für Schritt
  • und in gemessenem Takte wie reguläre europäische Truppen; fast alle
  • Staaten wachsen und entwickeln sich hier zu gleicher Zeit. Trotz aller
  • Verschiedenheiten der einzelnen Nationen beobachtet man hier eine
  • allgemeine Einheitlichkeit, sie sind alle so wunderbar miteinander
  • verflochten, daß sie nur im Zusammenhang mit dem ganzen Europa
  • verstanden werden können, und so erscheint Europa selbst fast wie ein
  • einziger geeinigter Staat. In diesem kleinen Teil der Welt kam ein alter
  • Prozeß zum Austrag: der Mensch erhob sich über die Natur, und die Natur
  • ward zur Kunst; ja ihre Armut und ihre Sprödigkeit brachte erst die
  • unendliche Welt ans Licht, die im Menschen verborgen lag, ließ ihn
  • fühlen, wie hoch er über allem Irdischen stand, und ließ das Sein der
  • Welt als ein ewiges Leben des Geistes erscheinen. Nur in diesem Erdteil
  • entfaltete sich der hohe Genius des Christentums ganz, und schwebt der
  • unermeßliche Gedanke, beschattet vom himmlischen Zeichen des Kreuzes
  • über ihm, wie über seiner Heimat.
  • Dann folgt Afrika, das im Gegensatz zu Europa den geistigen Tod
  • darstellt, wo die Natur stets despotisch über den Menschen herrscht, wo
  • sie ihn in ihrer königlichen Majestät immer wieder in seinen Urzustand,
  • das sinnliche Leben, zurückstieß; wo kein einziges einheimisches,
  • eingeborenes Volk sich zu vollem Leben entwickelte, und einen hellen
  • Lichtstrahl in die Welt sandte, und wo selbst die Kolonisten aus andern
  • Ländern vergeblich den Kampf mit der glühenden, afrikanischen Natur
  • aufnahmen, denn je tiefer sie in das Innere Afrikas eindrangen, desto
  • mehr verfielen sie den sinnlichen Trieben.
  • Und endlich -- Amerika, -- diese Weltkolonie, dieses Babel aller
  • möglichen Nationen, wo sich drei verschiedene Erdteile trafen, sich
  • miteinander mischten, aber noch zu keinem Ganzen verschmolzen und daher
  • auch bis heute noch keine Einheit, nicht einmal die der Religion
  • erreicht haben. Trotzdem es in seinen Teilen so manches
  • Charakteristische an sich hat, hat es doch noch keinen allgemeinen
  • Charakter ausgebildet; noch immer besteht es trotz der großen Massen,
  • die es umfaßt, noch aus unorganisierten Urkräften und Urelementen und
  • gleicht, obwohl es aus lauter unabhängigen Staaten besteht, noch immer
  • einer Kolonie.
  • Ein flüchtiger Überblick über die Geschichte eines jeden Erdteils in
  • seinen am stärksten ausgeprägten Charakterzügen, die Darstellung der
  • tiefsten Ergebnisse der Jahrhunderte und der sich in ihnen abspielenden
  • Begebenheiten, nicht etwa nur ihrer oberflächlichen Resultate, sind
  • _darum_ eine Notwendigkeit, weil sie die Zuhörer zum Nachdenken
  • veranlassen und Gedanken bei ihnen auslösen. Ihr Geist arbeitet
  • schneller, wenn er sich Fragen von echter und poesievoller Größe
  • gegenübersieht. Solch ein Überblick ist schon deshalb so notwendig, weil
  • er dieselben Objekte häufig in einem andern Lichte zeigt. Denn um einen
  • Gegenstand ganz zu verstehen, muß er von allen Seiten beleuchtet werden,
  • oder, wie Schlözer einmal sagt, man kennt die Geschichte nur dann gut,
  • wenn man sie von vorn bis hinten, von rechts nach links und in allen
  • Richtungen kennt.
  • IX
  • Daher ist es gut, nach Beendigung des Kursus die ganze Weltgeschichte
  • noch einmal nach einzelnen Jahrhunderten gleichsam in Form eines Epilogs
  • zu überblicken. Dann wird die Weltgeschichte wie eine Stufenfolge der
  • Jahrhunderte vor uns stehen. Dabei muß man unbedingt darauf hinweisen,
  • wodurch der Anfang, die Mitte und das Ende eines jeden Jahrhunderts
  • gekennzeichnet sind, und ferner -- seinen Geist und seine
  • hervorstechenden Züge darstellen. Um jedes Jahrhundert genauer zu
  • charakterisieren und eine gewisse Monotonie der Jahreszahlen zu
  • vermeiden, würde ich es nach dem Namen des Volkes oder des Mannes
  • bezeichnen, die sich in dem betreffenden Zeitraum weit über die andern
  • emporschwangen und sich am intensivsten auf der Weltenbühne betätigten.
  • Eine solche Stufenleiter der Jahrhunderte ist das beste Mittel, dem
  • Gedächtnis der Zuhörer den Synchronismus der Ereignisse, der
  • Erscheinungen und der Personen einzuprägen.
  • X
  • Mir scheint, daß solch eine Art des Unterrichts natürlicher wäre und der
  • Wahrheit mehr entsprechen würde. Jedenfalls wird der, der die
  • Erhabenheit der Geschichte im Tiefsten erfaßt hat, einsehen, daß sie
  • nicht das Erzeugnis einer plötzlichen Eingebung, sondern die Frucht
  • einer sorgfältigen Überlegung und Erfahrung ist; daß hierbei kein
  • Epitheton, und kein einziges Wort nur aus Stilrücksichten oder eitler
  • Schönrednerei verloren wurde, sondern daß es das Resultat eines langen
  • Studiums der Weltchroniken ist; daß selbst der Entwurf einer allgemeinen
  • und vollständigen Skizze der allgemeinen Weltgeschichte, der selbst,
  • wenn er so kurz ist, wie das hier geschildert wurde, nicht anders
  • möglich ist, als indem man die allerfeinsten und verwickeltsten Fäden
  • der Geschichte aufgespürt und entwirrt hat, und daß nur die Liebe zur
  • Wissenschaft, die einem zum Genuß ward, einen dazu bewegen konnte, seine
  • Gedanken darzustellen, daß unser Zweck dabei die Herzensbildung der
  • jungen Zuhörer durch jene gründliche Erfahrung ist, wie sie uns durch
  • die Geschichte vermittelt wird, sofern wir sie nur in ihrer wahren Größe
  • erkennen.
  • Sie sollen erkennen, daß wir nur einen Zweck im Auge haben, in unseren
  • Zuhörern feste und männliche Grundsätze zu entwickeln, die fortan kein
  • leichtsinniger Fanatiker und keine vorübergehende Erregung zu
  • erschüttern vermögen -- sie zu bescheidenen, demütigen, vornehmen
  • Charakteren und zu nützlichen und notwendigen Mitarbeitern des großen
  • Königs zu machen, auf daß sie weder im Glück noch im Unglück ihre
  • Pflicht, ihren Glauben, ihre unantastbare Ehre und ihr Gelübde, treue
  • Diener des Vaterlandes und des Kaisers zu sein, verletzen.
  • 1832.
  • V
  • Ein Überblick über das Werden Kleinrußlands[2]
  • [Fußnote 2: Diese Skizze bildet die Einleitung zu einer Geschichte
  • Kleinrußlands; da aber der ganze erste Teil dieser Geschichte
  • vollständig umgearbeitet wurde, so lassen wir diesen Teil als besonderen
  • Aufsatz hier folgen.]
  • I
  • Welch furchtbar armselige Rolle spielt doch das XIII. Jahrhundert in der
  • Geschichte Rußlands. Hundert kleine Staaten, die einer Rasse entstammen,
  • einen Glauben bekennen, eine Sprache sprechen, gemeinsame
  • Charaktereigentümlichkeiten haben und -- fast möchte es scheinen, gegen
  • ihren Willen, durch Blutsverwandtschaft untereinander verbunden sind --
  • alle diese kleinen Reiche waren so miteinander verfeindet, wie dies
  • selbst unter verschiedengearteten Völkern nur selten vorkommt. Nicht Haß
  • (denn einer wirklich starken Leidenschaft waren sie nicht fähig), auch
  • nicht eine stetige Politik als Folge eines unbeugsamen Sinnes oder
  • reifer Lebenserkenntnis waren es, die sie trennten: es war ein Chaos von
  • Kämpfen um vorübergehender, momentaner Vorteile willen, und diese
  • Streitigkeiten waren um so verderblicher, weil sie den Volkscharakter,
  • der unter den starken normannischen Fürsten angefangen hatte, eine
  • eigenartige Physiognomie anzunehmen, allmählich zersetzten. Die
  • Religion, die die Völker mehr denn alles andere miteinander verbindet
  • und erzieht, hatte nur wenig Einfluß auf sie; denn sie war damals noch
  • nicht mit den Gesetzen und mit dem Leben verwachsen. Die Mönche, die
  • Lehrer, ja sogar die Metropoliten waren Einsiedler, die sich in ihre
  • Zellen zurückzogen und ihre Augen vor der Welt verschlossen; sie beteten
  • zwar für alle Menschen, aber verstanden es nicht, mit Hilfe ihrer
  • gewaltigen Waffe: des Glaubens -- Macht über das Volk zu erringen und
  • mit diesem Glauben die kleine Flamme des Glaubenseifers bis zum
  • Enthusiasmus zu schüren, der doch allein imstande ist, junge Völker zu
  • verbinden und sie für große Taten zu begeistern. Das war der große
  • Unterschied gegenüber dem Westen, wo der allmächtige Papst ganz Europa
  • mit seiner geistlichen Macht umspann, wie mit einem unsichtbaren
  • Spinngewebe, wo sein allmächtiges Wort Streitigkeiten schlichtete oder
  • entfachte, und wo die Bedrohung mit seinem furchtbaren Fluch die
  • Leidenschaften und die noch halbwilden Völker bändigte. Hier waren die
  • Klöster noch Zufluchtsstätten für die Menschen, die sich durch ihre
  • Sanftmut und Güte von dem allgemeinen Charakter des Jahrhunderts
  • abhoben. Nicht selten redeten die Geistlichen von ihren Höhlen und
  • Klöstern aus den Teilfürsten ins Gewissen; aber ihre Ermahnungen blieben
  • erfolglos, die Fürsten verstanden es nur, zu fasten und Kirchen zu
  • bauen, damit glaubten sie, den Anforderungen des Christentums Genüge
  • geleistet zu haben: es als ein Gesetz zu achten und sich seinen Geboten
  • zu fügen, verstanden sie nicht. Die geringfügigsten Ursachen hatten
  • endlose Kriege zur Folge. Das waren keine Kriege zwischen dem König und
  • seinen Lehnsmännern oder der Vasallen untereinander -- nein -- das waren
  • Zwistigkeiten zwischen Blutsverwandten, zwischen leiblichen Brüdern,
  • Vätern und Kindern. Nicht Haß oder starke Leidenschaft fachten sie an --
  • nein -- der Bruder erschlug seinen Bruder um eines Stückes Land willen,
  • oder auch nur um Mut und Kühnheit an den Tag zu legen. Welch
  • schreckliches Beispiel für das Volk! Blutsverwandtschaft galt für
  • nichts, denn die Bewohner zweier benachbarter Teile, die alle
  • untereinander verwandt waren, waren jeden Augenblick bereit, mit der Wut
  • von Wölfen übereinander herzufallen. Es war nicht ererbte Zwietracht,
  • die sie antrieb, denn der Freund von heute wurde zum Feinde von morgen
  • und umgekehrt. Das Volk hatte eine kaltblütige Bestialität angenommen:
  • es mordete, ohne recht zu wissen warum. Kein starkes Gefühl, weder
  • Fanatismus, noch Aberglaube, ja nicht einmal ein Vorurteil konnten es
  • begeistern, und es schien, als seien alle starken und hohen menschlichen
  • Leidenschaften in ihm erloschen; wenn zu jener Zeit ein Genie erschienen
  • wäre, das den Wunsch gehabt hätte, mit diesem Volk etwas Großes zu
  • vollbringen, es hätte keine Saite gefunden, bei der er es hätte fassen
  • können, um diesen gefühllosen Körper aufzurütteln; es sei denn etwa die
  • eiserne physische Kraft. Damals schien die »Geschichte« gleichsam
  • erstarrt zu sein und sich in »Geographie« verwandelt zu haben: das
  • einförmige Leben, das sich in den einzelnen Teilen regte, aber als
  • Ganzes starr und unbeweglich dalag, konnte als geographisches Zubehör
  • des Landes gelten.
  • II
  • Da nun trat ein wunderbares Ereignis ein. In Asien, im Herzen dieses
  • Erdteils Asien, in diesen Steppen, die schon so viele Völker über Europa
  • ausgegossen hatten, erhob sich jetzt das furchtbarste und zahlreichste
  • von allen, dessen Eroberungszüge eine Ausdehnung annahmen, wie nie
  • vorher. Die fürchterlichen Mongolen, mit ihren zahllosen Roßherden und
  • Zeltwagen, wie sie in Europa noch nie gesehen worden waren, überfluteten
  • Rußland, und mit echt asiatisch-barbarischer Freude bezeichneten sie
  • ihren Weg durch flammende Rauchsäulen und Feuersbrünste. Diese Invasion
  • unterwarf Rußland einer zweihundertjährigen Sklaverei und entzog es den
  • Blicken Europas. War dies nun eine Rettung, indem es Rußland seine
  • Selbständigkeit wahrte, da doch die Teilfürsten seine Integrität
  • gegenüber den litauischen Eroberern kaum aufrecht erhalten hätten, oder
  • war es eine Strafe für die fortwährenden Streitigkeiten -- genug, dieses
  • furchtbare Ereignis zog gewaltige Folgen nach sich: es erlegte den
  • Fürstentümern Nord- und Mittelrußlands ein schweres Joch auf, schuf aber
  • zugleich im Süden ein neues slawisches Geschlecht, ein Geschlecht dessen
  • ganzes Leben in einem beständigen Kampf bestand und dessen Geschichte
  • ich hier schildern will.
  • III
  • Am meisten hatte Südrußland unter den Tataren zu leiden gehabt.
  • Niedergebrannte Städte und Felder, verkohlte Wälder, das alte Kiew in
  • Trümmern, menschenleere Wüsten -- das war der Anblick den dies
  • unglückliche Land darbot. Die erschrockenen Einwohner flohen nach Polen
  • oder nach Litauen; zahlreiche Edelleute und Fürsten wanderten nach dem
  • Norden Rußlands aus. Schon früher war die Zahl der Bevölkerung in dieser
  • Gegend sichtlich zurückgegangen. Kiew war längst nicht mehr die
  • Hauptstadt, und die bedeutenderen Fürstentümer hatten sich nach Norden
  • hinaufgezogen. Es schien, als hätte das Volk seine eigene Nichtigkeit
  • erkannt, denn es verließ die Plätze, wo die bunte Natur ihre
  • Erfindungskraft zu entfalten beginnt; herrliche, unübersehbare Steppen
  • breiten sich hier aus und die verschiedenartigsten Gräser von
  • gigantischer Höhe bedecken sie; hie und da steigen unvermittelt ganz mit
  • wilden Kirschbäumen und Edelkirschen übersäte Hügel auf, oder es tut
  • sich ein blumengeschmückter Abgrund vor uns auf, viele rauschende Flüsse
  • schlängeln sich durch das Land und bilden entzückende Landschaftsbilder,
  • gewaltig gleitet der Dnjepr wie ein leuchtendes Band mit seinen
  • unersättlichen Stromschnellen zwischen großartigen, steilabstürzenden
  • Ufern und durch unübersehbare Wiesen dahin -- und dies alles erwärmt der
  • milde Odem des Südens. -- Das Volk verließ diese Gegenden und drängte
  • sich nach den Teilen Rußlands, wo die Oberfläche der Erde einförmig
  • glatt und eben, fast immer sumpfig ist, und wo ein paar elende Kiefern
  • und Fichten aus dem Boden ragen; hier gibt es kein frischpulsierendes
  • Leben voller Bewegung, sondern nur ein dumpfes Vegetieren, das wie ein
  • schwerer Druck auf dem Geiste lastet. Es ist, als wäre damit die
  • Wahrheit des Satzes bewiesen, daß nur ein starkes, lebens- und
  • charaktervolles Volk Gegenden von großartiger Naturbeschaffenheit
  • aufsucht, oder daß nur gewaltige und großartige Naturszenerien ein
  • kühnes, leidenschaftliches, charaktervolles Volk hervorbringen können.
  • IV
  • Als der erste Schreck vorüber war, begannen allmählich Auswanderer aus
  • Polen, Litauen und Rußland sich in diesem Lande, der eigentlichen Heimat
  • der Slawen, niederzulassen; hier war die Wiege der alten Poljanen und
  • Ssewerjanen, dieser rein slawischen Stämme, die sich in Großrußland
  • schon mit finnischen Völkerschaften zu vermischen begannen, aber sich
  • hier in ihrer Reinheit erhielten, mit all ihren heidnischen
  • Glaubenslehren, ihren kindlichen Vorurteilen, ihren Sagen und Gesängen
  • und ihrer slawischen Mythologie, die bei ihnen so naiv mit dem
  • Christentum verschmolz. Den in ihre alte Heimat zurückkehrenden
  • Einwohnern folgten auch Auswanderer aus anderen Ländern auf den Fersen,
  • mit denen sie sich durch längeres Beisammenleben allmählich vermischt
  • hatten. Diese Einwanderung vollzog sich furchtsam und zaghaft, weil das
  • schreckenverbreitende Wandervolk nicht weit entfernt war: sie waren nur
  • durch die Steppe voneinander getrennt, oder besser gesagt, miteinander
  • verbunden. Trotz der bunten Bevölkerung fehlte es hier an jenen
  • Zwistigkeiten, die im Innern Rußlands nie aufhörten. Die von allen
  • Seiten drohende Gefahr ließ den Menschen keine Zeit zum Streit. Das von
  • den furchtbaren Herdenbesitzern übel zugerichtete Kiew, die
  • altehrwürdige Mutter der russischen Städte, blieb noch lange verarmt und
  • konnte sich kaum mit so mancher unbedeutenden Stadt des nördlichen
  • Rußlands messen. Alle Menschen hatten es verlassen, selbst die Mönche
  • und Chronisten, die es immer wie ein Heiligtum verehrt hatten, zogen
  • fort. Die Kunde von Kiew hört plötzlich auf, und obwohl dort eine Linie
  • des russischen Fürstengeschlechts zurückblieb, geriet es für ein halbes
  • Jahrhundert vollständig in Vergessenheit. Nur hin und wieder sprechen
  • noch die Chronisten wie im Traum von Kiew, sie erzählen, daß es in der
  • schrecklichsten Weise zerstört wurde, und daß die Beamten der Chane dort
  • residierten -- dann aber ist's als hätte sich ein undurchdringlicher
  • Vorhang darüber gebreitet.
  • V
  • Während so Rußland durch die Tataren zur Untätigkeit und Erstarrung
  • verurteilt war, führte der große Heide Gedimin ein neues Volk auf den
  • Schauplatz der Geschichte herauf -- ein armes Volk, arm an Kultur und
  • arm an Lebensmitteln --, es bewohnte die wilden Fichtenwälder im
  • heutigen Weißrußland, hüllte sich in Tierfelle statt in Kleider, betete
  • den Gott Perun an und beugte sein Knie in noch nie von der Axt berührten
  • Hainen vor dem altehrwürdigen Feuer; dies Volk, das unter dem Namen der
  • Litauer bekannt war, hatte ehemals den russischen Fürsten Tribut
  • gezahlt. Nun aber wurde es unter seinem Fürsten Gedimin zu der
  • bedeutendsten Macht in dem gewaltigen Nordosten Europas! Damals glichen
  • die Städte, die Fürstentümer und die Völker des westlichen Rußland noch
  • Stücken und Fetzen, die jenseits der Grenze des Tatarenjoches lagen. Sie
  • bildeten kein Ganzes, und daher konnte auch der litauische Eroberer fast
  • durch einen einzigen Angriff seines von ihm selbst geschaffenen
  • heidnischen Heeres den ganzen Flächenraum zwischen Polen und dem
  • tatarischen Rußland seiner Macht unterwerfen. Dann führte er sein Heer
  • nach Süden in das Gebiet der wolhynischen Fürsten. Es ist nur natürlich,
  • daß der Erfolg ihn überall begleitete. In Luzk stellte sich ihm der
  • Fürst Leo entgegen und leistete ihm harten Widerstand, war aber doch
  • nicht imstande, ihn zurückzuschlagen und sein Land zu behaupten. Gedimin
  • setzte Gouverneure und Gemeindeälteste ein und zog weiter nach Süden,
  • mitten ins Herz des südlichen Rußlands, nach Kiew. Dem Fürsten Leo von
  • Luzk gelang es auf der Flucht, den Fürsten von Kiew, Stanislaus, zu
  • überreden, dem furchtbaren Eroberer mit seiner wenig zahlreichen
  • Streitmacht entgegenzutreten. Seine Truppen wurden noch durch verbündete
  • Tataren verstärkt; aber alle ergriffen die Flucht vor dem mächtigen
  • Litauer. Nachdem Gedimin den Feinden am Flusse Irpenj eine furchtbare
  • Niederlage bereitet, zog er im Triumph in Kiew ein, das noch unter dem
  • frischen Eindruck eines Einfalls der Tataren stand, und setzte dort den
  • Fürsten Mindow Oljschansky, der eben den griechischen Glauben angenommen
  • hatte, als Regenten ein. So entriß der litauische Eroberer den Tataren
  • ein Stück Land, das fast vor ihren Augen gelegen war. Man sollte
  • glauben, dies hätte einen Kampf zwischen den beiden Völkern zur Folge
  • haben müssen, aber Gedimin war ein klarer und politischer Kopf, trotz
  • seiner scheinbaren Wildheit und trotz des barbarischen Zeitalters. Er
  • verstand es, sich die Freundschaft der Tataren zu erhalten, obwohl er
  • über Länder herrschte, die er ihnen entrissen hatte, ohne ihnen Tribut
  • zu zahlen. Dieser urwüchsige Politiker, der weder schreiben noch lesen
  • konnte und einen heidnischen Gott anbetete, rührte nicht an die Sitten
  • und die alten Regierungsformen der unterworfenen Völker, alles blieb
  • beim alten, er bestätigte alle Privilegien und befahl seinen
  • Gemeindevorstehern, die Landesgebräuche streng zu achten, und hinterließ
  • bei seinem Zuge durchs Land nirgends Spuren der Verwüstung. Die absolute
  • Bedeutungslosigkeit der herumliegenden Völker und seiner Zeitgenossen
  • lassen seine Gestalt zu ungeheuren Dimensionen emporwachsen. Er starb im
  • Jahre 1340, seine Leiche wurde auf ein Pferd gesetzt, und er wurde nach
  • der heidnischen Sitte der Litauer mitsamt seinem Waffenträger, seinen
  • Jagdhunden und Falken verbrannt. Ihm folgten Oljgerd und Jagello auf dem
  • Thron, zwei ebenso starke Charaktere, die noch weiter zum Aufschwung
  • Litauens beitrugen, indem sie den angegliederten Ländern gegenüber
  • dieselbe Politik verfolgten wie er.
  • VI
  • So trennte sich das südliche Rußland unter dem mächtigen Schutz der
  • litauischen Fürsten ganz von dem Norden. Jede Verbindung zwischen ihnen
  • hörte auf; es bildeten sich zwei Reiche, die einen und denselben Namen
  • Rußland führten, das eine unter dem Joch der Tataren -- das andere unter
  • demselben Zepter wie Litauen. Aber alle näheren Beziehungen zwischen
  • ihnen hörten auf; andere Gesetze, andere Sitten, andere Ziele, andere
  • Verhältnisse und andere Taten schufen mit der Zeit ganz verschiedene
  • Charaktere. Zu ergründen, in welcher Weise dies geschah, bildet den
  • Zweck unserer Geschichte. Aber vor allem müssen wir einen Blick auf die
  • geographische Lage dieses Landes werfen, damit müssen wir durchaus
  • beginnen, denn von der Beschaffenheit des Bodens hängt die Lebensweise,
  • ja sogar der Charakter eines Volkes ab. Gar vieles in der Geschichte
  • läßt sich durch die Geographie erklären.
  • Dieses Land, das später den Namen der »Ukraine« erhielt, erstreckt sich
  • im Norden bis zum fünfzigsten Grad nördlicher Breite und ist eher flach
  • als gebirgig. Hier begegnen wir häufig kleinen Hügeln, aber keiner
  • zusammenhängenden Gebirgskette. In dem nördlichen Teil gibt es
  • zahlreiche Wälder, die ehemals ganze Herden von Bären und Wildschweinen
  • beherbergten. Der südliche Teil liegt ganz offen da und stellt ein
  • weites Steppenland von üppiger Fruchtbarkeit dar, das aber nur hie und
  • da mit Getreide bestellt ist. Dieser herrliche, jungfräuliche Boden
  • bringt aus sich selbst eine verschwenderische Fülle der
  • mannigfaltigsten, verschiedenartigsten Gräser hervor. Hier trieben sich
  • ganze Scharen von Steppenantilopen, Hirschen und wilden Pferden herum.
  • Vom Norden nach Süden zieht sich der mächtige Dnjepr durch das Land,
  • umsponnen von einem ganzen Netze kleinerer Nebenflüsse, die in ihn
  • münden. Sein rechtes Ufer ist gebirgig und bietet anmutige und zugleich
  • wilde Landschaftsbilder dar; das linke besteht ganz aus Wiesen, die mit
  • kleinen Wäldern bedeckt sind und meist unter Wasser stehen. Unweit der
  • Mündung des Dnjepr ins Meer bilden schroff aus dem Flußbett aufsteigende
  • Felsen zwölf Stromschnellen, sie unterbrechen die Strömung und machen
  • die Schiffahrt sehr gefährlich. In ihrer Nähe gab es viele sogenannte
  • Sugaken, wilde Ziegen mit weißlich-glänzenden Hörnern und atlasweichem
  • Fell. Früher war der Wasserstand des Dnjepr höher, sein Flußbett
  • breiter, und er überschwemmte die Wiesen an seinem Ufer auf größere
  • Strecken hin. Wenn das Wasser sinkt, ist das Bild überraschend schön:
  • alle Bodenerhöhungen treten hervor und bilden unzählige, grüne Inseln
  • inmitten der unabsehbaren Gewässer des Ozeans. Nur ein einziger
  • schiffbarer Fluß, die Desna, mündet in den Dnjepr, sie fließt durch die
  • nördliche Ukraine, mit ihren bewaldeten Ufern, die fast immer
  • überschwemmt sind; aber auch dieser Fluß ist nur stellenweise befahrbar.
  • Außerdem gibt's im Norden noch den Oster und einen Teil des Sseim, im
  • Süden die Ssula, den Psjoll mit einer Reihe schöner Landschaftsbilder,
  • den Chorol und andere; aber keiner von all diesen Flüssen ist schiffbar.
  • Verkehrswege gibt es nicht; die Produkte konnten nicht ausgetauscht
  • werden, und daher konnte sich hier auch kein handeltreibendes Volk
  • ansiedeln. Alle Flüsse verzweigen sich in der Mitte; keiner von ihnen
  • bildete durch seinen Lauf eine natürliche Grenze zwischen den
  • benachbarten Völkern. Im Norden lag Rußland, im Osten hausten die
  • Kiptschatskischen, im Süden die Krimschen Tataren, im Westen lag Polen
  • und überall offenes Land -- die Grenzen wurden durch Steppen und weite
  • Ebenen gebildet. Hätte es auch nur von einer Seite eine natürliche
  • Grenze in Form eines Gebirges oder eines Meeres gegeben, so hätte das
  • hier wohnhafte Volk sich sicherlich sein politisches Wesen bewahrt und
  • ein selbständiges Reich gebildet. Aber das offene, unbeschützte Land
  • wurde die beständige Beute von Überfällen und Verwüstungen, -- es wurde
  • ein Platz, auf dem drei feindliche Nationen aufeinanderstießen, den
  • Boden mit Knochen düngten und mit Blut tränkten. _Ein_ Überfall der
  • Tataren zerstörte die ganze Arbeit des Landmanns; die Wiesen und Felder
  • wurden von den Hufen der Rosse zerstampft oder niedergebrannt, die
  • leichtgebauten Hütten bis auf den Grund niedergerissen und die Einwohner
  • vertrieben oder mitsamt ihrem Vieh in die Gefangenschaft geführt. Das
  • war ein Land des Schreckens; und daher konnte hier nur ein
  • kriegerisches, durch Zusammenschluß starkes Volk erstehen -- ein
  • tollkühnes Volk, dessen ganzes Leben von Kriegen erfüllt, und das in
  • Krieg und Schlachten gesäugt und aufgezogen war. Freiwillige und
  • unfreiwillige Auswanderer, heimatlose Wanderer, die nichts zu verlieren
  • hatten, Menschen, deren Leben keinen Heller wert war, deren zügelloser
  • Wille sich keiner Macht und keinem Gesetz fügen wollte, und denen
  • überall der Galgen drohte, zogen in dies Land und wählten diesen äußerst
  • gefährlichen Ort, in unmittelbarer Nähe der asiatischen Eroberer der
  • Tataren und Türken, zu ihrem Aufenthalt. Diese zusammengewürfelte
  • Menschenmenge wuchs immer mehr an, vermehrte sich und bildete
  • schließlich ein ganzes Volk, das seinen Charakter, ja, ich möchte sagen,
  • sein Kolorit der ganzen Ukraine mitteilte -- es vollzog sich ein Wunder
  • -- die friedlichen slawischen Stämme verwandelten sich unter seinem
  • Einfluß in ein kriegerisches Volk, das unter dem Namen Kosaken bekannt
  • ist und eine der merkwürdigsten Erscheinungen in der Geschichte Europas
  • bildet; vielleicht war nur dies Volk imstande, die verheerende
  • Überschwemmung durch die beiden mohammedanischen Stämme, die Europa zu
  • verschlingen drohte, zurückzudämmen.
  • VII
  • Das erste Auftauchen der Kosaken fällt, wenn nicht ins Ende des XIII.,
  • so doch in den Anfang des XIV. Jahrhunderts, in das Jahrhundert, wo der
  • starke Glaubenseifer in Europa noch nicht erloschen war, und wo sich
  • plötzlich fast an allen Orten Brüderschaften und Ritterorden bildeten,
  • ganz im Widerspruch zu der damaligen allgemeinen Zersplitterung; diese
  • Genossenschaften legten sich mit bewunderungswürdiger Selbstverleugnung
  • alle möglichen Opfer auf, entsagten den gewöhnlichen Lebensgewohnheiten
  • der Ehe und wurden zu unbeugsamen Hütern der geistigen Güter der Welt,
  • und zu ehernen Beschützern des christlichen Glaubens. Je schwächer der
  • Zusammenhang der damaligen Staaten untereinander war, desto mächtiger
  • wuchs die furchtbare Macht dieser Verbindungen an. Die Verbreitung des
  • Islam und das Erstarken der jungen, mächtigen mohammedanischen Völker,
  • die schon in Europa eingedrungen waren, trugen auch zu ihrem Wachstum
  • bei. Der Geist dieser Brüderschaften drang überallhin -- er faßte nicht
  • nur unter den Rittern Fuß -- aber allerdings waren ihre Ziele und Zwecke
  • nicht immer dieselben. Um diese Zeit entstand in der Nähe der
  • Stromschnellen ein Städtchen, oder eine Ansiedlung mit Namen
  • Tscherkassy, die von kühnen Einwanderern gegründet war; ihr Name
  • erinnert an Bewohner des Kaukasus, denen auch von vielen die Gründung
  • des Städtchens zugeschrieben wird, denn dies war der Hauptsammelplatz
  • und Aufenthaltsort der Kosaken. Anfänglich zwangen die häufigen Einfälle
  • der Tataren in den nördlichen Teil der Ukraine die Bewohner, sich durch
  • die Flucht zu retten, sich den Kosaken anzuschließen und ihre Zahl zu
  • vergrößern. Das war ein bunter Haufen der allerverwegensten Vertreter
  • der angrenzenden Nationen. Wilde Bergbewohner, verarmte Russen,
  • polnische Leibeigene, die sich dem Despotismus ihrer Herren entzogen
  • hatten, ja sogar abtrünnige Mohammedaner oder Tataren haben vielleicht
  • den ersten Grund zu dieser merkwürdigen Gesellschaft am anderen Ufer des
  • Dnjepr gelegt, die sich später, gleich den Ordensrittern, den
  • beständigen Kampf mit den Ungläubigen zum Ziel setzte. Dieser
  • Menschenhaufen besaß keine Befestigungen und keine einzige Burg.
  • Erdhütten, Höhlen und allerhand Schlupfwinkel zwischen den Felswänden
  • des Dnjepr, die häufig unter dem Wasser, oder auf den Inseln, oder im
  • dichten Steppengras gelegen waren, dienten ihnen zum Versteck für sich
  • selbst und die zusammengeraubten Schätze. Die Nester dieser Räuber waren
  • unsichtbar; sie kamen plötzlich herangeflogen, bemächtigten sich ihrer
  • Beute und verschwanden dann wieder. Sie bekämpften die Tataren mit deren
  • eigenen Waffen, das heißt, sie wandten dabei die Kriegsführung der
  • Asiaten an und führten Überfälle auf sie aus. Da ihr Leben unter dem
  • beständigen Druck der Angst stand, wollten auch sie ihrerseits ein
  • Schreckbild für ihre Nachbarn sein. Die Tataren und Türken mußten jeden
  • Augenblick eines Überfalls seitens dieser unerbittlichen Bewohner der
  • Stromschnellen gewärtig sein. Die mohammedanischen Nachbarn wußten
  • nicht, welchen Namen sie diesem verhaßten Volk geben sollten. Wenn einer
  • dem anderen seine tiefste Verachtung ausdrücken wollte, so nannte er ihn
  • einen Kosaken.
  • VIII
  • Ein großer Teil dieser Gesellschaft bestand aus den ursprünglichen
  • autochthonen Bewohnern des südlichen Rußland. Ein Beweis dafür ist ihre
  • Sprache, die, obwohl sie viele tatarische und polnische Worte in sich
  • aufgenommen, immer ihren reinen südslawischen Charakter bewahrt hat, der
  • dem damaligen russischen sehr ähnlich war, und ein fernerer Beweis ist
  • ihr Glaube, der immer der griechisch-katholische blieb. Jeder hatte
  • freien Zutritt zu dieser Gemeinschaft, nur mußte er unbedingt den
  • griechischen Glauben annehmen. Diese Gesellschaft trug alle Merkmale,
  • die einer Räuberbande eigen sind, an sich; aber wenn wir näher zusehen,
  • so finden wir hier Keime eines politischen Organismus und eines
  • charaktervollen Volkes, das sich gleich zu Anfang seiner Existenz ein
  • wichtiges Ziel gesetzt hatte, -- den Kampf mit den Ungläubigen und die
  • Reinerhaltung der eigenen Religion. Das waren jedoch keine strengen
  • katholischen Ritter, sie erlegten sich weder Gelübde noch Fasten auf;
  • sie kasteiten sich nicht durch Enthaltsamkeit und Abtötung des
  • Fleisches; sie waren unbändig wie die Stromschnellen ihres Dnjepr und
  • vergaßen die ganze Welt bei ihren wilden Gelagen und wüsten Festen. Die
  • enge Verbrüderung, die unter den Mitgliedern einer Räuberbande herrscht,
  • verband auch sie miteinander. Alles war Gemeingut -- der Wein, das Geld
  • und ihre Wohnstätten. Die ewige Angst, die ewige Gefahr flößte ihnen
  • eine eigentümliche Lebensverachtung ein. Der Kosak kümmerte sich mehr um
  • sein volles Maß Wein, als um sein Schicksal. Aber bei ihren Überfällen
  • bewiesen sie Gewandtheit, Schärfe des Geistes und eine große
  • Geschicklichkeit, aus jedem Umstande Nutzen zu ziehen. Man mußte diesen
  • Bewohner der Stromschnellen in seiner halb tatarischen und halb
  • polnischen Tracht, die so recht den Grenzbewohner verrieten, sehen, wenn
  • er mit asiatischer Gewandtheit auf seinem Roß dahinsprengte, im dichten
  • Steppengras verschwand, dann wieder mit der Schnelligkeit eines Tigers
  • aus seinem unsichtbaren Schlupfwinkel hervorstürzte oder ganz in
  • Schlingpflanzen und Schlamm gehüllt als Schreckgespenst aus dem Sumpf
  • oder Fluß vor dem fliehenden Tataren auftauchte. Nach solch einem
  • Überfall bummelte und zechte derselbe Kosak mit seinen Kameraden herum,
  • vergeudete und verschleuderte die erbeuteten Schätze, war sinnlos
  • betrunken und lebte sorglos dahin, bis zu einem neuen Kriegszug, wenn
  • nicht die Tataren ihn überrumpelten, die Sorglosen im betrunkenen
  • Zustand auseinandertrieben und ihre Ansiedlung bis auf den Grund
  • zerstörten. Doch bald entstand, wie durch ein Wunder, die Ansiedlung
  • aufs neue, und ein verheerender, furchtbarer Ausfall gegen die Tataren
  • rächte die erlittene Schmach. Und wieder begann das alte sorglose und
  • zügellose Leben.
  • IX
  • Es schien fast, als sollte die Existenz dieses Volkes ewig sein. Es
  • verminderte sich nie, die Ausscheidenden, die Erschlagenen und
  • Ertrunkenen wurden immer wieder ersetzt. Dieses fröhliche Leben übte
  • seine Anziehungskraft auf jedermann aus. Das war ja noch jene poetische
  • Zeit, wo man mit dem Säbel in der Hand alles erreichen konnte, und wo
  • jeder einzelne nicht Zuschauer, sondern handelnde Person sein wollte.
  • Die Kolonie nahm allmählich einen ganz eigenartigen, allgemeinen
  • Charakter an, aus ihr bildete sich eine eigene Nationalität heraus, und
  • je näher das XV. Jahrhundert herankam, desto mehr vergrößerte sie sich
  • durch neuen Zuzug. Allmählich entstanden ganze Flecken und Dörfer mit
  • Häusern, die von Familien bewohnt wurden, und sich in der Nähe dieses
  • trotzigen Bollwerks ansiedelten, um unter der Bedingung gewisser
  • Verpflichtungen ihren Schutz zu genießen. So geschah es, daß das Land um
  • Kiew herum verödete, und sich dagegen am jenseitigen Ufer des Dnjepr
  • immer mehr und mehr bevölkerte. Durch die Berührung und den Verkehr mit
  • den Kosaken wurden auch die verheirateten Männer, die Familienväter,
  • allmählich immer kriegerischer gesinnt. Der Säbel und der Pflug
  • schlossen Freundschaft untereinander und fanden sich bei jedem Landmann
  • zusammen. Verwegene Hagestolze fingen an, nicht nur Gold, Geld und
  • Rosse, sondern auch Tatarenfrauen und -töchter zu rauben, die sie
  • nachher heirateten. Durch diese Vermischung erhielten die Gesichter, die
  • ehemals einen recht verschiedenartigen Völkertypus aufwiesen, eine mehr
  • gleichartige asiatische Physiognomie. Und so entstand ein Volk, das
  • seinem Glauben und seinem Wohnort nach zu Europa gehörte, aber nach
  • seinen Sitten, nach seiner Tracht und Lebensweise vollkommen asiatisch
  • war, ein Volk, in dem zwei verschiedene Weltteile zusammentrafen, und
  • zwei völlig anders geartete Elemente sich untereinander mischten:
  • europäische Vorsicht und asiatische Sorglosigkeit, Treuherzigkeit und
  • Verschlagenheit, kräftige Aktivität und grenzenlose Trägheit und
  • Verzärtelung, das Streben nach Fortschritt und Vervollkommnung -- und
  • zugleich der Wunsch sich den Anschein zu geben, als verachte man
  • jeglichen Fortschritt und jede Vervollkommnung.
  • 1832.
  • VI
  • Einige Worte über Puschkin
  • Bei dem Namen Puschkin steigt sofort der Gedanke an Rußlands nationalen
  • Dichter auf. Und in der Tat -- es gibt keinen unter unseren Dichtern,
  • der höher stände, keiner kann mit mehr Recht national genannt werden,
  • als er. Daher gebührt dieser Titel vor allem _ihm_, wie keinem andern.
  • In ihm ist, wie in einem Wörterbuch, der ganze Reichtum, die ganze Kraft
  • und Geschmeidigkeit unserer Sprache niedergelegt. Er hat mehr, denn je
  • ein anderer, ihre Grenzen erweitert und uns ihre gewaltigen Dimensionen
  • offenbart. Puschkin ist eine ganz außerordentliche Erscheinung, ja
  • vielleicht die erste und einzige, die der russische Geist hervorgebracht
  • hat, das ist der russische Mensch in seiner höchsten und letzten
  • Ausprägung, wie er sich uns vielleicht erst in zwei Jahrhunderten
  • darstellen wird. In ihm spiegelt sich die russische Natur, die russische
  • Seele, die russische Sprache und der russische Charakter in einer solch
  • reinen sublimen Schönheit, wie eine Landschaft auf der konvexen
  • Oberfläche eines optischen Glases.
  • Schon sein Leben war echt russisch. Die freie Ungebundenheit und Fülle,
  • nach der es den Russen verlangt, wenn er sich für einen Augenblick
  • selbst vergißt, und die eine so starke Anziehungskraft auf die frische
  • russische Jugend besitzt, sind auch für die ersten Jahre
  • charakteristisch, während der er die große Welt betritt. -- Wie mit
  • Absicht führte ihn das Schicksal gerade dorthin, wo die Grenzen Rußlands
  • durch Schroffheit und charaktervolle Majestät der Natur bezeichnet
  • werden, wo die grenzenlose russische Ebene vom Südwind umfächelt und von
  • steil in die Wolken ragenden Bergen unterbrochen wird. Der gigantische,
  • mit ewigem Schnee bedeckte Kaukasus, der mitten aus der heißen südlichen
  • Ebene emporsteigt, machte einen tiefen Eindruck auf ihn, man kann sagen,
  • er erweckte die Kräfte seiner Seele und sprengte die letzten Ketten, die
  • den freien Gedanken noch beschwerten. Das poesievolle, zügellose Leben
  • der verwegenen Bergbewohner, ihre ständigen Zusammenstöße und ihre
  • plötzlichen unwiderstehlichen Überfälle entzückten ihn. Und seit jener
  • Zeit erhielt sein Pinsel jenen wunderbaren Schwung und jene Kühnheit,
  • die das ganze Rußland, das erst eben zu lesen begonnen hatte, so tief
  • ergriff. Wenn er den Kampf eines Tschetschenzen mit einem Kosaken
  • schildert, dann sind seine Worte wie Blitze; sie funkeln wie eine blanke
  • Säbelklinge und stürmen schneller dahin, als die Wogen der Schlacht. Nur
  • er versteht es, den Kaukasus zu besingen; er ist mit seiner ganzen
  • Seele, mit allen seinen Sinnen in ihn verliebt; er ist ganz erfüllt,
  • ganz durchdrungen von der Schönheit seiner Landschaft, vom südlichen
  • Himmel, von den herrlichen, Grusischen Ebenen, von den berauschenden
  • Nächten und Gärten der Krim. Das macht wohl, daß er in all seinen Werken
  • da am wärmsten und feurigsten ist, wo seine Seele vom Hauch des Südens
  • getroffen wird. Unwillkürlich setzt er hier seine ganze Kraft ein, und
  • daher übten auch seine Schöpfungen, die, vom Kaukasus handelnd, vom
  • freien Leben der Tscherkessen und den Nächten der Krim erfüllt sind,
  • jenen herrlichen magischen Zauber aus; selbst die, denen es an Geschmack
  • fehlte, und deren geistige Fähigkeiten nicht ausreichten, um ihn zu
  • verstehen, waren von ihnen entzückt. Das Kühne ist am leichtesten
  • verständlich, es weitet die Seele mächtig und gewaltig aus, vor allem
  • die der Jugend, die es immer nach Ungewöhnlichem dürstet. Kein einziger
  • Poet in ganz Rußland hatte ein so beneidenswertes Schicksal wie
  • Puschkin. Der Ruhm keines einzigen hat sich so schnell verbreitet, wie
  • der seine. Alle fühlten sich verpflichtet, bei jeder passenden oder
  • unpassenden Gelegenheit einige von den herrlichen, glänzenden
  • Stellen aus seinen Werken zu zitieren, oder doch wenigstens zu
  • verballhornisieren. Schon sein Name allein hatte etwas Elektrisierendes;
  • ein müßiger Tintenkleckser brauchte ihn nur in einer seiner Arbeiten zu
  • erwähnen, und sie wurde überall gelesen[3].
  • Schon bei seinem ersten Auftreten war er durch und durch national; denn
  • die wahre Nationalität besteht ja nicht in der Beschreibung eines
  • russischen Sarafans, sondern in dem Geist eines Volkes. Ein Dichter kann
  • auch dann noch national bleiben, wenn er ganz fremde Welten darstellt,
  • nur muß er sie mit seinen Augen durch sein nationales Element hindurch,
  • mit den Augen seines Volkes anschauen, er muß so reden und fühlen, daß
  • seine Landsleute meinen, sie seien es selbst, die so fühlten und
  • redeten. Wenn man von den Eigenschaften sprechen will, die die Vorzüge
  • Puschkins im Vergleich mit anderen Schriftstellern bilden, so muß man
  • sagen, daß sie in der außergewöhnlichen Kürze seiner Schilderungen und
  • in der seltenen Kunst liegen, einen Gegenstand mit ein paar Strichen zu
  • zeichnen. Seine Epitheta sind so kühn und treffend, daß sie oft eine
  • lange Umschreibung ersetzen, sein Pinsel stürmt förmlich dahin. Ein
  • kleines Werk von ihm ist stets ebensoviel wert, wie eine ganze große
  • Dichtung. Man kann kaum von einem anderen Dichter sagen, daß bei ihm in
  • einem kleinen Stücke so viel Größe, Schlichtheit und Kraft enthalten
  • sei, wie bei Puschkin. Aber seine letzten Werke, die er in der Zeit
  • verfaßte, als der Kaukasus mit seiner schroffen Majestät, mit seinen
  • mächtigen in die Wolken ragenden Gipfeln seinen Blicken entschwunden
  • war, als er sich ins Herz Rußlands zurückzog und sich tiefer in die
  • schlichte Ebene, in das Studium des Lebens und der Sitten seiner
  • Landsleute versenkte, als er ein echt nationaler Dichter sein wollte --
  • diese seine letzten Dichtungen überraschten nicht mehr durch die
  • Farbenpracht und die blendende Kühnheit, die all seine Werke erfüllte,
  • wenn er vom Elbrus, von den Bergvölkern des Kaukasus, von der Krim und
  • Grusien erzählte.
  • [Fußnote 3: Unter Puschkins Namen wurden auch eine Reihe abgeschmackter
  • Verse verbreitet. Das ist das gewöhnliche Los des Talents, dessen Name
  • bekannt und berühmt ist. -- Anfangs lacht man darüber, aber später fängt
  • man an, sich zu ärgern, wenn man über die erste Jugend hinaus ist und
  • sieht, daß diese Torheiten kein Ende nehmen. Schließlich schrieb man
  • Puschkin sogar Werke wie »Das Cholera-Mittel«, »Die erste Nacht« und
  • ähnliche zu.]
  • Ich glaube, diese Erscheinung ist nicht schwer zu erklären. Alle Leser,
  • die gebildeten und ungebildeten waren von seiner kühnen Pinselführung
  • und dem Zauber seiner Bilder entzückt und verlangten stürmisch, er solle
  • volkstümliche und historische Themata zum Gegenstand seiner Poesie
  • machen, sie vergaßen, daß man doch unmöglich das ruhige und weniger von
  • Leidenschaften erfüllte russische Leben mit denselben Farben malen
  • konnte, wie die Berge des Kaukasus und seine freien Bewohner. Die Masse
  • des Publikums, die sozusagen die Nation ausmacht, ist sehr seltsam in
  • ihren Anforderungen und Wünschen; sie schreit: »Schildere uns, so wie
  • wir sind, völlig wahrheitsgetreu, stelle die Taten unserer Ahnen dar,
  • und zwar so, wie sie sich wirklich vollzogen haben.« Aber, wenn es der
  • Dichter dann versucht, ihrem Ruf Folge zu leisten, und alles
  • wahrheitsgetreu, d. h. ganz so wie es sich abspielte, zu schildern, dann
  • heißt es gleich: »Das ist matt, das ist schwach, das ist schlecht, es
  • entspricht durchaus nicht der Wahrheit.« Die Masse des Volkes gleicht in
  • dieser Hinsicht einer Dame, die bei einem Maler ein Porträt bestellt,
  • und den Wunsch äußert, er solle es so ähnlich wie möglich machen; aber
  • weh ihm, wenn er es nicht versteht, alle ihre Fehler zu verhüllen! Die
  • russische Geschichte nimmt erst in ihrer letzten Epoche unter den Zaren
  • eine große Lebhaftigkeit an; bis dahin war der Charakter des Volkes
  • meist recht farblos, die verschiedenen Abstufungen der Leidenschaften
  • waren ihm unbekannt. Den Poeten trifft keine Schuld; aber auch dem Volk
  • kann man sein Gefühl nicht übelnehmen, das es verleitet, den Taten
  • seiner Vorfahren größeren Wert beizulegen. Daher hat der Poet zwei
  • Möglichkeiten: entweder sein Pathos höher emporzuschrauben, dem
  • Schwächlichen größere Kraft einzuflößen, mit Feuer von Dingen zu reden,
  • die in sich selbst keine starke innere Wärme haben, dann ist die Masse
  • seiner Verehrer, die Masse des Volks auf seiner Seite und zugleich mit
  • ihr das Geld; oder er muß der Wahrheit treu bleiben, groß sein, wo auch
  • das Thema groß ist, kühn und schroff sein, wo wahrhafte Kühnheit und
  • Schroffheit sich zeigt, ruhig und still bleiben, wo auch die Ereignisse
  • nicht sieden und brodeln. Dann aber kann er der Masse »Lebewohl« sagen.
  • Sie wird ihm nicht zujubeln, es sei denn, daß der Gegenstand, den er
  • darstellt, schon an und für sich so groß und gewaltig ist, daß er einen
  • allgemeinen Enthusiasmus entfachen muß. Der Dichter vermied den ersten
  • Weg, eben weil er Dichter bleiben wollte, und weil ein jeder, der nur
  • einen Funken des heiligen Berufes in sich fühlt, ein so feines Empfinden
  • hat, das es ihm nicht erlaubt, sein Talent durch solche Mittel zu
  • offenbaren. Niemand wird leugnen, daß ein wilder Bergbewohner mit seiner
  • kriegerischen Tracht, der so frei wie die Freiheit selbst, der sein
  • eigener Herr und Richter ist, einen viel stärkeren Eindruck macht, als
  • irgendein Assessor; und obgleich der erstere seinen Feind getötet,
  • nachdem er ihm in einer Felsspalte auflauerte, oder ein ganzes Dorf
  • niedergebrannt hat, so erscheint er uns doch viel bedeutender und
  • interessanter und erweckt immer in weit höherem Grade Mitleid, als unser
  • Beisitzer in seinem fadenscheinigen, mit Tabakflecken beschmutzten
  • Frack, der, ohne es zu wollen, nur auf dem Wege von allerhand
  • Nachforschungen und Nachprüfungen eine Reihe von allen möglichen
  • Leibeigenen und Freien ins Elend gebracht hat.
  • Aber der eine wie der andere sind beides Erscheinungen, die unserer Welt
  • angehören; sie haben beide ein Anrecht auf unsere Aufmerksamkeit, obwohl
  • aus einem ganz natürlichen Grunde das, was wir seltener sehen, unsere
  • Phantasie weit stärker erregt, und so ist der Umstand, daß der Dichter
  • das Gewöhnliche dem Ungewöhnlichen vorzieht, nichts anderes als eine
  • falsche Rechnung des Dichters -- eine falsche Rechnung gegenüber seinem
  • zahlreichen Publikum -- aber freilich nicht gegenüber sich selbst.
  • Dadurch verliert er nicht, nein, er gewinnt vielleicht sogar noch an
  • Wert, allerdings wohl nur in den Augen einiger weniger Sachkundiger. Bei
  • dieser Gelegenheit fällt mir eine Geschichte aus meiner Kindheit ein.
  • Ich hatte immer eine gewisse Leidenschaft für die Malerei. Ich
  • interessierte mich besonders für eine Landschaft, die ich gemalt hatte,
  • und in deren Vordergrunde sich ein verdorrter Baum erhob. Ich lebte
  • damals auf dem Lande, die Kunstkenner und die Richter, die über mich zu
  • urteilen hatten, waren meine Nachbarn. Einer von ihnen warf einen
  • prüfenden Blick auf das Bild, schüttelte den Kopf und sagte: -- »Ein
  • guter Künstler wählt sich immer einen schönen, schlanken Baum mit
  • jungen, frischen Blättern und nicht einen vertrockneten.« In meiner
  • Kindheit verdroß es mich, solche Urteile zu hören, aber später habe ich
  • daraus eine Lehre gezogen: man muß wissen, was der Masse gefällt und was
  • ihr nicht gefällt. Die Werke Puschkins, die aus der russischen Natur
  • herauswachsen, sind ebenso still und leidenschaftslos, wie die russische
  • Natur. Nur der kann sie ganz verstehen, dessen Seele wahrhaft russische
  • Elemente in sich trägt, der Rußland seine Heimat nennt, dessen Geist so
  • zart organisiert ist und dessen Gefühl so fein zu empfinden gelernt hat,
  • daß er die scheinbar unbedeutenden russischen Lieder und den russischen
  • Geist nachempfinden kann; denn je alltäglicher der Gegenstand ist, desto
  • höher muß der Dichter stehn, um aus ihm das Ungewöhnliche an die
  • Oberfläche zu ziehen, und zwar so, daß dieses Ungewöhnliche zugleich die
  • lauterste Wahrheit darstellt. In der Tat: sind Puschkins letzte Werke
  • auch in ihrem ganzen Werte erkannt worden? Hat auch nur einer den Boris
  • Godunow richtig verstanden und seine Bedeutung begriffen, dieses große
  • und tiefe Werk, voll innerer, unnahbarer Poesie, das jeden groben,
  • bunten Schmuck verschmäht, der der Masse ins Auge sticht. Jedenfalls ist
  • nie ein richtiges Urteil über diese Werke gedruckt worden, und sie sind
  • bis heute so gut wie unbeachtet geblieben.
  • In seinen kleinen Schriften, dieser herrlichen Anthologie ist Puschkin
  • außerordentlich vielseitig, hier erscheint er noch umfassender und
  • bedeutender als in seinen Dichtungen. Einzelne von diesen kleinen Werken
  • haben etwas so Packendes und Blendendes, daß sie ein jeder verstehen
  • kann, aber der weitaus größte Teil unter ihnen, und zwar die
  • allerschönsten erscheinen der großen Masse unbedeutend und gewöhnlich.
  • Um sie zu verstehen, muß man einen ganz besonderen Spürsinn und einen
  • viel feineren Geschmack haben, als ihn ein Mensch besitzt, auf den nur
  • die allergrößten und hervorstechendsten Züge wirken. Hierzu muß man der
  • groben, schweren Speisen längst überdrüssig, man muß in gewissem Maße
  • Sybarit sein, dem nur kleine Vögel von der Größe eines Fingerhuts oder
  • solche Gerichte Genuß gewähren, deren Geschmack dem fade, seltsam und
  • unangenehm erscheinen muß, der an die Gerichte seines Kochs, eines
  • Leibeigenen vom Lande, gewöhnt ist. Diese Sammlung seiner kleinen
  • Gedichte stellt eine Reihe blendender Bilder dar. Es ist jene klare
  • Welt, erfüllt von jenen Zügen, die nur den Alten bekannt waren, jene
  • Welt, in der die Natur so lebendig zu uns spricht und sich so hell
  • wiederspiegelt, wie in der silbernen Flut eines Flusses, aus dem
  • plötzlich ein blendendweißer Nacken, schneeweiße Hände und ein
  • Alabasterhals, umschattet von nachtschwarzen Locken -- oder kristallene
  • Trauben, Myrten und schattige Haine leuchtend emportauchen, als wären
  • sie für das Leben geschaffen. Hier ist alles beisammen: Genuß, Einfalt
  • und ein plötzlicher Höhenflug des Gedankens, der die begeisterte Seele
  • des Lesers plötzlich mit heiligem Schaudern umfängt.
  • Das sind keine Kaskaden einer Rhetorik, die nur durch Wortreichtum
  • gefällt und in denen ein jeder Satz nur deshalb so wuchtig wirkt, weil
  • er sich mit andern verbindet und durch das Getön der ganzen Masse
  • betäubt, aber einzeln betrachtet, schwach und inhaltsleer erscheint.
  • Hier fehlt jede Beredsamkeit, hier gibt es nur Poesie. Es fehlt jeder
  • äußere Glanz, alles ist einfach, anständig, von nur innerer Klarheit
  • erfüllt, die sich jedoch nicht sofort offenbart. Hier ist alles
  • lakonisch, wie die wahre Poesie es immer ist. Es sind immer nur wenige
  • Worte, aber sie sind so treffend, daß sie alles sagen. In jedem Worte
  • liegt ein ganzer unendlicher Abgrund beschlossen, jedes Wort ist so
  • unerschöpflich wie der Dichter selbst. So kommt es, daß man diese
  • kleinen Werke immer wieder liest, während dieser hohe Vorzug einem Werke
  • fehlt, in dem der Grundgedanke allzu klar hervorleuchtet. Es war mir
  • immer merkwürdig, Urteile von Männern, die den Ruf von Kunstkennern und
  • Literaten hatten, über diese Werke zu hören; hatte ich ehemals doch viel
  • auf sie gegeben, ehe ich ihre Ansichten über diesen Gegenstand kennen
  • gelernt hatte. Man kann diese kleinen Werke einen Prüfstein nennen, an
  • dem man den Geschmack und das ästhetische Gefühl des Kritikers messen
  • kann. Aber seltsam! Man sollte meinen, diese Gedichte müßten jedem
  • verständlich sein! Sie sind so schlicht und zugleich erhaben, so glühend
  • und leuchtend, so sinnlich und zugleich doch wieder so kindlich rein.
  • Wie könnte man sie nicht verstehen? Aber ach, es ist eine
  • unerschütterliche Wahrheit: je mehr ein Poet ein wahrer Dichter ist, je
  • mehr er nur die Gefühle darstellt, die nur ein Dichter kennt und
  • empfindet, um so handgreiflich kleiner wird der Kreis der ihn umgebenden
  • Menge, ja er wird schließlich so eng, daß man zuletzt die Zahl seiner
  • wahren Bewunderer an den Fingern abzählen kann.
  • 1832.
  • VII
  • Über die Architektur unserer Zeit
  • Ich werde immer traurig, wenn ich die neuen Bauten sehe, die
  • unaufhörlich vor unseren Augen entstehen, für die Millionen
  • verschleudert werden und von denen nur die allerwenigsten den erstaunten
  • Blick durch Größe des Entwurfs, Eigenart und Kühnheit der Phantasie,
  • oder auch nur durch die Pracht und die blendende Buntheit der Ornamente
  • fesseln. Und unwillkürlich drängt sich einem der Gedanke auf: sollte die
  • große Epoche der Architektur wirklich endgültig dahin sein? sollten
  • wirklich Genialität und Größe nie wieder bei uns einkehren? oder sind
  • das Vorzüge, die nur jungen von Energie und Enthusiasmus erfüllten
  • Völkern eigen sind, die noch nichts wissen von der langweiligen und
  • leidenschaftslosen Bildung? Warum erheben sich aber dann jene Völker,
  • auf die wir in unserer Selbstzufriedenheit so geringschätzig herabsehen
  • und denen wir kaum einen Platz in der Weltgeschichte einräumen wollen,
  • durch die Schöpfungen ihres finsteren und durch keinen Funken von Wissen
  • erleuchteten Verstandes so hoch über uns? Warum sind denn dann die
  • kolossalen Statuen der Inder so ungeheuer und grandios, warum sind die
  • Baudenkmäler der Araber so herrlich und prächtig? Und wie konnten in
  • Europa während des Mittelalters so viele Bauten von so wunderbarer Größe
  • entstehen? Wie ungern unterwirft man sich der Überzeugungskraft dieser
  • Überlegung, aber alles spricht dafür, daß sie wahr ist. Sie sind vorüber
  • -- diese Jahrhunderte, als noch der Glaube, der heiße inbrünstige Glaube
  • alle Gedanken, alle Geister und alles Tun und Trachten auf _ein_ Ziel
  • hinlenkte, als noch der Künstler beständig danach strebte, seine
  • Schöpfungen dem himmlischen Ideal immer mehr anzunähern; zu ihm allein
  • trieb es ihn und schon wenn er seiner ansichtig wurde, erhob er fromm
  • die zum Gebet gefalteten Hände. Seine Gebäude strebten zum Himmel empor,
  • die schmalen Fenster, die Säulen und Pfeiler und die hohen Gewölbe
  • streckten sich in die Höhe, durchbrochen und durchsichtig wie ein
  • Spitzengewebe, schwebte gleich einer Rauchsäule der spitze Turm darüber,
  • und der majestätische Dom erschien gegenüber den Wohnhäusern der
  • Menschen so gewaltig und erhaben, wie das Streben unserer Seele
  • gegenüber den Trieben unseres Leibes.
  • Es gab einst eine wunderbare christlich-europäisch-nationale Architektur
  • -- wir aber haben sie verlassen, aufgegeben und vergessen wie etwas
  • Fremdes und sie geringschätzig behandelt wie etwas Plumpes und
  • Barbarisches. Ist es da ein Wunder, daß sich Europa schon nach drei
  • Jahrhunderten eifrig auf alles mögliche stürzte, gierig alles Fremde
  • annahm, die herrliche antike römische und byzantinische Bauart
  • bewunderte und sie in seiner Weise verunstaltete; Europa wußte nicht,
  • daß es mitten in seinem Herzen Wunderdinge gab, mit denen verglichen
  • alles, was es bisher gesehen hatte, gering erscheint, es wußte nicht,
  • daß es einen Mailänder und Kölner Dom in sich beherbergte, und daß noch
  • heute die Steine des unvollendeten Turms vom Straßburger Münster
  • verwittern.
  • Die gotische Architektur, jener gotische Stil, der sich am Ende des
  • Mittelalters herausbildete, ist eine Schöpfung, wie sie der Geschmack
  • des Menschen und seine Phantasie noch niemals hervorgebracht hat. Mit
  • Unrecht will man sie von dem arabischen herleiten. Die Grundzüge dieser
  • beiden Stile gehen weit auseinander; von der arabischen Architektur
  • entnahm die gotische nur die Kunst, der schweren Masse eines Baus eine
  • gewisse Leichtigkeit zu verleihen und sie mit wunderbaren Ornamenten zu
  • schmücken, aber selbst der reiche Schmuck nahm bei ihr ganz andere
  • Formen an. -- Sie ist erhaben und umfassend wie das Christentum! Hier
  • finden wir alles vereinigt: einen Wald von schlanken, hoch über unsere
  • Häupter hinaufstrebenden Pfeilern, gewaltige, schmale Fenster in den
  • verschiedenartigsten Variationen und mannigfachen Rahmen und dazu diese
  • ungeheure, kolossale Masse, die durch eine bunte Menge kleiner Ornamente
  • belebt wird; diese leichten Spinngewebe des Schnitzwerks, das das Ganze
  • in sein Netz einhüllt, es von der Basis bis zur Turmspitze umspinnt und
  • mit ihm gen Himmel zu fliegen scheint: Majestät und Schönheit, Pracht
  • und Schlichtheit, Schwere und Leichtigkeit -- das sind Vorzüge, die nur
  • die Architektur der damaligen Zeit zu vereinigen verstanden hat. Wenn
  • man ins heilige Dunkel eines solchen Domes eintritt, wo das Licht
  • phantastisch durch bunt gemalte Scheiben bricht, und seine Augen dorthin
  • emporhebt, wo die mächtigen Pfeiler sich begegnen, kreuzen und
  • schließlich ganz zu verlieren scheinen, daß man ihr Ende nicht absieht,
  • dann ist es nur natürlich, daß man in seiner Seele unwillkürlich etwas
  • von dem Schauer der Gegenwart des Heiligen verspürt, an das selbst der
  • kühne Verstand nicht zu rühren wagt.
  • Doch -- sie ist verschwunden, diese herrliche Architektur! Als der
  • Enthusiasmus des Mittelalters erloschen war, als die Gedanken der
  • Menschen sich immer mehr zersplitterten und sich auf eine Menge anderer
  • Ziele richteten, als die Einheit und Ganzheit des einen Zieles
  • verschwand, da verschwand zugleich mit ihnen auch Größe und Erhabenheit.
  • Die Kräfte zersplitterten sich und wurden immer schwächer. Man begann
  • plötzlich auf allen Gebieten eine Menge der wunderbarsten Dinge zu
  • produzieren, aber etwas wahrhaft Großes, etwas Gigantisches gab es nicht
  • mehr. Eine Anzahl von Bewohnern des byzantinischen Reiches waren aus
  • ihrer, von den Muselmännern besetzten, lasterhaften Hauptstadt entflohen
  • und verdarben nun den Geschmack der Europäer und ihre kolossale
  • Architektur. Die Byzantiner hatten damals schon längst ihren klassischen
  • alten attischen Geschmack verloren, ja, sie hatten sich nicht einmal den
  • alten byzantinischen erhalten und brachten nur noch elende Reste ihres
  • degenerierten Stiles nach Europa mit. Sie versuchten es, die runden,
  • heidnischen, zauberischen, wollüstigen Formen ihrer Kuppeln und Säulen
  • dem Christentum anzupassen, aber sie machten das ebenso ungeschickt, wie
  • sie das Christentum ihrem heidnischen, altersschwachen und jeder
  • Spannkraft entbehrenden Leben angepaßt hatten. Die Kuppel streckte sich
  • empor und nahm eine fast eckige Gestalt an. Die schlanken Linien der
  • Giebel erschienen merkwürdig gebrochen und führten zu nichtssagenden
  • Formen. Die in dieser Weise verunstaltete byzantische Architektur
  • gelangte nach Europa, wo sie ihrerseits noch weiter verändert wurde,
  • weil die Europäer noch die ursprüngliche gotische Idee und Vorstellung
  • in ihrer Seele trugen, die der schwächlichen Vielseitigkeit der Griechen
  • so sehr widersprach. Damals entstanden jene massiven Paläste mit ihren
  • sinnlosen Säulen und Halbsäulen; das alles war zaghaft und kleinlich,
  • das war keine Pracht, sondern nur eine mißgestalte Schlichtheit. Eine
  • Menge mythologischer Köpfe und sinnloser Verzierungen, die an der
  • schweren Masse klebten, verliehen ihr darum doch keine Leichtigkeit,
  • milderten keineswegs ihre schroffen Linien durch einen Zusatz von
  • Zartheit und drückten keinen Gedanken aus. Das Streben nach oben, das
  • den schwersten Massen Leichtigkeit und Erhabenheit verliehen hatte, war
  • verschwunden. Statt dessen wuchsen sie jetzt in die Breite.
  • Aber die Kirchen, die im XVII. und im Anfang des XVIII. Jahrhunderts
  • gebaut wurden, lassen die Idee ihrer Bestimmung noch weniger erkennen.
  • Bei ihrem Anblick hat man, wie es scheint, dasselbe Gefühl, wie wenn ein
  • roher Mensch sich die Allüren eines feinen Weltmannes zu geben sucht. In
  • ihnen vereinigte sich die gerade Linie in geschmackloser Weise mit der
  • geschwungenen und krummen. Trotz der halbgotischen Form ihrer ganzen
  • Masse haben sie den gotischen Charakter ganz eingebüßt. Die Fenster sind
  • klein und stehen dicht gedrängt nebeneinander oder sie sind ohne jede
  • Harmonie auf eine große Fläche verteilt. Die Pilaster ziehen sich nicht
  • mehr durch die ganze Länge des Baues hin, sondern sind entweder oben
  • unter der Kuppel oder aber in der Mitte der Mauer angeklebt, sie sind
  • kurz, plump und tragen häufig noch ein zweites Stockwerk ebensolcher
  • kleiner und häßlicher Säulenreihen. Die Linie des Daches ist gleichfalls
  • gebrochen; dabei hält man häufig noch an dem gotischen Turm fest, aber
  • es ist nicht mehr der leichte, durchbrochene, durchsichtige Turm, der
  • unter der Hand der mittelalterlichen Künstler eine so ästhetische
  • Gestalt annahm. Jetzt ist er massiv, schwerfällig und strebt auch gar
  • nicht mehr zum Himmel empor. Alles, was an das längliche, aufstrebende
  • gotische Detail erinnerte, wurde nunmehr als geschmacklos verworfen.
  • Obgleich der Geschmack im Laufe des XVIII. Jahrhunderts etwas besser
  • wurde, haben wir darum noch nichts gewonnen; denn diese Besserung
  • vollzog sich innerhalb der Fesseln fremder Formen. Die gotische Schwere
  • wurde mit Recht verpönt, in ihrer Mischung mit der griechischen Form war
  • sie häßlich bis zur Unmöglichkeit. Jetzt begann man mit noch größerem
  • Eifer die Antike zu studieren. Aber man tat es, wie es ängstliche
  • Schüler tun, die die kleinsten Einzelheiten des Originals mit peinlicher
  • Sorgfalt kopieren und darüber die Idee des Ganzen vergessen. Man nahm
  • einzelne Teile heraus und klebte sie an die ungeheure Masse und überlud
  • diese mit ihnen, die dadurch einen bis dahin geradezu unerhörten Mangel
  • an Einheitlichkeit und Harmonie aufzuweisen begann. Die Säulen und
  • Kuppeln, die uns ehedem am meisten entzückt hatten, wurden bei jedem
  • Gebäude ganz ziel- und zwecklos und an jeder nur möglichen Stelle
  • angebracht. Sie bildeten nicht mehr den Grundgedanken des Bauwerks,
  • sondern nur noch seine Teile oder -- besser gesagt -- seinen Schmuck.
  • Wir vergrößerten die Dimensionen des Gebäudes immer mehr, während wir
  • die Kuppel im Verhältnis zum Ganzen immer kleiner werden ließen. Wir
  • betrachteten das Gebäude, das wir zum Modell gewählt hatten, nicht aus
  • einer gewissen Entfernung und durch das Vergrößerungsglas, sondern wir
  • sahen es aus der Nähe, und die Kuppel wurde ganz klein und verschwand
  • vor dem Ganzen. Und da wir nun dieses einsame Thronen hoch über dem
  • Gebäude als leer empfanden, so fügten wir schnell noch ein paar weitere
  • hinzu, setzten dem Gebäude noch einige Türme auf, die über sie
  • hinausragten, und die Kuppeln bekamen eine gewisse Ähnlichkeit mit
  • Pilzen. Die Kuppel, dieses schönste und herrlichste Produkt des
  • Geschmacks, wenn sie anmutig und leicht geschwungen das ganze Gebäude
  • beherrscht und strahlend mit ihrer wolkigen Oberfläche auf der ganzen
  • weißen Masse ruht, verschwand vollständig. Ich liebe die Kuppel, jene
  • wundervolle, gewaltige, schwach gewölbte Kuppel, die der reiche
  • Geschmack der Griechen im alexandrinischen Zeitalter und nach ihm im
  • Jahrhundert der Genußsucht und des Egoismus wieder erstehen ließ. Dieses
  • Jahrhundert einer raffinierten Lebenszerstückelung, das Jahrhundert der
  • leichten, duftigen Wollust, der Trägheit und Üppigkeit atmenden
  • Anthologie, wo ein jeder nur sich selbst angehörte, für sich selbst und
  • nicht für die Gesellschaft lebte, und wo über den herrlichen, prächtigen
  • öffentlichen Bädern sich überall diese Kuppel erhob, kühn geschwungen
  • wie das Himmelsgewölbe. Nichts kann die Masse der Häuser so selig und so
  • wundervoll krönen, wie eine solche Kuppel; aber sie darf nur über einem
  • Gebäude ruhn, das sich unermeßlich in die Breite dehnt und einen
  • möglichst großen Flächenraum umspannt. Sie muß auf seinem ganzen großen
  • Grundriß ruhn, sie muß heller als das Gebäude selbst und womöglich ganz
  • weiß sein. Dieses blendende Weiß verleiht ihrer leicht geschwungenen
  • Form einen unbegreiflichen Zauber und eine herrliche Fülle, und sie
  • rundet sich dann noch wunderbarer und luftiger im Himmelsblau. Noch
  • heute haben die Städte von Syrien und Äthiopien einen ganz
  • ungewöhnlichen Reiz, weil sich in ihnen noch einzelne Kuppeln dieser Art
  • erhalten haben. Und auch gegenwärtig noch kann man im Orient eine ganze
  • Menge von großartigen Exemplaren finden.
  • Der Portikus mit seinen Säulen, dieses leuchtende Erzeugnis des
  • harmonischen, attischen Geschmacks, der keinerlei Überbau über sich
  • duldete, ist uns gleichfalls verloren gegangen. Man kam nicht auf den
  • Gedanken, ihn ins Kolossale zu steigern, ihn über die ganze Breite und
  • Höhe des Gebäudes auszudehnen. Man hat ihn nicht in die Breite
  • entwickelt und auch nicht vergrößert, sondern man wandte ihn in seiner
  • gewöhnlichen Form an. Ist es da ein Wunder, daß Gebäude, die eines
  • mächtigen Portikus bedurft hätten, leer erschienen, da nur über den
  • Portalen einige auf Säulen ruhende Giebel angebracht wurden. Die in
  • Kirchen und Palästen über ihm aufgebauten Massen und Türme, die seinem
  • Charakter gar nicht entsprachen, erdrückten und vernichteten ihn
  • vollends. So ist auch ein Dichter, der kein großes Genie besitzt, stets
  • unzufrieden mit einem einfachen Sujet, und statt es neu zu entwickeln
  • und ins Große zu steigern, verkoppelt er es mit einer ganzen Reihe
  • anderer. Seine Dichtung wird durch die Buntheit der verschiedenen
  • Gegenstände nur belastet, aber es fehlt ihr an einem beherrschenden
  • Gedanken, und so bildet sie kein harmonisches Ganzes mehr.
  • Zu Beginn des XIX. Jahrhunderts begann sich plötzlich die Idee der
  • attischen Schlichtheit zu verbreiten, sie wurde -- wie das immer zu
  • geschehen pflegt -- zur Mode und legte ihren Stempel auf alles, selbst
  • auf die Kleider der Frauen, die sich in leichte nachlässige
  • Hetärengewänder verwandelten. Man hätte meinen können, die Zeit hätte
  • sich noch weiter in das Studium der Antike vertiefen und ihren Geist
  • noch umfassender ergründen müssen, und doch trug alles, was nach ihrem
  • Vorbild erbaut wurde, den Stempel des Kleinlichen und Miniaturhaften.
  • Man lernte wohl die Kunst, die Teile miteinander zu verbinden und zu
  • harmonisieren, nicht aber _die_, dem Ganzen Größe zu verleihen und ihm
  • die Proportion zu geben, die das Staunen und die Bewunderung des
  • Beschauers erregen konnte. Diese neue Strömung gab sich fast
  • ausschließlich in der Errichtung kleiner Lauben, Gartenpavillons und
  • ähnlichen Spielereien aus. Diese Dinge hatten wohl mancherlei Attisches
  • an sich, aber man mußte sie durch das Mikroskop betrachten. Bei großen
  • öffentlichen Gebäuden dagegen hielt man es nicht für nötig, sich von
  • diesem Stil leiten zu lassen; und so wurde dieser schließlich primitiv
  • und einfach bis zur Plattheit. Eine überaus schädliche Richtung in der
  • Architektur führte zu der Idee der Proportion, aber nicht zu der, die
  • ein Gebäude in Beziehung auf sich selbst, sondern nur zu der, die es in
  • Beziehung auf die es umgebenden Bauten haben muß. Das ist fast ebenso,
  • wie wenn ein Genie sich von allem Originellen und Ungewöhnlichen
  • fernhalten wollte, weil die gewöhnlichen Menschen sonst gar zu armselig
  • und unbedeutend erscheinen würden. Diese Proportionalität bestand auch
  • darin, daß ein Gebäude, so groß seine Dimensionen an sich auch sein
  • mochten, unbedingt klein erscheinen mußte. Man isolierte es und suchte
  • einen so gewaltigen und breiten Platz für es aus, daß es einen noch weit
  • unbedeutenderen Eindruck machen mußte. Es war fast so, als gölte es vor
  • allem, den Gedanken einzuprägen, daß das Große gar nicht groß sei, und
  • als wollte man die Achtung und die Andacht vor dem Großen gewaltsam in
  • der Seele ersticken und den Menschen gegen alles gleichgültig machen.
  • Man begann nun, allen städtischen Gebäuden eine ganz platte einfache
  • Form zu geben. Die Häuser suchte man einander so ähnlich wie möglich zu
  • machen, aber sie glichen mehr Scheunen und Kasernen, als heiteren
  • Wohnstätten von Menschen. Ihre ganz glatte Form gewann durchaus nicht an
  • Lebhaftigkeit durch die kleinen, regelmäßigen Fenster, die gegenüber dem
  • ganzen Gebäude das Aussehen von zusammengekniffenen Augen annahmen. Und
  • auf diese Architektur waren wir noch vor kurzem so stolz, hielten sie
  • für die höchste Blüte des Geschmacks und erbauten ganze Städte in ihrem
  • Stile. Wenn sich heutzutage jemand erkühnte, inmitten dieser glatten
  • einförmigen Häusermassen einen Bau zu errichten, der den Stempel eines
  • eigenartigen, scharf ausgeprägten Stiles trüge, oder unmittelbar neben
  • ein Gebäude im attischen Geschmack ein anderes gotisches zu setzen --
  • man würde ihn sicherlich für halb verrückt halten! Und darum haben ja
  • auch die neuen Städte gar keine Physiognomie: sie sind alle so
  • regelmäßig, so einförmig, so monoton; wenn man eine Straße kennen
  • gelernt hat, fühlt man sich schon gelangweilt und verspürt durchaus
  • keinen Wunsch, in eine zweite hineinzublicken. Das ist eine lange Reihe
  • von Mauern und weiter nichts! Vergebens sucht das Auge nach einem Punkt,
  • wo sich eine Mauer von der ununterbrochenen Reihe loslöst, in die Höhe
  • schießt und in kühn geschwungener Wölbung nach den Wolken strebt oder in
  • einen gewaltigen Turm ausmündet. Eine alte deutsche Stadt mit ihren
  • engen Gassen, ihren bunten Häusern und ihren hohen Glockentürmen bietet
  • ein Bild dar, das unserer Einbildungskraft weit mehr zu sagen hat;
  • selbst die Ansicht einer morgenländischen Stadt mit ihren hohen
  • schlanken Minaretts, ihren bunten orientalischen, ganz im Grün der
  • Gärten ertrinkenden Kuppeln hat weit mehr Charakter und strömt mehr
  • Poesie und Phantasie aus als unsere europäischen Städte mit ihrer
  • modernen Architektur.
  • Große und kolossale Türme gehören unbedingt zu einer Stadt, ganz
  • abgesehen von der großen Bedeutung, die sie für die christlichen Kirchen
  • haben -- sie bieten nicht nur einen schönen Anblick dar und dienen ihnen
  • nicht nur zum Schmuck, sie sind auch darum so notwendig, weil sie einer
  • Stadt ein scharfes charakteristisches Gepräge geben und die Rolle eines
  • Leuchtturms spielen, der jedem den Weg weist und ihn davor bewahrt, sich
  • zu verirren. Noch notwendiger sind sie für die Hauptstädte, da sie
  • günstige Punkte darbieten, von denen aus man die Umgebung beobachten
  • kann. Bei uns begnügt man sich gewöhnlich schon mit einer Höhe, die
  • gerade ausreicht, das Stadtbild zu überblicken. Und doch wäre es für
  • eine große Stadt von hervorragender Bedeutung, einen Überblick über eine
  • Fläche von mindestens 150 Werst in allen Richtungen zu haben. Dazu
  • würden wahrscheinlich schon ein oder zwei Stockwerke mehr genügen, und
  • das Bild würde sich sofort ändern, denn bei der Erhöhung des Standortes
  • nimmt die Peripherie des Horizontes in ungeheurer Progression zu. Die
  • Hauptstadt gewinnt damit einen großen Vorteil, wenn ihr der Überblick
  • über die Provinz gewährleistet wird und wenn sie die Dinge schneller
  • vorauszusehen vermag; ein Gebäude, das das gewöhnliche Maß übersteigt,
  • nimmt sogleich ein majestätisches Ansehen an. Auch der Architekt hat nur
  • Vorteil davon, denn die Größe des Baues spornt seine Begeisterung zu
  • höherem Fluge und regt seine Einbildungskraft lebhafter an.
  • Diese Richtung in der Architektur schien dagegen ihre Größe wie mit
  • Absicht verbergen zu wollen, während sie doch gerade ihre Raumwirkung um
  • so stärker hätte betonen sollen. Nein, das Gesetz der Größe ist ein
  • anderes: ein Gebäude muß sich fast unmittelbar über dem Haupte des
  • Beschauers bis ins Grenzenlose erheben, auf daß sich ein plötzliches
  • Staunen seiner bemächtige, und er muß kaum imstande sein, die ganze Höhe
  • mit den Augen auszumessen. Daher ist es immer besser, wenn ein Gebäude
  • auf einem kleinen Platze steht. In diesen darf eine Straße münden, so
  • daß man den Bau von ferne in perspektivischer Verkürzung übersehen kann;
  • in der Nähe aber muß er eine überwältigende Größe haben. Es ist auch
  • gut, wenn eine Straße an ihm vorbeiführt, wenn an seinem Eingangstor
  • Wagen donnernd vorüberrollen, wenn sich Menschen um ihn drängen und
  • durch ihre Kleinheit seine Größe noch gewaltiger erscheinen lassen. Gebt
  • nur dem Menschen mehr Raum, und er wird höher und stolzer emporblicken
  • auf die vor ihm liegenden Gegenstände. Alles wird ihm klein erscheinen.
  • Wir sind so seltsam konstruiert; unsere Nerven sind so merkwürdig
  • eingerichtet, daß nur das Plötzliche, das uns beim ersten Blick
  • Betäubende uns erschüttert. Daher muß die Höhe eines Gebäudes im
  • Verhältnis zum Platze, auf dem es steht, wachsen. Wenn es vom äußersten
  • Ende des Platzes aus klein erscheint und der Beschauer nicht in Staunen
  • und Verwunderung versetzt wird, sondern dazu erst näher herankommen muß,
  • dann ist es nichts mit dem Gebäude, und zugleich damit sind die Mühen
  • und die Kosten, die es verursacht hat, dahin.
  • Aber kehren wir zu der Schlichtheit des Stiles zurück, der unser XIX.
  • Jahrhundert beeinflußt hat. Selbst die Griechen fühlten es, daß die
  • ewigen geraden Linien und die vollkommene Schlichtheit bei einem Gebäude
  • gar zu platt wirken müssen, besonders wenn eine größere Anzahl solcher
  • Bauten nebeneinander stehen. Sie fühlten, daß die strenge Regelmäßigkeit
  • und Einfachheit unbedingt in der nächsten Umgebung irgendeinen Gegensatz
  • herausforderten, um originell zu wirken und aufzufallen. Und daher
  • überwölbten sie ihre Häuser mit einem Laubdach. Und in der Tat, das
  • blendende Weiß der geraden Wand oder des schlanken Giebels mit seinen
  • Säulen hebt sich überaus schön von dem grünen Dunkel des Laubes ab. Denn
  • es bildet einen Kontrast zu dem wolkigen Dickicht der Bäume, die ihre
  • Zweige fast immer unregelmäßig, aber darum um so schöner darüber
  • ausbreiten. Auch wenn ihre Gebäude von anderen Bauten umgeben waren und
  • mitten in der Stadt standen, empfanden sie dies Übermaß an Schlichtheit
  • und versuchten es daher, ihnen möglichst viel Abwechslung zu geben.
  • Zunächst dachten sie an die Natur und an Bäume; aber in der Stadt ist
  • der Baum ein teures Objekt, und so verfielen sie darauf, statt der
  • glatten dorischen Säulen immer häufiger korinthische mit Kapitälen aus
  • krausem Blattwerk zu verwenden; überhaupt kamen alle Völker instinktiv
  • darauf, ihre Gebäude mit Blättern oder Weinranken und -trauben oder
  • anderen Zieraten, die entfernt an Baumzweige erinnerten, zu schmücken.
  • Sie folgten dabei blind und unwillkürlich einer dunkeln Eingehung ihres
  • Geschmacks. In der gotischen Architektur spiegelt sich der Eindruck von
  • einem dunklen Urwaldgestrüpp, wo seit unvordenklichen Zeiten nie der
  • Schlag einer Axt ertönte, am deutlichsten wieder. Diese sich in
  • unendlichen Linien verlierenden Ornamente, dieses Netz durchbrochenen
  • Schnitzwerks ist nichts anderes als die ferne Erinnerung an den
  • Baumstamm mit seinen Ästen, Zweigen und Blättern. Daher stelle man ruhig
  • neben einen gotischen Bau eine griechische Architektur in ihrer
  • schlichten Anmut. Sie wird zwischen ihnen dastehen wie in einer Umgebung
  • von herrlichen, majestätischen Bäumen, und der griechische wie auch der
  • gotische Bau werden dadurch noch an Reiz gewinnen. Die höchsten Effekte
  • werden durch schroffe Gegensätze erzielt. Die Schönheit wirkt nie
  • glänzender und auffälliger als im Kontrast; ein Kontrast wirkt nur dort
  • häßlich, wo er das Produkt eines rohen Geschmacks oder richtiger des
  • Mangels an jeglichem Geschmack ist; wo er dagegen unter der Herrschaft
  • eines feinen und edlen Geschmackes steht, da ist er die Vorbedingung für
  • alles andere und da wirkt er in gleichem Maße auf alle Menschen. Die
  • einzelnen Teile stehen untereinander in einem harmonischen Verhältnis,
  • nach demselben Gesetz, nach dem die hellgelbe Farbe mit der
  • dunkelblauen, die weiße mit der hellblauen, die hellrote mit der grünen
  • usw. harmonieren.
  • Alles hängt vom Geschmack und von der Kunst der Gruppierung ab, nur muß
  • man es vermeiden, bei ein und demselben Gebäude verschiedene
  • Geschmacksrichtungen und Stile miteinander zu vermischen. Man lasse ein
  • jedes für sich ein Ganzes und Ursprüngliches bilden, dann darf der
  • Gegensatz zwischen diesen eigenartigen Individuen und ihr Verhältnis
  • zueinander schroff und kraftvoll sein. Je mehr Denkmäler der
  • verschiedensten Baustile eine Stadt aufzuweisen hat, um so interessanter
  • ist sie, um so häufiger wird sie die Aufmerksamkeit des Beschauers auf
  • sich lenken und ihn dazu veranlassen, bei jedem Schritt stehenzubleiben
  • und zu genießen. Wäre es denn etwa wünschenswert, daß der Spaziergänger
  • in einem englischen Garten statt der langen Reihe überraschender Bilder
  • immer nur denselben Weg wiederfände oder doch immer solche Alleen, die
  • durch ihre Ausblicke so sehr an schon früher Gesehenes erinnern, daß sie
  • einem längst bekannt vorkommen.
  • Wir bedürfen durchaus einer gewissen Toleranz; denn ohne sie ist in der
  • Kunst nichts zu erreichen. Alle Stilarten sind schön, wenn sie in _ihrer
  • Art_ schön sind. Jeder Stil, der glatte und massive der Ägypter, der
  • kolossale und bunte der Indier, der prächtige maurische Stil, der
  • finstere durchgeistigte gotische, der anmutige griechische Stil -- sie
  • alle sind schön, wenn sie der Bestimmung des Baues entsprechen. Sie alle
  • wirken majestätisch, wenn sie nur richtig verstanden werden.
  • Wenn man jedoch von mir verlangte, ich solle einem von diesen
  • verschiedenen Baustilen einen entschiedenen Vorzug geben, so würde ich
  • immer den gotischen wählen. Er ist rein europäisch, ein reines Erzeugnis
  • des europäischen Geistes -- und darum steht er uns auch am besten an.
  • Seine wunderbare Erhabenheit und Schönheit übertrifft alle andern, aber
  • ich flehe euch an, habt Mitleid mit ihm und verunstaltet und korrumpiert
  • ihn nicht. Blickt häufiger hin auf den berühmten Kölner Dom, -- da habt
  • ihr ihn in seiner ganzen Vollkommenheit und Majestät. Weder die Antike
  • noch die Moderne haben je ein herrlicheres Denkmal erschaffen. Ich ziehe
  • die gotische Architektur auch noch darum vor, weil sie den Künstlern
  • mehr Spielraum gewährt. Die Phantasie strebt lebendiger und feuriger in
  • die Höhe als in die Breite; daher darf man den gotischen Stil auch nur
  • bei Kirchen und solchen Bauten anwenden, die sich hoch zum Himmel
  • emporrecken. Die Linien und die der Gesimse entbehrenden gotischen
  • Pilaster müssen eng gedrängt das ganze Gebäude durchziehen. Keinesfalls
  • dürfen sie zu weit voneinander abstehen, und niemals darf die Länge des
  • Gebäudes seine Breite nicht mindestens um zwei- oder sogar dreimal
  • überragen. Denn dann vernichtet es sich selbst. Richtet es auf, wie es
  • dies verlangt, höher, immer höher, laßt seine Mauern emporstreben und
  • dicht, wie von Pfeilen, Pappeln oder Föhren, von unzähligen Eckpfeilern
  • umgeben sein. Nirgends darf es Horizontale und Ruhepunkte geben,
  • nirgends Gesimse, die dem Ganzen eine andere Richtung verleihen und die
  • Dimension des Gebäudes verringern. Alle Linien müssen vom Fundament bis
  • zur Spitze ihre Richtung bewahren. Größere Fenster, von mannigfaltigster
  • Form und kolossalen Verhältnissen! Eine leichte ätherische Spitze, und
  • je mehr sich der Bau in die Höhe schwingt, um so durchsichtiger,
  • schwebender muß er werden. Vor allem aber vergesse man die Hauptsache
  • nicht: es darf kein Verhältnis zwischen der Höhe und der Breite
  • bestehen. Das Wort »Breite« muß völlig verschwinden. Hier gibt es nur
  • eine gesetzgebende Idee: die Höhe.
  • Ich bin überzeugt, daß mancher einwenden wird, die Errichtung eines gar
  • zu hohen Baues sei nutzlos: was wir brauchen, ist mehr Raum, die Höhe
  • habe keinen Wert für uns und sei ein unproduktiver Aufwand von Material.
  • Aber ich rate ja auch gar nicht dazu, diesen gotischen Stil bei
  • Theatern, Börsen oder Vereinshäusern, wie überhaupt bei Bauten
  • anzuwenden, die die Bestimmung haben, Sammelplätze für das Amüsement,
  • für Händler und Arbeiter zu sein. Jeder wird mit mir einverstanden sein,
  • daß es keinen erhabeneren, großartigeren und passenderen Stil für ein
  • Wohnhaus des Christengottes gibt, als den gotischen. Wem aber würden wir
  • dann entsagen? was aufgeben? Alles Erhabene, alles Gewaltige, bei dessen
  • Anblick alle Gedanken sich auf ein Ziel richten und den Betenden von
  • seiner niederen Hütte abziehen. Hier ist es vielleicht am Platze, sich
  • der alten großen Wahrheit zu erinnern, daß das Volk nicht imstande ist,
  • die Religion in derselben Reinheit und Körperlosigkeit zu erfassen, wie
  • ein Mensch von höherer Bildung, daß auf den gemeinen Mann die sichtbaren
  • Gegenstände den stärksten Eindruck machen und daß, je geringer diese
  • Wirkung auf ihn, desto schwächer auch seine Begeisterung und sein
  • einfältiger Glaube ist. Die Pracht versetzt den schlichten Mann in eine
  • Art von Betäubung, und sie ist die einzige Feder, die den Wilden bewegt.
  • Das Ungewöhnliche macht einen Eindruck auf jeden Menschen, aber nur
  • dann, wenn es von schroffer Kühnheit ist und einem in die Augen sticht.
  • Hier ist keine Sparsamkeit und kein Geiz am Platze, vielmehr würde die
  • Sparsamkeit an dieser Stelle in ihr Gegenteil umschlagen, und der
  • Vorteil, der sich aus ihr ergäbe, käme dem eines einzelnen Menschen
  • gegenüber dem der ganzen Menschheit gleich.
  • Walter Scott war der erste, der den Staub von dem gotischen Stil
  • entfernte und die Welt auf seine Vorzüge hinwies. Von da ab begann er
  • sich rapide zu verbreiten. In England wurden alle neuen Kirchen im
  • gotischen Stile gebaut. Sie sind sehr hübsch, sehr gefällig für das
  • Auge, aber ach! es fehlt die wahre Größe, die uns in den großen
  • Baudenkmälern der Vorzeit entgegentritt. Trotz der Spitzbögen über den
  • Fenstern und trotz der Türme ist der wahrhaft gotische Charakter in
  • ihnen nicht überall gewahrt, und oft entfernen sie sich zu weit von
  • ihren Vorbildern. Einmal sind sie an und für sich schon nicht kolossal
  • genug (ein großer Mangel bei einem gotischen Gebäude!) und ferner fehlt
  • jener Wald vierkantiger, schlanker Pfeiler und Linien, die sich
  • einträchtig durch den ganzen Bau hindurchziehen, oder er ist mit
  • Bewußtsein beiseite gelassen worden, und die daher rührende Glätte
  • verleiht ihnen unwillkürlich einen anderen Charakter.
  • Durch die machtvolle Sprache Walter Scotts begann der gotische Stil sich
  • schnell überall zu verbreiten und überall einzudringen. Noch ehe er Zeit
  • hatte, sich zu wahrer Größe zu erheben, wurde er kleinlich und
  • spielerisch. Landhäuser, Schränke, Paravents, Tische, Stühle -- alles
  • wurde gotisch. Und die mächtigen und herrlichen Ornamente wurden zu
  • allerhand Spielereien verwandt. Unser Jahrhundert ist so klein, unsere
  • Wünsche und Neigungen sind so zersplittert, unsere Kenntnisse sind so
  • enzyklopädisch, daß wir unsere Gedanken gar nicht auf einen einzigen
  • Gegenstand zu konzentrieren vermögen. Und daher zerstückeln wir alles,
  • was wir hervorbringen, indem wir lauter Nichtigkeiten und Nippes
  • erzeugen. Wir besitzen die wunderbare Gabe, alles ins Kleinliche und
  • Gewöhnliche herabzuziehen. Die ägyptische Architektur, deren ganze
  • Wirkung auf ihren ungeheuren Dimensionen beruht, verwenden wir beim Bau
  • von kleinen Brücken und Torbögen, deren Spitze ein vorüberfahrender
  • Droschkenkutscher mit der Hand erreichen kann. Den gotischen Stil
  • verwenden wir bei der Anfertigung von Ohrgehängen und Uhrgehäusen und
  • den griechischen bei der Anlage von Gartenlauben. Dagegen bedienen wir
  • uns bei großen öffentlichen Gebäuden einer Architektur, der man kaum
  • einen eigenen Stil zuschreiben kann. Sie ist so sinnlos, stellt eine
  • derartige unharmonische Verbindung von Teilen dar und verrät einen
  • solchen Mangel an Phantasie, daß man sie unmöglich als einen
  • eigenartigen charaktervollen Stil anerkennen kann.
  • Es gibt eine Goldader, von der man jedoch kaum weiß, daß sie existiert.
  • Es gibt eine ganz eigene, besondere Welt, aus der Europa noch so gut wie
  • gar nicht geschöpft hat. Das ist die orientalische Architektur, dieses
  • Erzeugnis der reinen Phantasie, einer wunderbaren, glühenden
  • orientalischen Einbildungskraft, die sich in Hyperbeln und Allegorien
  • hüllt und das Leben und seine prosaischen Nöte flieht. Das Leben der
  • Asiaten konnte sich nie so vielseitig entwickeln, wie das der Europäer,
  • ihre Bedürfnisse waren nie so mannigfaltig und zahlreich wie die
  • unsrigen, und daher ist es nur natürlich, daß ihre einfachen Wohnhäuser
  • der Buntheit, Klarheit und Anmut entbehren. Sie stehen isoliert da,
  • haben etwas Monotones und wirken ebenso langweilig durch den Mangel an
  • jeglicher Idee, wie der Asiate selbst, während er ruht. Aber überall, wo
  • die asiatische Prachtliebe, dieser herrliche, mächtige Prunk, der in
  • ihren Märchen aufleuchtet, hingedrungen ist, überall, wo diese
  • perlengeschmückte Tochter der orientalischen Phantasie hingelangte, da
  • stehen auch heute noch wundersame, prächtige Paläste. Ihr Bau währte
  • ganze Jahrhunderte. Ein ganzes Volk, eine ganze Nation arbeitete an
  • ihrer Aufrichtung, und die Vorfahren glaubten an eine Vollendung durch
  • die kommenden Generationen, wie an eine unausbleibliche
  • Vorherbestimmung. Überall, wo diese allmächtige massive Prachtliebe oder
  • der wilde Enthusiasmus ihrer ursprünglichen Religion Boden gewann, da
  • türmten sich, durch ihre Riesendimensionen furchterzeugende Denkmäler
  • auf, vor denen der Gedanke staunend verstummt, wenn man bedenkt, wie
  • unbedeutend ihre Mittel und ihr Wissen und wie armselig ihre Maschinen
  • waren, die sie zum Heben und Befestigen dieser schrecklichen Massen
  • benutzten. Aber eine noch größere Bewunderung ergreift uns, wenn wir
  • sehen, wie der halbwilde und noch ganz unkultivierte Mensch sich bei der
  • Errichtung dieser gigantischen Bauten plötzlich entwickelt, von der Idee
  • der Gottheit durchdrungen und begeistert wird, so daß er unwillkürlich
  • seinen Geist aufleuchten läßt und der allmählichen jahrhundertlangen
  • Bildungsarbeit vorauseilt.
  • Man werfe einen Blick auf diesen massiven, majestätischen Tempel von
  • Tritschingur (Trichinopoli) der Indier, der seiner Größe nach wohl eins
  • der bedeutendsten Gebäude darstellt. Diese pyramidenförmige Verjüngung
  • der Masse nach oben, dieses allmähliche Kleinerwerden der Stockwerke,
  • diese Unzahl indischer Säulengänge, die die Mauern umkleiden, diese
  • übereinander getürmten Pilaster und Säulen, die den Eindruck machen, als
  • klömmen sie aneinander hinauf, nur um so schnell wie möglich den Gipfel
  • des ganzen Massivs zu erreichen -- das alles ist das Erzeugnis eines
  • ganz eigenartigen Geschmacks. Aber wenn der Tempel von Tritschingur
  • (Trichinopoli) allzu schwerfällig ist und einen allzu heidnischen
  • Charakter hat, so sehe man sich den wunderbaren Kutub-Minar an, dessen
  • sich Dehli mit Recht rühmt. Ich kenne in der ganzen Welt keinen zweiten
  • Turm, der bei einer fast attischen Schlichtheit so viel tiefe Schönheit
  • ausströmte und in dem die Phantasie sich so rein und erhaben
  • verkörperte. Wenn wir uns diesen Stil auch nicht vollkommen aneignen
  • können, so könnten die Europäer doch mit Nutzen dieses pyramidale,
  • kegelförmige Streben nach oben, diese charakteristische Eigentümlichkeit
  • des indischen Stils bei ihren Bauten in Anwendung bringen.
  • Der orientalische Stil der Paläste ist ganz entgegengesetzter Art. Hier
  • herrscht die asiatische Pracht vor. Das Gebäude dehnt sich stark in die
  • Breite aus. Die gewaltige orientalische Kuppel ist entweder ganz rund
  • oder sie wölbt sich wie eine wollüstige umgestülpte Vase; sie hat die
  • Form einer Kugel oder sie beherrscht, reich beladen mit Schmuck und mit
  • Schnitzwerk versehen, wie eine prunkvolle Mitra patriarchalisch das
  • ganze Gebäude. Unten am Fuße friedigt ein ganzes Gehege von kleinen
  • Kuppeln wie ein Reigen demütiger Sklaven die mächtigen Mauern ein. Auf
  • allen Seiten erheben sich schmale Minarets, die durch ihre leichte,
  • heitere Haltung einen wunderbaren Kontrast zu der gewichtigen
  • majestätischen Form des ganzen Gebäudes bilden. So ruht der Mohammedaner
  • in seinem weiten gold- und edelsteingeschmückten Gewande inmitten
  • schlanker nackter Huris mit ihren blendend weißen Leibern.
  • Nirgends hat die Baukunst so verschiedene Formen angenommen wie im
  • Orient. Man kann wohl sagen, daß hier jedes Gebäude ohne Rücksicht auf
  • schon vorhandene Stilformen seine eigene Architektur ausbildete, oder
  • richtiger, es entsprang aus ganz neuen Voraussetzungen, aus der Ahnung
  • eines eigenen Stilgefühls, das mit den früheren nur eine entfernte
  • Ähnlichkeit hatte und stets auf religiösen und nationalen Prinzipien
  • beruhte. Ganz Indien ist mit herrlichen Bauten übersät; jeder Bau hat
  • eine scharf ausgeprägte Eigenart, er trägt in so hohem Grade den Stempel
  • seines eigenen Wesens, daß man ihn nie in einer gemeinsamen Kategorie
  • mit den anderen unterbringen kann. Diese Unzahl mannigfaltigster
  • Kuppelformen, die einander nie gleichen, diese Ornamente und Zieraten,
  • die immer neu und immer voneinander verschieden sind -- alles spricht
  • von einer wunderbaren Phantasie, die sich niemals durch irgendwelche
  • Regeln in Fessel schlagen ließ. Übrigens lag der Grund dieser
  • Mannigfaltigkeit vielleicht in den zahllosen Sekten, die Indien
  • erfüllten und eine ewige Opposition, eine beständige Reizsamkeit der
  • Einbildungskraft zur Folge hatten. Aber von noch herrlicherer Pracht
  • erfüllt, wie sie nur die orientalische Natur ausströmt, sind die
  • Gebäude, die durch den arabischen Stil beeinflußt wurden. In Asien fand
  • während jener verheerenden Zusammenstöße alter und neuer Völker,
  • besonders aber derer, die den Islam bekannten, eine außerordentlich
  • starke Vermischung der Stilarten statt, die besonders kühne Abweichungen
  • zur Folge hatte. Aber niemals und nirgends hat sich die Kühnheit mit
  • einer so wundersamen Pracht verbunden wie bei den Arabern; sie entnahmen
  • der Natur alles, was sie an edelster Schönheit in sich birgt. Ihre
  • Architektur hat nichts von dem Charakter undurchdringlicher Wälder; sie
  • besteht ganz aus Blumen; sie ist mit Blumen geschmückt, sie ertrinkt in
  • einem Meer von herrlichen üppigen Blüten, wie sie das zarte anmutige Tal
  • Kaschmirs übersäen. Ihre geschnitzten Säulen sind mit Tulpen umwunden,
  • ihr Schnitzwerk stellt Vergißmeinnicht, vierblätterige Blüten oder sich
  • entfaltende Rosen dar. Ihre Galerien gleichen Palmenhainen, deren Wipfel
  • sich zu Hallen wölben; alles verrät ihre außerordentliche Prachtliebe
  • und ihren blühenden Geschmack. Diese Architektur scheint wie geschaffen
  • für ein Leben, das dem Genuß geweiht ist, und für heitere, helle
  • Wohnstätten der Menschen. Alles Finstere und Düstere ist hier restlos
  • ausgestoßen. Jeder Baum ist so wunderbar und von einem zauberischen Reiz
  • wie eine orientalische Schöne mit ihren schwarzen Augen, die wie Blitze
  • funkeln, mit ihrem bunten Gewande, und ihrem kostbaren Halsgeschmeide.
  • Die orientalische Architektur weist etwas auf, was die Europäer noch
  • niemals angewendet haben; das sind ihre Säulen, die nicht glatt, sondern
  • vom Sockel bis zum Kapitäl mit bunten Zieraten versehen sind. Mitunter
  • sind diese Säulen ganz durchbrochen und filigranartig: das Schnitzwerk
  • durchdringt sie vollständig. Es ist dies die wundersamste Erfindung des
  • orientalischen Geschmacks. Ein solcher Bau mag noch so massiv sein, die
  • Säulen lassen ihn trotzdem beinah ätherisch erscheinen. Man könnte sich
  • fragen, warum sollen wir diesen Stil nicht auch auf unsern Boden
  • verpflanzen? Aber der Geist und der Geschmack des Menschen ist ein
  • seltsames Ding: ehe er die Wahrheit erreicht, macht er so viele Umwege,
  • begeht er so viel Torheiten, Verkehrtheiten und Sinnlosigkeiten, daß er
  • sich nachher selbst über seinen Unverstand wundert. Europa hat sich um
  • all diese Baudenkmäler nicht einmal gekümmert. Nur der Stil der
  • Chinesen, den man wohl als den allerarmseligsten und kleinlichsten unter
  • den Stilgattungen der orientalischen Völker bezeichnen kann, wurde gegen
  • Ende des XVIII. Jahrhunderts durch einen seltsamen Zufall zu uns
  • herübergetragen. Es war noch gut, daß die Europäer ihn nach ihrer
  • Gewohnheit sogleich beim Bau von kleinen Brücken, bei Pavillons, Vasen
  • und Kaminen nachahmten, und daß es ihnen nicht in den Sinn kam, ihn bei
  • großen Bauten anzuwenden. In der Tat hatte dieser Stil manche Vorzüge
  • bei kleinen Nippessachen, weil die Europäer ihn sofort in ihrem Geiste
  • vervollkommneten und ihm eine Anmut verliehen, die er an und für sich
  • gar nicht besitzt. Fehlt es doch auch dem Volk, das ihn hervorbrachte,
  • trotz seiner hohen Bildung, völlig an Energie.
  • Es gibt noch eine Stilart, die sich grundsätzlich von allen bisher
  • erwähnten unterscheidet; es ist dies die Architektur der indischen und
  • ägyptischen Katakomben, bei denen diese zwei Völker in so wundersamer
  • Weise zusammentrafen und so Anlaß dazu gaben, eine ursprüngliche
  • Verwandtschaft zwischen beiden anzunehmen. Ihr Hauptmerkmal ist ihre
  • Schwere; hier vereinigt sich alles zu einer plumpen Masse, zu einem
  • Klumpen. Das Gebäude ruht gewichtig, wie auf Elefantenfüßen, auf kurzen
  • schweren Säulen, deren Dicke fast ebenso bedeutend ist, wie ihre Höhe.
  • Hier kommt die Breite und die Masse zur absoluten Herrschaft. Es ist,
  • als ob das ganze Gewicht der Erde in ihr zur Darstellung käme, der Erde
  • in deren Innerem sich ihre plumpe Majestät versteckt. Das, was bei
  • andern Stilarten ein Fehler ist, wird hier zu einem Vorzug. Diese
  • unterirdische Architektur hat auch etwas Erhabenes, obwohl sie ganz
  • andere Gedanken anregt. Hier wirkt das Gewicht nicht häßlich, sondern
  • großartig, weil es die Grundidee des ganzen Gebäudes darstellt. Wenn
  • sich ein Künstler die Aufgabe stellt, etwas Massives und Schweres zu
  • schaffen, und wenn es ihm gelingt, so ist sein Werk sicherlich gut. Aber
  • wenn er die Absicht hatte, etwas Schwerfälliges hervorzubringen, und
  • etwas produziert, was gar nicht schwerfällig wirkt, oder umgekehrt, wenn
  • er etwas Leichtes hervorbringen will, und statt dessen etwas erzeugt,
  • was schwerfällig wirkt, so ist das auf jeden Fall vom Übel. Nachdem man
  • die Erde von diesen unterirdischen Bauten entfernt hatte, und diese nun
  • im Lichte der Sonne dastanden, boten sie immer einen seltsamen und
  • zugleich furchterregenden Anblick dar. Es schien fast, als ließe die
  • Erde plötzlich ihr tiefstes Innere sehn, und als läge die Finsternis
  • plötzlich von grellem Lichte beleuchtet da -- diese Finsternis, die nur
  • vom Lichte erhellt, nicht aber von ihm vertrieben wird, wie eine
  • ägyptische Urne oder der Kopf eines Toten auf einer festlich
  • geschmückten Tafel. Mir scheint, man tat unrecht, diese Architektur
  • unter die Erde zu verbannen: wenn wir sie plötzlich inmitten heiterer,
  • leichtgebauter Häuser erblicken, kann sie ihren Eindruck auf uns nicht
  • verfehlen, ja, sie wird sicherlich einen starken Effekt hervorbringen.
  • Ein einziges solches Gebäude inmitten einer stark bevölkerten Stadt
  • würde sicherlich wundervoll wirken, aber nur eins und nicht mehr. Bei
  • Bauten dieser Art bestehen die Teile aus schweren Massen, aber bei
  • alledem sind ihre Verhältnisse von einer inneren, wenn auch beinahe
  • schrecklichen Harmonie erfüllt. Und etwas Vollendetes in diesem Stile zu
  • leisten, ist sicherlich nicht ganz leicht.
  • Die sich über dem Erdboden erhebenden Bauten der Ägypter weisen einen
  • ganz anderen Charakter auf; sie sind gleichfalls massiv, zugleich aber
  • sind höchste Anmut und Schlichtheit zwei Züge, die man nie an ihnen
  • vermissen wird. Ihren Grundcharakter aber bilden ihre kolossalen
  • Dimensionen. Je glatter, je weniger gegliedert und mit auffallenden
  • Verzierungen versehen sie sind, um so besser. Aber man wende sie nur
  • nicht bei kleinen Brücken an, ohne ihre ungeheuren Dimensionen ist diese
  • Architektur weniger als gar nichts. Ich wiederhole noch einmal: jeder
  • Stil ist schön, wenn all seine Voraussetzungen erfüllt und wenn er in
  • strengem Einklang mit seiner Bestimmung gewählt und durchgeführt ist.
  • Ohne diese wohlmeinende und unparteiische Toleranz kann es keine
  • wahrhaften Talente noch auch wirklich großartige Werke geben. Fort mit
  • dieser Scholastik, die jedem Gebäude das gleiche Maß vorschreibt und
  • verlangt, daß alles in demselben Geschmack gebaut werde! Eine Stadt muß
  • aus den verschiedensten Massen bestehen, wenn wir verlangen, daß sie
  • unseren Augen eine Freude sein soll. Mögen sich in ihr die
  • verschiedensten Stilarten vereinigen. Mag sich doch in derselben Straße
  • ein finsteres gotisches Gebäude, ein mit üppigem Zierat geschmückter
  • orientalischer Palast, ein kolossaler ägyptischer Bau und ein von
  • anmutiger Harmonie erfülltes griechisches Haus erheben! Da mögen die
  • leicht gewölbte milchfarbene Kuppel, die andächtige, ins Grenzenlose
  • ragende Turmspitze, die orientalische Mitra, das abgeplattete
  • italienische und das hohe, mit Figuren geschmückte flämische Dach, die
  • vierkantige Pyramide, die runde Säule und der eckige Obelisk uns
  • entgegentreten. Die Häuser dürfen so wenig wie möglich zu einer
  • kompakten einförmigen Mauer verschmelzen, sondern sich bald hoch
  • emporrecken und bald wieder tiefer herabsinken. Türme von
  • verschiedenstem Stil sollen das Straßenbild beleben. Sollte es wirklich
  • jemand geben, der den Mut, oder besser gesagt, die Schwäche hätte, zu
  • behaupten, eine flache Ebene in der Natur ließe sich mit einer Gegend
  • voller sich übereinander türmender Schluchten, Felsblöcke und Hügel
  • vergleichen?
  • Ein Architekt, der wirklich schöpferische Kraft besitzt, muß eine
  • gründliche Kenntnis aller Baustile besitzen; am wenigsten sollte er den
  • Geschmack der Völker verachten, auf die wir wegen ihrer künstlerischen
  • Rückständigkeit gewöhnlich herabzusehen pflegen. Er muß sie alle
  • umfassen, studieren und all ihre unendlichen Variationen in sich
  • aufnehmen. Was aber die Hauptsache ist, er muß in ihre Idee eindringen
  • und sich nicht nur ihre kleinen äußeren Formen und Teile aneignen. Um
  • jedoch ihr Wesen zu ergreifen, dazu muß er ein Genie und ein Poet sein.
  • Aber wenden wir uns nun zu der Architektur der Städte. Eine Stadt sollte
  • so gebaut werden, daß jeder ihrer Teile, jede einzelne Häusermasse ein
  • lebendiges Bild darbietet. Jede Häusergruppe muß belebt werden, so daß
  • sie -- wenn ich mich so ausdrücken darf -- immer neue charakteristische
  • Züge hervorzubringen scheint, damit sie sich unserem Gedächtnisse
  • einpräge und unserer Einbildungskraft keine Ruhe lasse. Es gibt Bilder,
  • die man sein Leben lang nicht vergißt, und es gibt solche, die man trotz
  • aller Anstrengungen nicht im Gedächtnis festhalten kann. Die Baukunst
  • ist gröber, zugleich aber großartiger als alle anderen Künste, wie die
  • Malerei, die Skulptur und die Musik. Und daher liegt ihre Wirkung in dem
  • Effekt, den sie ausübt. Ein Stadtbild hat den Vorzug, daß man es mit
  • einem Schlage verändern und nach eigenem Ermessen umgestalten kann.
  • Häufig braucht man nur ein einziges Gebäude zu den schon bestehenden
  • hinzuzufügen, und es verändert gänzlich seine Form und erhält einen
  • völlig andern Charakter, so wie die Zeichnung eines Schülers plötzlich
  • unter dem Pinsel oder dem Stift des Lehrers Leben gewinnt. Er verstärkt
  • an der einen Stelle die Linie, retuschiert etwas an einer andern, er
  • berührt die dritte kaum, und alles wird anders. Außerdem führen uns
  • häufig die Fehler selbst auf die Idee, wie wir sie vermeiden können. Das
  • Charakterlose bringt uns das Charaktervolle, das Kleinliche und Platte
  • seine Gegensätze, das Kühne und Ungewöhnliche zum Bewußtsein. Eine
  • Vertiefung nach unten erweckt die Idee einer Erhöhung nach oben und
  • umgekehrt. Das Genie ist ein Besitzer unendlicher Reichtümer, vor dem
  • die ganze Welt mit allen ihren Schätzen verblaßt.
  • Bei der Anlage einer Stadt muß man auch auf die Bodenbeschaffenheit
  • achten. Städte werden entweder auf Anhöhen, auf Hügeln oder in der Ebene
  • erbaut. Eine hochgelegene Stadt erfordert weniger Kunst, weil da die
  • Natur schon selbst bei ihrem Bau mithilft. Sie erhebt die Häuser bald
  • auf ihre majestätischen Hügel und läßt sie mitten unter ihren Nachbarn
  • wie Riesen erscheinen, bald wieder läßt sie sie in die Tiefe
  • herabsinken, um die umstehenden Häuser zur Geltung zu bringen. In
  • solchen Städten ist es nicht notwendig, für eine große Abwechslung zu
  • sorgen. Hier kann man glatte und einförmige Fronten verwerten, weil
  • schon das ungleichmäßige Terrain eine gewisse Abwechslung hineinbringt,
  • indem es ihnen verschiedene Standpunkte anweist. Man muß darauf achten,
  • daß die Höhe der einzelnen hintereinander stehenden Häuser so zur
  • Geltung komme, daß der Beschauer am Fuße eines Hügels den Eindruck
  • gewinnt, als erhebe sich vor ihm eine zwanzigstöckige Masse. Dort bedarf
  • es keiner großen Kunst, wo die Natur noch gewaltiger ist als die Kunst,
  • und da dient die letztere nur dazu, die erstere zu schmücken. Da
  • dagegen, wo das Terrain eben und einförmig ist, wo die Natur schlummert,
  • da muß die Kunst mit voller Kraft einsetzen. Sie muß Farbe und Kolorit
  • in die Landschaft hineinbringen, muß -- wenn ich mich so ausdrücken darf
  • -- den Boden aufwühlen, die Ebene verschwinden lassen und die tote,
  • flache Wüste beleben. Hier wären Schlichtheit und Einförmigkeit Sünde.
  • Hier muß die Architektur so eigenartig wie nur möglich sein: sie muß
  • bald ein düsteres Äußeres annehmen, bald wieder einen fröhlichen
  • Ausdruck, bald muß sie einen altertümlichen Eindruck machen, bald wieder
  • durch ihre Neuheit verblüffen. Sie muß uns mit Schrecken erfüllen, durch
  • ihre Schönheit blenden, bald düster blicken wie ein von Gewitterwolken
  • verfinsterter Tag, und bald wieder heiter wie ein strahlender Morgen
  • voller Sonnenglanz. Die Architektur ist in ihrer Art auch eine
  • Weltchronik, sie spricht noch zu uns, wenn die Sagen und Gesänge längst
  • verstummt sind und wenn uns nichts mehr von einem untergegangenen Volke
  • berichtet. So mag sie denn, wenn auch nur teilweise, sich mitten in
  • unseren Städten erheben, wie sie einst zu Lebzeiten eines zugrunde
  • gegangenen Volkes existierte, auf daß bei ihrem Anblick uns immer der
  • Gedanke an sein vergangenes Dasein aufsteige, daß wir uns in sein Leben
  • und in seine Sitten und Gewohnheiten, in seinen Bildungsgrad versetzen
  • und mit Dankbarkeit an dies Volk zurückdenken, dessen Auftreten selbst
  • eine Sprosse an der Leiter unseres eigenen Aufstiegs bedeutet[4].
  • [Fußnote 4: Mir kam früher häufig ein seltsamer Gedanke; ich war der
  • Ansicht, es müßte doch schön sein, wenn eine jede Stadt eine Straße
  • aufzuweisen hätte, die gewissermaßen eine ganze Chronik der Architektur
  • darstellt: dazu müßte sie mit einem schweren, finsteren Tor beginnen;
  • hätte der Beschauer dieses passiert, so sollte er zu beiden Seiten des
  • Weges gewaltige, mächtige Gebäude in einem ursprünglichen, noch rohen
  • Geschmack, wie er allen Urvölkern eigen ist, erblicken, auf diese
  • sollten die verschiedenen Entwicklungsformen des Stiles folgen: Seine
  • machtvolle Umgestaltung, zur ägyptischen Architektur, sodann zur
  • Schönheit des griechischen Stils, ferner zur wollüstigen Pracht der
  • alexandrinischen und byzantinischen Architektur mit ihren flachen
  • Kuppeln, dann zum römischen Stil mit seinen vielreihigen Arkaden, und
  • dann wieder der Niedergang, das Zurückfallen in die rohen Zeiten und das
  • plötzliche Sichaufschwingen zu der ungewöhnlichen Pracht der arabischen
  • Architektur; hierauf sollte der rohe gotische, dann der
  • gotisch-arabische und dann der reingotische Stil, diese Krone der Kunst,
  • wie wir sie in dem Kölner Dom vorfinden, folgen; hierauf die furchtbare
  • Vermischung aller Stile unter dem Einfluß der byzantinischen Kunst, dann
  • die Wiederkehr der alten griechischen Architektur in neuem Gewande, und
  • endlich müßte die Straße in ein Tor ausmünden, das alle Elemente des
  • neuen Geschmacks in sich zusammenfaßt. Diese Straße wäre dann in
  • gewissem Sinne eine lebendige Entwicklungsgeschichte des Geschmacks, und
  • wer zu faul wäre, dicke Folianten durchzublättern, der brauchte nur
  • einmal durch diese Straße zu gehen, um ein vollkommenes Bild dieser
  • Entwicklung zu erhalten.]
  • Sollte es wirklich ganz unmöglich sein, sei es auch nur um der
  • Originalität willen, eine völlig neue und eigenartige Architektur zu
  • erschaffen, die allen Einflüssen der älteren entzogen ist! Wenn der
  • wilde, noch wenig entwickelte Mensch, dem nur die Natur, die er selbst
  • noch so schlecht versteht, als Lehrmeisterin und Anregerin dient, ein
  • Werk voller Schönheit, voll unbewußten instinktiven Stilgefühls schafft,
  • woher können denn wir mit unseren so stark entwickelten Fähigkeiten und
  • die wir die Natur in all ihrem geheimen Wirken soviel besser verstehen,
  • -- woher können denn wir nichts schaffen, was von dem ganzen Reichtum
  • unseres Wissens durchdrungen ist. Die Idee der Baukunst ward ja aus der
  • Natur selbst geschöpft, aber zu einer Zeit, als der Mensch ihren Einfluß
  • noch lebhaft empfand. Jetzt aber hat er die Kunst noch über die Natur
  • erhoben -- könnte er da seine Gedanken nicht aus der Kunst selbst oder
  • richtiger aus der harmonischen Verschmelzung von Natur und Kunst
  • schöpfen! Man sehe nur, welche ungeheure Erfindungskraft er bei der
  • Herstellung all der kleinen Mittel eines verfeinerten Luxus an den Tag
  • legt. Man blicke hin auf all diese modernen Spielereien, die täglich
  • emportauchen und wieder verschwinden. Man betrachte sie meinetwegen
  • durch das Mikroskop, wenn sie anders unsere Aufmerksamkeit nicht fesseln
  • -- welch feiner Geschmack spricht aus ihnen, was für herrlichen nie
  • dagewesenen Formen begegnen wir da! Hier finden wir einen Stil, wie er
  • früher noch nie existiert hat. Das Schnitzwerk und die Arbeit sind so
  • originell, so neu und dabei so schön, daß wir uns häufig nicht satt
  • sehen können. Aber ach! wir fühlen nicht das geringste Mitleid, wenn wir
  • bemerken, wie der Geschmack des Menschen sich in der Produktion von
  • Nichtigem und Vergänglichem verbraucht, statt sich in Ewigem und
  • Unwandelbarem zu objektivieren. Könnten wir denn dieses in Stückwerk
  • sich zersplitternde Kunstvermögen nicht auf große Gegenstände richten,
  • muß denn alles, dem wir in der Natur begegnen, durchaus eine Säule, eine
  • Kuppel oder ein Bogen sein? Wieviel Formen gibt es, die noch ganz
  • unberührt daliegen. In wie tausendfältiger Weise kann die gerade Linie
  • sich in die gebrochene wandeln und ihre Richtung ändern! Wie unendlich
  • mannigfaltig kann sich die Krumme wölben und ausweichen, wieviel neue
  • Ornamente und Verzierungen lassen sich einführen, die noch nie ein
  • Architekt in seinen Kodex eintrug! -- In unserem Jahrhundert gibt es
  • solche Errungenschaften und soviele ganz neue, nur ihm eigene Elemente,
  • aus denen man das Material zu einer Unzahl neuer noch nie dagewesener
  • Bauten schöpfen könnte! -- Nehmen wir z. B. jene herabhängenden
  • Verzierungen, wie sie erst vor kurzem gebräuchlich wurden. Bisher wurde
  • diese hängende Architektur nur bei Theaterlogen, Balkonen und kleinen
  • Brücken angewandt. Aber wenn erst ganze Stockwerke schweben und durch
  • kühne Bogen miteinander verbunden sein werden, wenn ganze Massen statt
  • auf schweren Säulen auf durchbrochenen Stützen von Gußeisen ruhen, wenn
  • zahllose Balkone ein Haus von unten bis oben mit verschlungenem
  • gußeisernem Gitterwerk schmücken und tausenderlei herabhängende
  • gußeiserne Verzierungen es mit einem leichten Netz umgeben werden, so
  • daß es durch sie hindurchschimmert wie durch einen durchsichtigen
  • Schleier, wenn diese diaphanen Verzierungen sich um einen herrlichen
  • runden Turm schlingen und zusammen mit ihm zum Himmel emporfliegen
  • würden, -- welch eine Leichtigkeit und ätherische Schönheit würden dann
  • unsere Häuser annehmen. Welch eine Menge von Anregungen finden wir
  • überall verstreut, die im Kopfe eines Architekten ganz unerhörte,
  • lebendige Ideen erzeugen können; aber freilich müßte dieser Architekt
  • ein schöpferisches Genie und ein Dichter sein.
  • 1831.
  • [Dieser Aufsatz ist vor langer Zeit geschrieben. In den letzten Jahren
  • ist der Geschmack in Europa und besonders in unserem geliebten Rußland
  • besser geworden. Es gibt schon viele Architekten, die unserem Lande Ehre
  • machen. Unter diesen möchte ich Brjulow nennen, dessen Bauten von
  • wahrhaftem Geschmack und echter Originalität erfüllt sind.]
  • VIII
  • Al-Mamun
  • Eine historische Charakteristik
  • Nie ist ein Fürst während einer solchen Blütezeit seines Reiches zur
  • Herrschaft gelangt, wie Al-Mamun. Das furchterregende Kalifat erhob sich
  • mächtig auf dem klassischen Boden der Alten Welt. Im Osten umfaßte es
  • den ganzen blühenden Südwesten Asiens, Indien mit eingeschlossen; im
  • Westen zog es sich längs den Ufern Afrikas bis nach Gibraltar hin. Seine
  • mächtige Flotte beherrschte das Mittelmeer. Bagdad, die Hauptstadt
  • dieser neuen, wunderbaren Welt, sandte seine Befehle bis in die
  • entlegensten Grenzen seiner Provinzen. Das neu bekehrte Asien strömte in
  • die ausgezeichneten Schulen von Bassor, Nippur und Kufa und reifte nun
  • zu höherer Kultur. Damaskus konnte alle Lüstlinge in seine kostbaren
  • Stoffe hüllen und ganz Europa mit Stahlklingen versorgen; schon dachte
  • der Araber, Mohammeds Paradies auf der Erde zu errichten: er schuf
  • Wasserleitungen, Paläste und ganze Palmenwälder, wo Springbrunnen
  • anmutig spielten und die Wohlgerüche des Orients zum Himmel stiegen. Und
  • doch hatte bei all dem Luxus noch keine der moralischen Krankheiten
  • einer politischen Gesellschaft Zeit gehabt, hier Wurzel zu fassen. Alle
  • Teile dieses großmächtigen Reiches, dieser mohammedanischen Welt, waren
  • eng untereinander verbunden und dieser Zusammenhang wurde durch den
  • Willen des merkwürdigen Harun immer mehr und mehr gefestigt, denn dieser
  • hatte die vielseitigen Fähigkeiten seines Volkes erkannt. Er war weder
  • nur Philosoph auf dem Thron, noch allein Politiker, noch bloß Krieger
  • oder Literat im Kaisermantel. Er vereinigte alles in sich, erstreckte
  • seine Tätigkeit gleichmäßig auf alles und ließ keinen Teil über den
  • andern Oberhand gewinnen. Er impfte seiner Nation nur gerade so viel von
  • der fremdländischen Kultur ein, wie nötig war, um ihre eigene
  • Entwicklung zu fördern. Damals hatten die Araber die Epoche des
  • Fanatismus und der Eroberungen schon hinter sich, waren aber noch immer
  • von Enthusiasmus erfüllt, und die feuersprühenden Seiten des Koran
  • wurden noch mit derselben Begeisterung gelesen und seine Gebote noch
  • ebenso sklavisch befolgt. Harun verstand es, den Gang der Administration
  • und die Regierungsgeschäfte zu beschleunigen und durch die Furcht vor
  • seiner Allgegenwart seinen Befehlen überall Geltung zu verschaffen. Die
  • Statthalter und Emire, die sonst immer darnach strebten, Selbstherrscher
  • und Despoten zu sein, fürchteten sich, dem Blicke des verkleideten
  • Kalifen, dem nichts entging, zu begegnen -- und so ging die Regierung
  • ohne Gesetze fest und bestimmt ihren Weg. Unter solchen Umständen trat
  • Al-Mamun die Herrschaft an. Byzanz nannte ihn den hochherzigen
  • Beschützer der Wissenschaft, die Geschichte reihte seinen Namen unter
  • die Wohltäter der Menschheit ein. Dieser Herrscher wollte sein
  • politisches Reich in ein Reich der Musen verwandeln. Er besaß die
  • Lebhaftigkeit und alle Fähigkeiten, die für ein ernstes Studium
  • notwendig waren. Sein Charakter war von einer edlen Vornehmheit, das
  • Streben nach Wahrheit seine Devise. Er war verliebt in die Wissenschaft,
  • und zwar ganz selbstlos, er liebte sie um ihrer selbst willen, ohne an
  • ihren Zweck und ihre Anwendung zu denken. Er gab sich ihr mit einer
  • einseitigen Leidenschaft hin. Damals hatten die Araber erst eben den
  • Aristoteles entdeckt. Ihrer allzu stürmischen, ungeheuren orientalischen
  • Phantasie mußte der allumfassende, scharf denkende, griechische
  • Philosoph fremd bleiben, aber die arabischen Gelehrten, die schon seit
  • langer Zeit an mühsame Arbeit und schon an die Exaktheit und das formale
  • Denken gewöhnt waren, gaben sich mit einem wissenschaftlichen Feuereifer
  • dem Studium hin. Diese endlosen Schlüsse, diese die Ordnung dessen, was
  • sie in ihren Seelen früher nur teilweise und wie durch ein Aufleuchten
  • empfunden hatten, seine Erhebung zur Evidenz, das alles mußte die
  • damaligen Gelehrten bezaubern. Al-Mamun, der unter ihrem Einfluß erzogen
  • wurde, war von einem wahren Hunger nach Kultur erfüllt und gab sich alle
  • erdenkliche Mühe, diese bis dahin unbekannte griechische Welt in sein
  • Reich einzuführen. Bagdad breitete seine Arme freundschaftlich der
  • ganzen gelehrten Welt seiner Zeit entgegen. Die Gnade des Kalifen stand
  • jedem offen, der irgendeinem Beruf angehörte, er mochte die Religion
  • bekennen, die er wollte, und von noch so entgegengesetzten Prinzipien
  • erfüllt sein. Es war nur natürlich, daß vor allem _die_ Männer ihr
  • Wissen nach Bagdad trugen, die in ihren Seelen noch das Bild des in
  • christliche Formen gekleideten Polytheismus trugen, die bereit waren,
  • mit ihrem Herzblut Ammonius Saccas, Plotin und die anderen Bekenner des
  • Neuplatonismus zu verteidigen und die in dem nur zu sehr mit dem Streit
  • um die verschiedenen christlichen Dogmen beschäftigten Byzanz kein Feld
  • für ihre gelehrten Turniere fanden. Bagdad verwandelte sich in eine
  • Republik der mannigfaltigsten Fakultäten, Wissenschaften und Meinungen.
  • Der königliche Araber versenkte sich aufmerksam in die betäubende Musik
  • dieser gelehrten Disputationen und Spitzfindigkeiten. Die höheren
  • Staatsbeamten konnten sich dem Beispiel ihres Herrschers nicht
  • entziehen, und alle höheren Schichten des Reiches wurden von einer Art
  • literarischer Monomanie ergriffen. Die Wesire und Emire versuchten
  • ihrerseits, allerhand gelehrte Fremde an ihren Hof zu ziehen. Es ist
  • selbstverständlich, daß die Administration damit in den Hintergrund
  • gerückt wurde, daß die Würdenträger vieles, was zur Regierung gehörte,
  • dem Gutdünken ihrer Sekretäre oder Günstlinge überließen, daß diese
  • Günstlinge häufig ganz ungebildet waren und ihre Stellung oft nur durch
  • Intrigen erklommen, und daß dies alles nicht ohne Einfluß auf das Volk
  • bleiben und mit der Zeit auf die Regierenden selbst zurückfallen mußte.
  • Die große Zahl theoretischer Philosophen und Dichter, die hohe
  • Regierungsposten einnahmen, ließ im Lande keine starke Regierung
  • aufkommen. Ihre Sphäre liegt ganz wo anders; sie erfreuen sich des
  • allerhöchsten Schutzes und gehen ruhig ihren Weg. Nur die wenigen großen
  • Dichter machen hierin eine Ausnahme, wenn sie den Philosophen, den
  • Poeten und den Historiker in sich vereinigen, sie, die die Natur und den
  • Menschen ergründen, in die Vergangenheit dringen und die Zukunft
  • voraussehen, und deren Worten das ganze Volk lauscht. Sie sind
  • Hohepriester. Kluge Herrscher ehren sie durch ihren Verkehr, behüten ihr
  • kostbares Leben und fürchten sich, dieses Leben durch Beteiligung an der
  • so vielseitigen Tätigkeit des Regierens zu unterdrücken. Sie werden nur
  • bei äußerst wichtigen Ministerräten hinzugezogen, da sie bis in die
  • Tiefe des menschlichen Herzens dringen.
  • Der edle Al-Mamun hatte den aufrichtigen Wunsch, seine Untertanen
  • glücklich zu machen. Er wußte, daß die Wissenschaften, die die
  • Entwicklung der Menschen fördern, das beste Mittel, der treuste Führer
  • zum Ziel seien. Mit aller Gewalt zwang er seine Untertanen, die von ihm
  • eingeführte Kultur anzunehmen. Aber die Aufklärung, die Al-Mamun zu
  • verbreiten bestrebt war, entsprach am wenigsten dem angebotenen
  • Charakter und der angeborenen Phantasie der Araber. Die wenig
  • kraftvollen Prinzipien des Polytheismus, die sich in ein bloßes
  • Wortspiel verwandelt hatten, die frechen Verstümmelungen christlicher
  • Ideen, die ein so seltsames Licht auf die Wissenschaft jener Zeit
  • warfen, die sich nicht mit dieser verschmolzen, und man kann wohl sagen,
  • sie durch ihr Übergewicht vernichteten, bildeten einen krassen Kontrast
  • zu der feurigen Natur der Araber, deren Phantasie die nüchternen
  • Schlüsse des kalten Verstandes nur allzusehr unterdrückte. Dieses Volk
  • ging nicht, nein, es flog förmlich seinem Entwicklungsziele entgegen.
  • Sein Genius offenbarte sich plötzlich und gleichzeitig im Kriege, im
  • Handel, in den Künsten, in der Manufaktur und in der üppigen Poesie des
  • Orients. Seine reichen Gaben, wie ähnliche in der Geschichte der
  • Menschheit noch niemals dagewesen waren, entfalteten sich reich,
  • strahlend, eigenartig und in höchster Orginalität. Es schien fast, als
  • sollte dieses Volk sich zu einer Nation von höchster Vollkommenheit
  • entwickeln. Aber Al-Mamun verstand es nicht! Er beachtete die große
  • Wahrheit nicht, daß die Bildung aus dem Volke selbst kommen muß, daß
  • eine aufgepfropfte Kultur nur insoweit angeeignet werden darf, als sie
  • die eigene Entwicklung fördert, daß aber die Entwicklung eines Volkes
  • nur aus den eigenen nationalen Elementen hervorgehen kann. Für die
  • Araber aber wurde ihr Betätigungsfeld durch diese unfruchtbare
  • fremdländische Kultur nur versperrt. Der Kosmopolitismus Al-Mamuns, der
  • allen Gelehrten aller Parteien den Eintritt in sein Reich gestattete,
  • ging fast gar zu weit. Die Privilegien, die den Christen im Reiche
  • zuteil wurden, mußten notwendig den Haß der eigenen Untertanen erwecken
  • und hatten selbst die Verachtung nützlicher Einrichtungen zur Folge, --
  • ja, das Volk verlor sogar allmählich die Liebe zu seinem Herrscher. In
  • seinen Regierungsmaßregeln war Al-Mamun mehr theoretischer als
  • praktischer Philosoph, der doch ein Herrscher vor allem sein müßte. Er
  • kannte das Leben seines Volkes aus Beschreibungen und Erzählungen
  • anderer und nicht aus eigener Anschauung wie der große Harun, der es
  • persönlich studiert hatte. Bei den asiatischen Regierungsformen, die
  • keine bestimmten Gesetze kennen, liegt die ganze Verwaltung auf den
  • Schultern des Monarchen selbst, und daher muß seine Tätigkeit eine
  • außergewöhnlich intensive, muß seine Aufmerksamkeit beständig gespannt
  • sein; er darf niemand vertrauen, und sein Auge muß die Vielseitigkeit
  • eines Argus haben; es braucht nur einen Augenblick einzuschlafen, und
  • die mit seinen Vollmachten ausgestatteten Statthalter lehnen sich auf,
  • und das Reich ist von einer Million Despoten erfüllt.
  • Al-Mamun aber lebte in seinem Bagdad wie in einem Musenreich, das er
  • sich selbst geschaffen hatte und das ganz von der politischen Welt
  • getrennt war. Die Christen, die allmählich auch anfingen, sich in die
  • Verwaltung einzumengen, konnten den Volksgeist und die Landessitten
  • nicht kennen lernen. Außerdem war der fremde Glaube den Arabern, die
  • noch an ihrem Enthusiasmus und ihrer Unduldsamkeit festhielten,
  • unerträglich. Und während der Name Al-Mamuns auf den Lippen aller
  • damaliger Gelehrten schwebte und seine Gastfreundschaft buntbeflaggte
  • Schiffe an die syrische Küste lockte, wurde seine Macht im Innern des
  • Reiches immer schwächer und schwächer. Die Bewohner der Provinzen, die
  • ihren Kalifen nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hatten, schätzten
  • seinen Namen nur wenig. Die militärischen Kräfte nahmen immer mehr ab.
  • Die Kultur, die ihren Ausgangspunkt gewöhnlich von Bagdad, dem Zentrum
  • des Reiches, nahm, verringerte sich und erlosch immer mehr, je mehr sie
  • sich den fernen Grenzen näherte. In den Grenzländern hatte sich der
  • Kulturzustand der Araber noch auf dem Niveau seiner ersten Periode
  • erhalten, hier standen noch von Fanatismus erfüllte Truppen, die
  • jederzeit bereit waren, den Glauben Mohammeds mit Feuer und Schwert zu
  • verbreiten. Die mächtigen Emire, die bald die unzureichende Verbindung
  • mit Bagdad erkannten, träumten von der Unabhängigkeit, und Al-Mamun
  • mußte noch während seiner Regierung den Abfall Persiens, Indiens und der
  • entlegenen Provinzen Afrikas erleben. Aber vielleicht wäre diese falsche
  • Richtung der Verwaltung noch ein Übel gewesen, das wieder gutzumachen
  • war, wenn Al-Mamun seine Wahrheitsliebe nicht zu weit getrieben hätte.
  • Er wollte der religiöse Reformator seiner Nation werden. Er besaß einen
  • rein theoretischen Verstand, war über jeglichen Aberglauben und alle
  • Vorurteile erhaben, auch war er genauer über einige christliche Dogmen
  • unterrichtet, als seine Vorgänger, und so konnte er seine Augen nicht
  • gegen die zahllosen Widersprüche und den blühenden Unsinn, die in den
  • Verordnungen des fanatischen Schöpfers des Korans überall zum Ausdrucke
  • kommen, verschließen. Er entschloß sich, das heilige Buch Mohammeds zu
  • reinigen und zu reformieren, und das in einer Zeit, als noch alle
  • niederen Regierungsbeamten sowie der ganze Pöbel davon überzeugt waren,
  • daß das Buch vom Himmel stamme, und wo der Zweifel an dem
  • allergeringsten Gebote schon für das größte Verbrechen galt. Der
  • halbgriechischen Denkungsweise Al-Mamuns war der völlig blinde
  • Enthusiasmus seiner Untertanen ganz fremd. Die Unterdrückung des
  • Fanatismus hielt er für den ersten Schritt zur Kultur seines Volkes --
  • und doch bildete dieser Fanatismus das ganze Sein des arabischen Volkes;
  • diesen Fanatismus, dem er seine ganze Entwicklung und seine glänzende
  • Epoche verdankte, zu zerstören, hieß den politischen Bestand des ganzen
  • Reiches untergraben. Al-Mamun erschien das Paradies Mohammeds, in das
  • der Araber sein ganzes sinnliches Leben, dieses nur für den Genuß und
  • für die Wollust bestimmte Leben, hineintrug, als der Gipfel der Torheit.
  • Aber er ließ dabei außer acht, daß diese Gebote ein Produkt des
  • glühenden, arabischen Klimas, des feurigen Temperaments des Arabers
  • waren, daß dies Paradies für den Mohammedaner die große Oase inmitten
  • der Wüste seines Lebens war, daß nur die Hoffnung auf dies Paradies es
  • dem so sinnenfrohen Araber ermöglichte, alle Armut und Unterdrückung zu
  • ertragen und, beim Anblick des in Luxus förmlich versinkenden Sybariten
  • den Neid in seiner Seele zu bekämpfen. Der Gedanke, daß auch er einmal
  • von Huris umringt, in einem Luxus schwelgen werde, der die Pracht aller
  • irdischen Machthaber weit übertrifft, war wohl nur einer Sinnlichkeit
  • und einer blühenden Phantasie faßbar, wie sie die Natur den Arabern
  • verliehen hatte. Und vielleicht hätte sich der Glaube dieses Volkes erst
  • im Verlauf der ferneren Entwicklung ohne allzu empfindliche Störungen
  • reinigen lassen; Al-Mamun aber hatte kein Verständnis für die asiatische
  • Natur seiner Untertanen.
  • Man kann sich den Grad der Empörung in den zahllosen Schichten des
  • Volkes vorstellen, als das Gerücht von den Neuerungen des Kalifen sich
  • verbreitete. Wie mußte sich das Volk zu ihnen stellen, das dem Kalifen
  • schon allein wegen der Förderung der christlichen Religion und seiner
  • Vorliebe für die Fremden offen des Modalismus oder der Ketzerei
  • anklagte? Die rohe Masse der alten strenggläubigen Bekenner des Koran
  • zwangen den Kalifen durch ihren harten Widerstand endlich, zu den Waffen
  • zu greifen. Und der edle, hochherzige Al-Mamun, der von wahrer
  • Menschenliebe durchdrungen war, wurde zum Verfolger seiner eigenen
  • Untertanen. Durch diese Verfolgungen weckte er von neuem den wilden
  • Fanatismus der Araber, aber schon nicht mehr jenen Fanatismus, der die
  • früheren Nomadenvölker Arabiens zu einer Masse verschmolzen hatte --
  • sondern einen oppositionellen Fanatismus, -- einen Fanatismus, der die
  • Massen auseinanderriß, der Zank und Streit bis in die innersten Gründe
  • des Reiches trug, der die rohen Leidenschaften der Araber aufrührte, der
  • den Dolch und das Gift des Hasses in die Hand der fanatischen Bekenner
  • des Islams drückte, und der eine Unzahl verblendeter Sekten erstehen
  • ließ, unter ihnen die schrecklichste, die der Karmaten, die noch lange,
  • zur Zeit der Kreuzzüge, unter dem Namen der syrischen Assassinen ihr
  • Wesen trieben. Mitten in den Unruhen, die an den verschiedenen Enden des
  • Reiches ausbrachen, inmitten der Empörung und des Parteienzwists starb
  • der edle Al-Mamun, der mit einer Hand zahllose Wohltaten und reiche
  • Mittel für Schulen, Werkstätten und für die Kunst ausgestreut und mit
  • der anderen seine unbotmäßigen, fanatischen Untertanen gezüchtigt hatte
  • -- er starb, ohne sein Volk verstanden zu haben und selbst unverstanden
  • von seinem Volk. In jedem Fall aber hat er uns ein lehrreiches Beispiel
  • gegeben. Er hat der Welt das Bild eines Herrschers geboten, der trotz
  • allen Willens zum Guten, trotz aller Sanftmut des Herzens und bei aller
  • Aufopferungsfähigkeit und seiner außergewöhnlichen Liebe zu den
  • Wissenschaften, doch eine der wichtigsten, wenn auch unbewußten Ursachen
  • wurde, die den Fall seines Reiches beschleunigten.
  • Arabesken
  • Zweiter Teil
  • I
  • Das Leben
  • Ein armer Wüstensohn hatte einen Traum: Still liegt das große
  • Mittelländische Meer und breitet sich aus in unendliche Fernen, und von
  • drei verschiedenen Seiten blicken nach ihm hin die glühenden Küsten
  • Afrikas mit ihren schlanken Palmen, die nackten syrischen Wüsten und die
  • vom Meer zerklüfteten, dichtbevölkerten Küsten Europas.
  • In einer Bucht an dem unbeweglichen Meer erhebt sich das alte Ägypten.
  • Eine Pyramide steht neben der andern; granitene Sphinxe blicken aus
  • grauen Augen; zahllose Stufen führen zu ihnen hinauf. Genährt von dem
  • großen Nil, geschmückt mit geheimnisvollen Zeichen und heiligen Tieren,
  • thront majestätisch das alte Ägypten unbeweglich und wie verzaubert,
  • gleich einer Mumie, die der Verwesung Trotz bietet.
  • Zahllose unabhängige Kolonien hat das heitere Griechenland um sich herum
  • gegründet. Das Mittelmeer ist mit Inseln übersät, die in grünen Wäldern
  • ertrinken; Oliven, Weinreben und Feigenbäume schaukeln sich mit ihren
  • honiggetränkten Zweigen im Winde; Säulen, weiß wie die Brüste einer
  • Jungfrau, runden sich im üppigen Dunkel der Bäume; der von wundersamem
  • Meißel erweckte Marmor atmet wollüstig und freut sich schamhaft seiner
  • herrlichen Nacktheit; mit Weintrauben geschmückt, Pokale und
  • Thyrsosstäbe in Händen, hält das Volk im geräuschvollen Tanz inne;
  • schlanke, junge Priesterinnen mit wallenden Locken werfen flammende
  • Blicke aus nachtschwarzen Augen. Efeubekränzte Schalmeien, Zimbeln und
  • andere musische Instrumente erklingen. Wie Fliegen schwirren Schiffe um
  • Rhodus und Korkyra und bieten ihre selig geschwellten Fahnen dem Winde
  • dar. Und alles atmet starr und unbeweglich in seiner steinernen
  • Majestät.
  • Stolz und unermeßlich dehnt sich das eiserne Rom, ein Wald von Lanzen
  • starrt gen Himmel, und in drohendem Glanze leuchten die stählernen
  • Schwerter. Sein gieriges Auge scheint alles verschlingen zu wollen, und
  • weit ausgestreckt ist seine sehnige Rechte. Aber auch Rom liegt
  • unbeweglich da, wie alles rings umher und rührt seine löwenstarken
  • Glieder nicht.
  • Die Luft des himmlischen Ozeans lastete dumpf und erstickend auf allem.
  • Kein Wellenschlag bewegte das große Mittelmeer, und es war, als wäre das
  • Jüngste Gericht gekommen für die drei Reiche -- vor dem Ende der Welt.
  • Da sprach Ägypten, und die schlanken Palmen, die Bewohner seiner Ebenen,
  • schwankten im Winde, und die Obelisken streckten ihre feinen Nadeln noch
  • höher empor: »Hört mich, ihr Völker! Ich allein drang ein in das
  • Geheimnis des Lebens und in das Rätsel des Menschen. Alles ist
  • vergänglich. Gemein ist alle Kunst, armselig jeder Genuß und noch
  • armseliger die Worte und Taten. Der Tod, der Tod herrscht über die Welt
  • und über den Menschen! Der Tod verschlingt alles, und alles lebt für den
  • Tod. Fern, fern ist die Auferstehung! Gibt es denn überhaupt eine
  • Auferstehung? Fort mit den Wünschen, den Genüssen. Armer Mensch!
  • Errichte immer höhere Pyramiden, um dein elendes Dasein wenigstens
  • _etwas_ zu verlängern.«
  • Und es sprach das heitere Griechenland, das so klar ist wie der Himmel,
  • wie der Morgen und wie die Jugend, und es war, als vernähme man keine
  • Worte sondern Töne einer Schalmei: »Das Leben ward für das Leben
  • geschaffen. Erweitere und bereichere dein Leben, erweitere mit ihm deine
  • Genüsse. Ihm bringe alles zum Opfer dar. Sieh, wie ist alles so
  • plastisch und schön in der Natur, wie ist alles in Eintracht verbunden.
  • In der Welt ist alles enthalten. Alles, auch alles, worüber die Götter
  • gebieten, enthält sie; lern' es nur finden. Göttlicher, stolzer Gebieter
  • dieser Erde, bekränze dein herrliches Haupt mit Eichenlaub und Lorbeer
  • und genieße dein Leben; fliege hin auf deinem Wagen bei den rauschenden
  • Spielen und lenke kunstvoll die feurigen Rosse. Fern sei deiner freien,
  • stolzen Seele die Habgier und der Neid! Meißel, Palette und Flöte sind
  • geschaffen, die Welt zu beherrschen, sie aber soll sich der Schönheit
  • beugen. Mit Efeu und Weinlaub umwinde deine duftende Stirn und das
  • liebliche Haupt deiner schamhaften Freundin! Das Leben ward für das
  • Leben und für den Genuß geschaffen -- lern' des Genusses würdig sein.«
  • Und das in Eisen gehüllte Rom klirrte mit dem leuchtenden Walde seiner
  • Lanzen und sprach: »Ich habe des Geheimnis des Menschenlebens ergründet.
  • Die Ruhe ist des Menschen unwürdig, sie richtet ihn zugrunde in seinem
  • eigentlichen Wesen. Kunst und Genuß sind zu gering für seine Seele. Der
  • wahre Genuß liegt in dem gigantischen Wunsche. Verächtlich ist das Leben
  • der Völker und des Einzelnen ohne ruhmreiche Heldentaten. Dürste nach
  • Ruhm, dürste nach Ruhm, o Mensch! Beim betäubenden Lärme der Waffen im
  • Rausch unbeschreiblicher Lust laß auf die Schilde der lanzentragenden
  • Legionen dich heben! Hörst du, wie sich zu deinen Füßen die ganze Welt,
  • wie sich Millionen versammelten und, die Speere schwenkend, in einen
  • einzigen Ruf ausbrechen? Hörst du's, wie dein Name furchtverbreitend auf
  • den Lippen der fernsten Völker bebt, die am Ende der Welt wohnen? Alles,
  • was dein Blick umfassen kann, erfülle alles mit dem Klang deines Namens!
  • Strebe unablässig weiter, es gibt keine Grenzen weder der Welt noch
  • deiner Wünsche. Furchtbar und streng schreite vorwärts und erweitere
  • deine Weltherrschaft, dann wirst du zuletzt auch den Himmel erobern.«
  • Und Rom schwieg und heftete seinen Adlerblick auf den Osten. Auch
  • Griechenland wandte seine herrlichen, vom Genuß feuchten Augen nach
  • Osten, und auch Ägypten wandte seine trüben, farblosen Augen dem Orient
  • zu.
  • Ein steiniges Land; ein verachtetes Volk; ein paar einsame Hütten stehen
  • an nackte Hügel gelehnt, und hie und da nur fällt der spärliche Schatten
  • eines dürren Feigenbaumes auf sie. Hinter einem niedrigen baufälligen
  • Zaun steht eine Eselin. In der Holzkrippe liegt ein Knäblein; die
  • jungfräuliche Mutter steht über es gebeugt und schaut es mit
  • tränenfeuchten Augen an; hoch über der Krippe aber steht ein Stern, und
  • ein herrliches Leuchten erfüllt die Welt.
  • Die Pyramiden des hieroglyphengeschmückten Ägyptens senkten sich immer
  • tiefer, und Ägypten versank in Träume; unruhig blickte das herrliche
  • Griechenland, Rom senkte die Augen und schaute auf seine eisernen
  • Lanzen; das große Asien mit seinen zahllosen Hirtenvölkern lauschte
  • gespannt, und der Ararat, der Urvater der Erde, beugte seinen Nacken.
  • 1831.
  • II
  • Schlözer, Müller und Herder
  • Schlözer, Müller und Herder sind die großen Baumeister der
  • Weltgeschichte. Der Gedanke an diese war ihr Lieblingsgedanke und
  • verließ sie keinen Augenblick während der ganzen Zeit ihres so
  • verschiedenartigen Lebenslaufes. Man kann sagen, daß Schlözer der erste
  • war, der von der Idee eines einigen großen Ganzen, einer Einheit
  • durchdrungen war, zu der alle Zeiten und alle Völker zusammengefaßt und
  • zusammengeschmolzen werden müssen. Er wollte die ganze Welt und alles
  • Lebendige mit einem Blick umspannen. Es schien, als wünschte er hundert
  • Argusaugen zu besitzen, um mit einem Blick alle Geschehnisse in den
  • entlegensten Teilen der Welt zu übersehen. Sein Stil ist ein Blitz, der
  • fast plötzlich bald hier, bald dort zündet und die Gegenstände momentan,
  • aber mit blendender Klarheit, beleuchtet. Ich weiß nicht, ob er selbst
  • das hätte leisten können, was er den anderen so scharf vorgezeichnet
  • hat; jedenfalls aber war niemand so stark von seinem Objekt ergriffen
  • wie er. Er hatte die Gabe, alles in einem kleinen Brennpunkt zu
  • konzentrieren und oft mit zwei, drei scharfen Strichen, ja zuweilen
  • durch ein einziges Epitheton, ein bestimmtes Ereignis oder ein ganzes
  • Volk zu charakterisieren. Seine Epitheta sind wunderbar, temperamentvoll
  • und kühn und erscheinen als die Frucht eines glücklichen Augenblicks,
  • einer momentanen Eingebung; sie sind von so scharfer verblüffender
  • Wahrheit, daß selbst eine tiefe und dauernd in ihrer Richtung beharrende
  • Forschung sie nicht entdeckt hätte, es sei denn, daß sie von Schlözer
  • selbst ausgeführt worden wäre. Er war nicht eigentlich Historiker, und
  • ich glaube sogar, daß er gar nicht Historiker hätte sein können. Seine
  • Gedanken sind zu sprunghaft, zu leidenschaftlich, um sich zu einer
  • harmonisch und gemächlich dahinfließenden Erzählung zu formen. Er
  • analysierte die Welt und alle verschwundenen und noch lebenden Völker,
  • aber er beschrieb sie nicht; er sezierte die ganze Welt mit dem Messer
  • des Anatomen, zerschnitt und zerlegte sie in massive Teile, er
  • gruppierte und klassifizierte die Völker wie ein Botaniker die
  • verschiedenen Pflanzen nach bestimmten Merkmalen ordnet. Und daher
  • sollte man glauben, daß durch diese Art der Behandlung seine
  • geschichtlichen Aufzeichnungen etwas Skelettartiges und Trockenes
  • erhalten hätten; aber merkwürdigerweise leuchtet alles bei ihm in so
  • grellen Farben, der machtvolle Blitz seines Auges hat etwas so Sicheres,
  • daß man beim Lesen seiner gedrängten Weltskizze erstaunt bemerkt, wie
  • unsere Phantasie sich entzündet, erweitert und alles nach demselben
  • Gesetze ergänzt, das Schlözer mit einen gewaltigem Wort gekennzeichnet
  • hat; zuweilen aber eilt unsere Einbildungskraft die kühn vorgezeichneten
  • Wege noch weiter. Da er einer der ersten war, der von der Größe und dem
  • wahren Ziel der Weltgeschichte beunruhigt wurde, mußte er unbedingt ein
  • oppositionelles Genie werden. Diese seine Stellung gab ihm die große
  • Energie, das Feuer und sogar den Ärger über die Kurzsichtigkeit seiner
  • Vorgänger, die sehr häufig in seinen Schriften zum Ausbruch kommen. Mit
  • einem Donnerwort vernichtet er sie und in diesem einen Wort verbindet
  • sich der Genuß und ein sardonisches Lächeln über den Besiegten mit einer
  • sieghaften Wahrheit. Man könnte ihn mit mehr Recht noch als Kant den
  • Alleszermalmer nennen. Fast immer lassen sich die Männer der Opposition
  • zu sehr von ihrer Stellung hinreißen, indem sie sich in ihrem
  • enthusiastischen Übereifer nur an eine Regel halten -- allem
  • Vorangegangenen zu widersprechen. Doch dieser Vorwurf trifft Schlözer
  • nicht: sein germanischer Geist beharrt unerschütterlich auf seinem
  • Standpunkt. Er ist ein strenger, allwissender Richter; seine Urteile
  • sind scharf, kurz und gerecht. Vielleicht werden einige sich darüber
  • wundern, daß ich von Schlözer wie von einem großen Baumeister der
  • Weltgeschichte rede, während doch die Gedanken und Werke, die er diesem
  • Gegenstande gewidmet hat, in einem kleinen Leitfaden für Studenten
  • bestehn; aber dieses kleine Büchlein gehört zur Zahl der Werke, nach
  • deren Lektüre man glaubt, ganze Bände gelesen zu haben; ich möchte es
  • mit einem kleinen Fenster vergleichen, durch das man, wenn man sein Auge
  • nur nahe genug heranbringt, die ganze Welt erblicken kann. Er wirft ein
  • helles Licht auf die Gegenstände, lehrt sie uns begreifen, und
  • schließlich gelangt man dazu, alles mit eigenen Augen zu sehen.
  • Müller ist ein Historiker ganz anderen Schlages. Still, ruhig und
  • bedächtig, ist er das volle Gegenteil von Schlözer. Mit einer
  • eigenartigen, bezaubernden Liebe gibt er sich seinem Gegenstande hin.
  • Sein Vortrag glänzt nicht durch eine scharf ausgeprägte Eigenart wie der
  • Stil Schlözers; er kennt weder die leidenschaftlichen Ausbrüche, noch
  • den prägnanten Lakonismus, der den Vortrag Schlözers auszeichnet. Er
  • umfaßt nicht alles so momentan, so mit einem Blicke wie jener, umspannt
  • es nicht mit gewaltiger Hand, er erforscht alles, was die Welt erfüllt,
  • ruhig, in bestimmter Reihenfolge, ohne jene Überstürzung und Hast, mit
  • der ein Autor sich ausspricht, der sich fürchtet, jemand könnte ihm
  • seine Gedanken entwenden und ihm zuvorkommen. Das Wort »Untersuchung«
  • paßt so recht zu seinem Stil; seine Darstellungen sind wahrhafte
  • Untersuchungen. Als Staatsmann beschäftigt er sich vorzüglich mit der
  • Erörterung der Staatsformen und mit den Gesetzen der gegenwärtigen und
  • der untergegangenen Reiche; aber er betont diese Seite nicht in dem
  • Maße, um darüber andre Seiten ganz im Schatten zu lassen, ein Fehler,
  • dessen nur einseitige Historiker fähig sind und in den auch Heeren
  • mitunter verfallen ist; im Gegenteil, er wendet seine Aufmerksamkeit
  • auch allen Grenzgebieten zu. Alles, was in der Geschichte nicht ganz
  • klar ist, was noch wenig erforscht ist, das alles unterwirft er einer
  • Untersuchung. Man fühlt sogar, daß er sich mit Vorliebe mit der
  • Urgeschichte und überhaupt mit den Epochen beschäftigt, wo das Volk noch
  • nicht von der Kultur und ihren Lastern berührt ist und noch seine
  • einfachen Sitten und seine Unabhängigkeit bewahrt. Diese Perioden
  • schildert er mit einer leuchtenden Ausführlichkeit, mit einer sanften
  • Wärme, wie wenn er sich selbst dabei vergäße und sich mitten unter
  • seinen braven Schweizern zu befinden wähnte. Das wichtigste Resultat,
  • das er aus seiner Geschichtsdarstellung zieht, ist dieses, daß ein Volk
  • nur dann glücklich ist, wenn es die alten Sitten des Landes treu befolgt
  • und seine einfache Lebensweise und Unabhängigkeit beibehält. Überall
  • schimmert seine reife Weisheit und seine kindliche Seelenklarheit durch.
  • Der Adel seiner Gedanken und die Freiheitsliebe durchdringen all seine
  • Werke. Nicht der Gedanke an die Einheit und an ein unzertrennliches
  • Ganzes ist das Ziel, nach dem seine Darstellung bewußt hinstrebt; er
  • spricht eigentlich nie darüber, aber sein ganzes Werk läßt uns diese
  • Einheit fühlen, obgleich er über der Betrachtung eines Volkes die Sache
  • der ganzen Welt zu vergessen scheint. Seine Geschichte ist keine
  • ununterbrochene, bewegliche Kette von Begebenheiten; hier gibt es keine
  • dramatischen Effekte; aus allem spricht die bedächtige Weisheit des
  • Autors. Er gibt seinen Gedanken keine scharfen prägnanten
  • Formulierungen: sie scheinen sich bescheiden und häufig wie in einem
  • unbeachteten Winkel zu verbergen, so daß man sie nur entdeckt, wenn man
  • sie sucht; aber dafür sind sie so erhaben und zugleich so tief, daß nach
  • einem Ausdruck Wagners im »Faust« der ganze Himmel zu dem glücklichen
  • Finder niedersteigt. Dieser bescheidene, prunklose Vortrag und der
  • Mangel an blendenden Lichtern weckt unwillkürlich unser Mitleid; sie
  • sind der Grund, warum Müller so wenig bekannt oder besser gesagt nicht
  • so bekannt ist, wie er es verdient. Nur solche Menschen, die tief
  • durchdrungen von der Idee der Geschichte und einer edleren Bildung fähig
  • sind, können ihn ganz verstehen; den übrigen erscheint er unbedeutend
  • und oberflächlich.
  • Herder vertritt eine ganz andere Art der Geschichtsauffassung. Er
  • betrachtet alles mit geistigen Augen. Bei ihm verschlingt die Macht der
  • Idee völlig die greifbare Form. Stets sieht er einen Menschen als
  • Vertreter der ganzen Menschheit an. Er forscht tief und begeistert
  • gleich einem Brahmanen der Natur -- wie man ihn in Deutschland zu nennen
  • pflegt. Bei ihm werden die Ereignisse bedeutender durch ihre
  • Gruppierung, all seine Gedanken sind erhaben, tiefsinnig und
  • weltumspannend. Sie erscheinen bei ihm nur selten in Beziehung zu der
  • sichtbaren Natur und steigen gleichsam unmittelbar aus ihrem reinen
  • Feuer empor. Daher fehlt es ihnen auch an historischer Greifbarkeit und
  • Plastik. Wenn ein Ereignis riesengroß ist und eine Idee einschließt --
  • dann entfaltet es sich bei ihm mit all seinen geheimsten Nebenwirkungen;
  • aber wenn es zu nah mit dem Leben und der Praxis in Berührung kommt,
  • dann mangelt es ihm am bestimmten Kolorit. Wenn er sich herabläßt,
  • einzelne Persönlichkeiten oder die Lenker der Geschichte zu schildern,
  • dann erscheinen sie bei ihm lange nicht so deutlich wie die allgemeinen
  • Gruppen und sie nehmen eine zu allgemeine Physiognomie an; sie sind
  • entweder ganz gut oder ganz böse; alle die zahllosen Schattierungen der
  • Charaktere, alle Verquickung und Mannigfaltigkeit der Eigenschaften,
  • deren Erkenntnis nur einem Forscher zuteil wird, der die Menschen mit
  • Mißtrauen betrachtet, alle diese Abstufungen verschwinden völlig bei
  • ihm. Er ist unendlich weise in der Erforschung des idealen Menschen und
  • der Menschheit, aber ein Kind in der Erkenntnis des wirklichen Menschen,
  • und dies ist nur natürlich --, da ein Weiser immer groß ist in seinen
  • Gedanken und unwissend in den Kleinigkeiten, die das Leben ausfüllen.
  • Als Dichter steht er weit höher als Schlözer und Müller. Aber gerade
  • weil er Poet ist, so erschafft und erarbeitet er alles in seinem Innern
  • in seinem einsamen Arbeitszimmer; ganz ergriffen von einer höheren
  • Offenbarung, wählte er stets nur das Schöne und Große, weil das nun
  • einmal der Natur seiner erhabenen, reinen Seele entspricht. Aber das
  • Hohe und Schöne reißt sich manches Mal von dem niedren und verachteten
  • Leben los oder wird durch den Druck jener zahllosen und
  • verschiedenartigen Erscheinungen, die soviel Buntheit in das menschliche
  • Leben hineinbringen und deren Erkenntnis nur selten dem weltabgewandten
  • Weisen zufällt, hervorgerufen. Sein Stil zeichnet sich vor dem der
  • anderen durch Bilderreichtum und breite Pinselführung aus, er ist eben
  • Dichter und hebt sich daher deutlich von dem ewig ruhigen und
  • bedächtigen Müller, diesem Philosophen und Gesetzgeber, sowie von dem
  • fast immer schroffen und unzufriedenen kritischen Philosophen Schlözer
  • ab.
  • Mir scheint, wenn man Herders tiefe Schlüsse, die bis in die fernsten
  • Anfänge der Menschheit reichen, mit dem schnellen, feurigen Blick
  • Schlözers und der erfinderischen, weltgewandten Weisheit Müllers
  • vereinigen könnte, dann hätten wir erst einen Historiker, der da fähig
  • wäre, eine Weltgeschichte zu schreiben. Und doch würde ihm noch manches
  • dazu fehlen; es würde ihm noch an jener dramatischen Kraft mangeln, die
  • wir weder bei Schlözer, noch bei Müller, noch auch bei Herder finden.
  • Ich verstehe unter dem Wort »dramatische Kraft« nicht die Kunst, die
  • darin besteht, einen guten Dialog zu führen, sondern die Fähigkeit,
  • einem ganzen Werke jenen mitreißenden Schwung und jenes dramatische
  • Interesse mitzuteilen, das manche von Schillers historischen Fragmenten,
  • besonders die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, ausströmen und das
  • fast jedes einfache Geschehnis auszeichnet. Doch zu allem Genannten
  • möchte ich noch gern das Anziehende der Erzählergabe eines Walter Scott
  • und seinen starken Sinn für alle feinen Nuancen hinzufügen. Nehmen wir
  • dann noch Shakespeares Talent für die Entwicklung großer
  • Charaktereigenschaften in den engsten Grenzen hinzu, dann, will es mir
  • scheinen, hätten wir einen Historiker, wie er für eine Darstellung der
  • Weltgeschichte erforderlich ist. Bis dahin aber werden Müller, Schlözer
  • und Herder noch lange unsere großen Wegweiser bleiben. Sie haben viel,
  • sehr viel Licht in die Weltgeschichte gebracht. Und wenn wir heute schon
  • ein paar beachtenswerte geschichtliche Werke besitzen, so verdanken wir
  • diese ihnen allein.
  • 1832.
  • III
  • Der Newsky-Prospekt
  • Es gibt in Petersburg nichts Schöneres als den Newsky-Prospekt; für
  • Petersburg wenigstens bedeutet er alles! Gibt es einen Vorzug, der
  • dieser Schönen unter den Straßen, dieser Zierde unserer Hauptstadt,
  • fehlte! Ich bin überzeugt, daß kein einziger von den blassen Beamten,
  • die ihre Einwohnerschaft bilden, den Newsky-Prospekt -- auch nicht für
  • alle Herrlichkeiten der Welt -- eintauschen würde. Sie alle
  • sind ganz begeistert für den Newsky-Prospekt; nicht nur die
  • Fünfundzwanzigjährigen, die prachtvolle Schnurrbärte und einen
  • wundervoll sitzenden Rock tragen, nein, auch jene, denen schon weiße
  • Haare ums Kinn sprießen, und deren Köpfe glatt sind wie silberne
  • Schüsseln. Und erst die Damen! Oh! die Damen schwärmen noch viel mehr
  • für den Newsky-Prospekt. Wem kann er denn auch nicht gefallen! Sobald
  • man nur auf die Straße heraustritt, so erfaßt einen schon eine
  • Feiertagsstimmung. Selbst wenn man etwas sehr Wichtiges vorhat, so
  • vergißt man sicherlich sein Geschäft, sobald man den Newsky betritt.
  • Dies ist der einzige Ort, wo die Menschen erscheinen, nicht, weil sie
  • dort sein müssen, und wo sie weder die Notwendigkeit noch das
  • Geschäftsinteresse hintreiben, die doch sonst ganz Petersburg gefangen
  • halten. Es kommt einem so vor, als sei der Mensch, der einem auf dem
  • Newsky begegnet, weniger egoistisch als der auf der Morskaja, der
  • Gorochowaja, Liteinji, Meschtschanskaja und den anderen Straßen, wo der
  • Geiz, die Habsucht und Geschäftigkeit auf allen Gesichtern ausgeprägt
  • ist, die man vorbeikommen oder in Wagen und Droschken einherjagen sieht.
  • Der Newsky ist der wichtigste Verkehrspunkt Petersburgs, wo alles sich
  • begegnet. Der Bewohner der Petersburger oder der Wiborger Seite, der
  • seinen Freund auf Peski oder am Moskauer Tor schon seit vielen Jahren
  • nicht mehr besucht hat, kann ganz sicher sein, ihn hier zu treffen. Kein
  • Adreßbuch und keine Auskunftsstelle kann einem so zuverlässige
  • Nachrichten vermitteln, wie der Newsky-Prospekt. Der Newsky-Prospekt ist
  • allmächtig. Er bildet die einzige Zerstreuung für das an Spaziergängen
  • so arme Petersburg. Wie ist sein Trottoir so rein gefegt und, o Gott!
  • wie viele Füße haben ihre Spuren auf ihm hinterlassen! Der plumpe,
  • schmutzige Stiefel des verabschiedeten Soldaten, unter dessen Wucht
  • scheinbar jeder Granitblock bersten müßte, der kleine, an Leichtigkeit
  • einer Rauchwolke vergleichbare Schuh der jungen Dame, die ihr zierliches
  • Köpfchen nach den glänzenden Ladenfenstern hinwendet, wie die
  • Sonnenblume ihr Antlitz der Sonne zukehrt, und der rasselnde Säbel des
  • hoffnungsvollen Leutnants, der eine tiefe Furche in das Pflaster gräbt
  • -- hier tritt alles zutage: die Gewalt der Kraft, wie die Macht der
  • Schwäche. Welch schnelles phantastisches Spiel rollt sich im Lauf eines
  • einzigen Tages hier ab! Wie viele Veränderungen erlebt er im Lauf von
  • vierundzwanzig Stunden! Fangen wir mit dem frühen Morgen an, wenn ganz
  • Petersburg nach heißem, frischgebackenem Brot riecht, und von alten
  • Weibern in zerlumpten Kleidern und Mänteln angefüllt ist, die ihre
  • Streifzüge durch die Kirchen beginnen und die weichherzigen Fußgänger
  • überfallen. Ein wenig später ist der Newsky wieder ganz leer: noch
  • liegen die wohlgenährten Ladenbesitzer und Kommis in ihren holländischen
  • Hemden da und schlafen oder sie seifen ihre ehrwürdigen Backen ein und
  • trinken ihren Kaffee; vor den Türen der Zuckerbäcker versammeln sich
  • Bettler, und der schlaftrunkene Ganymed, der gestern noch gleich einer
  • Fliege mit seiner Schokolade herumschwirrte, kriecht ohne Halsbinde und
  • mit einem Besen in der Hand hervor und wirft ihnen altgebackene Kuchen
  • und Brotreste zu. Auf der Straße trabt arbeitendes Volk einher, manches
  • Mal überschreitet ein Haufen russischer Bauern, die zur Arbeit eilen,
  • den Newsky; ihre Stiefel sind ganz mit Kalk beschmiert, und selbst der
  • Katharinenkanal, der wegen seiner Sauberkeit bekannt ist, wäre nicht
  • imstande, sie rein zu waschen. Um diese Zeit würde ich keiner Dame
  • raten, dort spazierenzugehen, da das russische Volk sich solcher
  • Ausdrücke zu bedienen pflegt, die sie wahrscheinlich nicht einmal im
  • Theater zu hören bekäme. Manches Mal begegnet man auch einem schläfrigen
  • Beamten mit einem Portefeuille unter dem Arm, wenn ihn der Weg nach dem
  • Departement zufällig über den Newsky führt. Man kann wohl sagen, daß um
  • diese Zeit d. h. bis 12 Uhr der Newsky für alle nur ein Mittel und nicht
  • das eigentliche Ziel ist; er füllt sich allmählich mit Leuten, die sich
  • durchaus nicht um ihn kümmern und nur an ihre Beschäftigung, ihre Sorgen
  • und ihren Verdruß denken. Ein russischer Bauer läßt sich über ein
  • Zehnkopekenstück oder gar über eine Kupfermünze im Werte von sieben
  • Kopeken aus, Männer und alte Weiber gestikulieren mit den Händen oder
  • halten Selbstgespräche, wobei sie mitunter recht bezeichnende Gesten
  • machen, aber niemand hört auf sie oder lacht über sie, abgesehen etwa
  • von ein Paar Jungen in buntgestreiften Kitteln mit leeren Flaschen oder
  • neuen Stiefeln in den Händen, die wie ein Blitz auf dem Newsky hin und
  • her schwirren. Um diese Zeit wird niemand darauf achten, wie Sie
  • angezogen sind, selbst wenn Sie statt eines Hutes eine Mütze auf dem
  • Kopfe hätten oder wenn Ihr Kragen aus ihrer Halsbinde hervorkröche.
  • Um 12 Uhr machen die Gouverneure und Erzieher aller Nationalitäten mit
  • ihren Zöglingen, die Batistkragen tragen, ihren obligaten Spaziergang.
  • Die englischen Johns und die französischen Hähne gehen Arm in Arm mit
  • den ihrer väterlichen Obhut anvertrauten Zöglingen auf und ab und
  • erklären ihnen voller Anstand und Würde, die Schilder seien deshalb über
  • den Kaufläden angebracht, damit man von ihnen ablesen könne, was in
  • einem jeden Laden zu haben sei. Zahlreiche Gouvernanten, blasse Misses
  • und rosige Mademoiselles gehen wichtig hinter leichtfüßigen, koketten
  • Fräuleins einher und schärfen ihnen ein, die linke Schulter höher zu
  • ziehen und sich einer besseren Haltung zu befleißigen, kurz gesagt: um
  • diese Zeit trägt der Newsky-Prospekt einen pädagogischen Charakter.
  • Doch je mehr der Zeiger gegen 2 Uhr vorrückt, um so mehr verringert sich
  • die Zahl der Pädagogen, Gouvernanten und Kinder und schließlich werden
  • sie ganz von ihren zärtlichen Vätern verdrängt, die ihre
  • buntgekleideten, nervenschwachen Gefährtinnen am Arme führen. Allmählich
  • gesellen sich auch noch die zu ihnen, die ihre so wichtigen häuslichen
  • Angelegenheiten erledigt haben: sie mußten mit ihrem Arzt über das
  • Wetter sprechen, ihm einen kleinen Pickel zeigen, der sich auf der Nase
  • gebildet hatte, mußten sich nach dem Befinden ihrer Kinder und Pferde
  • erkundigen, welch erstere übrigens eine große Begabung an den Tag
  • legten; dann mußten sie einen Theaterzettel und einen wichtigen
  • Zeitungsartikel über die neu angekommenen und abgereisten Personen lesen
  • und endlich mußten sie noch ihren Kaffee trinken; ferner gesellen sich
  • auch noch die zu ihnen, denen ein beneidenswertes Schicksal den
  • segensreichen Beruf eines Beamten für besondere Aufträge bescherte; auch
  • die schließen sich ihnen an, die in den ausländischen Ämtern dienen und
  • sich durch die Vornehmheit ihrer Beschäftigung und ihrer Manieren
  • auszeichnen. Mein Gott! was gibt es doch für herrliche Ämter und Berufe,
  • wie erheben und erquicken sie unser Herz! Aber ach! ich selbst stehe
  • nicht im Staatsdienst und habe nicht das Vergnügen, die feinen
  • Umgangsformen eines Vorgesetzten an mir zu erproben. Alles, was man auf
  • dem Newsky sieht, strotzt förmlich von Würde und Wohlanständigkeit; die
  • Herren in ihren langen Röcken mit den Händen in den Taschen und die
  • Damen in ihren rosa, weißen oder hellblauen Atlasjacken und ihren
  • koketten Hütchen! hier kann man ganz ungewöhnlichen Backenbärten
  • begegnen, die mit einer besonderen, geradezu staunenerregenden
  • Geschicklichkeit hinter die Halsbinde gesteckt sind[5], herrlichen
  • sammetweichen Backenbärten, die wie Atlas glänzen, und schwarz sind wie
  • der feinste Zobel oder ein Stück Kohle; aber ach! leider gehören diese
  • immer nur Ausländern an. Denen, die in den andern Departements dienen,
  • hat die Vorsehung die schwarzen Bärte versagt, und sie müssen zu ihrem
  • großen Leidwesen rote tragen. Ferner trifft man hier so herrliche
  • Schnurrbärte, daß keine Feder und kein Pinsel imstande wären, sie
  • abzuschildern; Schnurrbärte, deren Pflege weitaus die größere Hälfte des
  • Lebens gewidmet wird, die der Gegenstand einer dauernden Sorge bei Nacht
  • und bei Tage sind; Schnurrbärte, die mit den herrlichsten Parfüms und
  • Düften getränkt und mit den kostbarsten und seltensten Pomaden
  • bestrichen sind; die des Nachts in das feinste Velinpapier gewickelt
  • werden, die sich der rührendsten Anhänglichkeit ihrer Besitzer erfreuen
  • und die den Neid aller Vorübergehenden erwecken. Hier wird jedermann
  • geblendet durch die tausend verschiedenen Arten von Hüten, Kleidern und
  • durch all die bunten und leichten Tücher, denen ihre Besitzerinnen
  • häufig ganze zwei Tage lang die Treue bewahren. Es ist, als hätte sich
  • ein ganzes Meer von Faltern von den zarten Blumenblüten erhoben und
  • schwebe nun als leuchtende Wolke über den schwarzen Käfern, die durch
  • das männliche Geschlecht repräsentiert werden. Hier begegnet man solchen
  • Taillen, wie man sie nicht einmal im Traum zu sehen bekommt: feinen,
  • schmalen Taillen, nicht dicker wie ein Flaschenhals, so daß man bei
  • einer Begegnung mit ihren Besitzerinnen ehrerbietig zur Seite tritt, um
  • nur nicht in unvorsichtiger Weise mit seinen unhöflichen Ellbogen gegen
  • sie anzustoßen; es übermannt einen eine Schüchternheit und eine wahre
  • Angst, daß man am Ende gar durch einen unvorsichtigen Atemzug dieses
  • herrliche Gebilde der Natur und der Kunst zerstören könnte. Und was für
  • Frauenärmel man auf dem Newsky antrifft! Nein, welch eine Pracht! Sie
  • haben eine gewisse Ähnlichkeit mit zwei Luftballons, daß man meint, die
  • Dame müßte sich plötzlich in den Äther emporschwingen, wenn der Herr sie
  • nicht festhielte; denn es ist ebenso angenehm und leicht, eine Dame in
  • die Höhe zu heben, wie ein volles Champagnerglas an die Lippen zu
  • setzen. Nirgends begrüßt man sich so würdevoll und so ungezwungen wie
  • auf dem Newsky-Prospekt. Hier kann man einem Lächeln begegnen, einem
  • Lächeln, das einzig in seiner Art und über alle Kunst erhaben ist; man
  • möchte mitunter dahinschmelzen vor Vergnügen über solch ein Lächeln;
  • aber es gibt auch ein Lächeln, vor dem man ganz klein wird und
  • zusammenknickt wie ein Grashalm, so daß man das Haupt senkt, und dann
  • gibt es wieder eines, bei dem man sich höher fühlt als der
  • Admiralitätsturm, und das uns wieder hoch emporhebt. Hier hört man mit
  • außergewöhnlichem Anstand und einem hohen Gefühl der eigenen Würde von
  • Konzerten und vom Wetter reden. Hier begegnet man einer Unzahl
  • unergründlicher Charaktere und Erscheinungen. Gott im Himmel! was für
  • sonderbaren Charakteren begegnet man nicht auf dem Newsky! Es gibt eine
  • Menge von Menschen, die uns bei einer Begegnung stets auf die Füße
  • sehen, und wenn wir vorübergegangen sind, sich umkehren und unsere
  • Frackschöße betrachten. Ich kann bis jetzt nicht begreifen, was das zu
  • bedeuten hat. Anfänglich meinte ich, es seien Schuhmacher, aber keine
  • Spur davon! Gewöhnlich dienen sie in irgendeinem Departement, und viele
  • von ihnen schreiben ausgezeichnete Berichte, die von einer Behörde an
  • die andere gesandt werden, oder es sind Leute, die sich mit
  • Spazierengehen oder in verschiedenen Konditoreien mit dem Lesen von
  • Journalen beschäftigen, mit einem Wort, es sind meist sehr achtbare
  • Menschen. Um diese gesegnete Zeit zwischen 2 und 3 Uhr nachmittags
  • könnte man den Newsky-Prospekt die auf und ab wogende Hauptstadt nennen.
  • Dann gleicht er einer Ausstellung der allerschönsten Erzeugnisse der
  • Menschheit. Der eine läßt seinen feinen Rock mit dem schönsten
  • Biberkragen sehen, ein anderer eine wundervolle griechische Nase, ein
  • dritter einen herrlichen Backenbart, eine vierte ein Paar wunderbare
  • Augen und ein reizendes Hütchen, ein fünfter einen Ring mit einem
  • Talisman, den er am wohlgepflegten Daumen trägt, eine sechste einen Fuß
  • in einem entzückenden Stiefelchen, ein siebenter eine staunenerregende
  • Halsbinde, ein achter einen verblüffenden Schnurrbart, ... aber die Uhr
  • schlägt drei -- die Menschen verlaufen sich, und die Ausstellung
  • verödet.
  • [Fußnote 5: Zur Zeit Nikolaus I. waren die Bärte verboten.]
  • Um 3 Uhr findet ein neuer Dekorationswechsel statt! Auf dem Newsky wird
  • es plötzlich Frühling! er füllt sich ganz mit Beamten in grünen
  • Amtsfräcken. Hungrige Titulär-, Hof- und andre »Räte« suchen aus allen
  • Kräften ihre Schritte zu beschleunigen. Junge Kollegienregistratoren,
  • Gouvernements- und Kollegiensekretäre beeilen sich noch schnell, ihre
  • freie Zeit auszunutzen und sich auf dem Newsky zu zeigen, und kommen mit
  • einem Anstand einhergegangen, als hätten sie bei Leibe keine
  • sechs Stunden im Bureau gesessen. Dagegen kommen die _alten_
  • Kollegiensekretäre, Titulär- und Hofräte schnell und mit gesenktem Kopfe
  • vorbeigeschritten, sie haben keine Zeit, sich die Spaziergänger
  • anzuschauen und haben sich noch nicht völlig von ihren Sorgen
  • losgerissen; in ihren Köpfen summt und brummt es, da steckt ein ganzes
  • Archiv von angefangenen und noch nicht abgeschlossenen Arbeiten, und
  • statt der Kaufläden sehen sie nichts wie Konvolute von Akten und das
  • runde Gesicht ihres Bureauchefs.
  • Von 4 Uhr an ist der Newsky leer, dann trifft man dort kaum noch einen
  • Beamten. Höchstens eine Näherin, die mit einem Karton in der Hand über
  • die Straße läuft oder das arme Opfer eines menschenfreundlichen
  • Tischvorstehers in einem Friesmantel, einen zugereisten Sonderling, dem
  • alle Stunden des Tages gleich viel bedeuten, eine lange, steife
  • Engländerin mit einem Pompadour und einem Buch in der Hand, einen
  • Bureaudiener, einen Russen mit einem dürftigen Bart, in einem
  • baumwollenen Rock, dessen Taille beinahe oben am Halse sitzt, einen
  • Menschen, dem man sofort die ganze Haltlosigkeit seiner Existenz
  • ansieht, und bei dem sich alles bewegt, der Rücken, die Hände, die Füße
  • und der Kopf, wenn er behutsam auf dem Trottoir einhergeht; oder man
  • begegnet etwa noch einem kleinen Handelsmann -- sonst trifft man um
  • diese Zeit niemand auf dem Newsky-Prospekt.
  • Sobald sich jedoch die Dämmerung auf die Häuser und Straßen hinabsenkt
  • und ein in eine Bastmatte gewickelter Nachtwächter langsam die Leiter
  • besteigt, um die Laternen anzuzünden, sobald aus den niedrigen Fenstern
  • der Kaufläden die Kupferstiche hervorgucken, die sich im Laufe des Tages
  • nicht sehen lassen durften, dann belebt der Newsky sich wieder, dann
  • kommt wieder Leben und Bewegung in ihn. Jetzt bricht jene geheimnisvolle
  • Zeit an, wo die Lampen allen Dingen einen so verlockenden, wunderbaren
  • Schimmer verleihen. Um diese Zeit begegnet man vielen jungen Leuten,
  • meistenteils Hagestolzen in warmen Röcken und Mänteln. Um diese Zeit
  • fühlt man, daß dieses alles einen Zweck, ein Ziel oder besser gesagt
  • etwas Ähnliches wie ein Ziel bekommt, etwas ganz Besonderes und
  • Unbestimmtes; jetzt beschleunigen alle ihre Schritte und bleiben dann
  • wieder stehn, es kommt etwas Ungleichmäßiges, Unruhiges in ihre
  • Bewegungen. Lange Schatten huschen über die Mauern und über das Pflaster
  • hin und reichen mit ihren Köpfen fast bis zur Polizeibrücke. Junge
  • Kollegienregistratoren, Gouvernements- und Kollegiensekretäre
  • promenieren lange hin und her, während die alten Kollegienregistratoren,
  • Titulär- und Hofräte größtenteils zu Hause sitzen, entweder weil sie
  • verheiratet sind oder weil ihre deutschen Köchinnen so gut kochen. Jetzt
  • trifft man wieder die alten, ehrwürdigen Herren, die mit so viel Würde
  • und einem erstaunlichen Anstand um 2 Uhr auf dem Newsky spazierengingen.
  • Allein, jetzt sieht man sie ebenso laufen wie die jungen
  • Kollegienregistratoren, um einer von Ferne herannahenden Dame unter den
  • Hut zu gucken. Die vollen, mit dicker roter Schminke bedeckten Lippen
  • und Wangen gefallen nämlich vielen Spaziergängern, hauptsächlich jedoch
  • den Handlungskommis, den Bureaudienern und den Kaufleuten, die lange
  • deutsche Röcke tragen und Arm in Arm scharenweise daherkommen.
  • »Halt!« rief um diese Zeit der Leutnant Piragow und hielt einen
  • befrackten und in einen Mantel gehüllten jungen Mann, der neben ihm
  • daherging, am Arme fest, »hast du gesehn?«
  • »Gewiß habe ich sie gesehn: eine echt peruginische Bianka!«
  • »Ja, von welcher sprichst du eigentlich?«
  • »Von ihr, von der da mit den dunklen Haaren; was für Augen, Gott! was
  • für Augen! diese Figur, diese Züge, dies Oval des Gesichts -- ein wahres
  • Wunder!«
  • »Ach was, ich spreche von der Blonden, die hinter ihr nach jener Seite
  • ging. Nun, warum gehst du denn der Brünetten nicht nach, wenn sie dir so
  • gefällt?«
  • »Ich bitte dich, wo denkst du hin!« rief tief errötend der junge Mann im
  • Frack. »Als ob sie zu denen gehört, die des Abends auf dem Newsky
  • herumspazieren; das ist gewiß eine feine Dame« -- fuhr er seufzend fort
  • -- »ihr Mantel allein kostet sicherlich 80 Rubel.«
  • »Du Grünschnabel!« rief Piragow und stieß ihn mit Gewalt nach jener
  • Richtung, wo ihr leuchtender Mantel wehte. »Geh, Einfaltspinsel, sonst
  • entwischt sie dir! ich gehe der Blonden nach!« Und beide Freunde
  • trennten sich.
  • »Wir kennen euch!« dachte Piragow mit einem selbstzufriedenen und
  • selbstbewußten Lächeln; er war davon überzeugt, daß es keine Schöne gab,
  • die ihm widerstehen könnte.
  • Der junge Mann im Frack und im Mantel ging schüchtern und ängstlichen
  • Schritts nach jener Seite, wo fern von ihm der bunte Mantel flatterte;
  • wenn das Licht der Laterne auf ihn fiel, so leuchteten seine Farben
  • grell auf, um dann wieder fern im Dunkel zu verschwinden. Das Herz des
  • jungen Mannes schlug heftig, und er beschleunigte unwillkürlich seine
  • Schritte. Er wagte gar nicht daran zu denken, daß er die Aufmerksamkeit
  • der sich entfernenden Schönen auf sich ziehen könnte, und noch viel
  • weniger konnte er einen so schwarzen Gedanken zulassen, wie Piragow ihn
  • angedeutet hatte; aber er wollte gern das Haus sehen und sich die
  • Wohnung dieses herrlichen Geschöpfs merken, das direkt vom Himmel auf
  • den Newsky herabgeflogen zu sein schien und wahrscheinlich wieder, Gott
  • weiß wohin, entschwinden würde; und er rannte so schnell vorwärts, daß
  • er in einem fort allerhand solide Herren mit ergrauten Backenbärten vom
  • Trottoir herunterstieß.
  • Dieser junge Mann gehörte einer Klasse von Menschen an, die bei uns eine
  • recht merkwürdige Erscheinung bilden und ebensowenig unter die Einwohner
  • Petersburgs gehören wie unsere Traumbilder in die reale Welt. Man
  • begegnet diesem außerordentlichen Typus nur ganz selten in einer Stadt,
  • wo fast alle Bewohner Beamte, Kaufleute oder deutsche Handwerker sind.
  • Das war ein Künstler! Nicht wahr, das ist doch eine merkwürdige
  • Erscheinung? Ein Petersburger Künstler! Ein Künstler im Lande des
  • Schnees! im Lande der Finnen, wo alles naß, eben, glatt, blaß, grau und
  • neblig ist! Diese Künstler haben durchaus keine Ähnlichkeit mit den
  • italienischen Künstlern, die stolz und leidenschaftlich sind wie das
  • italienische Land und der italienische Himmel, im Gegenteil, die
  • Petersburger Künstler sind meistens ein braves, schlichtes Völkchen, sie
  • sind schüchtern und sorglos, lieben im stillen ihre Kunst, trinken im
  • kleinen Stübchen ihren Tee mit zwei guten Kameraden, reden bescheiden
  • von ihrem Lieblingsthema und träumen nicht einmal von Luxus oder
  • Überfluß. Stets laden sie irgendein altes Bettelweib zu sich ein und
  • lassen es sechs Stunden bei sich sitzen, um ihr jämmerliches, stumpfes
  • Gesicht auf die Leinwand zu werfen. Sie malen die Perspektive ihres
  • Zimmers, in dem sich allerhand malerischer Plunder herumtreibt:
  • Gipshände und -füße, die mit der Zeit durch den Staub eine kaffeebraune
  • Farbe angenommen haben, zerbrochene Staffeleien, eine hingeworfene
  • Palette, ein Freund, der Guitarre spielt, Wände, die mit Farbenklecksen
  • beschmiert sind, oder ein offenes Fenster, durch das man in der Ferne
  • die blasse Newa und ein paar arme Fischer in roten Hemden sieht. Die
  • Arbeiten dieser Künstler haben fast immer ein graues, trübes Kolorit --
  • diesen unauslöschlichen Stempel des Nordens. Trotz alledem sind sie
  • stets mit wahrhaftem Genuß bei der Arbeit. Häufig lebt in ihnen ein
  • echtes Talent, und wenn nur die frische Luft Italiens sie umwehte, so
  • würde es sich sicherlich ebenso frei, ungehemmt und herrlich entwickeln,
  • wie eine Pflanze, die man aus dem Zimmer in die frische, reine Luft
  • trägt. Diese Künstler sind sehr schüchtern; ein Stern oder eine dicke
  • Epaulette bringen sie schon in solch eine Verwirrung, daß sie sofort mit
  • dem Preis für ihre Werke herabgehen. Manches Mal lieben sie es, sich zu
  • putzen und schön zu machen, aber ihre Eleganz wirkt immer herausfordernd
  • und macht den Eindruck eines Flickens auf einem alten Kleidungsstück.
  • Zuweilen sieht man sie in einem ausgezeichneten Frack und einem
  • schmutzigen Mantel oder in einer teuren Sammtweste und einem ganz
  • befleckten Rock daherkommen. Dann erinnern sie an eine ihrer
  • unvollendeten Landschaften, auf der man häufig eine auf dem Kopf
  • stehende Nymphe entdecken kann, da der Künstler die Landschaft einfach
  • auf eine schon bemalte Leinwand, ein altes Bild, das er einstmals mit
  • Begeisterung begonnen, hingemalt hat, weil er gerade keine andere
  • Leinwand zur Verfügung hatte. Solch ein Künstler sieht niemand gerade
  • ins Auge; wenn er einen ansieht, so ist sein Blick trübe und unbestimmt;
  • er durchbohrt Euch nicht mit dem Habichtauge des Forschers oder mit dem
  • Falkenblick eines Kavallerieleutnants. Dies kommt daher, weil er stets
  • Ihre Züge und zugleich die irgendeines Herkules aus Gips beobachtet, der
  • bei ihm im Zimmer steht, oder weil ihm das Bild vorschwebt, das er
  • demnächst malen will. Daher gibt er Euch auch oft falsche und
  • unzusammenhängende Antworten, und die Gedanken, die in seinem Hirn
  • durcheinanderschwirren, vergrößern noch seine Schüchternheit.
  • Zu dieser Art von Leuten gehörte auch der oben erwähnte junge Mann --
  • der Künstler Piskarjow; er war sehr schüchtern und bescheiden, aber in
  • seiner Seele lebte doch ein Funke von Gefühl, der im gegebenen Moment
  • zur Flamme werden konnte. Mit einem geheimen Bangen eilte er dem
  • Gegenstande seiner Bewunderung nach, der einen so tiefen Eindruck auf
  • ihn gemacht hatte, und er schien sich selbst über seine Dreistigkeit zu
  • wundern. Die Unbekannte, die seine Augen, seine Gefühle und seine
  • Gedanken so ganz gefangengenommen hatte, wendete plötzlich ihr Köpfchen
  • und sah ihn an! Gott! welch göttliche Züge! Die herrliche, blendend
  • weiße Stirn war von wundervollen Haaren eingerahmt, die schwarz waren
  • wie Achat; sie kräuselten sich in prachtvollen Locken, ein Teil fiel
  • unter dem Hut hervor und berührte die von der abendlichen Kälte leicht
  • getöteten Wangen. Um ihre fest geschlossenen Lippen spielte ein Schwarm
  • von entzückenden Träumen. Alles, was uns von den Erinnerungen unserer
  • Kindheit übrigbleibt -- alles, was beim Schein des Lämpchens vor dem
  • Heiligenbilde unsere Schwärmerei und stille Begeisterung weckt -- alles
  • dies schien sich auf diesen Lippen voll wundersamer Harmonie zu
  • vereinigen, ineinanderzufließen und widerzuspiegeln. Sie sah Piskarjow
  • an, und sein Herz erzitterte bei diesem Blick, sie sah ihn voller
  • Strenge an, und ein Gefühl der Empörung über diese freche Verfolgung
  • sprach aus ihren Zügen; aber auf diesem herrlichen Antlitz hatte selbst
  • der Zorn etwas Bezauberndes. Von Scham und Schüchternheit übermannt,
  • blieb er stehen und schlug die Augen nieder; aber wie konnte er nur
  • diese Gottheit aus den Augen verlieren, ohne das Heiligtum kennen
  • gelernt zu haben, in dem sie sich niedergelassen hatte. Solche Gedanken
  • schossen unserem jungen Schwärmer durch den Kopf, als er sich entschloß,
  • ihr zu folgen. Damit dies jedoch nicht bemerkt würde, folgte er ihr aus
  • weiter Ferne, blickte sich sorglos nach allen Seiten um und sah sich die
  • Schilder an den Häusern an, ließ aber dabei die Unbekannte keinen Moment
  • aus den Augen. Die Zahl der Spaziergänger wurde geringer, und auf der
  • Straße wurde es stiller, da sah sich die Schöne um, und es schien ihm,
  • als kräusele ein leichtes Lächeln ihre Lippen. Ein Zittern lief ihm
  • durch alle Glieder: er wollte seinen Augen nicht trauen. Nein, es war
  • wohl nur die Laterne, die ihm mit ihrem trügerischen Licht dies Lächeln
  • vorgegaukelt hatte. Allein, der Atem stockte in seiner Brust, alles in
  • ihm erzitterte, alle seine Sinne erglühten, und ein seltsamer Nebel
  • hüllte alles vor ihm ein. Das Trottoir bewegte sich unter seinen Füßen,
  • die Wagen und die vorüberjagenden Pferde schienen stillzustehn, die
  • Brücke dehnte sich immer mehr in die Länge und barst über ihrem Bogen
  • auseinander, die Häuser standen auf dem Kopfe, ein Wächterhäuschen
  • stürzte auf ihn zu, und die Hellebarde des Wächters, die goldenen
  • Buchstaben der Schilder mit der darauf gemalten Schere: alles leuchtete
  • und blitzte unmittelbar vor seinen Augenwimpern auf. Und dies alles
  • hatte der einzige Blick, die eine Wendung des schönen Köpfchens
  • hervorgerufen. Taub, blind und gedankenlos folgte er den zarten Spuren
  • der niedlichen Füßchen und versuchte die Hast seiner Schritte, die nach
  • dem Takt seines Herzschlages dahinstürmten, zu mäßigen. Manches Mal
  • packte ihn der Zweifel: war wirklich der Ausdruck ihres Gesichtes so
  • freundlich gewesen? -- und er blieb einen Augenblick stehn, aber das
  • Pochen seines Herzens, eine unüberwindliche Gewalt, die Erregung all
  • seiner Sinne trieb ihn immer wieder vorwärts. Er merkte gar nicht, wie
  • sich auf einmal ein vierstöckiges Haus vor ihm erhob, das mit seinen
  • vier erleuchteten Fensterreihen auf ihn herabsah, und wie er plötzlich
  • gegen das eiserne Geländer vor der Einfahrt stieß. Er sah, wie die
  • Unbekannte die Treppe hinaufflog; dann aber drehte sie sich um, legte
  • den Finger auf die Lippen und gab ihm ein Zeichen, ihr zu folgen. Seine
  • Knie zitterten ihm, seine Gefühle und Gedanken glühten, ein wunderbares
  • Glücksgefühl traf wie ein Blitz mit schneidender Schärfe sein Herz.
  • Nein, das war _doch_ kein Traum! Gott! so viel Glück in einem einzigen
  • Augenblick! welch herrliches Leben in diesen kurzen zwei Minuten.
  • Aber war es auch wirklich kein Traum? War sie, für deren himmlischen
  • Blick er bereit war, sein ganzes Leben zu opfern, deren Wohnstätte nahe
  • zu sein, er schon für ein unaussprechliches Glück hielt -- war sie denn
  • wirklich jetzt eben so freundlich und so aufmerksam gegen ihn gewesen?
  • Er flog die Treppen hinauf. Er war keines irdischen Gedankens fähig, und
  • keine irdische Leidenschaft loderte mehr in ihm. Nein, in diesem
  • Augenblick war er rein und makellos wie ein reiner, keuscher Jüngling,
  • den nur ein unbestimmtes, geistiges Liebesbedürfnis erfüllte. Und was in
  • einem lasterhaften Menschen kühne und häßliche Wünsche geweckt hätte,
  • das läuterte _seine_ Gefühle nur noch mehr. Das Vertrauen, das ihm das
  • herrliche schwache Geschöpf entgegenbrachte, dies Vertrauen
  • verpflichtete ihn zu dem Gelübde, mit ritterlicher Strenge und
  • sklavischer Unterwerfung all ihre Befehle zu erfüllen. Er wünschte nur,
  • daß die Aufgaben, die sie ihm stellen würde, so schwer als möglich, ja,
  • geradezu unausführbar wären, damit er mit voller Anspannung aller seiner
  • Kräfte hinfliegen könnte, sie zu überwinden. Er zweifelte nicht daran,
  • daß irgendein geheimnisvolles und wichtiges Ereignis die Unbekannte
  • bewogen hätte, sich ihm anzuvertrauen, daß sicherlich bedeutende
  • Dienstleistungen von ihm gefordert werden würden, und er fühlte schon
  • die Kraft und die Entschlossenheit in sich, die ihn zu allem fähig
  • machte.
  • Die Treppe wand sich immer mehr hinauf, und mit ihr drehten sich seine
  • Träume und Gedanken im Kreise herum. »Steigen Sie vorsichtiger hinauf,«
  • erklang eine Stimme gleich einer Harfe und ließ all seine Sinne von
  • neuem erbeben. Auf dem dunklen Treppenabsatz des vierten Stockwerkes
  • klopfte die Unbekannte an die Tür; sie öffnete sich, und sie traten
  • zusammen ein. Eine hübsche Frau kam ihnen mit einem Licht entgegen;
  • allein, sie sah Piskarjow so eigentümlich und frech an, daß er
  • unwillkürlich die Augen senkte. Sie traten ins Zimmer. Er erblickte in
  • drei verschiedenen Ecken drei weibliche Figuren. Die eine legte Karten,
  • die zweite saß vor einem Klavier und spielte mit zwei Fingern etwas wie
  • eine elende Melodie einer altmodischen Polonäse, die dritte saß vor dem
  • Spiegel und kämmte ihr langes Haar mit einem Kamm, und es fiel ihr nicht
  • ein, beim Eintritt des Fremden ihre Beschäftigung zu unterbrechen.
  • Überall herrschte eine peinliche Unordnung, wie man sie sonst nur im
  • Zimmer eines sorglosen Hagestolzen antrifft. Die noch ziemlich gut
  • erhaltenen Möbel waren mit Staub bedeckt, ein Spinngewebe überzog die
  • Stuckarbeit des Gesimses, durch die halbgeöffnete Tür des benachbarten
  • Zimmers sah man einen mit einem Sporn versehenen Stiefel und den roten
  • Aufschlag eines Uniformrockes, und den Eintretenden drang ganz ungeniert
  • eine laute männliche Stimme und das Gelächter einer Frau entgegen.
  • Mein Gott, wo war er hineingeraten! Anfangs traute er kaum seinen Augen
  • und fing an, sich die Gegenstände im Zimmer genauer anzusehen; aber die
  • nackten Wände, die Fenster, die durch kleine Vorhänge verhängt waren,
  • deuteten durchaus nicht auf die Gegenwart einer sorgsamen Hausfrau; die
  • schlaffen gealterten Züge dieser elenden Geschöpfe, von denen das eine
  • sich gerade vor seine Nase hingesetzt hatte und ihn ebenso ruhig
  • betrachtete, wie einen Fleck auf einem fremden Kleide, alles überzeugte
  • ihn davon, daß er in eins jener häßlichen Asyle geraten sei, wo das
  • gemeine Laster, das von einer falschen Überkultur und der großen
  • Übervölkerung der Hauptstadt erzeugt wird, sich eine Wohnstätte
  • gegründet hatte -- eins jener Asyle, wo der Mensch alles Reine und
  • Heilige, das unser Leben verschönt, schändet und erstickt, wo das Weib,
  • dies schönste Wunderwerk dieser Welt, die Krone der Schöpfung, sich in
  • ein merkwürdiges, zweideutiges Wesen verwandelt hat, wo es mit dem
  • Verlust seiner Seelenreinheit auch alle Weiblichkeit verliert, sich in
  • widerwärtiger Weise die Manieren und das freche Wesen der Männer
  • aneignet, und wo es aufhört, das herrliche, schwache Geschöpf zu sein,
  • das sich seiner ganzen Natur nach so sehr von uns unterscheidet.
  • Piskarjow maß sie vom Kopf bis zu den Füßen mit seinen Blicken, als
  • wolle er sich noch einmal davon überzeugen, ob sie auch wirklich
  • dasselbe Wesen sei, das ihn auf dem Newsky so bestrickt und so weit mit
  • sich fortgeführt hatte. Aber auch jetzt war sie, wie sie da vor ihm
  • stand, noch immer so schön wie vorhin; ihr Haar war noch ebenso
  • herrlich, und ihre Augen erschienen ihm noch immer wahrhaft göttlich.
  • Sie war jung und frisch, kaum 17 Jahre alt -- man sah es ihr an, daß das
  • furchtbare Laster sie erst vor kurzem ergriffen hatte! Es hatte sich
  • noch nicht an ihre Wangen herangewagt, sie waren noch frisch, zart und
  • rosig; mit einem Wort, sie war wunderbar schön.
  • Ganz in ihren Anblick versunken stand er da, und schon wollte er sich in
  • seiner schlichten Weise, wie früher seinen Träumereien hingeben. Aber
  • dieses lange Schweigen langweilte die Schöne; sie lächelte
  • bedeutungsvoll und sah ihm gerade in die Augen. Allein dieses Lächeln
  • hatte etwas Gemeines und Freches, war so sonderbar und paßte so schlecht
  • zu ihrem Gesichte, wie etwa der Ausdruck der Frömmigkeit zu der Fratze
  • eines bestechlichen Beamten oder ein Kontobuch zu einem Poeten.
  • Piskarjow erbebte. Sie öffnete ihre reizenden Lippen und fing an zu
  • reden, aber was sie sagte, war alles so dumm und abgeschmackt ... wie
  • wenn zugleich mit der Tugend auch der Verstand den Menschen verließe! Er
  • wollte nichts mehr hören ... und machte einen furchtbar komischen und
  • einfältigen Eindruck wie ein Kind! Statt ihr Entgegenkommen auszunutzen,
  • statt sich über solch einen Zufall zu freuen -- über den sich jeder
  • andere an seiner Stelle ohne Zweifel gefreut hätte -- stürmte er, so
  • schnell ihn seine Füße trugen, wie ein Reh auf die Straße.
  • Gesenkten Hauptes und die Hände in den Schoß gelegt, saß er in seinem
  • Zimmer wie ein armer Bettler, der am Meeresufer eine kostbare Perle
  • gefunden hat und sie wieder ins Wasser fallen ließ. »So eine Schönheit!
  • Solch göttliche Züge! Doch wo mußte ich sie finden? an welchem Ort! ...«
  • das war alles, was er sagen konnte.
  • Wahrlich, nie werden wir mächtiger vom Mitleid erfaßt, als beim Anblick
  • der Schönheit, die der verderbliche Odem des Lasters gestreift hat. Ja,
  • wenn sich noch das Häßliche mit ihm verbände, aber die Schönheit, die
  • zarte Schönheit! ... Nur mit der Tugend und mit der Reinheit vereint sie
  • sich in unseren Gedanken. Das schöne Mädchen, das den armen Piskarjow so
  • bestrickt hatte, war wirklich eine wundersame und ungewöhnliche
  • Erscheinung. Aber ihre Anwesenheit in diesem verächtlichen Kreise
  • erschien um so unerklärlicher. Ihre Züge waren so herrlich geformt, der
  • Ausdruck des schönen Gesichts war so edel, daß man durchaus nicht
  • glauben konnte, das Laster habe schon seine Krallen in sie
  • hineingeschlagen. Für einen leidenschaftlichen Gatten wäre sie eine
  • Perle, für die kein Preis zu hoch, seine ganze Welt, sein Paradies, sein
  • ganzer Reichtum gewesen; in einem bescheidenen Familienkreise hätte sie
  • wie ein herrlicher, stiller Stern geleuchtet und mit einer Bewegung
  • ihres wunderschönen Mundes ihre süßen Befehle erteilt. In einem von
  • Menschen erfüllten Saale auf blankem Parkett, bei Kerzenglanz wäre sie
  • eine Gottheit gewesen; eine Schar von Verehrern hätte in wortloser
  • Anbetung zu ihren Füßen gelegen. Aber ach, der furchtbare, teuflische
  • Wille des bösen Geistes, der darnach lechzt, die Harmonie dieses Lebens
  • zu zerstören, hatte sie mit Hohngelächter in diesen schrecklichen
  • Abgrund gestürzt.
  • Völlig hingenommen von herzzerreißendem Mitleid, saß Piskarjow vor der
  • zusammengeschmolzenen Kerze. Die Mitternacht war längst vorüber, die
  • Turmuhr schlug halb eins, aber er saß noch immer unbeweglich, schlaflos
  • und gedankenlos vor sich hindämmernd da. Schon wollte der Schlummer
  • seine Unbeweglichkeit benützend, ihn leise überwältigen, das Zimmer fing
  • an, vor seinen Blicken zu versinken, und der Kerzenschimmer blinkte noch
  • leise durch die ihn gefangen haltenden Träume, als plötzlich ein
  • Klopfen, das an der Türe ertönte, ihn aufschreckte und wieder
  • ermunterte. Die Tür öffnete sich, und ein Diener in einer eleganten
  • Livree trat ein. Noch nie hatte eine so reiche Livree sein einsames
  • Zimmer aufgesucht. Und noch dazu zu dieser ungewöhnlichen Stunde ... er
  • begriff nichts und starrte mit ungeduldiger Neugierde auf den
  • eintretenden Diener.
  • »Die Dame,« sagte der Diener, sich höflich verneigend, »bei der Sie die
  • Güte hatten, vor ein paar Stunden vorzusprechen, bittet Sie, zu ihr zu
  • kommen, und hat den Wagen nach Ihnen geschickt.«
  • Piskarjow stand in sprachloser Verwundrung da, ein Wagen und ein
  • Livreediener! ... Nein, hier lag sicher ein Mißverständnis vor ...
  • »Hören Sie, mein Lieber,« sagte er schüchtern, »Sie haben sich gewiß in
  • der Tür geirrt. Wahrscheinlich hat Ihre Herrin Sie zu einem anderen
  • Herrn geschickt und nicht zu mir.«
  • »Nein, mein Herr, ich irre mich nicht. Sie haben doch die Dame zu Fuß
  • nach Hause begleitet: bis in ihr im vierten Stock gelegenes Zimmer in
  • der Liteinaja?«
  • »Ja, das habe ich getan.«
  • »Nun, dann kommen Sie bitte schnell mit mir, meine Herrin will Sie
  • durchaus sehen und bittet Sie, zu ihr ins Haus zu kommen.«
  • Piskarjow lief die Treppe hinab. Auf dem Hofe stand wirklich ein Wagen.
  • Er setzte sich hinein, die Tür schlug zu, die Pflastersteine erdröhnten
  • unter den Rädern und Hufen der Pferde, und die erleuchteten Fassaden der
  • Häuser mit den grellen Schildern und Laternen flogen an den
  • Wagenfenstern vorüber. Während der Fahrt zerbrach sich Piskarjow den
  • Kopf, er wußte nicht, wie er sich dies Abenteuer erklären sollte. Ein
  • eigenes Haus, der Wagen, der Livreediener ... dies alles stimmte
  • durchaus nicht zu dem Zimmer im vierten Stock, zu den staubigen Fenstern
  • und dem verstimmten Klavier. Der Wagen hielt vor einer hell erleuchteten
  • Einfahrt, und zu seinem Erstaunen erblickte Piskarjow eine Reihe
  • Equipagen und hell erleuchtete Fenster, er vernahm die Unterhaltung der
  • Kutscher, Musik usw. ... Ein vornehmer Livreediener hob ihn aus dem
  • Wagen und führte ihn ehrfurchtsvoll in ein mit Marmorsäulen verziertes
  • Vorhaus; der goldstrotzende Portier und die umherliegenden Mäntel und
  • Pelze, alles war von dem grellen Lichte einer Lampe erleuchtet. Eine
  • luftige Treppe, mit einem blitzenden Geländer, führte, umfächelt von
  • aromatischen Düften, nach oben. Ohne recht zu wissen wie, hatte er sie
  • erstiegen und nun trat er in den ersten Saal, aber schon beim ersten
  • Schritt fuhr er erschreckt durch die vielen Menschen zurück.
  • Die ungewöhnliche Buntheit der anwesenden Gäste brachte ihn vollends in
  • Verwirrung; es schien ihm, daß irgendein Dämon die ganze Welt in eine
  • Menge winziger Stücke zerbröckelt und dann diese Stücke ohne Sinn und
  • Verstand durcheinandergewirbelt hätte. Blendende Frauenschultern,
  • schwarze Fräcke, Kronleuchter und Lampen, duftige, fliegende
  • Gazeschleier, ätherische Bänder und ein dicker Konterbaß, der über dem
  • Geländer des wundervollen Chors hervorlugte, dies alles glänzte und
  • glitzerte vor seinen Augen. Plötzlich sah er so viele ehrwürdige Greise
  • und ältere Männer mit Sternen auf den Fräcken, und Damen, die so leicht,
  • stolz und graziös über das Parkett schwebten oder in langen Reihen
  • nebeneinander saßen, er hörte so viele französische und englische
  • Wörter, und die jungen Leute in den schwarzen Fräcken trugen einen so
  • edlen Anstand zur Schau, sprachen oder schwiegen mit so viel Würde,
  • verstanden es so vorzüglich, nur das Allernotwendigste zu sagen,
  • scherzten so herablassend, lächelten so höflich, hatten solch herrliche
  • Backenbärte und wußten so geschickt ihre schönen Hände zu zeigen, indem
  • sie ihre Halsbinde zurecht rückten; die Damen waren so duftig, so ganz
  • hingenommen von einer absoluten Selbstzufriedenheit und Wonne, sie
  • senkten so entzückend die Augen, -- daß ... Aber schon das völlig
  • verschüchterte Wesen Piskarjows, der sich ängstlich an eine Säule
  • drückte, ließ seine vollständige Verwirrung erkennen. Währenddessen
  • hatte die Gesellschaft einen Kreis um eine tanzende Gruppe gebildet. Die
  • Tänzerinnen schwangen sich in durchsichtige Schöpfungen der Pariser
  • Modekunst, in Stoffe gehüllt, die ganz aus Luft gewebt schienen, im
  • Kreise herum; sie berührten das Parkett nur ganz oberflächlich mit ihren
  • funkelnden Füßchen und erschienen dadurch noch ätherischer, als wenn sie
  • es überhaupt nicht berührt hätten. Eine von ihnen war noch schöner,
  • kostbarer und glänzender gekleidet als die andern. Ihr ganzes Kostüm
  • zeugte von einer wundersamen Harmonie und einem erlesenen Geschmack, und
  • dabei hatte es den Anschein, als kümmerte sie sich gar nicht darum und
  • als hätte sich diese Harmonie von selbst über sie ergossen. Sie schien
  • die sie umgebende Schar der Zuschauer wohl zu bemerken und bemerkte sie
  • auch wieder nicht, die schönen, langen Wimpern waren gleichgültig
  • gesenkt, und ihre blendendweiße Gesichtsfarbe fiel noch mehr in die
  • Augen, wenn bei einer leichten Senkung des Köpfchens ein schwacher
  • Schatten auf ihre entzückende Stirn fiel.
  • Piskarjow strengte alle seine Kräfte an, um sich einen Weg durch die
  • Masse der Zuschauer zu bahnen, um sie besser sehen zu können, aber zu
  • seinem größten Verdruß verdeckte ein ungeheurer Kopf mit schwarzem
  • Lockenhaar in einem fort die Tänzerin; dabei sah er sich bald so von der
  • Menge eingezwängt, daß er weder vorwärts noch rückwärts zu gehen wagte,
  • aus Furcht, mit irgendeinem Geheimrat zusammenzustoßen. Endlich jedoch
  • war es ihm auf irgendeine Art gelungen, sich bis nach vorne vorzudrängen
  • und er warf einen Blick auf seine Kleider, um sie ein wenig in Ordnung
  • zu bringen. Aber allmächtiger Gott: Was war das? Er hatte seinen alten
  • Rock an, der voller Farbenflecken war; in der Eile des Aufbruchs hatte
  • er es nämlich ganz vergessen, sich in einen anständigen Anzug zu werfen.
  • Er wurde rot bis über die Ohren, ließ den Kopf hängen und wollte in die
  • Erde versinken, aber es war wirklich keine Versenkung da, in der er
  • hätte verschwinden können: hinter ihm stand eine ganze Mauer von
  • eleganten Kammerjunkern in hochfeinen Uniformröcken. Er wünschte sich so
  • weit fort als nur möglich von der Schönen mit der herrlichen Stirn und
  • den entzückenden Wimpern. Voller Angst hob er die Augen, um zu sehen, ob
  • sie ihn wohl gar anblickte. O Gott, sie stand ja vor ihm! Aber was war
  • das? Was war das? -- »Sie ist es!« schrie er fast mit Aufgebot all
  • seiner Kräfte. Es war wirklich dieselbe Schöne, die er auf dem
  • Newsky-Prospekt getroffen und die er dann nach Hause begleitet hatte.
  • Unterdessen aber hatte sie die Wimpern erhoben und sah alle mit ihrem
  • klaren Blick an. »O Gott, wie schön ist sie! ...« das war alles, was er
  • stockenden Atems sagen konnte. Sie suchte den ganzen Kreis mit ihren
  • Augen ab; alle lechzten förmlich darnach, ihre Aufmerksamkeit auf sich
  • zu ziehen, aber sie blickte nur mit einer gewissen Ermüdung und
  • Gleichgültigkeit wieder weg, und ihre Augen begegneten denen Piskarjows.
  • Welch ein Himmel! Welch ein Paradies lag in diesem Blick! Allmächtiger
  • Gott! Woher wollte er die Kraft nehmen, ihn zu ertragen, sein Herz
  • vermochte ihn nicht auszuhalten, es mußte zerreißen und die Seele mit
  • sich entführen! Sie gab ihm ein Zeichen, aber nicht mit der Hand, noch
  • durch eine Neigung des Kopfes, nein -- dieses Zeichen lag in dem Blick
  • ihrer verführerischen Augen, in einem so feinen, unmerklichen Ausdruck,
  • daß niemand ihn bemerken konnte; -- er aber bemerkte -- _er_ verstand
  • ihn. Der Tanz dauerte lange, die müde Musik schien ersterben und
  • erlöschen zu wollen, aber sie raffte sich wieder auf und tönte
  • kreischend und laut schmetternd durch den Saal; da endlich -- war der
  • Tanz zu Ende! Die schöne Frau setzte sich nieder, ihr Busen hob und
  • senkte sich unter den zarten Wolken des Gazestoffes; ihre Hand (Gott,
  • was war das doch für eine wundervolle Hand!) sank auf ihre Knie, und
  • fiel schwer auf das durchsichtige Kleid; dem Kleide schien unter dieser
  • Berührung Musik zu entströmen, und die zarte Fliederfarbe ließ das
  • blendende Weiß der schönen Hand noch deutlicher hervortreten. Nur einmal
  • diese Hände berühren -- und dann nichts mehr! Keinen anderen Wunsch mehr
  • -- jeder andere wäre zu kühn gewesen ... Er stand hinter ihrem Stuhl und
  • wagte es nicht, etwas zu sagen oder Atem zu holen -- »Sie haben sich
  • wohl gelangweilt?« fragte sie, »ich habe mich auch gelangweilt. Ich
  • merke es wohl, daß Sie mich hassen,« fügte sie hinzu und senkte ihre
  • langen Wimpern.
  • »Sie hassen? ich? ..« wollte der völlig fassungslose Piskarjow ausrufen
  • und er hätte gewiß noch eine ganze Menge unzusammenhängender Worte
  • hervorgebracht, aber in diesem Augenblick trat ein Kammerherr mit einem
  • sehr schönen, gelockten Toupet hinzu und machte ein paar witzige und
  • angenehme Bemerkungen. Er lächelte freundlich, ließ hierbei eine Reihe
  • schöner Zähne sehen und schien mit jedem Witz einen Nagel in Piskarjows
  • Herz zu treiben. Zum Glück wandte sich endlich einer von den Anwesenden
  • mit einer Frage an den Kammerherrn.
  • »Wie unerträglich ist das!« sagte sie und hob ihre himmlischen Augen zu
  • ihm empor. -- »Ich will mich am andern Ende des Saales hinsetzen, kommen
  • Sie zu mir!« Sie glitt durch die Menge und entschwand seinen Blicken.
  • Halb wahnsinnig machte er sich zwischen den Leuten hindurch Bahn und war
  • gleich darauf an ihrer Seite.
  • »Ja, das war sie!« Sie saß da wie eine Königin, schöner und herrlicher
  • als alle andern, und suchte ihn mit den Augen.
  • »Sie sind hier?« sagte sie leise. »Ich will aufrichtig gegen Sie sein:
  • die Art unserer Begegnung ist Ihnen gewiß sonderbar erschienen. Konnten
  • Sie wirklich glauben, daß ich zu jener verächtlichen Menschenklasse
  • gehöre, in deren Mitte Sie mich trafen? Mein Betragen scheint Ihnen
  • merkwürdig, aber ich will Ihnen ein Geheimnis anvertrauen. Sind Sie auch
  • imstande,« sagte sie und sah ihm forschend in die Augen -- »es nie
  • jemand zu verraten?«
  • »O gewiß, ich schwöre Ihnen ...«
  • Aber in diesem Augenblick trat ein ältlicher Herr an sie heran, fing an,
  • in einer Sprache, die Piskarjow unverständlich blieb, mit ihr zu reden,
  • und reichte ihr den Arm. Sie warf Piskarjow einen flehenden Blick zu und
  • gab ihm ein Zeichen, er solle auf seinem Platz bleiben und ihre Rückkehr
  • abwarten, aber in seiner Ungeduld fühlte er sich außerstande,
  • irgendeinen Befehl, und wäre es selbst der ihrige gewesen, zu empfangen.
  • Er wollte ihr folgen, doch im Gedränge wurden sie voneinander getrennt.
  • Er konnte das fliederfarbige Kleid nicht mehr entdecken, in höchster
  • Unruhe eilte er aus einem Zimmer ins andere und stieß alle, die ihm
  • entgegenkamen, unbarmherzig zur Seite. Allein in den Zimmern saßen nur
  • vornehme und reiche Herren beim Whist und hüllten sich in ein stumpfes
  • Schweigen. In einem Winkel stritten ein paar ältere Leute über die
  • Vorzüge des Militärdienstes gegenüber denen des Zivildienstes, und in
  • einer anderen Ecke machten einige junge Leute in eleganten Fräcken
  • flüchtige Bemerkungen über das mehrbändige Werk eines ernsten Poeten.
  • Piskarjow fühlte, wie ein ältlicher Herr von ehrwürdigem Äußeren ihn bei
  • einem Knopf seiner Rocks ergriff und ihm eine sehr richtige Antwort auf
  • eine Bemerkung von ihm erteilte, aber er stieß ihn grob von sich, ohne
  • zu bemerken, daß der Herr einen recht hohen Orden um den Hals trug.
  • Piskarjow lief in ein anderes Zimmer, sie war nicht da, dann in ein
  • drittes -- auch da war sie nicht zu finden. »Wo ist sie nur? Führt mich
  • zu ihr! Oh! ich kann nicht ohne ihren Anblick leben! ich will wissen,
  • was sie mir zu sagen hatte!« Aber all sein Suchen war umsonst. Müde und
  • ängstlich drückte er sich in eine Ecke, und blickte in die Menge vor
  • ihm, doch seine müden Augen stellten ihm alles in unbestimmten Formen
  • und Konturen dar. Endlich fing er an, die Wände seines eigenen Zimmers
  • zu erkennen. Er blickte auf: vor ihm stand ein Leuchter, die Kerze war
  • fast ganz heruntergebrannt und war im Begriff, zu verlöschen, das Licht
  • war dahingeschmolzen, und der Talg hatte sich über den alten Tisch
  • ergossen.
  • Er hatte also nur geschlafen. Gott, welch ein schöner Traum! warum mußte
  • er nur wieder erwachen?! warum hatte er nicht noch eine Minute warten
  • können! Gewiß wäre sie zurückgekommen! Das aufdringliche Morgengrauen,
  • das ihn mit seinem trüben Lichte peinigte, blickte durchs Fenster
  • hinein. Das Zimmer lag grau und trübe da: überall herrschte Unordnung
  • ... Oh, diese abscheuliche Wirklichkeit, was war sie im Vergleich mit
  • dem Traume? Er kleidete sich schnell aus, legte sich ins Bett und hüllte
  • sich in die Decke ein, ganz von dem einen Wunsche erfüllt, das
  • entflohene Traumbild wieder zurückzurufen. Der Traum zögerte auch nicht,
  • sich einzustellen, aber er ließ ihn nicht sehen, was er sehen wollte:
  • bald erschien der Leutnant Piragow mit einer Pfeife im Munde, bald der
  • Diener aus der Akademie, bald ein Wirklicher Staatsrat, dann wieder der
  • Kopf einer Finnländerin, die er einst gemalt hatte, und ähnlicher
  • Unsinn.
  • Bis zum Nachmittag lag er im Bett, weil er wieder einschlafen wollte --
  • aber die Schöne wollte nicht erscheinen. Wenn sie doch nur für einen
  • Augenblick ihre wundervollen Züge vor ihm enthüllt, wenn er doch nur für
  • einen Augenblick ihren leichten Schritt vernommen hätte, wenn ihr
  • entblößter Arm nur für einen Moment, wie eine schneeweiße Wolke an
  • seinen Blicken vorübergeschwebt wäre!
  • Er hatte alles von sich geworfen und alles vergessen und saß nun mit
  • einer trost- und hoffnungslosen Miene da, ganz in sein Traumgesicht
  • versunken. Er dachte nicht mehr daran, etwas zu unternehmen;
  • teilnahmslos und leblos starrten seine Augen durchs Fenster auf den Hof,
  • wo ein schmutziger Wasserträger Wasser ausgoß, das in der Luft gefror,
  • und wo ein Verkäufer mit meckernder Stimme seine Ware feilbot: »_alte
  • Kleider zu verkaufen_.« Alles Wirkliche und Alltägliche berührte sein
  • Ohr fremd und seltsam. So saß er bis zum Abend da, dann warf er sich
  • leidenschaftlich ins Bett. Lange kämpfte er mit der Schlaflosigkeit,
  • aber endlich besiegte er sie. Wieder fing er an zu träumen, aber diesmal
  • war es ein fader, häßlicher Traum. »Gott, erbarme Dich! Oh, laß mich sie
  • sehen, wenn auch nur für einen Augenblick, für einen einzigen
  • Augenblick!« Er wartete wieder auf den Abend, schlief wieder ein und
  • träumte von einem Beamten, der ein Beamter und zu gleicher Zeit ein
  • Fagott war. »Oh! das ist unerträglich!« rief er da. Endlich erschien sie
  • ihm, ihr Köpfchen, ihre Locken ... sie sah ihn an ... aber ach, nur ganz
  • kurze Zeit! Wieder senkte sich ein Nebel herab, ... und abermals versank
  • er in einen dummen Traum.
  • Allmählich bildeten seine Träume den ganzen Inhalt seines Lebens, und
  • von dieser Zeit ab nahm sein Leben eine merkwürdige Richtung an: man
  • konnte sagen, er schlief -- wenn er wach war, und er war wach -- wenn er
  • träumte. Wenn ihn jemand gesehen hätte, wie er ganz stumm vor seinem
  • leeren Tisch saß, oder wie er auf der Straße einherging, er hätte ihn
  • für einen Nachtwandler oder einen durch Alkohol vergifteten Narren
  • gehalten; sein Blick war völlig ausdruckslos, seine angeborene
  • Zerstreutheit entwickelte sich bis ins Maßlose und verjagte herrisch
  • alle Bewegung und Empfindung aus seinem Gesicht, nur beim Anbruch der
  • Nacht belebten sich seine starren Züge wieder.
  • Dieser Zustand zerrüttete seinen Organismus, aber die größte Qual brach
  • erst für ihn an, als der Schlaf endlich anfing, ihn ganz zu fliehen. Vom
  • Wunsche verzehrt, diesen seinen einzigen Schatz zu retten, wandte er
  • alle Mittel an, um ihn wiederzuerlangen. Er erfuhr, daß es ein Mittel
  • gäbe, das einem den Schlaf wiederbringt, dazu brauche man nur Opium zu
  • nehmen. Aber wo sollte er sich dies Opium verschaffen! Piskarjow
  • erinnerte sich eines Persers, der Ladenbesitzer war, mit persischen
  • Schals handelte und ihn bei jeder Begegnung gebeten hatte, ihm doch ein
  • schönes Frauenbildnis zu malen. In der Überzeugung, daß der Perser Opium
  • besäße, entschloß er sich, zu ihm zu gehen.
  • Der Perser empfing ihn, mit verschränkten Beinen auf dem Diwan sitzend:
  • »Wozu brauchst du Opium?« fragte er ihn.
  • Piskarjow erzählte ihm von seiner Schlaflosigkeit.
  • »Gut, ich will dir Opium geben -- aber male mir ein schönes
  • Frauenbildnis dafür. Es muß jedoch wirklich schön sein! Sie muß schwarze
  • Brauen und große Sammetaugen haben, und ich selbst will neben ihr liegen
  • und meine Pfeife rauchen! Hörst du, aber schön muß sie sein,
  • wunderschön, hörst du?«
  • Piskarjow versprach ihm alles. Der Perser ging auf einen Augenblick
  • hinaus und kehrte dann mit einem Fläschchen, das mit einer schwarzen
  • Flüssigkeit angefüllt war, zurück; vorsichtig goß er einen Teil davon in
  • ein anderes Fläschchen und gab es Piskarjow mit der Weisung, nicht mehr
  • als sieben Tropfen in Wasser zu nehmen. Piskarjow griff nach dem
  • kostbaren Fläschchen, das er für keinen Goldklumpen wieder hergegeben
  • hätte und lief Hals über Kopf nach Hause.
  • Kaum war er zu Hause angekommen, so goß er sich einige Tropfen in ein
  • Glas Wasser, trank es hastig aus und warf sich auf sein Lager.
  • Mein Gott! welche Wonne war dies! Da war sie! Da war sie wieder, aber
  • jetzt erschien sie ihm in einer ganz anderen Welt. Oh, wie reizend war
  • das! da saß sie am Fenster eines hellen Landhäuschens; ihre Kleidung war
  • von einer Schlichtheit, wie nur ein Poet sie ersinnen konnte. Ihre
  • Haartracht ... Heiliger Gott, wie einfach war sie, und doch wie
  • kleidsam! Der kurze Zopf fiel ihr auf ihren schlanken Nacken herab,
  • alles an ihr war bescheiden, geheimnisvoll und deutete auf einen
  • wunderbar edlen, feinen Geschmack. Wie graziös war ihr Gang, wie
  • harmonisch der Takt ihrer Schritte und das Rauschen ihres schlichten
  • Kleides! wie schön ihr Arm mit dem aus Haaren geflochtenen Armband! Mit
  • Tränen in den Augen sagte sie zu ihm: »Verachten Sie mich nicht, ich bin
  • nicht das, wofür Sie mich halten! Sehen Sie mich an! Blicken Sie mich
  • aufmerksam an und sagen Sie dann: sollte ich denn wirklich dessen fähig
  • sein -- woran Sie denken? -- O nein, nein, der solches zu denken wagte
  • ... soll ...«
  • Er wachte gerührt, ja erschüttert, mit Tränen in den Augen auf. »Es wäre
  • besser, du existiertest überhaupt nicht, sondern wärest die Schöpfung
  • eines begeisterten Künstlers, ich würde nicht von der Leinwand weichen,
  • oh, ich würde dich ewig anschauen und dich unaufhörlich küssen. Du
  • wärest mein Leben, mein ganzes Sein die herrlichste Phantasie, und ich
  • wäre glücklich. Ich hätte keinen Wunsch außer nach dir! Wie meinen
  • Schutzengel würde ich dich anrufen, im Schlafe und wenn ich wach wäre,
  • und wenn ich etwas Göttliches und Heiliges darstellen müßte, so würde
  • ich auf dich warten, daß du mir erscheinest. Doch nun, was für ein
  • entsetzliches Leben! Sie lebt -- aber was nützt es mir! Ist denn das
  • Leben eines Wahnsinnigen eine Freude für seine Angehörigen und seine
  • Freunde, die ihn einstmals liebten?! Mein Gott, was ist unser Leben! Ein
  • ewiger Streit zwischen Illusion und Wirklichkeit!« -- Solche und
  • ähnliche Gedanken beschäftigten ihn unaufhörlich. Andere Interessen
  • hatte er nicht, er dachte an nichts und aß fast gar nichts; voller
  • Ungeduld und mit der Leidenschaft eines Liebhabers wartete er auf den
  • Abend und die ersehnte Erscheinung. Diese beständige Richtung seiner
  • Gedanken auf ein Ziel gewann schließlich solch eine Gewalt über sein
  • ganzes Sein und seine Einbildungskraft, daß das ersehnte Bild fast
  • täglich vor seinem inneren Auge erschien, aber immer in einer Umgebung,
  • die der Wirklichkeit geradezu widersprach, denn seine Gedanken waren
  • rein wie die Gedanken eines Kindes. Der Gegenstand seiner Liebe wurde
  • durch seine Träume verwandelt und veredelt.
  • Der Gebrauch des Opiums erhitzte seine Gedanken immer mehr; wenn es
  • einmal einen bis zum höchsten Grade des Wahnsinns ungestümen, qualvoll
  • und verzehrend Verliebten gegeben hat, so war _es_ dieser Unglückliche.
  • Der schönste von allen seinen Träumen war dieser: Er fand sich in seinem
  • Atelier wieder, war froh gestimmt und saß selig mit der Palette in der
  • Hand da. Auch sie war zugegen und war seine Frau. Sie saß neben ihm,
  • stützte sich mit ihrem zierlichen Ellenbogen auf die Lehne seines
  • Stuhles und sah zu, wie er arbeitete. In ihren dunklen, müden Augen lag
  • eine lastende Fülle des Glücks, alles im Zimmer war durchtränkt von
  • Seligkeit, überall herrschte Helligkeit, Ordnung und Sauberkeit.
  • Himmlischer Gott! sie lehnte ihr herrliches Köpfchen an seine Brust ...
  • Einen schöneren Traum hatte Piskarjow noch nie gehabt und er fühlte sich
  • frischer und weniger zerstreut als vorher. Wundersame Gedanken regten
  • sich in seinem Hirn: »Vielleicht,« so dachte er, »vielleicht ist sie
  • durch irgendeinen unverschuldeten, schrecklichen Zufall dem Laster
  • verfallen, vielleicht sehnt sich ihre Seele nach Buße, vielleicht
  • verlangt sie selbst danach, sich aus ihrer entsetzlichen Lage zu
  • befreien. Darf man denn gleichgültig zusehen, wie sie zugrunde geht? wo
  • es sich vielleicht nur darum handelt, ihr die Hand entgegenzustrecken
  • und sie vor dem Ertrinken zu retten!« Und seine Gedanken eilten immer
  • weiter: »Mich kennt niemand,« sagte er zu sich selbst, »wer kümmert sich
  • um mich, und um wen brauche ich mich zu kümmern?! Wenn sie aufrichtig
  • bereut und ihren Lebenswandel ändert, so -- will ich sie heiraten. Ja,
  • ich muß sie heiraten, ich werde verständig handeln! Wieviel Menschen
  • gibt es, die ihre Wirtschafterinnen und manches Mal sogar ganz
  • verwerfliche Geschöpfe heiraten; meine Tat wird uneigennützig und
  • vielleicht sogar groß sein. Ich werde der Welt eine ihrer schönsten
  • Zierden wiedergeben!«
  • Während er solch leichtsinnige Pläne schmiedete, fühlte er die Röte in
  • seine Wangen steigen; er trat vor den Spiegel und erschrak über seine
  • eingefallenen Züge und die Blässe seines Gesichts. Diesmal kleidete er
  • sich sorgfältig an, wusch sich, kämmte sein Haar, warf sich in seinen
  • neuen Frack und zog eine feine Weste an, legte den Mantel um und ging
  • auf die Straße. Gierig sog er die frische Luft ein und fühlte ein
  • Wohlbehagen in seinem Innern wie ein Genesender, der sich nach einer
  • langwierigen Krankheit zum erstenmal entschlossen hat, an die Luft zu
  • gehn. Als er sich der Straße näherte, die er seit der verhängnisvollen
  • Begegnung nicht mehr betreten hatte, fing sein Herz heftiger an, zu
  • pochen.
  • Lange suchte er nach dem Hause; es schien, das Gedächtnis versagte ihm
  • den Dienst. Zweimal ging er die Straße auf und ab und wußte nicht, wo er
  • stehnbleiben sollte. Endlich glaubte er das Haus gefunden zu haben.
  • Schnell lief er die Treppe hinauf und klopfte an die Tür: die Tür
  • öffnete sich, -- und wer trat ihm entgegen? Sein Ideal! sein
  • geheimnisvolles Traumbild, das Original seiner Phantasien -- sie, die
  • sein Alles, sein Leben, sein ganzes furchtbares, qualvolles und doch so
  • süßes Leben ausmachte -- sie stand vor ihm. Er erbebte; ganz überwältigt
  • von der Freude, konnte er sich vor Schwäche kaum auf den Füßen halten.
  • Sie stand vor ihm, noch ebenso schön wie ehemals; obgleich ihre Augen
  • etwas trübe waren und eine leichte Blässe auf ihren nicht mehr ganz so
  • frischen Zügen lag, war sie doch immer noch wunderschön.
  • »Oh,« rief sie aus, als sie Piskarjow erblickte, und rieb sich die
  • Augen. Es war schon 2 Uhr nachmittag. »Warum sind Sie damals
  • weggelaufen?«
  • Piskarjow ließ sich ganz erschöpft auf einem Stuhle nieder und blickte
  • sie an.
  • »Ich bin erst eben aufgewacht; man hat mich um 7 Uhr nach Hause
  • gebracht. Ich war ganz betrunken!« fügte sie mit einem Lächeln hinzu.
  • »Oh! wärest du doch stumm, wärest du der Sprache beraubt, statt solche
  • Reden zu führen!« Wie in einem Panorama, so hatte sie ihm in diesem
  • Augenblick ihr ganzes Leben aufgerollt. Trotz alledem aber nahm er all
  • seine Kraft zusammen: er wollte den Versuch machen, ob seine Ermahnungen
  • keinen Eindruck auf sie ausüben würden. Nachdem er sich ermannt hatte,
  • fing er mit zitternder Stimme an, ihr in glühenden Farben die Schrecken
  • ihrer Lage zu schildern. Sie hörte ihn mit Aufmerksamkeit und mit dem
  • Gefühl des Staunens an, wie wir es wohl beim Anblick von etwas völlig
  • Unerwartetem und Merkwürdigem zu äußern pflegen. Mit einem kaum
  • merklichen Lächeln blickte sie auf ihre Freundin, die in der Ecke saß,
  • in ihrer Arbeit -- sie reinigte gerade einen Kamm -- innehielt und dem
  • neuen Propheten gleichfalls aufmerksam zuhörte.
  • »Es ist wahr, ich bin arm!« schloß Piskarjow nach einer langen und
  • erbaulichen Ermahnung, »aber wir werden arbeiten, wir werden uns beide,
  • einer wie der andere, um die Wette bemühen, unsere Lage zu verbessern.
  • Es gibt nichts Schöneres, als alles seiner eigenen Kraft zu verdanken.
  • Ich werde Bilder malen, du wirst mit einer Arbeit beschäftigt neben mir
  • sitzen und mich zum Schaffen begeistern; es soll uns an nichts fehlen.«
  • »Wie wäre das möglich!« unterbrach sie ihn in seiner Rede mit dem
  • Ausdruck tiefer Verachtung. »Ich bin doch keine Wäscherin oder Näherin,
  • daß ich arbeiten sollte!«
  • Mein Gott! in diesen Worten kam die ganze Häßlichkeit dieses
  • verächtlichen Lebens zum Ausdruck, eines Lebens voller Eitelkeit und
  • Müßiggangs, dieser treuen Gefährten des Lasters.
  • Hier fiel die Freundin, die bis jetzt still in der Ecke gesessen hatte,
  • frech ein: »Heiraten sie mich! Wenn ich verheiratet bin, werde ich immer
  • so dasitzen.« Hierbei verzog sie ihr erbärmliches Gesicht zu einer
  • dummen Grimasse, und dies amüsierte die Schöne aufs höchste und brachte
  • sie zum Lachen.
  • Oh! das war zuviel! das war unerträglich! Er stürzte hinaus, wie von
  • Sinnen und als ob er den Verstand verloren hätte. Seine Gedanken
  • verwirrten sich; ohne Sinn und Ziel, blind, taub und gefühllos, so trieb
  • er sich den ganzen Tag über herum. Niemand wußte, ob er irgendwo
  • geschlafen hatte oder nicht, erst am nächsten Tage kehrte er, von einem
  • törichten Instinkt getrieben, in seine Wohnung zurück, er war in einem
  • schrecklichen Zustande, sein Gesicht war bleich, die Haare waren
  • verwühlt, und in seinen Zügen machten sich Anzeichen von Wahnsinn
  • bemerkbar. Er schloß sich in seinem Zimmer ein, ließ niemand zu sich
  • herein und nahm nichts zu sich. Es vergingen vier Tage, ohne daß sich
  • sein verschlossenes Zimmer auch nur einmal geöffnet hätte, es verging
  • eine Woche, und das Zimmer blieb noch immer verschlossen. Man rüttelte
  • an der Tür, man rief nach ihm, aber es erfolgte keine Antwort; endlich
  • brach man die Tür auf und fand einen leblosen Körper mit einer
  • durchschnittenen Kehle. Das blutige Rasiermesser lag am Boden. Aus den
  • krampfhaft verrenkten Armen und den furchtbar verzerrten Gesichtszügen
  • konnte man schließen, daß seine Hand gezittert und daß der Selbstmörder
  • sich noch lange gequält hatte, bevor seine sündige Seele sich von ihrer
  • Hülle befreit hatte. So starb der arme, stille, bescheidene,
  • schüchterne, kindlich-schlichte Piskarjow, ein Opfer der wahnsinnigen
  • Leidenschaft: er der den Funken eines Talentes in sich getragen, das
  • sich vielleicht zu einer hohen, hellen Flamme hätte entwickeln können!
  • Niemand weinte um ihn, niemand warf einen Blick auf seinen leblosen
  • Körper als der Polizeikommissar und der Stadtarzt, diese gewohnten
  • Gestalten mit ihren gleichgültigen Mienen. Man trug seinen Sarg ganz
  • still ohne jede religiöse Zeremonie nach Ochta, ein einziger Wächter
  • begleitete ihn -- aber auch der weinte nur, weil er ein Glas Schnaps
  • über den Durst getrunken hatte. Selbst der Leutnant Piragow, der ihm bei
  • Lebzeiten seine hohe Protektion erwiesen hatte, erschien nicht, um dem
  • Leichnam des Unglücklichen einen letzten Blick zu weihn. Er hatte
  • übrigens ganz andere Dinge im Kopfe: er war mit einem außerordentlichen
  • Erlebnis beschäftigt. Aber wenden wir uns lieber ihm zu: ich liebe die
  • Toten nicht, und es ist mir immer unangenehm, wenn ein Begräbniszug mit
  • dem alten Invaliden, der wie ein Kapuziner gekleidet ist und seinen
  • Tabak mit der linken Hand schnupft, weil er in der rechten eine Fackel
  • trägt, meinen Weg kreuzt. Ich spüre immer etwas wie Verdruß, wenn ich
  • einem kostbaren Katafalk und einem mit Sammet bezogenen Sarg begegne;
  • aber mein Verdruß mischt sich mit Wehmut, wenn ich einen Lastfuhrmann
  • sehe, der einen kahlen, toten Sarg eines Armen mit sich führt, begleitet
  • von einer Bettlerin, die zufällig des Weges daherkam und dem Sarge
  • folgte, da sie gerade nichts anderes zu tun hatte.
  • Ich glaube, wir haben den Leutnant Piragow verlassen, als er sich gerade
  • von dem armen Maler Piskarjow trennte und der schönen Blondine
  • nacheilte. Diese Blondine war ein leichtsinniges und interessantes
  • Geschöpf. Sie blieb vor jedem Kaufladen stehn und betrachtete die in den
  • Schaufenstern ausgelegten Gürtel, Halstücher, Ohrringe, Handschuhe und
  • sonstigen Kleinigkeiten, drehte sich hin und her, blickte nach allen
  • Seiten und sah sich fortwährend um. »Mein Täubchen!« sagte Piragow
  • selbstbewußt, setzte seine Verfolgung fort und verbarg sein Gesicht, um
  • nicht von seinen Bekannten erkannt zu werden, in dem Kragen. Doch es ist
  • vielleicht Zeit, den Leser etwas näher mit Piragow bekannt zu machen.
  • Aber bevor wir erzählen, wer Piragow eigentlich war, ist es am Platze,
  • etwas über die Kreise zu sagen, zu denen Piragow gehörte. Es gibt in
  • Petersburg Offiziere, die gewissermaßen eine Mittelklasse bilden. In
  • Gesellschaften, bei Diners von Staatsräten oder Wirklichen Staatsräten,
  • die sich diesen Titel durch vierzigjährigen Dienst erworben haben, kann
  • man immer den einen oder den anderen Offizier dieser Kategorie treffen.
  • Ein paar höhere Töchter, so bleich und farblos wie Petersburg selbst,
  • von denen einzelne schon recht verblüht aussehen, ein Teetisch, ein
  • Klavier, ein häuslicher Tanz -- dies alles ist nicht denkbar ohne die
  • blitzenden Epauletten, die man beim Lampenschein zwischen den sittsamen
  • Blondinen und den schwarzen Fracks der Brüder und Hausfreunde glänzen
  • sieht. Es ist sehr schwer, diese kaltblütigen Jungfrauen aufzumuntern
  • und sie zum Lachen zu bringen, dazu gehört eine große Kunst, oder besser
  • gesagt, dazu bedarf es gar keiner Kunst. Man muß nicht allzu klug und
  • auch nicht allzu komisch reden, und in allem muß jene Hohlheit und
  • Nichtigkeit liegen, die das weibliche Geschlecht so liebt. Doch in
  • dieser Hinsicht muß man den Herren Gerechtigkeit widerfahren lassen, sie
  • verstehen es ausgezeichnet, sich bei diesen faden Jungfrauen Gehör zu
  • verschaffen und sie zum Lachen zu reizen. Rufe, die von Gelächter
  • erstickt werden, wie: »Bitte, hören Sie auf! Schämen Sie sich doch,
  • einen so zum Lachen zu bringen!« sind häufig die schönste Belohnung für
  • diese Art Leute. In der besseren Gesellschaft begegnet man ihnen nur
  • selten, oder richtiger gesagt, nie. Hier werden sie ganz von den Leuten
  • verdrängt, die man in diesen Kreisen die Aristokratie nennt. Übrigens
  • aber hält man sie für gelehrte und wohlerzogene junge Leute. Sie lieben
  • es, sich über Literatur zu unterhalten, loben Bulgarin, Puschkin und
  • Gretsch, und sprechen mit Verachtung und geistreichen Sticheleien über
  • A. A. Orlow. Auch versäumen sie keinen öffentlichen Vortrag, ob in ihm
  • nun von der Buchhaltung oder vom Forstwesen die Rede ist. Stets ist der
  • eine oder der andere von ihnen im Theater zu finden, ganz gleichgültig,
  • was für ein Stück gerade aufgeführt wird, es müßte denn eine ganz dumme
  • Posse sein, die ihrem anspruchsvollen Geschmack nicht genügt; sonst aber
  • sind sie immer im Theater. Für die Theaterdirektionen ist das das beste
  • Publikum. In den Stücken sind es hauptsächlich schöne Verse, die sie
  • schätzen; auch rufen sie stets die Schauspieler mit lautem Beifall vor
  • die Rampe; viele von ihnen unterrichten in staatlichen Lehranstalten
  • oder sie bereiten die Zöglinge für diese Anstalten vor, und schließlich
  • schaffen sie sich ein paar Pferde und ein Kabriolett an. Dann wird ihr
  • Wirkungskreis noch ausgedehnter; zum Schluß führen sie eine
  • Kaufmannstochter, die Klavier spielt und etwa 100000 Rubel in bar und
  • einen Haufen bärtiger Verwandter mitbringt, zum Altar. Dieser Ehre
  • werden sie jedoch nie früher teilhaftig, als bis sie wenigstens zum
  • Oberst avanciert sind; denn obgleich die russischen Bartträger[6] immer
  • noch etwas nach Kraut riechen, wollen sie doch ihre Töchter mindestens
  • als Generalsfrauen oder doch als Oberstinnen sehen. Dies sind die
  • wichtigsten Charakterzüge dieser Art junger Leute. Jedoch der Leutnant
  • Piragow hatte noch eine Menge anderer Talente, die nur ihm persönlich
  • eigen waren. Er verstand es ausgezeichnet, Verse aus »Dimitri-Donskoj«
  • und »Wehe dem Gescheiten« zu deklamieren, und wußte vortrefflich
  • Rauchringe aus der Pfeife aufsteigen zu lassen, manches Mal konnte er
  • ein ganzes Dutzend nebeneinander aufreihen! Er konnte vorzüglich davon
  • erzählen, daß »die Kanone etwas an und für sich und daß das Einhorn auch
  • etwas an und für sich« sei ... Übrigens ist es außerordentlich schwer,
  • alle Talente aufzuzählen, mit denen das Schicksal den Leutnant Piragow
  • ausgestattet hatte. Er sprach gern über eine Schauspielerin oder eine
  • Tänzerin, aber nicht mit der Schärfe, wie sich gewöhnlich Leutnants über
  • solche Gegenstände auszulassen pflegen. Mit seinem Leutnantsrang, zu dem
  • er erst vor kurzem avanciert war, war er sehr zufrieden, obgleich er
  • häufig sagte, während er sich aufs Sofa streckte: »ach ja, alles ist
  • eitel, was hat denn das zu bedeuten, daß ich Leutnant bin«; aber in
  • seinem Innern fühlte er sich doch sehr durch die neue Würde gehoben, und
  • in der Unterhaltung bemühte er sich häufig darauf anzuspielen; ja als
  • ihm einmal auf der Straße ein Schreiber begegnete, der ihm unhöflich zu
  • sein schien, hielt er ihn sofort an und gab ihm in kurzen aber scharfen
  • Worten zu verstehen, daß vor ihm ein _Leutnant_ und nicht ein
  • xbeliebiger Offizier stehe -- und da in diesem Moment zwei allerliebste
  • Damen vorübergingen -- bemühte er sich, sich besonders hübsch
  • auszudrücken. Piragow trug überhaupt eine Leidenschaft für alles Schöne
  • zur Schau und daher protegierte er auch den Künstler Piskarjow:
  • vielleicht kam es übrigens auch nur daher, weil er es so sehr wünschte,
  • sein männliches Gesicht auf der Leinwand zu sehen. Aber nun sei es genug
  • von den Tugenden Piragows. Der Mensch ist ein so erstaunliches Wesen,
  • daß es unmöglich ist, alle seine Vorzüge mit einemmal aufzuzählen, je
  • länger man ihn anschaut, desto mehr neue Eigentümlichkeiten kommen zum
  • Vorschein, und man fände nie ein Ende, wenn man sie alle herzählen
  • wollte.
  • [Fußnote 6: d. h. Kaufleute.]
  • Piragow fuhr also fort, die Unbekannte zu verfolgen; von Zeit zu Zeit
  • unterhielt er sie mit Fragen, auf die sie kurz und scharf oder mit
  • unverständlichen Lauten antwortete. Sie gingen durch das dunkle
  • Kasansche Tor und bogen in die Meschtschanskaja, diese von kleinen
  • Tabak- und Kramlädenbesitzern, deutschen Handwerkern und finnischen
  • Nymphen bevölkerte Straße, ein. Die Blondine beschleunigte ihre Schritte
  • sichtlich und schlüpfte in die Pforte eines ziemlich schmutzigen Hauses.
  • Piragow folgte ihr. Sie lief eine schmale, dunkle Treppe hinauf, öffnete
  • eine Tür und trat ein, während ihr Piragow mutig folgte. Plötzlich
  • befand er sich in einem großen Zimmer mit schwarzen Wänden und einem
  • verräucherten Plafond. Ein ganzer Haufen von eisernen Schrauben,
  • Schlosserwerkzeugen, Instrumenten, glänzenden Kaffeekannen und Leuchtern
  • lag auf dem Tisch, und der Boden war mit eisernen und kupfernen
  • Sägespänen bestreut. Piragow begriff sofort, daß dies die Werkstätte
  • eines Handwerkers war. Die Unbekannte verschwand weiter durch eine
  • Seitentür. Piragow besann sich einen Augenblick, dann aber folgte er der
  • russischen Maxime und entschloß sich, »vorwärts« zu eilen. Er trat in
  • ein andres Zimmer, das dem ersten durchaus nicht ähnlich sah: es war
  • sehr sauber und ordentlich, und man erkannte sofort, daß der Wirt ein
  • Deutscher war. Ein überaus merkwürdiges Bild setzte Piragow aufs höchste
  • in Erstaunen: vor ihm saß _Schiller_ -- nicht jener Schiller, der den
  • Wilhelm Tell und die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges geschrieben
  • hat, sondern der _bekannte_ Schiller, ein Schlossermeister aus der
  • Meschtschanskistraße. Neben Schiller stand _Hoffmann_, aber wiederum
  • nicht der Dichter Hoffmann, sondern ein tüchtiger Schuhmachermeister
  • dieses Namens aus der Offizierstraße und ein großer Freund Schillers.
  • Schiller war betrunken, saß auf einem Stuhl, stampfte mit dem Fuß und
  • sprach mit großem Eifer auf den andern ein. Dies alles hatte Piragow
  • noch nicht in Erstaunen gesetzt; was seine Verwunderung erregte, war die
  • höchst merkwürdige Stellung dieser beiden Gestalten. Schiller saß da,
  • hielt den Kopf in die Höhe und streckte seine ziemlich dicke Nase vor;
  • Hoffmann aber hatte diese Nase mit zwei Fingern gefaßt und fuhr mit der
  • Schneide eines Schustermessers über ihre Oberfläche hin und her. Beide
  • sprachen Deutsch, und daher konnte Leutnant Piragow, der außer »guten
  • Morgen« kein Wort Deutsch konnte, nichts von der ganzen Sache verstehen.
  • Im übrigen aber hatten Schillers Reden folgenden Inhalt: »Ich will sie
  • nicht, ich brauche keine Nase!« sagte er und fuchtelte mit den Händen in
  • der Luft herum. »Allein für diese Nase verbrauche ich 3 Pfund Tabak
  • monatlich. Und ich zahle in einem elenden russischen Laden -- weil die
  • deutschen Läden keinen russischen Tabak haben -- ich zahle in einem
  • elenden russischen Laden 40 Kopeken pro Pfund: das macht also 1 Rubel 20
  • Kopeken -- und zwölfmal 1 Rubel 20 Kopeken, das macht wiederum 14 Rubel
  • 40 Kopeken. -- Hörst du's, mein Freund Hoffmann, allein für die Nase 14
  • Rubel und 40 Kopeken. An Feiertagen schnupfe ich Rapé -- denn an einem
  • Feiertage will ich doch keinen scheußlichen russischen Tabak schnupfen.
  • Das Jahr über schnupfe ich 2 Pfund Rapé zu 2 Rubel das Pfund -- 4 Rubel
  • und 14 Rubel das macht im ganzen 18 Rubel 40 Kopeken allein für Tabak.
  • Das ist mein Ruin! Freund Hoffmann, ich frage dich, habe ich nicht
  • recht?« Hoffmann, der auch angetrunken war, gab seine Zustimmung. »20
  • Rubel 40 Kopeken. Ich bin ein Schwabe, ich habe einen König in
  • Deutschland! Ich will keine Nase mehr haben! schneide sie mir ab, da, da
  • ist meine Nase!«
  • Und wenn nicht das unerwartete Eintreten des Leutnants Piragow
  • dazwischengekommen wäre, dann hätte Hoffmann sicherlich ohne viele
  • Umstände Schillers Nase abgeschnitten, denn er hatte ja schon das Messer
  • in der Hand, wie wenn er eine Schuhsohle zuschneiden wollte.
  • Schiller war sehr verdrießlich, daß plötzlich ein unbekannter,
  • ungebetener Fremdling ihn im ungelegensten Moment störte. Obgleich er
  • sich ganz im Banne des Bier- und Weinrausches befand, fühlte er doch,
  • daß sein Zustand und die Beschäftigung, bei der er angetroffen wurde, in
  • Gegenwart eines fremden Zeugen etwas Unschickliches haben mochte.
  • Piragow verbeugte sich leicht und sagte mit der ihm eigenen
  • Zuvorkommenheit: »Sie entschuldigen doch!«
  • »Machen Sie, daß Sie fortkommen!« sagte Schiller gedehnt.
  • Diese Antwort verblüffte den Leutnant Piragow. Solch eine Behandlung war
  • ihm ganz neu. Das Lächeln, das eben auf seinen Zügen gespielt hatte,
  • verschwand plötzlich. Im Gefühl seiner gekränkten Würde sagte er: »Ich
  • muß mich sehr wundern, mein Herr ... wahrscheinlich haben Sie nicht
  • bemerkt ... daß ich Offizier bin ...«
  • »Was ... Offizier? Ich bin ein Schwabe! Ich (und hierbei schlug Schiller
  • mit der Faust auf den Tisch) werde bald selbst Offizier sein, anderthalb
  • Jahre Junker, zwei Jahre Leutnant, und gleich morgen bin ich Offizier!
  • So mach' ich's mit einem Offizier! Aber ich will nicht dienen, pfff
  • ....«
  • Hierbei hielt er sich die Hand vors Gesicht und blies drauf.
  • Der Leutnant Piragow sah ein, daß ihm nichts andres übrigblieb, als sich
  • zu entfernen; aber diese unziemliche Behandlung seines Standes war ihm
  • doch sehr unangenehm. Ein paarmal blieb er auf der Treppe stehn, wie
  • wenn er Mut fassen wollte und darüber nachdächte, wie er Schiller seine
  • Frechheit büßen lassen könnte. Endlich kam er zu dem Schluß, daß
  • Schiller zu entschuldigen sei, da sein Hirn mit Bier und Wein angefüllt
  • wäre, auch fiel ihm die reizende Blondine wieder ein, und so entschloß
  • er sich, das alles zu vergessen. Am folgenden Tage betrat der Leutnant
  • Piragow frühmorgens die Werkstatt des Schmiedes. Im ersten Zimmer kam
  • ihm die hübsche Blondine entgegen und fragte ihn mit recht
  • unfreundlicher Stimme, die ihr sehr gut zu Gesicht stand: »Was wünschen
  • Sie?«
  • »Ah, guten Tag, meine Schöne! Sie erkennen mich wohl nicht? Sie kleiner
  • Schelm! was für schöne Augen Sie haben!«
  • Hierbei wollte ihr der Leutnant Piragow in liebenswürdiger Weise einen
  • Finger unters Kinn legen und es emporheben, aber die Blondine stieß
  • einen erschrockenen Laut aus und fragte ihn ebenso unfreundlich: »Was
  • wünschen Sie?«
  • »Nur Sie zu sehen, sonst wünsche ich nichts!« erwiderte der Leutnant
  • Piragow freundlich lächelnd und trat näher, aber als er merkte, daß die
  • ängstliche Blondine nach der Tür strebte, setzte er hinzu: »Ich möchte
  • ein Paar Sporen bestellen, meine Liebe, können Sie mir ein Paar Sporen
  • machen? Um Sie liebzuhaben, brauche ich allerdings keine Sporen, im
  • Gegenteil, eher noch Zügel! Was für reizende Händchen!«
  • Der Leutnant Piragow war bei solcher Art Liebeserklärungen immer sehr
  • höflich.
  • »Ich werde gleich meinen Mann rufen!« rief ihm die Deutsche laut zu,
  • ging hinaus und einige Minuten darauf erblickte Piragow Schiller, der
  • noch ganz verschlafen und kaum von seinem gestrigen Rausch ernüchtert
  • ins Zimmer trat. Als er den Offizier erkannte, stieg die gestrige Szene
  • wie ein Traum vor ihm auf. Eine klare Erinnerung hatte er in diesem
  • Zustande nicht, aber er fühlte, daß er irgendeine Dummheit begangen
  • hatte, und empfing daher den Offizier mit recht verdrießlicher Miene.
  • »Weniger als 15 Rubel kann ich für die Sporen nicht nehmen!« sagte er,
  • um Piragow so schnell wie möglich loszuwerden, denn es war ihm, dem
  • ehrlichen Deutschen, sehr peinlich, dem Manne gegenüberzustehn, der ihn
  • in solch einer peinlichen Situation gesehen hatte. Schiller liebte es,
  • nur mit zwei, drei guten Freunden und ohne Zeugen zu zechen, daher
  • schloß er sich für diese Zeit ein und verbarg sich selbst vor seinen
  • Arbeitern.
  • »Warum sind Sie denn so teuer?« sagte Piragow freundlich.
  • »Es ist doch deutsche Arbeit!« erwiderte Schiller kaltblütig und strich
  • sich das Kinn. -- »Ein Russe wird sie Ihnen für 2 Rubel anfertigen.«
  • »Schön, um Ihnen zu beweisen, daß ich Sie liebe und Ihre Bekanntschaft
  • zu machen wünsche, will ich Ihnen 15 Rubel bezahlen!«
  • Schiller besann sich einen Augenblick: als ehrlicher Deutscher schämte
  • er sich ein wenig. Von dem Wunsche getrieben, Piragow seine Absicht
  • auszureden, sagte er, daß er die Sporen frühestens in zwei Wochen
  • herstellen könne. Aber Piragow erklärte sich ohne jedweden Widerspruch
  • mit allem einverstanden.
  • Der Deutsche dachte ein wenig nach und grübelte hin und her, ob er wohl
  • seine Arbeit so ausgezeichnet ausführen könnte, daß sie wirklich 15
  • Rubel wert würde.
  • In diesem Augenblick trat die Blondine in die Werkstatt und machte sich
  • etwas am Tisch, der mit Kaffeekannen besetzt war, zu schaffen. Piragow
  • benutzte Schillers Nachdenklichkeit, trat dicht an sie heran und drückte
  • ihren Arm, der bis zur Schulter entblößt war.
  • Dies mißfiel Schiller sehr: »Meine Frau!« schrie er ihn an.
  • »Was wollen Sie denn?« entgegnete die Blondine.
  • »Geh in die Küche!« Die Blondine entfernte sich.
  • »Also in zwei Wochen?« sagte Piragow.
  • »Ja, in zwei Wochen,« sagte Schiller nachdenklich, »ich habe jetzt viel
  • Arbeit!«
  • »Auf Wiedersehn, ich komme wieder vor!«
  • »Auf Wiedersehn!« sagte Schiller und schloß die Tür hinter ihm.
  • Der Leutnant war fest entschlossen, seine Werbung nicht aufzugeben,
  • obgleich die Blondine ihm sichtlich Widerstand entgegensetzte. Er konnte
  • es nicht fassen, daß man ihm widerstehen könnte, um so weniger, als
  • seine Liebenswürdigkeit und sein illustrer Rang ihm alles Recht auf
  • Entgegenkommen gab. Man muß noch hinzufügen, daß Frau Schiller bei all
  • ihrem Liebreiz sehr beschränkt war. Übrigens bildet ja bei einer
  • hübschen Frau die Dummheit noch einen besonderen Reiz. Wenigstens habe
  • ich viele Männer gekannt, die von der Dummheit ihrer Frauen begeistert
  • waren und in ihr ein Symptom kindlicher Unschuld sahen. Die Schönheit
  • bringt geradezu Wunder hervor. Alle geistigen Mängel wirken bei einer
  • schönen Frau, anstatt abzustoßen, nur noch besonders anziehend; selbst
  • das Laster erhält einen gewissen Anschein von Lieblichkeit. Aber wo die
  • Schönheit fehlt, da muß eine Frau mindestens zwanzigmal so klug sein wie
  • ein Mann, um Achtung oder gar Liebe einzuflößen. Doch trotz ihrer
  • Beschränktheit war Frau Schiller stets ihrer Pflicht treu geblieben,
  • daher wurde es Piragow sehr schwer, sein kühnes Unternehmen erfolgreich
  • zu Ende zu führen. Allein die Überwindung von Hindernissen ist stets mit
  • Genuß verbunden, und so wurde unsere Blondine ihm nur noch
  • interessanter. Er fing an, sich sehr oft nach den Sporen zu erkundigen,
  • so daß Schiller dies zuletzt lästig wurde. Er gab sich alle Mühe, die
  • begonnene Arbeit schnell zu beendigen, und endlich waren die Sporen
  • fertig.
  • »Ach, welch eine herrliche Arbeit!« rief der Leutnant Piragow beim
  • Anblick der Sporen. »Mein Gott, wie vortrefflich sind sie gemacht.
  • Selbst unser General nennt solche nicht sein eigen!«
  • Ein Gefühl der Selbstzufriedenheit erfüllte Schillers Seele. Seine Augen
  • nahmen einen vergnügten Ausdruck an, und er war innerlich bereit, sich
  • völlig mit Piragow auszusöhnen. »Dieser russische Offizier ist ein
  • kluger Mann!« dachte er bei sich.
  • »Nicht wahr, Sie können doch auch Einfassungen für Dolche und andere
  • Waffen anfertigen?«
  • »Oh, gewiß kann ich das,« sagte Schiller lächelnd.
  • »So machen Sie mir also eine Fassung für meinen Dolch. Ich werde ihn
  • Ihnen bringen; ich habe einen sehr schönen türkischen Dolch, aber ich
  • möchte ihn anders fassen lassen!«
  • Schiller traf dieser Vorschlag wie eine Bombe. Er runzelte die Stirn.
  • »Da haben wir's!« dachte er bei sich, und schalt sich innerlich, daß er
  • selbst Anlaß zu einer neuen Bestellung gegeben hatte. Es jetzt noch
  • abzulehnen, schien ihm unehrenhaft, auch hatte ja der russische Offizier
  • seine Arbeit gelobt. -- Kopfschüttelnd erklärte er seine
  • Bereitwilligkeit, aber der Kuß, den Piragow der zierlichen Blondine beim
  • Fortgehen dreist auf die Lippen drückte, brachte ihn vollends aus der
  • Fassung.
  • Ich halte es nicht für überflüssig, den Leser etwas näher mit Schiller
  • bekannt zu machen. Schiller war ein echter Deutscher in vollstem Sinn
  • des Wortes. Schon als zwanzigjähriger Jüngling, in jener glücklichen
  • Zeit, wo ein Russe noch sorglos in den Tag hinein lebt, hatte sich
  • Schiller bereits sein Leben zurechtgelegt und wich nie und in keinem
  • Fall von seinem Ziel ab. Er hatte bei sich beschlossen, immer um 7 Uhr
  • aufzustehn, um 2 Uhr zu Mittag zu essen, in allem gewissenhaft zu sein
  • und sich Sonntags zu betrinken. Er hatte sich vorgenommen, im Laufe von
  • zehn Jahren ein Kapital von 50000 Rubeln zurückzulegen, und schon dieser
  • Entschluß genügte, um die Erfüllung seines Planes so sicher und
  • unumstößlich zu machen wie das Schicksal; denn eher vergißt es ein
  • Beamter, in das Vorzimmer seines Chefs hineinzublicken, als daß ein
  • Deutscher sich entschließt, sein Wort zu brechen. Niemals gab er mehr
  • aus, als er sich vorgenommen hatte, und wenn die Kartoffelpreise über
  • das gewöhnliche Maß stiegen, legte er doch nie eine Kopeke zu, sondern
  • verminderte lieber das Quantum; wenn er auch manches Mal nicht ganz satt
  • wurde, so gewöhnte er sich doch daran. Seine Ordnungsliebe ging so weit,
  • daß er bei sich beschlossen hatte, seine Frau nicht häufiger als zweimal
  • am Tage zu küssen und, um ihr nur ja keinen überzähligen Kuß auf die
  • Lippen zu drücken, tat er nie mehr als einen Kaffeelöffel voll Pfeffer
  • in die Suppe; übrigens wurde diese Regel am Sonntag nicht so streng
  • eingehalten, da Schiller an diesem Tage stets zwei Flaschen Bier und
  • eine Flasche Kümmel trank, auf den er freilich immer schimpfte. Er
  • pflegte jedoch nicht so zu trinken wie die Engländer, die sich gleich
  • nach dem Mittag einschließen und sich ganz allein und still für sich
  • berauschen. Er als Deutscher bedurfte beim Zechen stets der Anregung und
  • Begeisterung und trank daher immer in Gesellschaft, entweder mit dem
  • Schuster Hoffmann oder mit dem Tischler Kunz, der ebenfalls ein
  • Deutscher und dazu ein großer Säufer war. Dies war der Charakter unseres
  • ehrenwerten Schiller, der nunmehr in eine sehr schwierige Lage geraten
  • war. Obgleich er ein Phlegmatiker und ein Deutscher war, so erregte doch
  • das Betragen Piragows so etwas wie Eifersucht in ihm. Er zerbrach sich
  • den Kopf, es wollte ihm aber durchaus nichts einfallen, auf welche Art
  • und Weise er den russischen Offizier abschütteln könnte.
  • Unterdessen spielte Piragow, wenn er sich im Kreise seiner Kameraden
  • befand und gemütlich die Pfeife rauchte, -- die Vorsehung hat es nun
  • einmal so eingerichtet, daß, wo Offiziere beisammen weilen, auch die
  • Pfeife nicht fehlen darf -- häufig auf das Techtelmechtel mit der
  • reizenden Blondine an; mit einem bedeutungsvollen und angenehmen Lächeln
  • rühmte er sich bereits einer großen Intimität mit ihr; in Wirklichkeit
  • aber begann er bereits, die Hoffnung zu verlieren, daß er sie jemals
  • würde erobern können.
  • Eines Tages machte er einen Spaziergang auf der Meschtschanskaja und
  • blickte immer auf das Haus, an dem das Schild Schillers mit den
  • Kaffeekannen und Teemaschinen prangte; zu seiner großen Freude entdeckte
  • er plötzlich das Köpfchen der Blondine, die sich aus dem Fenster beugte
  • und die Vorübergehenden betrachtete. Er blieb stehn, warf ihr einen
  • Handkuß zu und rief: »Guten Morgen!« Die Blondine erwiderte seinen Gruß
  • wie den eines alten Bekannten.
  • »Ist Ihr Mann zu Hause?«
  • »Ja,« sagte die Blonde.
  • »Und wann ist er nicht zu Hause?«
  • »Sonntags ist er gewöhnlich nicht zu Hause!« sagte die dumme Gans.
  • »Das ist nicht übel,« dachte Piragow bei sich, »das könnte man
  • ausnutzen.« -- Und schon am nächsten Sonntag schneite er der Blondine
  • ins Haus hinein. Schiller war wirklich nicht anwesend. Die hübsche
  • Hausfrau war aufs höchste erschrocken; aber diesmal war Piragow
  • vorsichtig, betrug sich sehr ehrerbietig, verbeugte sich in
  • verbindlicher Form und ließ dabei die ganze Schönheit seiner biegsamen,
  • straffen Gestalt zur Geltung kommen. Er scherzte sehr nett und höflich,
  • aber das deutsche Schäfchen gab auf alles nur ganz einsilbige Antworten.
  • Endlich, nachdem er schon über alles mögliche geredet hatte und nun
  • bemerkte, daß sie nichts interessierte, schlug er ihr vor, etwas zu
  • tanzen. Die Deutsche ging darauf ein, denn die deutschen Frauen pflegen
  • bekanntlich sehr gern zu tanzen. Dieses gab Piragow Anlaß zu den
  • kühnsten Hoffnungen: erstens machte ihr dieses Spaß, zweitens konnte er
  • hierbei seine Gewandtheit und seine elegante Taille sehen lassen,
  • drittens kann man sich einer Dame beim Tanzen noch mehr nähern als
  • sonst, er konnte die hübsche Deutsche umarmen und damit den Grund zu
  • allem weiteren legen, kurz, er hoffte auf einen vollständigen Triumph.
  • Er begann eine Gavotte vor sich hin zu summen, weil er wußte, daß die
  • Deutschen einer allmählichen Steigerung bedürfen. Die niedliche Blondine
  • trat in die Mitte des Zimmers und hob ihren reizenden Fuß empor. Diese
  • Stellung versetzte Piragow derart in Begeisterung, daß er ihr einen Kuß
  • auf den Fuß drücken wollte. Die Deutsche fing an zu schreien, wodurch
  • sie ihren Reiz in den Augen Piragows noch mehr erhöhte. Er überschüttete
  • sie mit Küssen. Da ging plötzlich die Tür auf, und Schiller, Hoffmann
  • und der Tischler Kunz traten ein. Alle drei ehrenwerten Handwerker waren
  • betrunken wie die Schlosser.
  • Ich überlasse es dem Leser, sich den Ärger und den Zorn Schillers
  • vorzustellen.
  • »Frechling!« schrie er in höchster Wut, »wie wagst du es, meine Frau zu
  • küssen! Du bist ein Lump und kein russischer Offizier! Hol dich der
  • Teufel, nicht wahr, Freund Hoffmann, ich bin ein Deutscher und kein
  • russisches Schwein! (Hoffmann bejahte dies.) Zum Donnerwetter, ich will
  • doch keine Hörner tragen! Pack' ihn am Kragen, Freund Hoffmann! ich will
  • nicht --« fuhr er fort und fuchtelte gewaltig mit den Händen in der Luft
  • herum, wobei sein Gesicht so rot wurde wie seine Weste. -- »Ich lebe
  • schon acht Jahre in Petersburg, ich habe eine Mutter in Schwaben und
  • einen Onkel in Nürnberg, ich bin ein Deutscher und kein Hornvieh! --
  • Reiß ihm die Kleider vom Leibe, Freund Hoffmann! halt ihn an den Händen
  • und Füßen fest, Kamerad Kunz!«
  • Und die Deutschen packten Piragow an Händen und Füßen.
  • Vergeblich versuchte er, sich freizumachen; diese drei Handwerker waren
  • die kräftigsten unter allen Petersburger Deutschen und verfuhren so grob
  • und unhöflich mit ihm, daß ich, wie ich gestehen muß, keine Worte finde,
  • diese traurige Szene zu schildern.
  • Ich bin überzeugt, daß Schiller den nächsten Tag wie im Fieber war und
  • zitterte wie das Espenlaub, da er jeden Augenblick auf das Erscheinen
  • der Polizei gefaßt war; er hätte, weiß Gott, wieviel dafür gegeben, wenn
  • das gestrige Ereignis nur ein Traum gewesen wäre. Ader das Geschehene
  • läßt sich nun einmal nicht mehr ungeschehen machen. In der Tat ließ sich
  • nichts mit der Wut und der Empörung Piragows vergleichen. Schon der
  • Gedanke an die fürchterliche Beleidigung brachte ihn dem Wahnsinn nahe.
  • Die Verbannung nach Sibirien oder Spießrutenlaufen erschienen ihm als
  • die geringsten Strafen, die Schiller verdient hatte. Er flog nach Hause,
  • um sich umzuziehen und von dort direkt zum General zu fahren; ihm wollte
  • er die Unverschämtheit der deutschen Handwerker in den glühendsten
  • Farben schildern. Zu gleicher Zeit wollte er auch eine schriftliche
  • Klage beim Generalstab einreichen: falls aber die angesetzte Strafe
  • nicht genügend streng ausfallen sollte, wollte er die Sache vor alle
  • Instanzen bringen.
  • Allein dies alles fand einen ganz merkwürdigen Abschluß: unterwegs trat
  • er in eine Konditorei, aß zwei Kuchen aus Blätterteig, warf einen Blick
  • in die Zeitschrift »Die Nordische Biene« und verließ das Lokal schon
  • weniger wütend und aufgebracht. Der recht angenehm frische Abend lud ihn
  • dazu ein, etwas auf dem Newsky auf und ab zu gehen; gegen neun Uhr hatte
  • er sich so weit beruhigt, daß er fand, am Sonntag ginge es nicht gut,
  • den General zu belästigen, auch würde er ihn wohl schwerlich zu Hause
  • treffen, daher begab sich Piragow zu einer Soiree bei dem Chef der
  • Kontrollbehörde, wo sich ein sehr netter Kreis von Beamten und
  • Offizieren seines Regiments zusammenfand. Er verbrachte den Abend sehr
  • angenehm und zeichnete sich bei der Mazurka so aus, daß nicht nur die
  • Damen, sondern auch die Herren ganz begeistert waren.
  • Als ich vorgestern auf dem Newsky einherschlenderte und mich dieser
  • beiden Ereignisse erinnerte, dachte ich so bei mir: »Wie herrlich
  • eingerichtet ist doch unsere Welt! Wie merkwürdig, wie unbegreiflich
  • spielt doch das Schicksal mit uns; erreichen wir je, was wir wünschen?
  • erlangen wir je, was die Bestimmung unserer Kräfte und Fähigkeiten zu
  • sein scheint? es kommt immer anders, als man glaubt. Dem einen beschert
  • das Schicksal die herrlichsten Pferde, er aber fährt gleichgültig
  • spazieren, ohne ihre Schönheit zu bemerken, während ein anderer, dessen
  • Herz vor Leidenschaft für Pferde glüht, zu Fuß geht und sich damit
  • begnügen muß, mit der Zunge zu schnalzen, wenn ein schöner Rappe an ihm
  • vorüberjagt. Ein dritter hat einen ausgezeichneten Koch, aber leider
  • einen so kleinen Mund, daß er nicht mehr als zwei Stückchen
  • hineinstopfen kann, sein Freund dagegen hat ein Maul von der Größe des
  • Generalstabstors und muß sich, ach! mit einem simpeln deutschen
  • Kartoffelgericht begnügen. Wie sonderbar spielt doch das Schicksal mit
  • uns!«
  • Aber am seltsamsten ist doch das, was auf dem Newsky zu geschehen
  • pflegt. Oh! traut ihm nicht, diesem Newsky-Prospekt! Ich hülle mich
  • immer fester in meinen Mantel, wenn ich über diese Straße gehe und gebe
  • mir die größte Mühe, mich um keins der Dinge zu kümmern, die mir dort
  • begegnen. Dort ist alles Trug, alles ist nur ein Traum, und nichts ist
  • das, als was es erscheint. Sie glauben vielleicht, dieser Herr, der dort
  • in einem feinen Rock daherkommt, sei sehr reich: keineswegs; der ganze
  • Kerl besteht aus nichts anderem, als aus diesem Rock. Sie bilden sich
  • ein, daß diese beiden Dickwänste, die dort vor der im Bau begriffenen
  • Kirche stehen, über ihren Stil reden -- kein Gedanke. Sie sprechen
  • darüber, welch seltsame Pose zwei Krähen einnehmen, die auf ihrem Giebel
  • einander gegenübersitzen. Sie glauben wohl, daß jener Enthusiast, der
  • mit den Händen gestikuliert, davon spricht, wie seine Frau einem ihm
  • ganz unbekannten Offizier durch das Fenster eine Papierkugel an den Kopf
  • geworfen hat -- durchaus nicht, er redet über Lafayette. Sie meinen
  • wirklich, daß diese Damen ... ach, den Damen sollten Sie überhaupt nicht
  • trauen! Blicken Sie auch weniger in die Schaufenster hinein: die dort
  • ausliegenden Nichtigkeiten sind vielleicht sehr schön, aber sie
  • schmecken mächtig nach einigen Hundertrubelscheinen. Vor allem aber möge
  • Gott Sie davor bewahren, den Damen unter die Hüte zu gucken! Wie
  • verlockend auch abends der Mantel einer Schönen im Winde flattert, auf
  • keinen Fall würde ich ihr aus Neugierde nachgehen. Halten Sie sich fern,
  • um Gottes willen, halten Sie sich möglichst fern von der Laterne und
  • gehen Sie schnell, so schnell wie möglich, vorüber! Sie können noch von
  • Glück sagen, wenn Ihnen nur ein häßlicher Fettfleck auf Ihren eleganten
  • Rock tropft. Aber auch abgesehen von der Laterne, überall lauert der
  • Betrug auf Sie. Der Newsky-Prospekt ist immer voller Lug und Trug, am
  • meisten jedoch dann, wenn die Nacht wie ein dichtes Gewölk auf ihn
  • niedersinkt und die weißen und hellgelben Mauern der Häuser hervortreten
  • läßt, wenn die ganze Stadt in Lichterglanz erstrahlt und gleichsam vom
  • Donner erdröhnt, wenn Myriaden von Equipagen über die Brücken rollen,
  • die Vorreiter schreiend auf den Pferden vorbeigaloppieren, und wenn
  • Satan eigenhändig die Lampen anzündet, nur um alles in einem
  • übernatürlichen Licht erscheinen zu lassen.
  • IV
  • Über die kleinrussischen Lieder
  • Erst in den letzten Jahren, in der Zeit, wo das Streben nach
  • Originalität und nach einer eigenartigen nationalen Poesie erwacht ist,
  • haben die kleinrussischen Lieder, die der gebildeten Welt bis dahin ganz
  • unbekannt und nur im Volke lebendig waren, die Aufmerksamkeit auf sich
  • gelenkt. Bis dahin war nur ihre bezaubernde Musik dann und wann in die
  • höheren Kreise gedrungen, die Worte aber waren ganz unbeachtet geblieben
  • und hatten niemandes Neugierde geweckt. Ja, selbst die Melodien wurden
  • niemals in vollständiger Fassung mitgeteilt. Irgendein talentloser
  • Komponist zerstückelte sie mitleidlos und fügte sie in seine eigenen
  • gefühllosen, plumpen Schöpfungen ein.[7] Aber die allerschönsten Stimmen
  • und Lieder haben nur die Steppen der Ukraine vernommen: nur hier
  • erklingen sie unter dem Dache niedriger Lehmhütten, die von Maulbeer-
  • und Kirschbäumen umstanden sind, im Glanze der Morgensonne mittags und
  • abends, während die zitronengelben Garben des Weizens unter der Sichel
  • der Schnitter hinsinken, und nur hin und wieder wird der Gesang
  • unterbrochen durch den Schrei der Steppenmöwe, durch das Lied zahlloser
  • Scharen von Lerchen und den ängstlichen Schlag der Golddrossel.
  • [Fußnote 7: Übrigens dürfen sich die Freunde der Musik und der Poesie
  • beruhigen. Vor kurzem hat Maximowitsch eine vortreffliche Sammlung
  • dieser Lieder herausgegeben, die von Aljabjew für Gesang gesetzt sind.]
  • Ich will mich nicht über die Bedeutung der Volkslieder auslassen. Sie
  • sind die lebendige, leuchtende, farbige Geschichte des Volks, die
  • Wahrheit, die das ganze Leben einer Nation bloßlegt. Wenn dies Leben
  • tatkräftig, wechselvoll, frei und eigenartig und von Poesie erfüllt war,
  • und wenn dies Volk trotz seiner Vielseitigkeit keine höhere Zivilisation
  • erreicht hat, dann lebt sich all sein Feuer, all seine herrliche,
  • jugendliche Kraft in den Volksliedern aus. Sie sind ein Grabdenkmal
  • seiner Vergangenheit -- ja mehr als ein Grabdenkmal: ein mit einem
  • beredten Relief geschmückter und mit einer historischen Aufschrift
  • versehener Stein ist nichts im Vergleich mit dieser lebenden, redenden
  • und von der Vergangenheit kündenden Chronik. In dieser Beziehung
  • bedeuten die Volkslieder für Kleinrußland alles: seine Poesie, seine
  • Geschichte und das Grab seiner Väter. Wer nicht in die Tiefen dieser
  • Lieder gedrungen ist, der wird nichts von der Vergangenheit dieses
  • blühenden Stückes Rußland erfahren. Der Historiker darf in ihnen nicht
  • Hinweise auf Tage und Daten von Schlachten, genaue Ortsbeschreibungen
  • oder wahrheitsgetreue Berichte suchen; in dieser Beziehung werden ihn
  • nur die wenigsten Lieder weiterbringen. Wenn er aber das wahre Wesen,
  • die Elemente des Charakters, alle Schwankungen und Nuancen des Gefühls
  • und alles dessen, was ein bestimmtes Volk bewegt, seiner Leiden und
  • Freuden ergründen, wenn er den Geist vergangener Zeitalter, den
  • allgemeinen Charakter des Ganzen und jedes einzelnen Teiles erforschen
  • will, dann wird er in jeder Beziehung befriedigt sein; die Geschichte
  • des Volks wird sich ihm in einer leuchtenden Größe offenbaren.
  • Die kleinrussischen Lieder können mit vollem Recht historisch genannt
  • werden, weil sie sich nicht einen Augenblick vom Leben entfernen und
  • stets den historischen Moment und den geschichtlichen Zustand treu
  • widerspiegeln. Sie alle sind von der schrankenlosen Freiheit des
  • Kosakenlebens durchdrungen und durchflutet. Aus allem redet die Kraft,
  • der Frohsinn, die Seelenstärke, mit der der Kosak den sorglosen Frieden
  • des Familienlebens aufgibt, um sich in die Poesie der Schlachten, in
  • Gefahren und zügellose Gelage mit den Kameraden zu stürzen. Weder die
  • dunkelbrauige Freundin mit ihrer strahlenden Frische, ihren braunen
  • Augen, dem blendenden Glanz ihrer Zähne, die in hingebender Liebe dem
  • Roß in die Zügel fällt, noch die Tränenbäche vergießende alte Mutter,
  • deren ganzes Dasein in dem einen Gefühl der Mutterliebe aufgeht, --
  • nichts hat die Macht, ihn zurückzuhalten. Eigensinnig und
  • unerschütterlich eilt er in die Steppe und ins Lager der Kameraden
  • hinaus. Die Gesellschaft seiner Kumpane, der lebenslustigen Raubritter,
  • ersetzt ihm alles -- Weib, Mutter, Schwestern und Brüder. Die Bande
  • dieser Brüderschaft gehen ihm über alles und sind noch stärker als die
  • Liebe. Das Schwarze Meer leuchtet, die herrliche unermeßliche Steppe vom
  • Taman bis zur Donau -- dieser wilde Ozean von Blüten wogt unter dem
  • Hauch des Windes. In der unendlichen Tiefe des Himmels verschwinden
  • Schwäne und Kraniche. Der sterbende Kosak liegt mitten in der Kühle
  • dieser jungfräulichen Natur hingestreckt da, er nimmt seine letzte Kraft
  • zusammen, um nicht zu sterben, ohne noch einmal seinen Kameraden einen
  • Blick nachgesandt zu haben.
  • Denn wohl wußte es das Kosakenhaupt,
  • Daß es nicht fern vom Kosakenheer sterben würde.
  • Als er sie erblickt, ist er befriedigt, und stirbt. Ob nun das
  • Kosakenheer still und gehorsam in den Krieg zieht, ob Pulverdampf und
  • Kugelregen sich aus den Gewehren entlädt, ob der Metkrug oder der
  • Weinbecher kreist, ob von der furchtbaren Hinrichtung des Hetmans
  • berichtet wird, daß einem die Haare dabei zu Berge stehn, von der Rache
  • des Kosaken oder von einem erschlagenen Helden, der mit weit
  • ausgestreckten Armen und wirrem Schopf auf dem Rasen liegt, oder vom
  • Geschrei der in den Wolken schwebenden Adler, die um das Recht streiten,
  • dem Kosaken die Augen auszuhacken -- alles dies _lebt_ in den Liedern
  • und ist in ihnen mit kühnen Farben geschildert.
  • Ein anderer Teil der Lieder stellt die andere Seite des Volkslebens dar:
  • hier finden wir zahllose Züge aus dem Familienleben des Kosaken, und
  • hier herrscht der absolute Gegensatz. Dort hören wir nur von Kosaken,
  • vom Kriege und vom wilden Lagerleben; hier dagegen ersteht vor uns die
  • Frauenwelt, diese wehmütige, zärtliche Liebe atmende Welt; die zwei
  • Geschlechter verkehren nur kurze Zeit miteinander und trennen sich dann
  • für ganze Jahre. Diese Jahre schwinden für die Frau in banger Erwartung
  • und Sehnsucht nach ihren Männern und ihren Liebsten dahin, die einst wie
  • ein Traum, ein Phantasiegebilde in ihrem herrlichen Kriegsschmuck an
  • ihnen vorüberzogen. Daher ist auch ihre Liebe von einer unendlichen
  • Poesie durchwebt. Das frische, unschuldige, einem Täubchen vergleichbare
  • junge Weib hat plötzlich die höchste Seligkeit, das Paradies des Weibes,
  • das nur für die Liebe geschaffen ist, kennen gelernt. Ihr erster
  • Lebensfrühling, den sie mit dem starken, freien Sohn des Krieges verlebt
  • hat, hat ihr ganzes Lebensglück in einen flüchtigen Augenblick
  • zusammengedrängt; mit ihm verglichen hat das ganze Leben keinen Wert;
  • sie lebt nur in der Erinnerung an diesen Moment. Sehnsüchtig erwartet
  • sie vom Morgen bis zum Abend die Rückkehr ihres Gatten mit den schwarzen
  • Brauen.
  • O ihr schwarzen Augenbrauen,
  • Wie schwer macht ihr mir das Leben,
  • Keine Nacht wollt ihr
  • Alleine schlafen.
  • Sie lebt ausschließlich von Erinnerungen. Alles, was sie zusammen
  • gesehen, wo sie miteinander geweilt, was sie miteinander geredet, alles
  • ruft sie sich in die Erinnerung zurück, ohne auch das Geringste außer
  • acht zu lassen. Sie wendet sich an alles, was sie in der Natur entdeckt,
  • an alles, was Leben ausströmt, selbst an die leblosen Gegenstände, klagt
  • ihnen ihr Leid und spricht mit ihnen. Und wie einfach, wie poetisch
  • schlicht sind ihre seelenvollen Worte. Alles bringt sie in Beziehung zu
  • ihrem Gefühl und wird nicht müde zu reden, denn der Mensch hat immer
  • viele Worte, wenn der Schmerz eine geheime Süße in sich birgt. Endlich
  • spricht sie in stiller, hoffnungsloser Verzweiflung:
  • Ach, jetzt kann ich nicht mehr wandeln,
  • Wo ich mit dem Liebsten ging.
  • Ach, jetzt kann ich nicht mehr lieben,
  • Den ich einst so sehr geliebt.
  • Ach, jetzt kann ich nicht mehr wandeln
  • Vor dem Schlosse in der Früh.
  • Ach, ich kann mich nicht mehr lehnen
  • An den Arm des Heißgeliebten.
  • Ach, jetzt kann ich nicht mehr wandeln
  • In dem Wald und Nüsse suchen.
  • Ach, vorüber, längst vorüber
  • Ist die heitre Mädchenzeit.
  • Um denen, die die kleinrussische Sprache nicht beherrschen, die Tiefe
  • des Empfindens, die sich in diesen Liedern offenbart, so verständlich
  • wie möglich zu machen, will ich hier eines dieser Lieder in der
  • Übertragung anführen.
  • Mein Liebster zürnt mir und grollt mir. Er sattelt seinen Rappen und
  • zieht in die Ferne, weit, weit fort von mir.
  • »Wohin ziehst du, mein Geliebter, du mein graues Täubchen, wohin
  • entfliehst du? Wem überlässest du mich schutzloses, junges Wesen?«
  • »Ich lasse dich in Gottes Obhut, Geliebte! Warte auf mich, bis ich
  • von der weiten Reise zurückkehre.«
  • Oh, wenn ich wüßte, wenn ich es doch sehen könnte, wohin mein
  • Liebster trabt, so wollte ich ihm auf dem ganzen Wege Brücken aus
  • grünem Schilf bauen und ihn immerfort bei mir erwarten.
  • Allmächtiger Gott, ebne die Berge und Täler, auf daß die Wege
  • überall glatt seien, und daß er bequem von seinem Ziele bis vors
  • Haus reiten kann.
  • Ah! die Wiesen singen, die Ufer klingen, das Gras auf den Wegen
  • fängt an zu grünen; da ist er, mein Geliebter kommt geritten!
  • Ah! die Wiesen singen, die Ufer klingen, der Wacholder erblüht --
  • gewiß plaudert mein Geliebter, mein graues Täubchen irgendwo mit
  • einer andern.
  • Warum kamst du nicht geflogen, wie ich dich bat! Hattest du kein
  • Roß, kanntest du den Weg nicht mehr, oder hat's dir deine Mutter
  • verboten?
  • »Ich habe ein Pferd; auch kenne ich den Weg, und die Mutter hat mir
  • schon gestern abend geboten, mein Roß zu satteln.
  • Aber kaum sitz' ich auf dem Pferde, kaum reit' ich zum Tore hinaus,
  • da läuft schon die andere mir nach und stöhnt und weint so
  • bitterlich, da greift mir ihr Kummer ans Herz.«
  • Man könnte tausende von ähnlichen Liedern anführen und vielleicht noch
  • weit schönere. Alle sind sie wohlklingend, duftig und außerordentlich
  • mannigfaltig. Überall gibt es neue Farben, eine große Schlichtheit und
  • eine unbeschreibliche Zartheit des Gefühls. Wo aber die Gedanken das
  • Religiöse streifen, sind sie ganz besonders poetisch. Sie bewundern
  • nicht die gewaltigen Werke des ewigen Schöpfers; eine solche Bewunderung
  • gehört schon einer höheren Entwicklungs- und Erkenntnisstufe an; ihr
  • Glaube ist so unschuldig, so rührend und so rein wie die unbefleckte
  • Seele des Kindes. Sie wenden sich an Gott, wie Kinder an ihren Vater.
  • Sie führen ihn häufig mit so unschuldiger Einfalt in ihr Alltagsleben
  • ein, daß seine kunstlose Darstellung in ihnen gerade durch ihre
  • Einfachheit etwas Erhabenes an sich hat. Dadurch erhalten in den Liedern
  • der Kleinrussen auch die gewöhnlichsten Gegenstände etwas
  • unbeschreiblich Poetisches, wozu auch die Überreste verschiedener aus
  • der altslawischen Mythologie herstammenden Sitten, die sie dem
  • Christentum angepaßt haben, sehr viel beitragen. Oftmals fleht ein
  • trauerndes Mädchen Gott an, er möge eine Wachskerze am Himmel entzünden,
  • bis der Liebste über die Donau gesetzt ist. Auf allem liegt der Stempel
  • reinster, ursprünglichster Kindheit und folglich hoher Poesie. Die Form
  • ihrer Lieder, der Mädchenlieder sowohl wie der Kosakenlieder, ist fast
  • immer dramatisch -- ein Zeichen für die Entwicklung des Volksgeistes und
  • des tätigen, unruhigen Lebens, das dies Volk so lange geführt hat. Fast
  • niemals haben ihre Lieder eine beschreibende Form und sie gefallen sich
  • nicht in ausführlichen Darstellungen der Natur. Nur hie und da scheint
  • die Natur in der einen oder der andern Strophe hindurch, aber
  • nichtsdestoweniger sind ihre Züge so neu, so fein, so bezeichnend und
  • gut, daß sie den ganzen Gegenstand vor die Seele zaubern. Übrigens nimmt
  • man zu ihnen nur darum seine Zuflucht, um die Gefühle der Seele
  • kräftiger zum Ausdruck zu bringen. Und daher unterwerfen sich die
  • Naturerscheinungen gefügig den Gefühlsregungen. Derselbe Gegenstand
  • spiegelt sich immer gleichzeitig in der inneren und äußeren Welt, oft
  • ist statt der ganzen äußeren Umgebung nur ein einziger markanter Zug
  • oder ein Teil dieser Umgebung berührt. Nirgends findet sich ein Satz wie
  • etwa der folgende: »es war Abend;« statt dessen ist immer die Rede von
  • gewissen Vorgängen, die abends zu geschehen pflegen, z. B.:
  • Die Kühe kamen vom Acker, die Schäfchen von der Wiese;
  • Das Mädchen stand beim Burschen und weinte sich die braunen Augen rot.
  • Daher haben sehr viele, ohne dies recht zu verstehen, solche und
  • ähnliche Wendungen für unsinnig erklärt. Ein Gefühl findet immer einen
  • starken, plötzlichen, schroffen Ausdruck und wird nie durch lange
  • Perioden abgeschwächt. In einigen Liedern gibt es keine fortlaufende
  • Idee, sie gleichen einer Reihe von Strophen, von denen jede einen
  • besonderen Gedanken in sich schließt. Oft erscheinen sie ganz
  • unbedeutend, weil sie spontan entstanden sind, und da der Blick des
  • Volkes sehr lebhaft ist, so werden gewöhnlich die Gegenstände, die
  • zuerst in die Augen fallen, gleich im Anfang des Liedes erwähnt; dafür
  • aber treten in diesem bunten Durcheinander Strophen hervor, die uns
  • durch die bezaubernde Ursprünglichkeit ihrer Poesie entzücken. Hier
  • vereinigen sich eine leuchtende, treue Malerei und eine wohlklingende
  • Wortmusik. Ein solches Lied wird nicht mit der Feder in der Hand, nicht
  • auf dem Papier, auf Grund strenger Überlegung komponiert, nein, es
  • entsteht im Taumel der Selbstvergessenheit, wenn die Seele singt und
  • klingt und alle Glieder ihre gewöhnliche gleichgültige Lage verlassen
  • und sich freier zu rühren beginnen, wenn die Arme sich in die Höhe
  • strecken und die stürmischen Wellen der Lust den Menschen über alles
  • hinwegtragen. Dies spürt man sogar in den traurigen und wehmütigen
  • Liedern, deren herzzerreißende Klänge schmerzvoll an unsere Seele
  • greifen. Nie konnten solche Töne unter gewöhnlichen Verhältnissen und
  • bei einer nüchternen Betrachtung des Gegenstandes der Seele eines
  • Menschen entquellen. Nur dann, wenn der Wein den prosaischen Gedanken
  • verwirrt und zerstört, wenn die Gedanken seltsam und unbegreiflich in
  • ihrer Disharmonie doch innerlich zusammenklingen -- in solch mehr
  • feierlicher als heiterer Ekstase beginnt die Seele sich rätselvoll in
  • unerträglich schmerzlichen Klängen auszuströmen. Hier gibt es keinen
  • Gedanken, keine Überlegung! Der ganze geheimnisvolle Organismus verlangt
  • nach Tönen und nur nach Tönen. Daher ist die Poesie dieser Lieder so
  • unbegreiflich, zauberhaft und graziös wie Musik. Die Gedankenpoesie ist
  • für jedermann weit verständlicher als die Poesie der Töne oder besser
  • gesagt die Poesie der Poesie. Nur ein auserwählter, wahrhafter Dichter,
  • ein Mann, der seinem innersten Wesen nach Poet ist, kann sie verstehen,
  • und daher kommt es, daß oft das allerschönste Lied unbemerkt
  • vorüberrauscht, während ein minderwertiges durch seinen Inhalt gewinnt.
  • Der kleinrussische Versbau eignet sich sehr für das Lied; in ihm finden
  • sich Versmaß, Tonfall und Rhythmus vereinigt. Ihr Rhythmus ist schnell
  • und rapid, daher ist die einzelne Zeile fast nie zu lang, aber selbst
  • wenn dieses mitunter vorkommt, so wird er in der Mitte durch eine Zäsur
  • mit einem klangvollen Reim durchschnitten. Reine, langgedehnte Jamben
  • kommen selten vor; meistenteils sind es schnelle Trochäen, Daktylen,
  • Amphibrachen, die schnell dahinfliegen, sich einer mit dem anderen frei
  • und launenhaft verbinden und so zu neuen Versmaßen führen, die sie in
  • mannigfaltigster Weise variieren. Die Rhythmen tönen und klingen
  • zusammen wie die silbernen Hufeisen der Tanzenden. Ein sicheres Gehör
  • und musikalisches Gefühl ist ihnen allen gemeinsam. Oft klingt eine
  • Zeile mit einer anderen harmonisch zusammen, trotzdem beide sich nicht
  • einmal miteinander reimen. Die Häufigkeit des Reims ist erstaunlich.
  • Häufig enthält eine Zeile zwei Zäsuren und reimt sich zweimal vor dem
  • Schlußreim, der außerdem in der zweiten Zeile, die gleichfalls in der
  • Mitte doppelt gereimt ist, einen Gegenreim findet. Manches Mal begegnen
  • wir einem solchen Reim, den man eigentlich keinen Reim nennen kann, der
  • aber in seiner Tonfärbung so wohlklingend ist, daß er uns mehr gefällt
  • als ein Reim, und der nie einem Dichter in den Sinn gekommen wäre,
  • während er die Feder in der Hand hält.
  • Den Charakter der Musik kann man nicht mit einem Wort bezeichnen: sie
  • ist außerordentlich mannigfaltig. In vielen Liedern ist sie leicht,
  • graziös, berührt nur leicht die Erde, und es scheint, als spiele sie
  • neckisch mit den Tönen. Zuweilen nimmt die Melodie eine männliche
  • Physiognomie an und wird kraftvoll, stark und mächtig; schwer stampfen
  • die Füße die Erde, und es scheint, als könne man nur den schwerfälligen
  • Hopak nach dieser Musik tanzen. Ein anderes Mal aber werden die Töne
  • ungewöhnlich frei, breit, schwingen sich gigantisch empor, suchen
  • unendliche Räume zu umfassen, und bei ihren Klängen fühlt der Tänzer
  • sich selbst als Riese: seine Seele, sein ganzes Sein erweitert sich und
  • dehnt sich bis ins Unendliche. Er löst sich plötzlich von der Erde, dann
  • trifft er sie noch kräftiger mit seinen glänzenden Hufeisen, um im
  • nächsten Augenblick wieder in die Luft zu fliegen. Was aber die traurige
  • Musik anbelangt, so kann man sie hier so hören, wie nirgends sonst. Ob
  • es nun der Schmerz um die geknickte Jugend ist, der es nicht vergönnt
  • war, sich auszuleben, oder die Klage über die traurige Lage des
  • damaligen Kleinrußland ... diese Töne leben, brennen und zerreißen
  • unsere Seele. Die melancholische russische Musik drückt, wie M.
  • Maksimowitsch richtig bemerkt hat, ein Gefühl aus, das das Leben
  • vergessen will; sie strebt danach, sich vom Leben zu entfernen und die
  • alltäglichen Nöte und Sorgen zu übertäuben; aber in den kleinrussischen
  • Liedern verschmilzt dies Gefühl mit dem Lebensgefühl: ihre Töne sind so
  • lebendig, man glaubt, daß sie nicht nur zu klingen, sondern auch zu
  • sprechen scheinen -- sie reden in Worten, sie sprechen in ganzen Sätzen,
  • und jedes Wort dieser feurigen Reden dringt in die Seele. Ihr
  • Aufschluchzen gleicht manchmal so sehr einem Herzensschrei, daß das Herz
  • des Lauschers plötzlich zusammenzuckt, als hätte ein scharfer Stahl es
  • berührt. Häufig klingt eine so starke, trostlose und gleichgültige
  • Verzweiflung hindurch, daß wir uns beim Hören selbst vergessen und das
  • Gefühl haben, als sei die Hoffnung für immer aus der Welt entflohen. An
  • anderen Stellen hören wir ein kurzes Aufstöhnen und so lebhafte, heftige
  • Seufzer, daß wir uns zitternd fragen: sind das noch Töne? Das ist der
  • unerträgliche Jammer einer Mutter, der eine grausame Gewalt ihr Kind
  • entreißt, um es mit bestialischem Lachen an einem Stein zu
  • zerschmettern. Nichts kann gewaltiger sein, als die Volksmusik, wenn das
  • Volk nur poetische Begabung hat und ein wechselvolles, tatenreiches
  • Leben führt, wenn der Druck der Gewalt und ewiger unüberwindlicher
  • Hindernisse es ihm nicht gestatteten, für einen Moment einzuschlummern,
  • ihm Klagen abnötigen, und wenn diese Klagen niemals und nirgends anders
  • zum Ausdruck kommen konnten, als in seinen Liedern. In solch einer Lage
  • befand sich Kleinrußland zu der Zeit, als sich die Union raubgierig auf
  • das schutzlose Land stürzte. Aus ihnen, aus diesen Tönen kann man sich
  • ein ebenso deutliches Bild von diesen vergangenen Leiden machen, wie von
  • einem Sturm mit Hagelschauern und einem Wolkenbruch, wenn man die
  • diamantenen Tränen erblickt, die die erfrischten Bäume von unten bis
  • oben bedecken, wenn die Sonne ihre abendlichen Strahlen aussendet, wenn
  • die Luft dünn und rein ist, wenn aus der Ferne das Brüllen der Herden zu
  • uns herüberzittert und wenn der bläuliche Rauch, dieser Vorbote des
  • ländlichen Nachtmahls und der Feierstunde, in leuchtenden Ringen gen
  • Himmel steigt und der Abend, der stille, klare Abend die beruhigte Erde
  • umfängt.
  • 1833.
  • V
  • Gedanken über Geographie
  • für die unteren Klassen
  • Groß und erstaunlich ist das Gebiet der Geographie. Länder, wo der
  • südliche Himmel glüht und wo jedes Geschöpf sich einer doppelten
  • Lebensenergie erfreut, und Gegenden, wo wir in den entstellten Zügen der
  • Natur Grauen und Entsetzen lesen, wo das ganze Land sich in einen
  • starren Leichnam verwandelt; Bergriesen, die in den Himmel ragen,
  • nachlässig hingeworfene Landschaften, die von der ganzen Kraft und
  • Fruchtbarkeit einer üppigen und reichen Vegetation überquellen, und
  • wiederum glühende Wüsten und Steppen, ein losgerissenes Stück Erde
  • inmitten eines grenzenlosen Meers, die Menschen, die Kunst und die
  • Grenze alles Lebens! -- wo wollte man Gegenstände finden, die stärker zu
  • unserer Einbildung sprächen, gibt es eine herrlichere Wissenschaft für
  • die Kinder, gibt es eine, die die Poesie ihrer jugendlichen Seele
  • lebhafter beflügeln könnte? Und ist es nicht traurig, wenn man ihnen
  • anstatt all dieser Dinge ein lebloses, trockenes Skelett vorführt und
  • kalt hinzufügt: »Das ist die Erde, auf der wir wohnen; da ist die schöne
  • Welt, die uns der unbegreifliche Baumeister geschenkt hat!« -- Aber mehr
  • noch! Man verbirgt Ihn vor den Kindern und läßt sie statt dessen einen
  • politischen Körper benagen, der die Welt ihrer Begriffe übersteigt und
  • sogar für einen Verstand, der im Besitze höherer Ideen ist, viel
  • Ungereimtes enthält. -- Unwillkürlich kommt einem da der Gedanke:
  • sollten wirklich der große Humboldt und jene anderen kühnen Forscher,
  • die so viel Licht in das Gebiet der Wissenschaften hineingetragen, und
  • die uns die wunderbaren Hieroglyphen, mit denen unsere Welt bedeckt ist,
  • entziffert haben, nur einigen wenigen Gelehrten zugänglich sein, sollte
  • die Altersstufe, die mehr denn jede andere das Bedürfnis nach Klarheit
  • und Bestimmtheit hat, auf nichts als unverständliche Darstellungen
  • angewiesen sein?
  • * * * * *
  • Die Kindheit ist zunächst nichts wie ein großes Dürsten, ein
  • instinktives Streben nach Erkenntnis. Sie verlangt nach allem und möchte
  • alles wissen. Am meisten interessiert sie sich für ferne Länder: »Wie
  • ist es dort? was geht dort vor? was gibt es da für Menschen? wie leben
  • sie?« Diese Fragen drängen sich ihr in reicher Fülle auf, sie alle
  • beziehen sich auf die physische Geographie, und daher muß die gewaltige,
  • reiche, furchtbare und zauberische Welt in ihrem physischen Zustande sie
  • in höherem Maße und in umfassenderer Weise beschäftigen.
  • * * * * *
  • In vielen von unseren Lehranstalten trägt man die Geographie in zwei,
  • manches Mal sogar in drei Klassen vor, weil die Zöglinge nicht imstande
  • sind, das ganze Gebiet in einem Jahre durchzunehmen. Und das ist gut,
  • denn die Geographie verdient es, daß man sich nicht nur ein Jahr lang
  • mit ihr beschäftigt; aber die Lehrer verfallen in einen sehr großen
  • Fehler; sie teilen den Erdball in zwei, oder je nach den Klassen, in
  • drei Teile, und dabei fällt der untersten Klasse Europa zu, das
  • gewöhnlich nur nach seiner politischen Seite mit den ausführlichsten
  • Details durchgenommen wird, während die höheren Klassen durch die
  • Steppen und den afrikanischen Sand irren und sich mit den Wilden
  • unterhalten müssen. Abgesehen von der Unvernunft und von der
  • merkwürdigen Form solch einer Lehrmethode gehört noch ein ungeheures
  • Gedächtnis dazu, um diese ganze ungeordnete Masse festzuhalten. Aber
  • selbst wenn man die Möglichkeit solch phänomenaler Begabungen in der
  • Natur zugibt, so wird doch sogar in dem Kopfe eines solchen Phänomens
  • nie ein schönes Ganzes zurückbleiben. -- Es werden höchstens sorgfältig
  • bearbeitete, aber völlig getrennte Stücke sein, die von keinem kräftigen
  • Leben beseelt sind, das mit rhythmischem Pulsschlag durch alle Adern
  • rinnt. Es ist wie bei einem Volke, das für eine monarchische Regierung
  • prädestiniert ist und sie im Sturme politischer Erschütterung verloren
  • hat.
  • Es ist viel besser, wenn der Zögling die Geographie auf zwei
  • verschiedenen Altersstufen durchnimmt. Auf der ersten Stufe sollte er
  • nur einen großen Überblick über die ganze Welt erhalten, aber einen
  • solchen, der seine ganze Aufmerksamkeit anregt und ihm die ganze Weite
  • und ungeheure Größe der geographischen Welt vor Augen führt. Zu diesem
  • Kursus müßten auch die Naturgeschichte, die Physik, die Statistik und
  • alles, was mit der Welt zusammenhängt, ihren Teil beisteuern, damit die
  • Welt den Eindruck einer einzigen, leuchtenden, bunten Dichtung mache und
  • der Schüler nach Möglichkeit mit all ihren Teilen bekannt und vertraut
  • werde. Gar keine Einzelheiten, nur die großen markanten Züge! aber so,
  • daß er ahnt, wo Eiseskälte und wo eine starke Vegetation vorherrscht, wo
  • die Manufaktur und wo die Bildung höher steht, wo die Unwissenheit
  • größer, wo die Erde tiefer ist, und wo die Berge sich mächtiger
  • emportürmen. -- In der zweiten Periode des Kindesalters müssen die
  • Grenzen dieser Welt auseinandergerückt werden. Jetzt soll er die
  • Gegenstände, die er früher mit bloßem Auge gesehen, durchs Mikroskop
  • betrachten. Dann wird er auch alle Ausnahmen und Übergänge, und weniger
  • die starken, als die feinen Abweichungen kennen lernen.
  • * * * * *
  • Der Schüler soll überhaupt kein Buch bei sich haben. Ein Buch, es mag
  • sein wie es will, wird seine Einbildungskraft stets einengen und
  • abtöten. Er soll nur die Karte vor sich haben. Man soll ihm keine
  • geographische Erscheinung erklären, ohne sie auf der Stelle zu fixieren;
  • selbst wenn es sich nur um eine lebendige, schöne Beschreibung handelt,
  • muß der Schüler beim Zuhören seine Augen auf einen Punkt der Karte
  • richten, und dieser kleine Punkt muß sich vor ihm immer mehr und mehr
  • ausbreiten, und alle Karten, die er während der Rede des Lehrers vor
  • sich sieht, in sich aufnehmen. Dann kann man sicher sein, daß die
  • Erscheinungen sich seinem Gedächtnis für immer einprägen werden, und daß
  • er, während seine Augen das nackte Weltgerippe betrachten, es sofort mit
  • leuchtenden Farben ausfüllen wird.
  • * * * * *
  • Vor allem muß er die Gestalt der Erde in seinem Gedächtnis festhalten.
  • Das Kartenzeichnen, mit dem man die Schüler so sehr quält, bringt wenig
  • Nutzen. Die vielen kleinen Details, die vielen einzelnen Staaten und
  • Reiche können sich in seinem Kopfe nur gegenseitig vernichten. Viel
  • besser ist es, man gibt den Kindern vor allem eine scharfe und lebendige
  • Idee von der Gestalt der Erde: ich möchte dazu raten, zu diesem Zwecke
  • das Wasser weiß und die ganze Erde schwarz darzustellen, damit sie sich
  • unwillkürlich dem Gedanken ganz deutlich und durch ihre scharfen
  • Konturen aufdrängen und die Schüler unaufhörlich mit ihrer
  • unregelmäßigen Figur verfolgen. Jetzt wird es ihnen schon viel leichter
  • fallen, die Gestalt der Erde nachzuzeichnen, nur sollte man ihnen nie
  • gestatten, sich in Einzelheiten zu ergehen, d. h. alle kleinen
  • Vorgebirge und Ausbuchtungen der Ufer zu vermerken. Es ist sogar besser,
  • wenn sie diese anfänglich nicht kennen, dafür aber die allgemeine
  • Gestalt der Erde festhalten.
  • * * * * *
  • Es ist weit besser, am Anfang die ganze Welt auf einmal zu behandeln,
  • alle Weltteile auf einmal zu überblicken, denn auf diese Weise treten
  • die Gegensätze um so stärker hervor. Wenn man sie in ihrer Gesamtheit
  • kennen gelernt hat, kann man hierauf gründlicher auf jeden Erdteil
  • eingehen. Was nun die Reihenfolge anbelangt, in der die Weltteile
  • durchgegangen werden sollten, so würde ich dazu raten, sich durch die
  • allmählige Entwicklung des Menschen und damit durch die allmählige
  • Entdeckung der Erdteile leiten zu lassen: Man beginne mit Asien, der
  • Wiege der Menschheit, mit ihrer Kindheit, gehe dann zu Afrika, zu ihrer
  • feurigen und zugleich wilden Jugend über, wende sich sodann Europa,
  • ihrer schnellen Klärung und dem Reifen der Vernunft zu, schreite dann
  • mit dieser nach Amerika fort, wo der gereifte, mächtige Mensch wieder
  • mit dem ursprünglichen und sinnlichen Menschen zusammenstößt, und
  • schließe die Darstellung endlich mit den im grenzenlosen Ozean
  • verstreuten Inseln.
  • Eine solche Einteilung scheint mir weit natürlicher. Vor allem muß der
  • Schüler sich einen allgemeinen und charakteristischen Begriff von jedem
  • einzelnen Erdteil machen. Zuerst von Asien, wo alles groß und weit ist,
  • wo die Menschen äußerlich so würdevoll und kalt sind und doch plötzlich
  • von unbezwinglicher Leidenschaft ergriffen, aufwallen können; in ihrem
  • kindlichen Begriffsvermögen kommen sie sich klüger vor als alle anderen;
  • hier gibt es nur Überhebung und sklavische Unterwerfung; alles ist frei
  • und leicht gekleidet, leicht bewaffnet, und jedermann ist ein guter
  • Reiter; hier kann der Türke sein ganzes Leben lang mit untergeschlagenen
  • Beinen dasitzen und seinen Nargileh rauchen, hier rast der Beduine wie
  • ein Sturmwind durch die Wüste, hier wird der Glaube zum Fanatismus, dies
  • ganze Land ist das Land der Glaubensbekenntnisse, die sich von hier aus
  • über die ganze Welt verbreiten. Dann gehe man zu Afrika über, wo die
  • Sonne so heiß brennt und Ozeane von Sandwüsten sich über unermeßliche
  • Flächen dehnen; dies ist das Land der Löwen, Tiger, der Palmen und der
  • Kokospalmen und der Menschen, die sich in ihrem Äußeren und ihren
  • sinnlichen Neigungen nur wenig von Affen unterscheiden, deren zahlreiche
  • Scharen das Land durchziehen usw.
  • * * * * *
  • Nachdem der Schüler das Bild eines Erdteils aufgezeichnet hat,
  • verzeichne er alle Höhen und Tiefen auf ihm und stellte dar, wie die
  • Berge sich verzweigen und in langen, formlosen Ketten durch das Land
  • ziehen. Bei dieser Gelegenheit kann man sich der Reliefdarstellung
  • Europas von Ritter bedienen, obwohl sie sich wegen ihrer unklaren
  • Grenzen zwischen Licht und Schatten nicht ganz für Kinder eignet. Daher
  • wäre es am besten, man stellte zu diesem Zwecke ein richtiges Basrelief
  • aus festem Ton oder Metall her. Dann brauchte der Schüler es sich nur
  • aufmerksam anzusehen, und die Höhen und Tiefen würden sich seinem
  • Gedächtnis für immer einprägen.
  • * * * * *
  • Da die Berge der Erde ihre Form gegeben haben, so muß ihre Kenntnis
  • sozusagen den Anfang des ganzen Geographieunterrichts bilden. Nachdem
  • wir ihre Verzweigungen auf der Oberfläche der Erde aufgewiesen haben,
  • müssen wir auf ihr Äußeres, auf ihre Form, auf ihre Zusammensetzung, auf
  • ihre Entstehung und endlich auf ihren Charakter und ihre Eigenart
  • hinweisen, durch die sie sich von anderen Bergketten unterscheiden --
  • doch dies darf nicht in trockner Weise mit einer gelehrten
  • Ausführlichkeit geschehen, sondern so, daß der Schüler erkennt, daß
  • diese oder jene Gebirgskette aus dunklem oder hartem Granit bestehe, daß
  • das Innere einer anderen weiß, kalkartig oder lehmig, locker, gelb,
  • dunkel, rot oder endlich aus Erden und Gesteinen von leuchtenden Farben
  • zusammengesetzt sei. Man kann sogar erzählen, daß die Gebirge häufig von
  • Metallagern und Erzadern durchzogen sind, kann ihre Lage darstellen und
  • zwar kann man dies interessant und unterhaltend tun. Was aber ihre
  • Oberfläche anbetrifft, so versteht es sich von selbst, daß man alle
  • höchsten Punkte angeben muß: alle bemerkenswerten Erscheinungen auf
  • ihnen sowie die Höhen, bis zu denen die Menschen emporgestiegen sind.
  • * * * * *
  • Es könnte nicht schaden, auch die unterirdische Geographie kurz zu
  • berühren. Mir scheint, es gibt keinen poetischeren Gegenstand als diese,
  • obwohl sie nur für die höheren Altersstufen ganz verständlich sein kann.
  • Hier haben alle Tatsachen und Erscheinungen etwas Gigantisches und
  • Kolossales an sich. Hier begegnen wir ganzen ungeheuren Massen. Hier
  • trägt alles den Stempel der gewaltigen Erdumwälzungen, hier wird die
  • Seele mächtiger als sonst von den großen Werken des Schöpfers
  • erschüttert. Hier liegen ganze Lager von unterirdischen Wäldern
  • begraben. Hier ruht in tiefster Einsamkeit die Muschel eingebettet,
  • schon im Begriff, sich in Marmor zu verwandeln. Hier lodern ewige Feuer,
  • deren Ausbrüche die Oberfläche der Erde umgestalten. Ein großer Teil
  • dieser Erscheinungen kann selbst bei einer oberflächlichen Darstellung
  • den Eindruck auf die Einbildungskraft des jungen Zöglings nicht
  • verfehlen.
  • * * * * *
  • Der Prozeß und die Ausbreitung der Vegetation auf der Erde muß auf der
  • Karte an der Hand einer Stufenfolge der Wärmegrade aufgezeigt werden: wo
  • eine südliche Pflanze heimisch ist, wohin sie als Gast verschlagen ward,
  • unter welchem Grade sie zugrunde geht, wo die nördliche Vegetation
  • beginnt, wo sich auch diese endlich verliert, wo alles Wachstum aufhört,
  • wo die Natur in den Umarmungen des kalten Ozeans abstirbt und wo der
  • wunderbare Pol sich in undurchdringliche und für den Menschen
  • unzugängliche Eismassen einhüllt. Und in der gleichen Weise müßte auch
  • die Ausbreitung der Tierwelt dargestellt werden. Doch der Boden verlangt
  • eine andere Einteilung der Erde nach Zonen, von denen jede einzelne eine
  • besondere Art umschließt.
  • * * * * *
  • Nur hie und da werden die Erzeugnisse der Kunst von den Geographen
  • behandelt. Es gibt keinen Übergang von der Natur zu den Produkten des
  • Menschen. Die letzteren sind wie durch eine Axt von ihrem Urquell
  • abgespalten. Ich rede nicht einmal davon, daß bei ihnen jener Ehebund
  • des Menschen mit der Natur, der die Manufaktur gebiert, gar nicht
  • erwähnt wird. Bevor also der Schüler zur Betrachtung der Industrie und
  • den Erzeugnissen menschlicher Handarbeit fortschreitet, muß er hierzu
  • durch die Kenntnis der Bodenerzeugnisse vorbereitet werden, damit er
  • selbst daraus schließen kann, welche Industrien sich in einem bestimmten
  • Reiche vorfinden müssen; falls Ausnahmen in dieser Hinsicht vorkommen
  • sollten, ist es unbedingt nötig, auf ihre Ursachen hinzuweisen:
  • vielleicht liegen sie in dem sorglosen Charakter der Bevölkerung, in
  • fremdartigen Nebenumständen, in dem übergroßen Reichtum der Nachbarn, in
  • dem Mangel an Kommunikationsmitteln oder ähnlichen Verhältnissen. Wenn
  • er erst über die Industrie orientiert ist, kann er auch zum Handel
  • übergehen, der ja ohnedies nicht sehr interessant und nicht leicht
  • verständlich ist.
  • * * * * *
  • Bei der Aufzählung der Völker muß der Lehrer durchaus auf die
  • Physiognomie und die Eigentümlichkeiten hinweisen, die der Charakter
  • eines Volks, sozusagen unter dem Einflusse geographischer Verhältnisse
  • angenommen hat. Er muß alle Völker der Erde in große Familien einordnen,
  • erst die gemeinschaftlichen Züge einer jeden Gruppe schildern und dann
  • erst zu ihren unterscheidenden Merkmalen übergehen. Dann muß er ihre
  • physische Geschichte, d. h. die Geschichte ihrer Charakteränderungen
  • folgen lassen, damit es dem Schüler klar werde, warum z. B. die Teutonen
  • in Deutschland durch einen festen, phlegmatischen Charakter
  • ausgezeichnet sind, und warum derselbe Stamm nach Überschreitung der
  • Alpen ein so munteres, leichtes Wesen annimmt.
  • * * * * *
  • Auch Karten, die die Ausbreitung der Bildung auf der Erdkugel
  • darstellen, sind für Kinder von großem Nutzen. Dieser Nutzen wird zur
  • Notwendigkeit, sobald man zu Europa übergeht. Da es jedoch bei uns
  • solche Karten noch nicht gibt, muß der Lehrer sich der kleinen Mühe
  • unterziehen und selbst eine solche anfertigen. Die Punkte, wo die Kultur
  • einen hohen Grad erreicht hat, muß er durch leuchtende Farben
  • hervorheben und dort leichte Schatten aufsetzen, wo sie tiefer steht.
  • Diese Schatten werden immer dunkler, je tiefer wir herabsteigen, und
  • verwandeln sich in völlige Finsternis in dem Maße als die Natur
  • verwildert und der Mensch bis zum seelenlosen Eskimo hinabsinkt.
  • Die Größe der Erde und der einzelnen Staaten wird man sich nie durch
  • Feststellung ihres Quadratinhalts einprägen. Man braucht nur einen Blick
  • auf die Karte zu werfen, das ist das einzige Mittel, sie kennen zu
  • lernen. Es wäre nicht unangebracht, jedes Reich besonders
  • auszuschneiden, so daß es ein einzelnes Stück und durch Zusammenfügung
  • mit den andern einen Weltteil bilde. So könnte man die Größe und Form
  • eines jeden Reiches sichtbar machen.
  • * * * * *
  • Bei der Darstellung einer jeden Stadt muß man ihre Lage genau bestimmen:
  • ob sie auf dem Berge liegt oder sich ins Tal hinabzieht, muß ihr Leben,
  • ihre Bedeutung, ihre Einkunftsquellen schildern -- und überhaupt mit
  • einigen kräftigen Strichen ihren Charakter zeichnen. Der Lehrer muß aus
  • dem reichhaltigen Material all das hervorziehen, was eine
  • Eigentümlichkeit dieser Stadt ist, und wodurch sie sich von den vielen
  • anderen unterscheidet. Der Schüler soll wissen, was Rom, was Paris, was
  • Petersburg ist. Er darf die anderen europäischen Städte nicht etwa an
  • dem eigenen Maßstabe, der sich beim Anblick von Petersburg in seinem
  • Kopf gebildet hat, messen. Bei der Darstellung jeder einzelnen Stadt muß
  • das, was allen Städten gemeinsam ist, ausgeschlossen werden. In vielen
  • von unseren Geographiebüchern wird auch heute noch bei der Erwähnung
  • einer Gouvernementsstadt erzählt, daß es dort ein Gymnasium, eine
  • Kathedrale, und bei Zitierung einer Kreisstadt bemerkt, daß es in ihr
  • eine Kreisschule gibt usw. Wozu soll das dienen? Es genügt, wenn man dem
  • Schüler gleich am Anfang sagt, daß es bei uns in jeder Gouvernementstadt
  • ein Gymnasium und eine Kirche gibt. In der ganzen Welt aber gibt es nur
  • einen Kreml, einen Vatikan, ein Palais-Royal, eine Reiterstatue Peters
  • des Großen von Falkonet, ein Petscherski-Kloster in Kiew, einen King
  • Bench! Über diese wird das Kind gewiß Genaueres erfahren wollen. Man
  • darf sich nicht mit nichtigen Dingen, wie mit dem Aufzählen von Häusern
  • und Kirchen, aufhalten, die den Schüler nur langweilen können, dies
  • sollte nur in Ausnahmefällen gestattet sein, wenn etwas entweder durch
  • seine Größe oder durch ein negatives Merkmal aus der Kategorie des
  • Alltäglichen hervorragt. Statt dessen kann man über die Architektur
  • einer Stadt sprechen -- in welchem Stil sie erbaut ist, und ob die
  • Gebäude durch Größe oder Schönheit auffallen. Bei der Darstellung einer
  • sehr alten Stadt muß man darauf aufmerksam machen, wie majestätisch
  • ihre, wenn auch seltsam anmutende altertümliche, in Jahrhunderten
  • bewährte und in den Erschütterungen groß gewordene Architektur und wie
  • leicht und elegant dagegen der Stil einer anderen Stadt ist, die nur ein
  • Jahrhundert zu ihrer Entstehung brauchte. Beim Gedanken an irgendein
  • deutsches Städtchen muß der Schüler sich sofort enge Gassen und kleine,
  • schmale, hohe Häuschen, an denen alles so einfach, so lieb und so
  • bukolisch ist, vorstellen, und daneben eckige Kirchen mit hoch in die
  • Luft ragenden Turmspitzen. Mit dem Gedanken an Rom, diesem dumpfen Echo
  • der ganzen antiken, in dem Wirbel der Jahrhunderte untergegangenen Welt,
  • muß sich unweigerlich der Gedanke an mächtige, sich kühn vom Boden
  • erhebende Gebäude verbinden, die, auf schlanke Hallen und gigantische
  • Säulen gestützt, verfallen, gleich als sönnen sie über die verflossenen
  • Tage ihrer großen, herrlichen Jugend nach. Zu diesem Zweck wäre es gut,
  • den Schülern recht häufig die Fassaden der berühmtesten Bauten zu
  • zeigen; dann würde sich ihre ungewöhnliche Gestalt dem Gedächtnis
  • einprägen, und dies würde unwillkürlich und unmerklich zur Bildung ihres
  • jungen Geschmacks beitragen.
  • * * * * *
  • Hin und wieder muß auch die Geschichte durch die Erinnerung an
  • vergangene Ereignisse die geographische Welt beleuchten. Das Vergangene
  • muß aber schon sehr augenfällig und von rein geographischen Ursachen
  • bewirkt sein, um an sie zu erinnern. Wenn jedoch der Schüler zur selben
  • Zeit Geschichte studiert, dann fließen Geographie und Geschichte
  • miteinander zusammen, um ein organisches Ganzes zu bilden.
  • * * * * *
  • Der Vortrag des Lehrers muß fesselnd und bilderreich sein, alle
  • eindrucksvollen Gegenden, alle großen Naturerscheinungen müssen mit
  • leuchtenden Farben geschildert werden. Was stark auf die Phantasie
  • wirkt, das geht dem Gedächtnis nicht leicht verloren. Der Vortrag muß
  • dem Stil eines Reisenden gleichen. Die strenge analytische Systematik,
  • besonders wenn sie sich auf Kleinigkeiten erstreckt, kann nicht lange im
  • Kopf eines Jünglings haften. Das Kind behält nur dann ein System, wenn
  • es es nicht mit Augen sieht und wenn es ihm verborgen bleibt. Sein
  • System -- ist das Interesse, der Faden, an dem sich die Ereignisse oder
  • die Erzählungen aufreihen. Alles, was wahrhaft notwendig ist, alles, was
  • mehr mit unserem Leben zusammenhängt, was wir später noch besser bei uns
  • selbst anwenden können, -- dies alles ist interessant. Übrigens: was ist
  • in der Geographie uninteressant? Sie ist so tief wie das Meer, sie
  • erweitert unsere eigensten Handlungen und unsern Wirkungskreis, und
  • obgleich sie uns die Grenzen eines jeden Landes zeigt, verhüllt sie ihre
  • eigenen so geschickt, daß sie selbst für Erwachsene ein philosophisch
  • anziehender Gegenstand bleibt. Kurz gesagt, man muß versuchen, den
  • Schüler so viel als möglich mit der Welt bekannt zu machen, mit all
  • ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit, aber in einer Weise, daß sein
  • Gedächtnis nicht überbürdet wird, sondern daß ihm dies alles wie ein mit
  • helleuchtenden Farben gemaltes Bild erscheint. Hierfür bieten uns die
  • Beschreibungen der Reisenden einen reichen Schatz dar; es gibt deren
  • eine ganze Menge; wie mir scheint, hat man es jedoch noch nicht
  • verstanden, in dieser Hinsicht, genügenden Nutzen aus ihnen zu ziehen.
  • * * * * *
  • An der Trägheit und Unaufmerksamkeit des Schülers hat meist der Lehrer
  • schuld, sie sind nur Zeugnisse für seine eigne Nachlässigkeit; er hat es
  • also nicht verstanden, die Aufmerksamkeit seiner jugendlichen Hörer zu
  • fesseln, oder er hat es nicht gewollt; er hat sie gezwungen, seine
  • bittern Pillen mit Widerwillen zu schlucken. Man darf nie einen
  • vollständigen Mangel an Fähigkeiten bei einem Kinde voraussetzen. Ich
  • bin oft Zeuge gewesen, wie ein Kind, das allgemein für ganz unbegabt und
  • von der Natur als stiefmütterlich behandelt gehalten wurde, mit
  • ungeteilter Aufmerksamkeit einer grauenerregenden Erzählung lauschte,
  • und wie auf seinem fast seelenlosen, von keinem Gefühl der Teilnahme
  • belebten Gesichte unruhige Spannung und Angst miteinander abwechselten.
  • Sollte es wirklich nicht möglich sein, diese Aufmerksamkeit für die
  • Wissenschaft nutzbar zu machen?
  • 1829.
  • VI
  • Der letzte Tag von Pompeji
  • Ein Bild von Brylow
  • Dies Bild von Brylow ist eine der glänzendsten Erscheinungen des XIX.
  • Jahrhunderts. Es ist der Auferstehungstag der Malerei, die lange Zeit in
  • einer Art von lethargischem Schlafe verharrte. Ich will nicht von den
  • Ursachen eines solch ungewöhnlichen Stillstandes reden, obgleich dieser
  • einen sehr interessanten Gegenstand für die Forschung darbietet; ich
  • will nur erwähnen, daß, wenn auch das Ende des XVIII. und der Anfang des
  • XIX. Jahrhunderts uns in der Malerei nichts Vollendetes und Gewaltiges
  • gebracht, sie doch in ihren einzelnen Teilen mancherlei Förderliches
  • geleistet haben. Die Malerei zerfiel in unzählige Atome und Teilchen.
  • Jedes dieser Atome ward unendlich viel tiefer erkannt und fortentwickelt
  • wie in früheren Zeiten. Man entdeckte geheimnisvolle Erscheinungen, von
  • denen man früher nicht einmal etwas ahnte: All das an der Natur, was der
  • Mensch am häufigsten sieht, was ihn umgibt und ein Leben mit ihm lebt,
  • diese _sichtbare_ Natur mit all ihren kleinen Zügen, die von den großen
  • Künstlern vernachlässigt wurden, erreichte eine bewunderungswürdige
  • Wahrheit und Vollkommenheit der Darstellung. Alles wetteiferte
  • miteinander, um das lebendige Kolorit, das die Natur ausströmt, zu
  • erfassen. Alles Geheimnisvolle in ihrem Schoße, diese stumme Sprache der
  • Landschaft ward entdeckt, oder richtiger, ward ihr geraubt, ward der
  • Natur entrissen, obwohl ihr freilich nur Stücke entrissen wurden und
  • obwohl alle Erzeugnisse dieses Jahrhunderts an Experimente oder, besser
  • gesagt, an Notizen, Materialsammlungen und flüchtige Gedanken erinnern,
  • die ein Reisender in aller Eile in sein Tagebuch einträgt, um sie nicht
  • zu vergessen und um später ein Ganzes aus ihnen zu machen. Die Malerei
  • zerfiel in ihre primitivsten, beschränktesten Zweige: die Stecherkunst,
  • die Lithographie, und eine Unzahl unbedeutender Erscheinungen wurde mit
  • großem Eifer bis in ihre einzelnen Teile bearbeitet. Dies verdanken wir
  • dem XIX. Jahrhundert. Das Kolorit, das im XIX. Jahrhundert verwendet
  • wird, bedeutet einen großen Fortschritt in der Erkenntnis der Natur. Man
  • sehe sich nur einmal diese immer wieder erscheinenden Fragmente,
  • Perspektiven und Landschaften an, die im XIX. Jahrhundert das
  • Zusammenfließen des Menschen mit der ihn umgebenden Natur zum Ausdruck
  • bringen: wie differenziert sich hier die von Licht umflutete
  • Häuserflucht, indem sie aus der Finsternis hervortritt! wie durchsichtig
  • ist das vom Licht getroffene Wasser, wie flutet es im Schattendunkel der
  • Zweige! wie schwül und strahlend verliert sich der leuchtende Himmel in
  • der Ferne! wie nah rückt er dem Beschauer die einzelnen Gegenstände:
  • welch kühne, welch unerhörte Verwerfung der Schatten dort, wo man sie
  • früher nicht einmal ahnte, und zugleich bei aller Schärfe welch
  • wundervolle Zartheit, welch eine geheime Musik selbst in den
  • gewöhnlichsten leblosen Gegenständen! Aber worin es unsere Zeit am
  • weitesten gebracht hat, das ist die Beleuchtung. Die Beleuchtung
  • verleiht all unseren Schöpfungen solch eine Kraft, ja, man kann sagen,
  • solch eine Einheitlichkeit, daß sie, obwohl sie keine tiefere Bedeutung
  • in sich tragen, die auf etwas Geniales schließen läßt, doch unserm Auge
  • unendlich angenehm sind. Sie können uns durch ihren Gesamtausdruck zwar
  • nicht fesseln, trotzdem aber entdeckt man bei genauerer Beobachtung in
  • ihrem Schöpfer häufig eine, wenn auch beschränkte Kunsterfahrung.
  • Man betrachte einmal all diese unaufhörlich erscheinenden Gravüren,
  • diese Produkte eines starken Talents, in denen die Natur so lebendig
  • pulsiert, daß man meinen sollte, sie wären in Farbe getaucht. Die
  • Morgenröte leuchtet in ihnen so zart am Himmel, daß wir beim längeren
  • Hinsehen den purpurnen Widerschein des Abends zu erkennen glauben; die
  • von Sonnenlicht überfluteten Bäume scheinen gleichsam wie mit einer
  • dünnen Staubschicht bedeckt; aus dem tiefsten Dunkel der Schatten blitzt
  • ein leuchtendes, blühendes Weiß sinnberückend hervor. Wenn man sie
  • anblickt, so fürchtet man sich, sie mit dem Atem zu streifen. Dieser
  • Effekt, der sich überall in der Natur findet, und durch den Kampf von
  • Licht und Schatten entsteht, dieser Effekt ist das Ziel und Streben all
  • unserer Künstler geworden. Man kann sagen, das XIX. Jahrhundert sei das
  • Jahrhundert der Effekte. Jedermann vom Ersten bis zum Letzten hascht
  • nach Effekt, vom Poeten bis zum Konditor, so daß diese Effekte uns
  • wahrlich schon zu langweilen beginnen, und es ist möglich, daß das XIX.
  • Jahrhundert infolge einer seltsamen Laune sich endlich wieder dem
  • Schlichten zuwenden wird. Übrigens kann man sagen, daß die Effekte sich
  • am meisten für die Malerei eignen, wie überhaupt für alles, was wir mit
  • den Augen genießen: hier fällt, wenn sie an unrechter Stelle angebracht
  • und wenn sie falsch sind, ihre Falschheit und Zweckwidrigkeit sofort
  • einem jeden auf. Ganz anders ist es bei Erzeugnissen, die sich nur dem
  • inneren Auge erschließen: hier wirken falsche Effekte schädlich, weil
  • sie die Lüge verbreiten, denn die einfältige Menge stürzt sich kritiklos
  • auf alles, was glänzt. In den Händen eines echten, wahren Talentes
  • dagegen sind sie stets wahrhaftig und steigern den Menschen ins
  • Riesenhafte; wo sie jedoch in die Hand eines unechten Talentes geraten,
  • da werden sie dem wahren Kunstkenner ein Greuel, da wirken sie so
  • widerwärtig wie ein Zwerg in dem Gewande eines Riesen, oder ein gemeiner
  • Mensch, der sich mit einer unverdienten, nur dem Verdienst gebührenden
  • Auszeichnung schmückt. Aber alles dieses gehört nicht eigentlich zum
  • gegenwärtigen Thema. Man muß zugeben, daß im allgemeinen das Streben
  • nach Effekt eher nützt als schadet; es treibt uns eher vorwärts als
  • rückwärts und hat sogar in der allerletzten Zeit viel zur
  • Vervollkommnung beigetragen. Von dem Wunsch getrieben, einen Effekt
  • hervorzubringen, haben viele ihr Objekt genauer studiert und ihre
  • geistigen Fähigkeiten viel lebhafter angespannt. Und wenn der wahre
  • Effekt sich größtenteils nur in kleinen Vorwürfen offenbarte, so lag die
  • Schuld mehr an dem Mangel an großen Genies, als in der ungeheuren
  • Zersplitterung des Lebens und der Kenntnisse, der man sie gewöhnlich
  • zuschreibt. Außerdem hat das Streben nach Effekt dazu beigetragen, daß
  • die Details mit großer Gründlichkeit herausgearbeitet und daß sie durch
  • ihr starkes Insaugefallen allen zugänglich gemacht werden. Ich erinnere
  • mich nicht, wer es ausgesprochen hat, im XIX. Jahrhundert sei die
  • Erscheinung eines universalen Genies, das das ganze Leben des XIX.
  • Jahrhunderts in sich aufnehmen könnte, ein Ding der Unmöglichkeit. Das
  • ist durchaus unrichtig, das ist ein Gedanke, den nur die
  • Hoffnungslosigkeit eingeben kann und der von einem gewissen Kleinmut
  • zeugt. Im Gegenteil, nie wird der Flug der Seele eines Genius so
  • strahlend sein, wie in unserer Zeit; noch nie war das notwendige
  • Material so gut für ihn vorbereitet wie im XIX. Jahrhundert. Und sein
  • Schritt wird sicherlich der eines Riesen und jedem, vom Kleinsten bis
  • zum Größten, sichtbar sein.
  • Das Bild von Brylow kann eine vollwertige, universale Schöpfung genannt
  • werden. In ihr ist alles enthalten. Wenigstens hat es eine so gewaltige
  • Mannigfaltigkeit in sein Bereich gezogen, wie vor ihm nie ein anderes
  • Bild. Das Thema entspricht ganz dem Geschmack unseres Jahrhunderts, das
  • aus dem Gefühl seiner ungeheuren Zersplitterung heraus darnach strebt,
  • alle Erscheinungen zu ganzen Gruppen zusammenzuschließen, und das daher
  • die großen Krisen, die von der ganzen Masse empfunden werden, bevorzugt.
  • Jeder kennt jene herrlichen Werke, zu denen die »Vision des Balthasar«,
  • die »Zerstörung Ninives« und noch einige andere gehören; hier sind die
  • gewaltigen Katastrophen in ihrer ganzen schrecklichen Größe dargestellt,
  • in einer vollkommenen Beleuchtung; in furchtbarer Macht lassen ungeheure
  • Blitze die schreckliche Finsternis aufleuchten und zucken über den
  • Köpfen des betenden Volks. Der Gesamteindruck dieser Bilder ist
  • erschütternd und von seltener Einheitlichkeit; doch aber bilden sie nur
  • den Ausdruck für eine Seite dieses Gedankens. Sie erinnern an eine ferne
  • Landschaft und liefern nur einen einzigen allgemeinen Eindruck. Wir
  • haben nur ein Gefühl für die furchtbare Lage der ganzen Volksmasse,
  • erkennen aber keinen einzelnen Menschen, der den ganzen Schrecken der
  • sich vor seinen Augen vollziehenden Zerstörung zum Ausdruck bringt.
  • Diesen Gedanken, den wir nur in starker perspektivischer Verkürzung
  • gesehen, stellt uns Brylow plötzlich unmittelbar vor Augen, und dieser
  • Gedanke wächst ins Riesenhafte und scheint auch uns in seinen Bannkreis
  • zu ziehen. Die Darstellung, die Komposition seiner Idee ist mit
  • außerordentlicher Kühnheit ausgeführt: er hat den Blitzstrahl ergriffen
  • und läßt ihn stürmend auf sein Bild niederfallen. Der Blitz hat alles
  • mit seinem Licht übergossen und überflutet, wie um alles sichtbar zu
  • machen, so daß kein Gegenstand dem Beschauer verborgen bleibt. Daher
  • liegt auch auf allem eine ungeheuere Lichtfülle. Die Figuren sind mit
  • kraftvoller Hand hingeworfen, wie nur ein gewaltiger Genius es vermag.
  • Diese ganze Gruppe, die im Augenblick, wo der Blitz niederfällt, wie
  • erstarrt stehengeblieben ist, und in der sich tausend verschiedene
  • Gefühle spiegeln, dieser stolze Athlet, der einen Schreckensschrei
  • ausstößt, in dem Kraft, Hochmut und Ohnmacht liegen, und der sich mit
  • seinem Mantel gegen den Wirbelwind von Steinen deckt, dieses Weib, das
  • zu Boden gestürzt ist und ihren herrlichen Arm von einer nie dagewesenen
  • Schönheit ausstreckt, dieses Kind, das den Beschauer mit seinem Blick zu
  • durchbohren scheint, dieser vom Blitzschlag betäubte Greis, der von
  • seinen Kindern getragen wird, dessen schrecklicher Körper schon einen
  • Grabeshauch auszuströmen und dessen Hand mit den weit ausgespreizten
  • Fingern in der Luft erstarrt zu sein scheint, diese Mutter, die die
  • Flucht aufgibt und trotz der Bitten ihres Sohnes, dessen angsterfülltes
  • Flehen der Beschauer zu vernehmen meint, unbeugsam bei ihrem Entschluß
  • verharrt, diese Menge, die entsetzt von den Mauern zurückweicht oder
  • voller Schrecken und doch wieder ihren Schreck plötzlich vergessend,
  • wild auf die Erscheinung hinstarrt, die das Ende der Welt ankündigt,
  • dieser Priester im weißen Gewande, der in hoffnungsloser Wut seinen
  • Blick auf die ganze Welt richtet -- dies alles ist so gewaltig, so kühn,
  • so harmonisch ineinandergefügt, wie es nur im Kopfe eines universalen
  • Genius möglich war.
  • Ich will hier nicht den Inhalt des Bildes analysieren, noch die
  • dargestellten Vorgänge erläutern und erklären. Hierfür hat jeder sein
  • eigenes Auge und sein eigenes Gefühlsmaß; außerdem ist dies alles so
  • augenfällig und steht in so naher Beziehung zu dem menschlichen Leben
  • und zu der Natur, die der Mensch vor sich sieht und begreift, weil beide
  • jedem, dem Kleinsten wie dem Größten, verständlich sind: ich will nur
  • die Vorzüge und die scharf hervorstehenden Eigentümlichkeiten des
  • Brylowschen Stils hervorheben, um so mehr, da sie wohl den meisten
  • entgangen sein werden. Brylow ist der erste Maler, bei dem die Plastik
  • bis zur höchsten Vollkommenheit gediehen ist. Seine Gestalten sind trotz
  • des furchtbaren Ereignisses und trotz der Lage, in der sie sich
  • befinden, doch nicht von jenem wilden Entsetzen erfaßt, von dem die
  • herben Schöpfungen Michelangelos erfüllt sind, bei deren Anblick wir
  • erbeben. Auch finden wir bei Brylow nicht jene Vorherrschaft der
  • himmlischen, unerreichbaren und zarten Gefühle, von denen Raffaels
  • Bilder überquellen. Seine Gestalten sind schön, trotz all der Schrecken
  • ihrer Situation. Sie überwinden das Entsetzen durch ihre Schönheit. Er
  • ist hier nicht so, wie bei Michelangelo, bei dem der Körper nur dazu
  • dient, um die Kraft der Seele, ihre Leiden, ihre Seufzer und ihre
  • furchtbaren Erschütterungen sehen zu lassen, bei dem die Plastik
  • unterging und die Kontur des Menschen riesenhafte Dimensionen annahm,
  • weil sie nur dem Gedanken zum Symbol dient, und bei dem nicht der
  • Mensch, sondern allein seine Leidenschaften vor uns erscheinen. Bei
  • Brylow erscheint der Mensch nur dazu, um seine ganze Schönheit und die
  • hohe Anmut seiner Natur zu offenbaren. Die Leidenschaften und die
  • wahrhaften, flammenden Gefühle treten uns in so wunderbaren Formen, in
  • so herrlichen Menschengestalten entgegen, daß ein Rausch des Entzückens
  • uns erfaßt. Als ich das Bild zum dritten- und viertenmal ansah, schien
  • es mir, als sei die Skulptur -- jene Skulptur, die in der Antike solch
  • eine plastische Vollkommenheit erreicht hat, als sei die Skulptur
  • endlich in die Malerei übergegangen und hätte sich überdies mit einer
  • geheimnisvollen Musik erfüllt. Brylows Menschen haben stolze und schöne
  • Bewegungen; seine Frauengestalten haben etwas Strahlendes, aber es sind
  • nicht die Frauen Raffaels mit ihren feinen, kaum erkennbaren Engelszügen
  • -- das sind leidenschaftliche, wilde, südliche Italienerinnen, in der
  • ganzen reinen Schönheit des Mittags stark, kraftvoll, glühend in der
  • Fülle ihrer Leidenschaften und in der Macht ihrer Schönheit und herrlich
  • in ihrer Weiblichkeit. Brylow hat keine Gestalt geschaffen, die nicht
  • Schönheit atmete; all seine Menschen sind schön. Die Gesamtbewegungen
  • seiner Gruppen sind von gewaltigem Rhythmus und sind in ihrer
  • Gesamtwirkung schon etwas Schönes. Bei ihrer Erschaffung hat Brylow
  • seine Phantasie ebenso stark gezügelt und kraftvoll gelenkt, wie der
  • Bewohner der Wüste einen arabischen Hengst. Daher ist das ganze Bild so
  • voller Spannkraft und Pracht.
  • Im allgemeinen entdecken wir in dem Bilde einen gewissen Mangel an
  • Idealität, d. h. einer abstrakten Idealität; darin besteht sein
  • stärkster Vorzug. Wenn diese Idealität, dieses Übergewicht der Idee
  • hinzugekommen wäre, dann hätte das Bild einen ganz anderen Ausdruck
  • erhalten und nicht den Eindruck hervorgerufen, den es jetzt macht. Das
  • Mitleid und jene furchtbare innere Ergriffenheit hätten sich nicht so
  • der Seelen der Beschauer bemächtigt, und der wunderbare, von Liebe zur
  • Schönheit und Wahrheit erfüllte Gedanke wäre ganz verloren gegangen. Was
  • uns schreckt, sind nicht die Zerstörung, nicht der Tod, im Gegenteil, in
  • diesem Augenblick liegt etwas Poetisches, ein wie im Wirbelwind
  • dahinstürmender, geistiger Genuß; wir trauern um unser süßes
  • Sinnenglück, um unsere herrliche Erde. Brylow hat diesen Gedanken in
  • seiner ganzen Kraft erfaßt. Er hat den Menschen in seiner höchsten
  • Schönheit dargestellt, sein Weib ist der Inbegriff aller Herrlichkeit
  • der Welt. Seine Augen strahlen hell wie die Sterne, seine Kraft und
  • Wollust atmende Brust verspricht die Wonnen der Seligkeit. Und dieses
  • wundersame Weib, diese Krone der Schöpfung, dieses Ideal unserer Erde
  • muß zugrunde gehen in dem allgemeinen Untergang wie das letzte
  • verächtlichste Geschöpf, das es nicht wert ist, zu ihren Füßen
  • dahinzukriechen. Ihre Tränen selbst, Ihre Angst und ihr Schluchzen --
  • alles ist schön.
  • Die äußere ins Auge fallende Eigenart oder die Manier Brylows bildet
  • auch einen völlig originellen und einen besonderen Fortschritt. Auf
  • seinen Bildern liegt ein Meer von Licht. Das ist sein Charakter. Seine
  • Schatten sind kräftig und scharf, gehen aber in der Gesamtmasse unter,
  • verschwinden im Licht. Wie in der Natur, so sind sie auch bei Brylow
  • kaum bemerkbar. Man könnte seinen Pinsel glänzend und durchsichtig
  • nennen. Die Rundung eines schönen Körpers hat etwas Durchscheinendes und
  • erinnert an Porzellan; das Licht, das ihn mit seinem Glanze überflutet,
  • scheint zu gleicher Zeit in ihn einzudringen. Und dieses Licht ist
  • wiederum so zart, daß es zu phosphoreszieren scheint. Selbst der
  • Schatten erscheint bei ihm durchsichtig und strömt bei aller Kraft und
  • Stärke eine reine, weiche Zartheit und Poesie aus. Seine Pinselführung
  • prägt sich einem für alle Zeiten ein. Ich hatte zuerst nur ein Bild von
  • ihm gesehen -- das Porträt der Familie Witgenstein. Es prägte sich
  • sofort und mit einem Schlage meiner Phantasie ein und lebt dort für
  • immer in seinem leuchtenden Glanze. Als ich auf dem Wege war, mir das
  • Bild »Die Zerstörung von Pompeji« anzusehen, war das erste ganz aus
  • meinem Gedächtnis geschwunden. Ich näherte mich mit einer größeren Menge
  • von Menschen dem Saal, wo das Bild hing, und ich hatte, wie das in
  • solchen Fällen zu geschehen pflegt, für einen Augenblick ganz vergessen,
  • daß ich gekommen war, um mir ein Werk Brylows anzusehen; ich hatte sogar
  • vergessen, ob überhaupt ein Brylow auf der Welt existiert. Aber als mein
  • Blick auf das Bild fiel, als es vor mir aufstrahlte, da durchzuckte mich
  • wie ein Blitz der Gedanke an jenes Porträt, und ich glaubte das Wort
  • »Brylow« zu hören. Ich hatte ihn wiedererkannt. Sein Pinsel hat etwas
  • von jener Poesie, die man nur empfinden kann und die man stets
  • wiedererkennt: unsere Sinne erkennen und fühlen stets die spezifischen
  • Eigentümlichkeiten, obwohl wir sie mit Worten nie auszudrücken vermögen.
  • Sein Kolorit hat eine Leuchtkraft, wie man sie früher fast nie gekannt
  • hat; seine Farben glühen und treffen sprühend unsere Augen. Bei einem
  • Künstler, der nur eine kleine Stufe tiefer stände als Brylow, wären sie
  • unerträglich, bei ihm aber sind sie von jener Harmonie belebt und von
  • jener inneren Musik durchdrungen, die die lebendigen Geschöpfe der Natur
  • erfüllt.
  • Aber die stärkste Eigenart und das, was das Größte an Brylow ist, das
  • ist die ungeheure Vielseitigkeit und der ungeheure Umfang seines
  • Talents. Er läßt nichts außer acht, bei ihm ist alles von der Grundidee
  • und den Hauptgestalten bis zum letzten Pflasterstein frisch und
  • lebendig. Er bemüht sich, alle Gegenstände zu umfassen und ihnen allen
  • den machtvollen Stempel seines Talents aufzudrücken. Gewöhnlich pflegten
  • sich die Künstler früherer Zeiten nur eine einzelne Seite eines
  • Gegenstands vorzunehmen und auf diese ihr ganzes Talent zu
  • konzentrieren, das sich daher auch zu einer ungewöhnlichen, man möchte
  • sagen, abstrakten Größe entwickelte. Raffael malte gewöhnlich nur
  • Gesichter und stellte das Erwachen himmlischer Leidenschaften und
  • Neigungen auf ihnen dar; alles übrige, selbst die Gewänder, ließ er
  • seine Schüler vollenden. Auch alle übrigen großen Künstler
  • vernachlässigten, ergriffen von der Erhabenheit der Religion oder der
  • Erhabenheit der Leidenschaften, alles Beiwerk und alles Sekundäre auf
  • ihren Gemälden. Bei ihnen hat der Himmel immer eine dunkelbraune Farbe;
  • ihre Wolken erinnern mehr an Heubündel oder an Granitmassen; die Bäume
  • bilden entweder in ihrer Regelmäßigkeit etwas Kindlich-Einförmiges oder
  • in ihrer willkürlichen Form etwas Unharmonisch-Häßliches. Für Brylow
  • dagegen sind alle Gegenstände vom größten bis zum kleinsten wertvoll. Er
  • sucht die Natur mit seinen Riesenarmen zu umfassen und drückt sie mit
  • der Leidenschaft eines Liebhabers an sein Herz. Vielleicht ist ihm dabei
  • die detaillierte Durcharbeitung der Teile, mit der ihm das XIX.
  • Jahrhundert vorangegangen ist, von Nutzen gewesen. Vielleicht hätte
  • Brylow, wenn er früher zur Welt gekommen wäre, nicht dieses vielseitige
  • aufs Ganze und Kolossale gerichtete Streben besessen, und vielleicht
  • gehören daher seine Werke zu den ersten, die durch ihre Lebendigkeit und
  • als reine Spiegel der Natur einem jeden verständlich sind. Seine Werke
  • gehören zu den ersten, die sowohl der Künstler, der einen
  • hochentwickelten Kunstgeschmack hat, wie der Laie, der nicht einmal
  • weiß, was Kunst ist (wenn auch nicht in gleicher Weise), begreifen kann.
  • Es sind die ersten Werke, denen das beneidenswerte Los zuteil ward, sich
  • einen Weltruf zu erobern, und das hervorragendste unter ihnen ist bis
  • heute das Gemälde »Der letzte Tag von Pompeji«, das sich durch seine
  • ungewöhnliche Größe und die Vereinigung aller höchsten Schönheiten nur
  • mit einer Oper vergleichen läßt, wenn die Oper wirklich eine Vereinigung
  • der dreieinigen Welt der Künste, der Malerei, der Poesie und der Musik
  • darstellt.
  • 1834. Im August.
  • VII
  • Der Gefangene
  • Ein Kapitel aus einem historischen Roman
  • Im Jahre 1543, zu Beginn des Frühjahrs, wurde nachts die Ruhe des
  • kleinen Städtchens Lukoma durch eine Abteilung der ordentlichen
  • königlichen Truppen gestört. Der abnehmende Mond, der mit seiner
  • leuchtenden Sichel durch die Wolken brach, die sich immerfort um ihn
  • zusammenballten, erhellte für einen Augenblick den Boden der Schlucht,
  • auf deren Grunde sich das kleine Städtchen angesiedelt hatte. Zum
  • Erstaunen der wenig zahlreichen Stadtbewohner, die erwacht waren, zog
  • die Abteilung, deren bloßes Erscheinen sonst der Vorbote von allerhand
  • Unruhen und Plünderungen war, mit einer schauerlichen Ruhe durch die
  • Gassen. Man merkte, daß die ganze Kraft ihrer stark gespannten
  • Aufmerksamkeit sich auf den Gefangenen konzentrierte, der in ihrer Mitte
  • einherritt; er hatte wohl das seltsamste Kostüm an, das einem Menschen
  • je gewaltsam aufgezwungen wurde. Sein Körper war von unten bis oben mit
  • Gewehren bedeckt, die an ihm festgebunden waren, wahrscheinlich, um ihm
  • eine gewisse Bewegungslosigkeit zu verleihen. Ein Kanonengestell war auf
  • seinem Rücken befestigt. Sein Roß konnte sich kaum fortbewegen, und der
  • unglückliche Gefangene wäre längst herabgefallen, wenn er nicht mit
  • einem dicken Seil an den Sattel gebunden gewesen wäre. Hätte ein
  • Mondstrahl auch nur für einen Augenblick sein Gesicht gestreift, er
  • hätte sich in den blutigen Schweißtropfen gebrochen, die ihm über die
  • Wangen rannen. Aber der Mond konnte das Gesicht des Gefangenen nicht
  • sehen, da es hinter einer eisernen Maske verborgen war. Die neugierigen
  • Bewohner versuchten hin und wieder mit offenem Munde näher an den
  • Gefangenen heranzutreten, wenn sie aber die drohend geballte Faust oder
  • den Säbel eines der Begleiter erblickten, schraken sie zurück, liefen
  • eilig in ihre elenden Hütten und wickelten sich, in der Kühle der
  • Nachtluft fröstelnd, fester in die um die Schulter geworfenen
  • tatarischen Pelze.
  • Die Abteilung hatte die Stadt passiert und näherte sich einem einsamen
  • Kloster. Dieses Gebäude, das aus zwei völlig verschiedenen Teilen
  • bestand, lag ganz am Ende der Stadt auf einem steilen Abhang. Der untere
  • Teil der Kirche war aus Stein und bestand sozusagen ganz aus Spalten und
  • Rissen; er war von Feuerrauch und Pulverdampf geschwärzt, stellenweise
  • war er ganz grün, mit Nesseln, Hopfen und wilden Glockenblumen bedeckt,
  • und bildete eine lebendige Chronik des Landes, das unter so viel
  • blutigen Ernten zu leiden gehabt hatte. Der obere Teil mit seinen fünf
  • geschwungenen, hölzernen Kuppeln, die eine entartete byzantinische
  • Architektur geschaffen und die von barbarischen Nachahmern noch mehr
  • verunstaltet waren, bestand ganz aus Holz. Die neuen Bretter, die
  • zwischen den alten rauchgeschwärzten hervorschimmerten, verliehen der
  • Kirche eine gewisse Buntheit und ließen erkennen, daß fromme Pilger sie
  • vor nicht gar zu langer Zeit ausgebessert hatten. Ein blasser Strahl der
  • Mondsichel stahl sich durch die krausen Zweige der Apfelbäume, die mit
  • ihrem dichten Laubwerk einen Teil des Gebäudes verdeckten, und fiel auf
  • die niedrige Tür und das über ihr angebrachte zackige Gesims, das mit
  • kleinen, eigensinnig wuchernden gelben Blumen bedeckt war; sie
  • leuchteten auf und glichen einer feurigen oder goldenen Aufschrift auf
  • dem natürlichen Gesims. Einer aus der Menge, ein Mann mit einem nicht
  • enden wollenden Schnurrbart, wie man noch nie einen ähnlichen gesehen
  • hatte, -- er war noch länger als seine Arme -- ein Mensch, den man nach
  • seinem Benehmen und seinem frechen, gebieterischen Blick wohl für den
  • Führer der Abteilung halten konnte, schlug mit dem Flintenlauf an das
  • Tor. Die morschen Klostermauern dröhnten und gaben einen Ton von sich,
  • der wie die Stimme eines Sterbenden klang und in der Luft verhallte.
  • Darnach trat wieder tiefe Stille ein. Ein wildes Fluchen in den
  • verschiedensten Mundarten donnerte unter dem gewaltigen Schnurrbart des
  • Abteilungschefs hervor: »Macht auf! verfluchtes Popenvolk! Sonst weiß
  • ich schon, wie ich euch wecken will!« Ein Pistolenschuß ertönte, die
  • Kugel drang durch das Tor und schlug ins Kirchenfenster ein, so daß
  • innen die Scheiben klirrend zu Boden fielen. Dies verursachte eine große
  • Verwirrung in den Zellen, die an die Kirche grenzten; man sah Lichter
  • aufblitzen; ein Schlüsselbund erklirrte; das Tor öffnete sich knarrend,
  • und vier Mönche mit dem Prior an der Spitze traten bleich mit einem
  • Kreuz in der Hand heraus.
  • »Hebt euch weg! unreine Geister, Bewohner der Hölle!« sagte kaum hörbar
  • mit zitternder Stimme der Prior. »Im Namen des Vaters, des Sohnes und
  • des Heiligen Geistes, hebe dich weg von hier, Satan!«
  • »_Allez!_ Das kläfft noch! Verfluchter Kerl!« brüllte der Führer in
  • einer Sprache, der kein Mensch hätte einen Namen geben können -- aus so
  • verschiedenartigen Elementen war sie zusammengebraut -- »Was kläffst du
  • Strolch und sagst, wir seien Teufel; wir Teufel? Wir sind von den
  • Königlichen!«
  • »Was seid ihr für Leute? Ich kenne euch nicht! Was seid ihr gekommen,
  • die Ruhe der rechtgläubigen Kirche zu stören?«
  • »Ich werde dir die Augen mit Pulver auswaschen, alte Hündin! Gib mir die
  • Schlüssel zu den Klosterkellern.«
  • »Wozu braucht ihr die Schlüssel zu unseren Kellern?«
  • »Ich werde nicht erst viel mit dir reden, dummer Pope. Aber wenn du
  • willst, Baßamasenjata, sprich mit meinem Gaul.«
  • »Bring' diesem Antichristen die Schlüssel, Bruder Kasjan,« seufzte der
  • Prior und wandte sich an den einen Mönch. »Aber ich habe keinen Wein, so
  • wahr Gott heilig ist, ich habe keinen! nicht ein einziges Faß, auch kein
  • Fäßchen, ich habe nichts, was ihr brauchen könntet.«
  • »Was geht mich das an! Meine Jungens wollen trinken. Ich sage dir, wenn
  • du dummer Pope keinen Stall, kein Heu und keinen Weizen für meine Pferde
  • hergibst, dann führe ich sie in eure Kirche und versetze dir einen
  • Fußtritt ins Gesicht.«
  • Der Prior sagte keine Wort, er blickte die Ankömmlinge mit seinen
  • bleiernen Augen an, die, wie es schien, schon längst nicht mehr dieser
  • Welt gehörten, denn sie ließen keine Andeutung von einer Leidenschaft
  • erkennen, und sein Blick traf mit dem des Jesuiten zusammen, der seine
  • Augen haßerfüllt auf ihn gerichtet hatte. Der Prior wandte sich ab, und
  • sein Auge fiel auf den seltsamen Gefangenen mit dem Eisenvisier. Es
  • schien, daß dieser Anblick den Greis, der gegen alles, was nicht die
  • Kirche anging, teilnahmslos war, überraschte.
  • »Warum habt ihr diesen Menschen gefangen? Gott! strafe sie mit Deiner
  • dreifaltigen Macht! Gewiß wieder ein Märtyrer, der für seinen Glauben an
  • Christus leidet.«
  • Der Gefangene ließ nur ein schwaches Stöhnen vernehmen.
  • Die Schlüssel wurden gebracht, und beim Schein eines schläfrig
  • brennenden Lämpchens näherte sich die ganze Bande dem Eingang einer
  • Höhle, die sich hinter der Kirche befand. Kaum waren sie alle in das
  • unterirdische, häßliche Gewölbe hinabgestiegen, als Grabesfeuchtigkeit
  • sie umfing. Stumm schritt der Führer voran, und die flackernde Flamme
  • der Lampe mit ihrem nebligen Strahlenkranz warf ihm einen fahlen,
  • gespenstigen Lichtschimmer ins Gesicht, während der Schatten seines
  • endlosen Schnurrbarts sich emporbäumte und alle mit zwei langen, dunklen
  • Streifen bedeckte. Nur die beiden Enden des Kopfes mit ihrer plumpen
  • Rundung waren hell und scharf beleuchtet und ließen den unsäglich
  • gefühllosen Ausdruck erkennen, der darauf hindeutete, daß jede weichere
  • Regung in dieser Seele längst erstorben und erstarrt, daß Tod und Leben
  • ihm innerlich gleichgültig waren, daß sein größter Genuß in Tabak und
  • Branntwein bestand und daß er sich nur dort ganz selig fühlte, wo alles
  • lärmt und klirrt und trunken zu Boden sinkt. Er war ein Sprosse der
  • Grenzvölker, in dem zahlreiche Nationen sich gemischt hatten. Von Geburt
  • ein Serbe, der alles Menschliche in den wüsten Raubzügen und
  • Trinkgelagen Ungarns in sich ertötet hatte, seiner Kleidung und auch zum
  • Teil seiner Sprache nach ein Pole, seiner Geldgier nach ein Jude, seiner
  • Verschwendungssucht nach ein Kosak und in seinem ehernen Gleichmut ein
  • Teufel. Er schien die ganze Zeit über ganz ruhig zu sein und nur dann
  • und wann murmelte er einen gewöhnlichen Fluch zwischen den Zähnen
  • hindurch, besonders wenn er auf dem unebenen Boden stolperte, der sich
  • immer tiefer und tiefer hinabsenkte.
  • Mit großer Sorgfalt betrachtete er alle Löcher in den Erdwänden, die
  • jetzt ganz verschüttet waren, und einst als Zellen und einzige
  • Zufluchtsstätte im Lande gedient hatten, wo selten ein Jahr verging,
  • ohne daß die Zerstörung durch Steppen und Felder raste, und wo niemand
  • massivere Gebäude und Schlösser errichtete, weil jedermann wußte, wie
  • geringe Dauer ihnen beschieden war. Endlich erreichten sie eine hölzerne
  • ganz mit Moos und Schimmel bedeckte Tür, die mit Balken und Steinen
  • verrammelt war.
  • Der Führer blieb vor ihr stehen und betrachtete sie argwöhnisch von oben
  • bis unten. »Nun!« sagte er, wies mit den Augen nach der Tür hin, und es
  • war, als ginge ein Windstoß von seiner struppigen Braue aus. Sofort
  • machten sich einige von seinen Leuten an die Arbeit; nur mit Mühe gelang
  • es ihnen, die Balken zu entfernen.
  • Die Tür öffnete sich! Gott! welch ein grauenerregender Anblick bot sich
  • den Augen der Anwesenden dar! Schweigend blickten sie einander an, ehe
  • sie wagten, dort einzutreten. Es liegt etwas von den Schrecken des
  • Grabes in solch einem unterirdischen Gang. Dort herrscht der Tod in
  • seiner starren Majestät, er reckt seine knöchernen Gliedmaßen unter all
  • den blühenden Städten und Dörfern, unter der heiteren, lebensfrohen
  • Welt. Aber wenn dieses Todesgrauen atmende Innere der Erde noch von
  • lebenden Wesen, von jenen Höllengeistern bevölkert wird, deren Anblick
  • uns schon allein erzittern läßt, dann erscheint es noch furchtbarer. Der
  • Modergeruch war so stark, daß anfänglich allen der Atem stockte. Eine
  • riesengroße Kröte hockte da und glotzte die Eindringlinge, die sie in
  • ihrer Ruhe gestört hatten, mit ihren gräßlichen hervorquellenden Augen
  • an. Die viereckige Höhle hatte nur einen einzigen Eingang; große Stücke
  • von Spinngeweben hingen in langen Fetzen von dem Erdgewölbe herab, das
  • die Decke der Höhle bildete. Große Haufen von Erde, die von der Decke
  • herabgestürzt waren, lagen am Boden. Auf einem dieser Haufen lagen
  • Menschenknochen, und blitzschnell huschten schnellfüßige Eidechsen
  • zwischen ihnen hindurch. Eine Eule oder eine Fledermaus hätte in dieser
  • Umgebung noch schön gewirkt.
  • »Warum ist das keine Stube! 's ist eine schöne Stube!« schrie der
  • Führer. »_Allez_, hinein! Du, Hund, du wirst hier gut schlafen! Leg'
  • dich mal auf den Erdklumpen und nimm dir die Kröte zum Kopfkissen, oder
  • besser, nimm sie dir für die Nacht zur Frau!«
  • Einer von den Königlichen lachte über diesen Scherz, aber sein Gelächter
  • fand in diesen feuchten Hallen ein so schreckliches, tonloses Echo, daß
  • er selbst erschrak. Der Gefangene, der bis dahin stillgestanden war,
  • wurde in die Mitte der Höhle gestoßen und hörte nur noch, wie hinter ihm
  • die Tür knarrte und die Balken krachten, die den Eingang versperrten.
  • Das Licht erlosch, und Finsternis umfing das Innere der Höhle.
  • Der Unglückliche erbebte. Es schien ihm, als hätte man den Sargdeckel
  • über ihm zugeschlagen, und das Krachen der Balken, die den Eingang
  • versperrten, schien ihm dem Klirren des Spatens zu gleichen, wenn die
  • Erde mit schrecklichem Laute auf die letzten Überreste eines Menschen
  • fällt und die Menge gleichgültig wie das Grab und wie im Traume
  • flüstert: »Er ist nicht mehr -- aber einst lebte er.« Nach dem ersten
  • Schrecken verfiel der Gefangene in eine sinnlose Spannung, in einen
  • seelenlosen Zustand, der gewöhnlich einzutreten pflegt, wenn ein Schlag
  • einen so furchtbar trifft, daß der Mensch nicht einmal den Mut hat, an
  • ihn zu denken, sondern seine Augen auf irgendeinen unbedeutenden
  • Gegenstand heftet und ihn aufmerksam betrachtet. In solchen Augenblicken
  • gehört er einer anderen Welt an und hat keinen Teil mehr an dem, was die
  • Menschen bewegt: er sieht gedankenlos vor sich hin, er fühlt, ohne zu
  • empfinden, und ist von einem seltsamen Leben erfüllt. Zuerst heftete er
  • seine Aufmerksamkeit auf die ihn umgebende Finsternis. Für eine Spanne
  • Zeit war alles vergessen -- ihr Schrecken und der Gedanke daran, daß er
  • lebendig begraben war. Mit all seinen Sinnen suchte er sich mit der
  • Finsternis vertraut zu machen, und vor ihm tat sich eine ganz neue
  • seltsame Welt auf: plötzlich sah er helle Streifen die Dunkelheit
  • durchziehen -- eine letzte Erinnerung an das Licht. Diese Streifen
  • nahmen alle möglichen Farben an und bildeten die seltsamsten Figuren. Es
  • gibt keine absolute Finsternis für das Auge. Man mag es zudrücken,
  • soviel man will, es malt und zaubert uns Farben vor, die es früher
  • einmal gesehen hat. Diese bunten Arabesken nahmen entweder die Form
  • eines bunten Schals oder eines reich geäderten Marmors oder endlich jene
  • seltsame Gestalt an, die uns so wunderbar fremdartig anmutet, wenn wir
  • ein Stück eines Flügels oder das Beinchen eines Insekts unter dem
  • Mikroskop betrachten. Zuweilen sah er einen schlanken Fensterrahmen, den
  • es doch in seiner Höhle nicht gab, vor seinem Blick auftauchen. Ein
  • phantastisches Azurblau leuchtete in dem schwarzen Rahmen auf,
  • verwandelte sich dann in ein Kaffeebraun, verschwand ganz und ging dann
  • in ein dunkles Schwarz über, das mit Pünktchen von gelber, blauer oder
  • unbestimmter Farbe besät war.
  • Bald aber verschwand diese ganze Welt, und des Gefangenen bemächtigte
  • sich eine andere Empfindung. Anfänglich konnte er sich von diesem
  • Gefühle keine Rechenschaft geben, dann aber gewann es immer mehr an
  • Bestimmtheit. Er hatte ein Gefühl der Kälte auf seiner Hand, und seine
  • Finger glitten unwillkürlich über etwas Schlüpfriges hin. Plötzlich fuhr
  • ihm der Gedanke an die Kröte durch den Kopf! ... Er schrie auf und
  • fühlte sich augenblicklich in die Wirklichkeit versetzt! Seine Gedanken
  • tauchten plötzlich tief unter in den Schrecken der Gegenwart. Hierzu kam
  • noch die gänzliche Erschöpfung seiner Kräfte und die furchtbare
  • Stickluft: dies alles hatte zur Folge, daß er in eine tiefe Ohnmacht
  • versank.
  • Unterdessen machten sich's die königlichen Truppen in den Klosterzellen
  • bequem, als ob sie zu Hause wären; sie schickten die Mönche fort, um die
  • Ställe zu reinigen, und fingen fröhlich an zu zechen, voller Freude, daß
  • sie sich endlich des Menschen, dessen sie bedurften, bemächtigt hatten.
  • 1830.
  • VIII
  • Über die Völkerwanderung am Ende des V. Jahrhunderts
  • Die große Völkerwanderung, aus der die heutige Bevölkerung Europas
  • hervorgegangen ist, reicht mit ihrem Anfang bis in das ferne Altertum.
  • Sie beginnt vielleicht gleichzeitig mit der Gründung Roms, ja vielleicht
  • sogar schon früher. Während noch das Mittelmeer die neu entstandenen
  • Staaten umspülte, die ersten Schritte eines aufkeimenden Handels
  • beobachten konnte und der Geist der Völker, die die Blüte der antiken
  • Welt bilden, sich immer mehr und mehr entwickelte -- verbarg sich in den
  • Tiefen Asiens eine andre unbekannte Welt, die dazu bestimmt war, die
  • ganze antike Herrlichkeit, den Geist der Antike und seine alten Formen
  • zu vernichten und sie durch einen neuen Geist zu ersetzen. Mittelasien
  • bildet einen schroffen Gegensatz zum Süden und zu dem Südwesten dieses
  • Kontinents, sowie zu den afrikanischen und europäischen Küsten des
  • Mittelmeers, wo die blühende Vielgestaltigkeit der Natur, des Bodens,
  • der Erzeugnisse, der Wechsel von Festland und Wasser, und die unzähligen
  • Inselgruppen, die Vorgebirge und Meerbusen geradezu wie geschaffen sind,
  • um die Tatkraft und den Geist des Menschen zu einer rapiden Entwicklung
  • zu bringen. Die Natur Mittelasiens ist von ganz anderer Art: sie ist
  • einförmig und unermeßlich. Seine Steppen gehen ins Uferlose, sie bilden
  • ungeheure Flächen und scheinen einem wüsten Ozean zu gleichen, der
  • nirgends durch eine Insel unterbrochen wird. Die stillen, regungslosen
  • Seen inmitten dieser endlosen Ebenen konnten unmöglich zur Tatkraft
  • anspornen. Es schien, als hätte die Natur selbst dieses Land für
  • Hirtenvölker bestimmt, damit wir uns nach diesen eine Vorstellung von
  • der primitiven Lebensweise der Urvölker bilden könnten. Die
  • Unermeßlichkeit dieser Ebenen konnte im Menschen nie den Gedanken an
  • einen dauernden Wohnsitz aufkommen lassen, ein Gedanke, der gewöhnlich
  • nur beim Anblick von schroffen Felsen, Meeresufern, Inseln und überhaupt
  • in Gegenden entsteht, wo man festen Fuß fassen kann. Wo dagegen die
  • Natur in regungslosem Schlummer liegt, da wird auch der Mensch sorglos
  • und kümmert sich nur um das Allernotwendigste. Die patriarchalischen
  • Bewohner der Steppen nährten sich nur von Milch und Käse, die ihnen ihre
  • halbwilden Haustiere lieferten, und nur selten aßen sie Fleisch. Daher
  • vermehrten sich auch ihre Herden in ganz ungewöhnlichem Maße; ihre
  • Besitzer mußten immer häufiger von einem Ort zum andern ziehen, mit
  • jedem Jahr wurde der Bedarf an Wiesen größer und größer -- und so kam
  • es, daß das Land, das uns noch heutzutage durch seine unermeßliche Größe
  • erschreckt, daß das Land, das doppelt so groß war wie die ganze
  • zivilisierte Welt jener Zeit und mit dem sämtliche Bauern der Welt
  • nichts anzufangen wüßten -- daß dies Land zu eng für seine Bewohner
  • wurde. Die mächtigeren Fürsten mußten die schwächeren verdrängen. Ein
  • Hirtenvolk, das kein immobiles Eigentum hat, dessen Besitz sich auf ein
  • durch die Zeit erworbenes und befestigtes Recht stützt, gibt leicht dem
  • ersten Ansturm nach und zieht selbst mit seinen Herden weiter. So wurde
  • Asien ein Menschen ausspeiender Vulkan. Jedes Jahr warf es neue
  • Menschenscharen und Herden aus seinem Inneren aus, die ihrerseits die
  • schon früher Ausgespienen aus ihren Niederlassungen verjagten. Diese
  • überschritten die Berge und drangen in Europa ein. Man kann wohl sagen,
  • diese Völker schritten nicht in einer bestimmten Richtung vorwärts,
  • sondern eins verdrängte das andere mechanisch von seinem Platz. Das
  • waren keine Eroberer, sondern eine Art Sklaven, die unter dem Druck
  • einer angedrohten Strafe handelten. So zog sich eine Kette von Völkern
  • von Osten und Nordosten durch ganz Europa bis nach Süden hin. Im Süden
  • stieß sie auf das erste Hindernis, sie bekam die gewaltige Macht der
  • Römer zu spüren und traf mit der antiken Welt zusammen. Unterdessen fuhr
  • Asien weiter fort, neue Scharen von Menschen auszuwerfen. Der Anstoß,
  • der von jedem neuen Ausbruch dieses Vulkans ausging, pflanzte sich durch
  • die ganze Kette fort: die neuen Scharen drängten die vorderen Reihen
  • weiter, jene die vor ihnen marschierenden und so fort. Die Wucht dieser
  • Völkerwanderung wurde bald außerordentlich stark, dafür aber wurde auch
  • der Gegendruck seitens der Römer sehr kräftig, so daß sich an der Grenze
  • des römischen Reiches eine ungeheuere Menge von Völkern zu stauen
  • begann. Bei jedem neuen Ausbruch wurde diese Menge immer größer und
  • stärker, und es wurde den Römern immer schwerer, sich ihrer zu erwehren.
  • Endlich gaben die Römer nach, und die Horden stürmten mit gewaltigem
  • Ungestüm nach dem Süden Europas. Hätte Europa im Süden nicht das
  • Mittelländische Meer zur Grenze gehabt, oder hätten diese Völker
  • irgendein Verständnis für die Schiffahrt besessen, so hätte die
  • Völkerwanderung noch lange fortgedauert -- denn Asien hörte nicht auf,
  • neue Menschenscharen auszuwerfen -- die Völker wären nach Afrika
  • übergesetzt, Europa wäre noch viele Jahre lang nicht zur Ruhe gekommen,
  • das Chaos hätte noch lange fortbestanden, viele Reiche wären erst viel
  • später gegründet und der Fortschritt der Zivilisation wäre überhaupt um
  • viele Jahrhunderte zurückgeworfen worden. Aber als die Völker den Süden
  • Europas erobert hatten, und als sie das Meer und die Unmöglichkeit,
  • weiter vorwärtszuschreiten, vor sich sahen, da entschlossen sie sich,
  • mit aller Gewalt gegen die nachdrängenden Feinde vorzugehen. Als die
  • letzteren auf solch unerwarteten Widerstand stießen, beschlossen sie
  • auch, ihre Feinde zurückzudrängen, die nun ihrerseits wieder dasselbe
  • mit ihren Gegnern taten, und so geschah es, daß der Anstoß die
  • entgegengesetzte Richtung erhielt, und die Bewegung kam plötzlich zum
  • Stehen. Die Folgen dieser Erscheinung machten sich sogar in Asien
  • fühlbar, und einige Hirtenvölker wurden hierdurch gezwungen, zum
  • Ackerbau überzugehen.
  • Diese Völkerwanderung hätte sich viel schneller vollzogen, wenn auch
  • Europa aus solch flachen, offen daliegenden Ebenen bestanden hätte, wie
  • sie Asien bedecken. Hier dagegen hatte die Natur auf einer
  • verhältnismäßig kleinen Fläche eine ungeheuere Unregelmäßigkeit und
  • Mannigfaltigkeit hervorgebracht: überall ist das Festland vom Meere
  • durchfurcht, seine Ufer bestehen aus zahllosen Halbinseln und
  • Vorgebirgen, und auch im Innern gibt es nur sehr wenig ebene Flächen;
  • der Boden steigt und senkt sich in einem fort, erhebt sich und bildet
  • ungeheure Gebirge, oder er fällt jäh herab und bildet tiefe Täler, die
  • wie durch einen Erdsturz zwischen diesen entstanden zu sein scheinen.
  • Dazu kam, daß Europa zu jener Zeit noch mit undurchdringlichen Urwäldern
  • bedeckt und von sumpfigen Mooren durchzogen war. Und daher vollzog sich
  • die Völkerwanderung, je tiefer sie bis ins Innere Europas drang, immer
  • langsamer und langsamer: die Menschen mußten sich durch Wälder
  • hindurchschlagen, Berge übersteigen und Sümpfe umgehen. Ihre
  • Niederlassungen bildeten sozusagen Oasen, und die einzelnen Völker
  • wurden durch Urwälder und unerforschte Gegenden voneinander getrennt, so
  • daß sie häufig lange gegen jegliche Überfälle geschützt waren. Und wenn
  • dann eine neue Springflut von gewaltigen Völkermassen, befehligt von
  • einem unternehmenden Führer, herankam und Europa mit wundersamen Fanalen
  • illuminierte, indem sie die alten Urwälder in Brand setzte und der
  • Vernichtung preisgab, dann bot sich den erstaunten Blicken der
  • Ankömmlinge ein Volk dar, von dessen Existenz sie keine Ahnung gehabt
  • hatten, und das in seinen Sitten und Gebräuchen sich zwar weit von ihnen
  • entfernt, dennoch aber eine gewisse Ähnlichkeit mit ihnen bewahrt hatte.
  • Man kann sagen, ganz Europa bestand damals aus lauter Fetzen und
  • Bruchstücken, die die Natur selbst voneinander getrennt hatte; daher war
  • die Unterwerfung dieses Erdteils und seine Vereinigung unter der Gewalt
  • eines Herrschers ein Ding der Unmöglichkeit, und so entstanden die
  • zahlreichen europäischen Nationen, die sich ohne allen Zweifel zu
  • _einer_ Nation verschmolzen und einen einheitlichen Charakter angenommen
  • hätten, wenn Europa eine einzige offene Ebene gewesen wäre. Das war eine
  • neue nie gesehene Welt, von der die antiken zivilisierten Völker nichts
  • wußten, und die sich, wie man wohl sagen darf, auch selbst kaum kannte.
  • Den Kern dieser Völker bildeten die zahlreichen Stämme germanischer
  • Nation, die sich über den ganzen Westen ausbreiteten. Die Ufer der
  • Nordsee, des Rheins, der Donau und ganz Mitteleuropa bis zur Ostsee
  • waren von ihnen besetzt. Als die Römer zum erstenmal mit ihnen
  • zusammenstießen, bewies der Kulturzustand dieser Völker, daß sie schon
  • lange in Europa ansässig waren, und daß ihre Übersiedelung nach Europa
  • schon im grauesten Altertum stattgefunden haben mußte. Daß sie jedoch
  • aus Asien stammten, dafür konnte man den Beweis in der seltsamen
  • Ähnlichkeit einiger deutscher Stammwörter mit der persischen Sprache
  • finden. Ob nun Asien in grauer Urzeit zugleich die Stämme ausgeworfen
  • hat, die später im Süden inmitten der Berge das persische[8] Volk und in
  • den nordischen Wäldern Europas das Volk der Germanen gebildet haben,
  • oder ob vielleicht später der gewichtige Einfluß der Parther, die aus
  • Mittelasien hervorbrachen, eine Reihe von Wörtern in die persische
  • Sprache eingeführt hat, die man bis dahin nur in den unermeßlichen
  • asiatischen Steppen vernommen, und die sich bereits in Europa verbreitet
  • hatten[9] -- wie dem auch sei -- jedenfalls stammen die Germanen
  • ursprünglich aus Asien und hat sich ihre Einwanderung in Europa schon in
  • grauer Urzeit vollzogen.
  • Diese Völker bildeten einen vollkommenen Gegensatz zu den Römern und
  • gewissermaßen eine Welt für sich. Ihre physische und geistige Natur trug
  • den ausgesprochenen Stempel echter Ursprünglichkeit und Eigenart. Ihre
  • physische Organisation widersprach durchaus der der Völker der Alten
  • Welt. Die schwarzen glänzenden Augen, das dunkle Haar, das
  • ausdrucksvolle Gesicht des Südländers, in dem sich die Begierde nach
  • Üppigkeit und übermäßigen Genüssen zu spiegeln schien -- dieser
  • gemeinsame Typus der bereits erstarrten antiken Welt -- traf hier auf
  • sein vollkommenes Gegenteil: die blauäugigen, blonden, großen und
  • starken Germanen mit dem einseitig wilden, kriegerischen Ausdruck im
  • Gesicht repräsentierten einen völlig neuen Typus der menschlichen Natur,
  • der den Beginn der Neuen Welt kennzeichnete.
  • [Fußnote 8: Schlözer.]
  • [Fußnote 9: Müller.]
  • Ihre Religion, ihre Lebensweise, ihr Temperament, die Grundelemente
  • ihres Charakters unterschieden sich in jeder Beziehung von den
  • zivilisierten Völkern jener Zeit. Die Religion der Germanen zeichnete
  • sich durch eine besondere Eigenart aus. Ihre Gottheit, der Gegenstand
  • ihrer Anbetung, war die Erde. Es war, als hätte der düstere Anblick des
  • damaligen Europa ihnen die Idee zu dieser Religion eingegeben. Nur
  • selten von Sonnenlicht umflossen, immer nur im Schatten hundertjähriger
  • Eichen lebend, und Höhlen als erste Wohnstätten oder Verstecke für ihre
  • Schätze grabend, sahen sie nichts wie die Erde, deren gewaltige Kraft
  • auf ihrer Oberfläche Pflanzen wachsen ließ, die ihnen als armselige
  • Nahrung dienten, und herrliche, hohe Bäume, die über ihren Köpfen
  • rauschten -- und so konnten sie die Erde für die Erzeugerin aller Dinge
  • halten. Von ihr leiteten sie ihren Gott Tuisto-Teut ab, der einen Sohn
  • Mannus hatte und von diesem wiederum die verschiedenen Stämme der
  • germanischen Völker, die sie für die ältesten Bewohner der Welt hielten.
  • Es könnte scheinen, als ob dieser Begriff von der Religion sie ganz
  • wesentlich von Asien unterscheidet, aber wir müssen nicht vergessen,
  • welch gewaltigen Einfluß die Natur und die Bodenverhältnisse stets
  • gehabt haben. Die Natur übt eine despotische Herrschaft über den
  • Urmenschen aus. Je mehr der Mensch sich entwickelt, je mehr sein Geist
  • heranreift, um so mehr Macht bekommt er über die Natur, und dann
  • schreibt er ihr die Gesetze vor, aber im wilden Urzustande muß _er_ sich
  • _ihren_ Gesetzen fügen, ist er ihr Sklave. In Mittelasien liegt der
  • Himmel immer offen vor dem Auge da; dort ist er unübersehbar und von
  • einer gewaltigen Ausdehnung; im Vergleich mit ihm erscheint die Erde
  • armselig und klein. Keine einzige hochgewachsene Pflanze, kein spitzer,
  • kantiger, hoher und schmaler Fels fesselt das Auge; das auf den
  • unabsehbaren Flächen sprießende Gras erscheint hier noch niedriger als
  • sonst. Aber hier strahlt die Sonne in ihrer ganzen Herrlichkeit und
  • überflutet alles mit ihrem Licht: leuchtende Sterne übersäen dicht das
  • Himmelsgewölbe, und sie allein dienen den Menschen zum Halt und
  • Wegweiser. Daher war in Asien überall die Anbetung der Sonne und der
  • Himmelsgestirne vorherrschend. Je mehr dagegen die Völker nach Europa
  • vordrangen, desto seltener sahen sie die Sonne. Das dichte,
  • majestätische Dunkel der europäischen Wälder machte einen tieferen
  • Eindruck auf ihre ungebildete Phantasie. Die Nebel und die aus den
  • Sümpfen aufsteigenden Ausdünstungen verbargen den Himmel vor ihnen, und
  • die Notwendigkeit, sich zeitweise mit dem Ackerbau zu beschäftigen,
  • brachte es mit sich, daß sie sich enger an die Erde anschlossen. Daher
  • war auch bei den germanischen Völkern die Anbetung der Gestirne nur sehr
  • wenig verbreitet, und nur bei ganz wenigen Völkern hat sich eine
  • Erinnerung daran erhalten. Tief im Waldesdickicht, das nie von einem
  • Sonnenstrahl durchdrungen wurde, brachten sie ihrer Göttin, der Mutter
  • Hertha, ihre Opfer dar. Es scheint so, als ob ihnen die Finsternis für
  • heilig galt, darin war ihre Religion schon von Anbeginn allen anderen
  • Religionen unähnlich. Sie glaubten an die Unsterblichkeit. Aber ihr
  • Himmel war ein finsterer Himmel. In ihrer Walhalla sahen sie nur die
  • Fortsetzung ihres kriegerischen Lebens: dorthin versetzten sie ihre
  • germanischen Eichen, ihre flammenden Lagerfeuer und das Getöse ihrer
  • Waffen; bleifarbene Wolken verhüllten ihren Himmel, den sie mit den
  • dunklen Schatten ihrer großen im Kriege gefallenen Helden bevölkerten.
  • Die Anbetung Herthas verbreitete sich fast bei allen germanischen
  • Stämmen. Zu den Gegenständen ihrer Verehrung gehörten auch die Schatten
  • ihrer verstorbenen Helden, die sie sich in übernatürlicher, ins
  • Riesenhafte gesteigerter Größe vorstellten. Auch ihre treuen Gefährten,
  • die Kriegsrosse, genossen dieselbe Verehrung, unter denen die weißen
  • nach Tacitus für besonders heilig galten und in den heiligen Hainen
  • untergebracht wurden. Man spannte sie vor den heiligen Wagen, dem der
  • König und die Priester folgten, und aus dem Schnauben der Rosse deutete
  • man die Zukunft.
  • Die germanischen Völker blieben lange Zeit ihrer ursprünglichen
  • Lebensweise treu. Sie lebten nur für den Krieg, er bildete ihre ganze
  • Freude. Beim Kriegslärm erbebten sie wie junge, kampfmütige Tiger. Sie
  • dachten nur daran, ihre Kräfte zu messen und sich an der Schlacht zu
  • vergnügen. Habgier und Beutelust spielte nur eine geringe Rolle: als
  • Hauptsache galt ihnen nur, sich in der Schlacht hervorzutun, damit ihre
  • Heldentaten später im Liede besungen würden. Alle Vorteile und ihr
  • ganzes Lebensglück hing mit dem Namen dessen zusammen, der sich mit
  • Kriegsruhm bedeckt hatte. Er wurde zum Führer gewählt; ihn bewunderten
  • und verehrten alle Völker. Er war der Vermittler und Richter in allen
  • Streitfragen, und er verteilte im Kriege nach eigenem Ermessen die ganze
  • Beute; sogar fremde und weit entlegene Stämme sandten ihm Pferdegeschirr
  • zum Geschenk; die verwandten und untergebenen Stämme brachten ihm
  • freiwillig die Erzeugnisse ihrer Felder, Früchte, Rinder und Rosse als
  • Gabe dar. Mut und Tapferkeit galten als etwas Göttliches; alles strömte
  • um die Wette der Fahne des Führers zu, und jedermann kämpfte nicht um
  • der Beute willen, sondern um sich vor ihm auszuzeichnen und ein Wort der
  • Anerkennung von ihm zu hören. Sein Name lebte noch lange in den
  • Heldengesängen fort, nach seinem Tode wurden ihm zu Ehren große
  • Festgelage veranstaltet, und noch lange rühmte sich sein Stamm seiner
  • Heldentaten; seinem Schatten wurden allmählich göttliche Ehren zuteil,
  • und er wurde ein Gegenstand der Anbetung. Solch ein Schicksal war
  • beneidenswert, denn auch im unentwickelten Menschen glüht ja schon die
  • Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Alle ohne Unterschied eiferten danach,
  • ruhmvolle Taten zu vollbringen; die Schlachten häuften sich, und die
  • Germanen waren stets bereit, auf den ersten Ruf mit ihren wilden
  • Kriegshorden heranzubrausen.
  • Sie kämpften fast nackt, indem sie ihre athletische Kraft in aller
  • Schlichtheit an den Tag legten. Ein Mantel, der statt von einer
  • Schnalle, von einem Dorn zusammengehalten wurde, ein Raubtierfell über
  • der Schulter -- das war ihre ganze Rüstung. Sie stellten sich in dichten
  • Haufen in keilförmiger Schlachtordnung auf und kämpften von nahem und
  • von ferne mit kurzen Lanzen, die Framen genannt wurden; mit der
  • Löwenkraft ihrer Muskeln schleuderten sie sie so weit, wie es nötig war,
  • um den Feind zu erreichen; nur ihre Schilde waren etwas schöner und
  • prächtiger und waren mit grellen Farben bemalt; Scharen von Frauen und
  • Kindern folgten ihnen in die Schlacht, begleiteten sie mit ihrem
  • Geschrei und spornten sie immer wieder zu neuem Mut an: sie dachten
  • nicht an Flucht, der Gedanke an die Sklaverei, die ihre Frauen und
  • Kinder erwartete, verdoppelte nur die wilde Kraft ihres Ansturms, und
  • der Feind war gezwungen, nachzugeben. Die Frauen sogen ihren Männern
  • mitten im Getümmel der Schlacht die Wunden aus, verbanden sie, ja sie
  • trugen die Verwundeten auf ihren Schultern hinweg. Der Tod des Führers
  • wirkte nicht etwa lähmend auf sie, im Gegenteil, er kettete alle durch
  • das stählerne Band der Rache zusammen und machte sie unüberwindlich. Es
  • galt als größte Schande, seinen Schild wegzuwerfen; der Unglückliche,
  • dem dies passierte, wurde ein Opfer der allgemeinen Verachtung und nahm
  • sich selbst das Leben. Nur auf Grund der allgemeinen Achtung herrschte
  • der Führer, ohne daß ihm sonst irgendwelche Machtmittel zu Gebote
  • standen, unumschränkt über die Stämme, und die Krieger befolgten mit
  • bewunderungswürdigem Gehorsam seine Befehle. Doch nicht nur im Kriege
  • hatte er den Oberbefehl, er behielt zuweilen seine Macht auch während
  • des Friedens bei und nannte sich dann Heerführer[10].
  • Die Germanen waren sehr freiheitsliebend und wollten keine Gewalt über
  • sich anerkennen. Eine eigentliche Regierung gab es nicht. Sie
  • versammelten sich und veranstalteten Volksversammlungen, die jeden Monat
  • bei Neumond und Vollmond, bei außerordentlichen Anlässen jedoch zu jeder
  • beliebigen Zeit abgehalten wurden. Sie erschienen träge und langsam zu
  • diesen Versammlungen, wie um anzudeuten, daß sie aus freien Stücken
  • kämen; es vergingen einige Tage, bis die nötige Zahl beisammen war und
  • die Beratung beginnen konnte. Sie saßen in voller Rüstung da; nur die
  • Priester hatten das Recht, Schweigen zu gebieten; die Familienältesten
  • präsidierten, die sogenannten Grauhaarigen (_grawion_), die später
  • diesen Namen in den der Grafen veränderten, die Fürsten und die, die
  • sich während der Schlachten ausgezeichnet hatten, führten das Wort; ihre
  • Rede war schlicht und von jenem kräftigen, gedrängten Lakonismus
  • erfüllt, durch den sich die treuherzige Beredsamkeit junger Völker
  • auszeichnet.
  • Sie waren schlicht und offenherzig; ihre Verbrechen waren nur die Folgen
  • ihrer Unwissenheit und nicht ihrer Lasterhaftigkeit. Nur Ehrlosigkeit
  • und eine niedrige Gesinnung galten als Verbrechen; Überläufer und
  • Verräter wurden gehängt und einem qualvollen Tode überantwortet; für ein
  • gemeines und ehrloses Vergehen wurde der Schuldige in einen Sumpf
  • versenkt, und es wurde Schlamm und Reisig auf ihn geworfen, wie um etwas
  • zu verbergen, was nie ans Tageslicht kommen sollte. Die untreue Frau war
  • ganz in der Gewalt ihres Mannes: er durfte ihr das Haupthaar
  • abschneiden, ihr ihre Kleider wegnehmen und sie nackt und schmachbedeckt
  • mit Ruten durch Dörfer und Siedelungen jagen; niemand wagte es, auch
  • wenn sie noch so schön war, ihr sein Mitleid zu bezeigen. Aber diese
  • Fälle waren nur selten, denn die Germanen hatten einen wilden und rauhen
  • Charakter, und bei ihnen herrschten nur Bräuche und Sitten, die
  • gewöhnlich viel stärker sind als Gesetze.
  • [Fußnote 10: Tacitus.]
  • In ihrem häuslichen Leben waren sie ganz im Gegensatz zu ihrem unruhigen
  • kriegerischen Wesen sehr sorglos und träge. Sie waren stumpf und sehr
  • faul und lagen in ihren Hütten herum, ohne sich vom Fleck zu rühren. Je
  • mutiger ein Mann zu sein glaubte, um so mehr hielt er es für unter
  • seiner Würde, sich mit irgendeiner Arbeit abzugeben; die Äcker wurden
  • von alten Leuten, von den Schwachen, Minderjährigen und Knechten bebaut;
  • letztere genossen volle Freiheit und mußten nur eine kleine
  • Naturalabgabe von ihren Feldern zahlen. Alle häuslichen Arbeiten lagen
  • auf den Schultern der Frauen. Die Frau brachte ihrem Manne keine Mitgift
  • in die Ehe mit, im Gegenteil, _er_ mußte ihr am Vorabend der Hochzeit
  • einen Ochsen im Joch, ein voll ausgerüstetes Pferd und eine Lanze
  • darbringen, wie um damit auszudrücken, daß sie von nun an an all seinen
  • Beschäftigungen teilnehmen müsse.
  • Die Kleidung der Germanen war ganz anders, als dies in der römischen
  • Welt und bei allen südlichen Völkern üblich war, die eine gewisse
  • Liebhaberei für leichte, weite Gewänder hatten; sie trugen enge Kleider,
  • die sich fest an den Körper anschmiegten, und die Tierfelle, in die sie
  • sich mit Vorliebe hüllten, verliehen ihnen ein wildes, tierisches
  • Aussehen. Die Kleidung der Frauen unterschied sich nur wenig von der der
  • Männer; einzelne trugen hochrote Leinwandröcke, die nur bis zum Gürtel
  • reichten, so daß der Hals, der Busen und die Arme offen blieben. Die
  • Kinder waren sich ganz allein überlassen und wuchsen in der Gesellschaft
  • der Haustiere auf. Erst wenn sie volljährig wurden, durften sie Waffen
  • tragen und an den Versammlungen teilnehmen. Die Gastfreundschaft, die
  • allen wilden Völkern von primitiven Sitten eigen ist, war auch den
  • Germanen eigentümlich; der Gast wurde reichlich beschenkt, und wenn
  • jemand nicht in der Lage war, einen Gast zu bewirten, führte er ihn
  • selbst zu einem seiner Genossen.
  • Am häufigsten jedoch konnte man die alten Germanen bei ihren Festgelagen
  • antreffen, wo manches Mal mehrere Nächte hindurch gezecht wurde, dann
  • war der Wald prachtvoll erleuchtet von lohenden Eichen, und ein Getränk
  • aus gegorenem Gerstensaft, wahrscheinlich der Urahne des heutigen Biers,
  • das in Deutschland so viel getrunken wird, ließ ihren Gedanken, Reden
  • und Entschlüssen freien Lauf. Bei diesen Gelagen kamen alle ihre
  • Unternehmungen zur Reife. Hier faßten sie die Pläne zu ihren kühnen,
  • gewagten Angriffen, die während einer gemächlichen Volksversammlung wohl
  • nicht jedem und auch nicht immer in den Sinn gekommen wären. Sie waren
  • stürmisch, waghalsig, und wenn sie einmal wach, erschüttert und aus
  • ihrer kaltblütigen Indolenz aufgerüttelt waren, kannte ihre Leidenschaft
  • keine Grenzen. Ihre Verwegenheit kam ganz besonders beim Würfelspiel zum
  • Ausdruck, da konnte der wilde Germane so leidenschaftlich werden, daß er
  • sein Haus, seine Waffen, sein Weib, seine Kinder und zuletzt sich selbst
  • verspielte und in die Sklaverei verkaufte -- ein Zustand, der ihn
  • schlimmer dünken mußte als der Tod! Vielleicht war dieses wilde
  • Temperament die Quelle jener starken, kühnen Leidenschaften, die den
  • Europäer erfüllen.
  • So geartet waren die germanischen Völker -- diese wilden Elemente, aus
  • denen das neue Europa hervorgegangen ist. Sie zerfielen in unzählige
  • Stämme und überzogen das nördliche Europa ebenso dicht wie die dichten
  • europäischen Wälder. Um einen klaren Überblick über sie zu gewinnen,
  • wollen wir mit den Gegenden beginnen, wo die Alte Welt diese ersten
  • Begründer der Neuen Welt zuerst erblickte, d. h. mit der Donau, die den
  • Römern als Grenze diente. Hier wohnten Stämme, die zwar noch frei aber
  • doch nicht mehr ganz wild waren, und die schon Beziehungen mit dem
  • antiken, zivilisierten Rom angeknüpft hatten, als da sind: die
  • Hermunduren, die Narisker, die Markomannen und die Quaden. Ferner lag
  • eine große Kette von germanischen Stämmen an den Ufern des Rheins von
  • seiner Quelle bis tief herab zu der Stelle, wo er ins Meer fällt. Das
  • waren die Vangionen, Triboker, Nemeter, Matiaken, Ubier; auf sie folgten
  • die Tenkterer, die besten Reiter, deren Reiterei auch bei den Römern
  • berühmt war, und deren ganzer Besitz aus ihren Rossen bestand und immer
  • dem Tapfersten hinterlassen wurde; dann folgten die Usipier und hart an
  • der Mündung des Rheins, wo er ins Meer strömt -- die mächtigen Bataver.
  • Das mittlere Deutschland war ganz mit Wäldern bedeckt und barg die
  • wildesten und mächtigsten Stämme in sich. Von Westen nach Osten
  • fortschreitend, treffen wir zuerst auf die Chatten, die Ahnen der
  • heutigen Hessen; sie bewohnten die aus zahllosen Hügeln bestehenden Ufer
  • des Main. Dieses Volk verbreitete Schrecken um sich durch sein Fußvolk,
  • durch dessen vortreffliche Aufstellung und Organisation, durch seine
  • umsichtige Angriffstaktik und den wilden Ausdruck seiner Gesichter. Die
  • Sitten und Gebräuche der Chatten setzten einen durch ihre Eigenart
  • unwillkürlich in Erstaunen. Kein Jüngling durfte sich das Haar
  • schneiden, ehe er nicht seine Hände in Feindesblut gewaschen hatte,
  • während der Schlacht mußten sie in den vorderen Reihen kämpfen, und dann
  • jagten sie den Feinden mit ihren struppigen, behaarten Gesichtern Angst
  • und Schrecken ein. Jeder Chatte trug einen eisernen Ring am Arm, was
  • sonst für schmachvoll galt, weil der Ring an eine Kette erinnerte, doch
  • durfte er ihn nicht früher ablegen, als bis er mit eigener Hand einen
  • Feind getötet hatte. Südlich von den Chatten wohnten die Cherusker, die
  • Bewohner des Harzes, weiter folgten die Fosen, die Sigambrer, die
  • Brukterer, die Angrivarier, die Chasuarier und endlich die Harier, die
  • sich durch eine ganz eigene Angriffsweise auszeichneten. Sie führten
  • ihre Überfälle in dunklen finsteren Nächten aus, färbten sich, um
  • Schrecken und Furcht einzuflößen, ihren Leib, trugen schwarz
  • angestrichene Schilde und boten sich dem erstaunten Blicke der Feinde,
  • die diesen Anblick nicht zu ertragen vermochten, wie ein Leichenzug dar.
  • Östlich von ihnen in etwas freieren, offener daliegenden Gegenden
  • wohnten die Sueven. Diese bestanden aus einer Menge verschiedener Stämme
  • und führten noch lange Zeit ein Hirtenleben, obwohl sich der Boden wegen
  • seiner vielen Sümpfe nur wenig dazu eignete.
  • Überhaupt kann man sagen, je mehr man sich dem Süden oder dem Südwesten
  • näherte, um so mehr Ackerbau treibende Stämme traf man an; oder Ackerbau
  • und Viehzucht traten zusammen auf; je mehr man sich dagegen dem Osten,
  • Ungarn, Dacien und Polen näherte, um so mehr überwog das Hirtenleben,
  • und je tiefer man endlich in die Wälder des Harzes eindrang, um so
  • finsterer und kräftiger wurden die germanischen Stämme. Aber die
  • allergefährlichsten unter ihnen, die selbst die Römer fast gar nicht
  • kannten, und die dennoch die eigentlichen Zerstörer ihrer Herrschaft
  • wurden -- das waren alle die Stämme, die die Küsten des Meeres und die
  • an der Ostsee gelegenen Länder bevölkerten. Bis hierher waren die Römer
  • nie vorgedrungen. Hier wohnten Seeräuber, die unternehmungslustigsten
  • unter den Germanen, die schon die Lage des Landes und des Meeres dazu
  • zwang, sich in die kühnsten Unternehmungen zu stürzen.
  • So ein Leben führten die Friesen und Chauken am Ufer der Nordsee, dann
  • ein wenig weiter die gewaltigsten unter den Korsaren des Nordens, die
  • Sachsen, ferner in Holstein die Cimbern, an der Ostsee die Goten, die
  • Wariner, die Rugier und Burgunder und in Preußen die Longobarden, die
  • Vandalen und die Heruler. Außerdem gab es in Mitteldeutschland noch eine
  • ganze Reihe von Abkömmlingen dieser Stämme, die ganz verborgen in
  • Wäldern und Sümpfen lebten; während der häufigen Schlachten und Kämpfe
  • zwischen den einzelnen Stämmen wurden sie aus ihren Verstecken
  • hinausgedrängt und sahen sich nun gezwungen, Plätze aufzusuchen, bis zu
  • denen kein Mensch vordringen konnte. Auch die Berge der Alpen und der
  • Karpathen bargen eine Menge von Fetzen oder Überresten verschiedener
  • Stämme in sich: gallische, germanische und wendische Völker, die in dem
  • wilden Europa herumvagabundierten. Der Nordwesten des Erdteils konnte
  • infolge seiner ungeheuren Unfruchtbarkeit und Armut und seiner langen,
  • öden und ungeheueren Strecken keine starken Völker hervorbringen und
  • großziehen. In seinen weit verstreuten, obdachlosen, verwaisten
  • Bewohnern -- den Finnen, und den Abkömmlingen estnischer Stämme erstarb
  • alles Leben, ebenso wie in der Natur jener Gegenden.
  • Dies war jene besondere Welt in dem wilden Europa! _Das_ waren die
  • Völker, deren gewaltige Kraft die Römer vor allem an sich erfahren
  • sollten. Und wenn das Weltreich nicht schon viel früher zusammenbrach,
  • so liegt der Grund nur in der ungeheuren Zersplitterung der germanischen
  • Völker, in der Bodenbeschaffenheit Europas, die sie hinderte, zu einem
  • Ganzen zu verschmelzen, in der Einfachheit ihrer Sitten, die sie
  • veranlaßten, sich mit den rohen Erzeugnissen ihres Landes zu begnügen,
  • in dem für diese nur auf die Zerstörung ausgehenden Wilden so
  • bezeichnenden Mangel an Habgier, in ihrem seßhaften Leben und in ihrer
  • Liebe zur Freiheit, die sie immer wieder zwang, sich in die Tiefe der
  • Wälder zurückzuziehen. Die Römer waren sich der Gefahr voll bewußt, die
  • ihnen von der frischen Kraft dieser europäischen Völker her drohte. Und
  • daher waren sie darauf bedacht, keine Grenze des Reiches, weder die
  • asiatische im Osten, noch die afrikanische im Süden, so zu schützen und
  • zu befestigen, wie die europäische im Norden. Hier, kann man wohl sagen,
  • konzentrierte sich ihre ganze militärische Schutzmacht. Und man muß
  • zugeben, daß die Verteidigungsmaßregeln, die während der damaligen Lage
  • des an Erschöpfung zugrunde gehenden Reiches aufgeboten wurden, sehr
  • vernünftig waren. Das römische Reich überließ seine gefährdeten Grenzen
  • den frischen, kriegerischen Völkern, die sie am besten verteidigen
  • konnten und sich anfänglich mit wenigem begnügten. Aber es muß zur Ehre
  • der germanischen Völker gesagt werden, daß nur die äußerste Not sie
  • zwang, dieses Geschenk Roms anzunehmen. Diese Abhängigkeit erschien
  • ihnen wie Sklaverei, und sie eilten wieder in die Tiefe ihrer Wälder
  • zurück -- um dort ein Versteck für ihre Freiheit zu suchen. Die
  • Anschläge der Römer zwangen sie, starke Bündnisse miteinander zu
  • schließen, aber diese Bündnisse waren nie offensiver Natur, ihr Zweck
  • bestand immer nur darin, die Freiheit, die den Germanen teurer als alles
  • war, vor Gefahren zu schützen. Eins von diesen Bündnissen, das unter dem
  • Namen des fränkischen Bundes bekannt wurde, wuchs und erstarkte dank der
  • günstigen Lage des Landes und dem immer heftiger werdenden Ansturm
  • seitens aller andern Stämme. Die verschiedenen Völker, die ihm
  • beitraten, hatten einen Teil von Westfalen und Hessen besetzt und sich
  • so eng miteinander verschmolzen, daß sie schließlich nur eine Nation
  • unter dem Namen der Franken bildeten. Doch dieses Bündnis wäre den
  • Römern nie so gefährlich geworden, und ganz Deutschland hätte sich auch
  • weiter nicht geregt, wenn nicht eine fremde Kraft, d. h. Völker, die aus
  • Asien kamen, einen Druck auf die Germanen ausgeübt hätte. Der östliche
  • Teil Europas war äußerst gefährlich wegen seiner weiten Ebenen. Das war
  • ein weitgeöffnetes Tor nach Westeuropa, der große Weg, auf dem die so
  • verschieden gearteten Völker eines nach dem andern herangezogen kamen,
  • hier waren auch die Wälder bedeutend häufiger niedergebrannt, wie in
  • anderen Gegenden; auch die Sümpfe waren hier am frühesten ausgetrocknet
  • und mit jedem Jahrhundert wurde dieser Weg freier und bequemer für die
  • großen Völkerzüge. Die weiten offenen Flächen gaben den Völkern und
  • Stämmen die Möglichkeit, sich zu großen Massen zu vereinigen, und
  • eigneten sich ungemein für ein Nomadenleben, das seinerseits günstige
  • Gelegenheiten zu Angriffen in großem Maßstabe bietet. Ein ganzes Volk
  • konnte plötzlich seine fliegenden Wohnsitze verlassen und mit seiner
  • ganzen Masse einen furchtbaren, unwiderstehlichen Überfall auf ein
  • andres ausführen.
  • Eins von den germanischen Völkern ward früher denn alle übrigen dazu
  • bestimmt, eine allgemeine Völkerbewegung hervorzurufen. Dieses Volk
  • waren die Goten[11], ein Volk, auf dem ein furchtbarer Fluch zu lasten
  • schien, der es zu ewigem Wanderleben verurteilte. Die Goten mußten lange
  • herumirren, bald erschienen sie in Skandinavien, bald an den beiden
  • Küsten der Ostsee und endlich im weiten Osten Europas. Nach dem Zeugnis
  • des Geschichtsforschers Jornandes saßen sie ursprünglich in
  • Skandinavien. Es ist sogar möglich, daß dies eins der Urvölker Europas
  • war. Nachdem sie ihre schneebedeckte Heimat verlassen hatten, drangen
  • sie bis an die Küsten Preußens und riefen eine große allgemeine
  • Umwälzung hervor. Sie verdrängten die Vandalen, die Longobarden, die
  • Heruler, die Burgunder und Sachsen aus jenen Landstrichen und zwangen
  • sie gegen ihren eigenen Willen, sich am eifrigsten an der Zerstörung des
  • weströmischen Reiches zu beteiligen. Die allgemeine Erschütterung machte
  • sich in ganz Europa bemerkbar: diese ganze Kette der mächtigen
  • baltischen Stämme näherte sich den Grenzen Roms, drängte viele Stämme
  • ins Gebirge und in die Sümpfe zurück, konzentrierte ihre Kräfte noch
  • mehr und machte so die Römer mit neuen Völkern bekannt. Von nun an
  • konnte man Herulern, Vandalen und Longobarden in ihren Armeen begegnen.
  • [Fußnote 11: Über die Goten siehe Prokop, Jornandes, Gibbon.]
  • Unterdessen hatten die Goten, nachdem sie vor sich her einen Weg gebahnt
  • hatten, die am Ufer der Donau lebenden Völker, die Markomannen und die
  • Quaden, teils vertrieben, teils unterworfen; nun vereinigten sie sich in
  • großen Massen in den südlichen Ebenen Daciens und zogen zusammen mit den
  • unterjochten Stämmen dem Schwarzen Meere entgegen. Je mehr sie nach
  • Süden vordrangen, desto besser wurde der Weg, und um so schneller
  • vollzog sich ihre Wanderung. Endlich erschienen sie mitten in
  • Griechenland und in Kleinasien und brannten die Küsten des Schwarzen
  • Meeres nieder. Chalcedon und Ephesus wurden eingeäschert. Athen wurde in
  • furchtbarer Weise und schonungslos zerstört. Kaiser Decius erkannte die
  • Gefahr, die den östlichen Grenzen seines gewaltigen Reiches drohte; er
  • führte selbst seine Truppen gen Osten und fiel in der Schlacht mit der
  • Waffe in der Hand, während sein Heer im Westen gegen die Vandalen,
  • Heruler und Sueven kämpfte, die von den Goten aus ihrer Heimat
  • vertrieben worden waren. Mit Beute beladen kehrten die Goten zurück,
  • besetzten das heutige Rußland, erhielten auf Grund eines Vertrages mit
  • den Römern ganz Dacien und setzten sich hier fest. Sie rissen die
  • Herrschaft über die Völker, die an den Ufern der Donau wohnten, an sich
  • und beunruhigten das sorglose Kaiserreich durch ihre Gegenwart. Als die
  • Imperatoren, diese mächtigen Beherrscher der Welt, durch eigene
  • schmerzliche Erfahrung den wilden Mut der Goten kennen gelernt hatten,
  • beschlossen sie, sie in ihre Armee aufzunehmen und diesem
  • unüberwindlichen Volk von Barbaren Sold zu bezahlen. Dadurch gewannen
  • sie sich kräftige Verteidiger, zugleich aber zogen sie sich mächtige
  • Feinde heran, denn sie enthüllten ihnen die Geheimnisse einer
  • wohlausgebildeten Taktik, die ihnen später ein noch größeres Übergewicht
  • verleihen mußte. Übrigens aber war die Strategie der Goten auch schon
  • ohnedies unüberwindlich. Sie vereinigten in sich die Taktik der
  • leichtbeweglichen Wandervölker und die der ansässigen bodenständigen
  • Stämme. Sie formierten sich in gewaltigen, dichtgedrängten Massen und
  • zeigten die gleiche Standhaftigkeit im Ansturm des ersten Angriffs, wie
  • während des Höhepunktes der Schlacht oder bei ihrem Ausgang, wo ihre
  • Kraft allmählich erlischt. Eine Schlacht mochte sich noch so lange
  • hinziehen, es war unmöglich, die Reihen der Goten ins Wanken zu bringen.
  • Sie begleiteten ihren Angriff, gleich anderen germanischen Stämmen, mit
  • Gesängen. In ihren Liedern verherrlichten sie die Namen ihrer alten
  • Helden: Fridigern, Vidicula Ethespamar und anderer. Die geistliche
  • Obergewalt lag in den Händen eines einzelnen, dieser war zugleich König,
  • Heerführer und Oberpriester; trotz alledem aber hing er von dem Rate der
  • Tapferen ab.
  • Bei den Goten herrschte von Urzeiten an das königliche Geschlecht der
  • Balten, und nur aus diesem Geschlecht durfte ihr König gewählt werden.
  • Sie beteten Wotan an, der im grauen Altertum zusammen mit Odin, diesem
  • nordischen Ulyß[12], ihr Heerführer gewesen war. Von allen germanischen
  • Stämmen waren die Goten am meisten zur Assimilation der Kultur befähigt.
  • Bis zur Mitte des IV. Jahrhunderts wurde die Macht der Goten von den
  • Völkern, die an der Donau sowie von denen, die im Westen und Osten des
  • heutigen Rußland saßen, anerkannt. Der Name ihres Königs Hermanrich
  • stand in hohen Ehren an den Ufern des Schwarzen Meeres sowohl als auch
  • in Livland. Allein die gotische Herrschaft wurde durch den großen
  • Völkerzug der Hunnen, die aus Asien hereinbrachen, erschüttert.
  • Die Hunnen oder Hjongnu waren nach de Guignes ein mächtiger Volksstamm,
  • der die großen Steppen der Tatarei und der Mandschurei bewohnte und
  • China in Unruhe versetzte; da sie jedoch der verschlagenen chinesischen
  • Politik nicht gewachsen waren, wurden sie allmählich den chinesischen
  • Kaisern tributpflichtig. Allein ein großer Teil der Hunnen erhob sich
  • mit seinen Wagen und Roßherden und zog nach Westen, besetzte die Länder
  • jenseits des Kaspischen Meeres und entzog sich so den Blicken Chinas.
  • Ihre Ansiedelung an den Ufern des Kaspischen Meeres verlegen die
  • römischen Historiker in die Zeit Domitians. Es ist hier vielleicht am
  • Platz, darauf hinzuweisen, daß die gebildete griechisch-römische Welt
  • jener Zeit bis zur Regierungszeit des Kaisers Valens gar nicht einmal
  • wußte, daß dieses Volk existiert, bis plötzlich die aus den Gebirgen
  • Asiens hervorbrechenden Hunnen und mit ihnen die Avaren, Unnuguren,
  • Usenguren (Uturguren, Cuturguren) und alle die anderen Völker vor ihnen
  • auftauchten, deren Namen für das feine und zugleich korrumpierte Gehör
  • der Griechen und Römer einen so rohen Klang hatten. Der verheerende,
  • unabwendbare Andrang dieser Bewohner Asiens, ihre Gewohnheit, rohes
  • Fleisch zu essen, die Schädel der Feinde als Becher zu benutzen und die
  • ersten besten unter ihren Gefangenen den Schatten ihrer Ahnen auf
  • blutigen Scheiterhaufen zum Opfer zu bringen, ihre kalmückischen Züge,
  • die flachen, plumpen, braunen Gesichter, die einem schon durch ihren
  • wilden Ausdruck Angst einjagen konnten, ihre kleine Gestalt, die nur
  • aus Muskeln zu bestehen schien -- dies alles versetzte die
  • asiatisch-römischen Provinzen in solchen Schrecken, daß deren Bewohner
  • daran zweifelten, ob sie sie wirklich zur menschlichen Gattung rechnen
  • sollten. Sie waren der Ansicht, die Magier und Zauberer, die in den
  • ungeheuren Wüsten am Kaspischen Meer hausten, wären in unreinen Verkehr
  • mit Teufeln getreten, und diesem Bunde seien die Hunnen entsprossen.
  • [Fußnote 12: Schlegel]
  • War es nur ein seltsamer Instinkt, der die Hunnen zurücktrieb, oder
  • erschreckten sie die allzu bunten mit Gärten und Städten übersäten
  • Flächen des römischen Asiens, die die Nomadenvölker für Gefängnisse
  • halten und daher fliehen, oder fanden sie keine öden, freien Steppen,
  • deren sie für ihre zahllosen Herden unbedingt bedurften -- genug, sie
  • zogen, statt die Richtung nach Süden einzuschlagen, -- nach Nordwesten,
  • berührten auf ihrem Wege den Kaukasus, scheuchten ein paar Volksstämme,
  • die an seinem Fuße wohnten, auf und nahmen sie auf ihrer Wanderung mit
  • sich, und diese große Masse von Nomaden ergoß sich über Europa. Auf dem
  • vorgeschobensten Posten Europas standen damals, wie wir gesehen haben,
  • die Goten. Ihre zahlreichen Stämme und die von ihnen unterjochten Völker
  • waren die ersten Wachtposten Europas und standen in dichten Scharen vor
  • seinem mächtigen Tore, ein Tor, das leider viel zu gewaltig für den
  • kleinen Erdteil -- Europa -- war. Und die Goten, dieselben Goten, die
  • bis dahin für das unüberwindliche Bollwerk Europas und für eine
  • unbesiegbare Macht gegolten hatten, wichen vor den Hunnen zurück. Es
  • konnte auch gar nicht anders kommen. Die geheimnisvolle Kraft eines
  • solchen Ansturms seitens solcher asiatischer Völkermassen war den Goten
  • vollkommen unbekannt. Wenn die Goten gewußt hätten, daß ein solcher
  • Einfall asiatischer Stämme nur durch den ersten gewaltigen Anprall
  • gefährlich ist, und daß nur die Fähigkeit, ihnen einen dauernden
  • Widerstand entgegenzusetzen und die Schlacht in die Länge zu ziehen, den
  • Sieg entscheiden kann -- wenn die Goten dies gewußt hätten, dann hätten
  • sich die Hunnen wieder in den Kaukasus zurückgezogen, und Europa hätte
  • nichts von der großen Erschütterung verspürt, die sein ganzes Äußere
  • umwandeln sollte. Aber dies Geheimnis blieb den Goten unbekannt.
  • Übrigens muß man auch anerkennen, daß es einer schier übermenschlichen
  • Tapferkeit und Geistesgegenwart bedurfte, um dem ersten Ansturm der
  • Hunnen zu widerstehen. Sie begleiteten ihren Angriff mit so
  • entsetzlichem Geschrei, ihre ungeheuren Massen kamen so dichtgedrängt
  • herangeflogen, ihre beinahe wilden Rosse kamen so wütend angerast, als
  • stürzten sie einen steilen Abhang hinunter und als könnten die Reiter
  • selbst ihren Sturmschritt nicht hemmen; ihr schmales, zwischen den
  • dicken Backen fast verschwindendes Auge war so scharf und sicher, sie
  • gaben der Schlacht jeden Augenblick eine so rasche Wendung, sie konnten
  • sich so schnell in alle Winde zerstreuen und verschwinden, sich so
  • plötzlich wieder in einem Haufen vereinigen, sie schleuderten mit so
  • großer Treffsicherheit einen ganzen Wald von Lanzen gegen ihren Feind,
  • selbst wenn sie die Flucht ergriffen, wußten sie sich so vorzüglich
  • durch ihre Geschosse zu decken und sie begleiteten dies alles mit einem
  • so wilden, betäubenden Geschrei, daß sich schwerlich ein Heerführer
  • finden konnte, dessen Auge nicht unsicher, dessen Kopf nicht schwindlig
  • geworden wäre im Kampfe mit den Hunnen.
  • Nachdem sie die Goten vertrieben hatten, nahmen die Hunnen den
  • westlichen Teil der polnischen Provinzen des heutigen Rußland, den
  • Norden und die Donauländer ein -- wieder nahm die Geographie Europas ein
  • andres Ansehen an. Dadurch, daß die Hunnen einen so großen Flächenraum
  • besetzten, mußten sie notwendigerweise eine starke Erschütterung und
  • eine mächtige Verschiebung in den Wohnsitzen der einzelnen Völker
  • hervorrufen. Die zurückgedrängten Goten zogen, obwohl ihnen dies nicht
  • leicht wurde, nach Westen und Süden weiter; die Vandalen und Sueven, mit
  • denen sich die Römer, oder besser gesagt, die römischen Germanen an den
  • Grenzen schon vielfach gemessen hatten, zogen durch Frankreich über die
  • Alpen und drangen in Spanien ein. Und hier in Spanien stießen plötzlich
  • Völker aus den verschiedensten Himmelsgegenden zur allgemeinen
  • Verwunderung miteinander zusammen: die Sueven von den Küsten der Ostsee
  • und aus dem schneebedeckten Skandinavien und die Alanen, die die Hunnen
  • auf ihrem Zuge vom Fuße des Kaukasus verscheucht und hierher getrieben
  • hatten.
  • Fünfzig Jahre lang irrten die Hunnen in den Steppen Rußlands herum,
  • zogen mit ihren Zeltwagen von Ort zu Ort und trieben ihre Roßherden von
  • einem Platz zum andern, ohne weitere Eroberungen zu machen; denn auch
  • diesmal wurde Westeuropa durch seine Urwälder und seine hügelige
  • Bodenbeschaffenheit gerettet, auch fehlte es den Hunnen an einem
  • unternehmenden Anführer. Sie begnügten sich damit, ihre nächsten
  • Nachbarn zu überfallen, raubten meist ihre Frauen und Kinder und trieben
  • ihre Herden mit sich fort. Unter diesen Raubzügen hatten die Goten, da
  • sie ihnen am nächsten wohnten, am meisten zu leiden. Die Goten teilten
  • sich um diese Zeit in zwei große Stämme: in die Westgoten, die sich ihre
  • Könige aus der älteren herrschenden Linie der Balten, und in die
  • Ostgoten, die ihre Könige aus dem neuen Herrschergeschlecht der Amaler
  • wählten. Immer mehr von den Hunnen zurückgedrängt, drangen sie bis zum
  • Süden der jetzigen Ukraine und der Moldau vor. Ein Teil der Westgoten,
  • die sich nirgends sicher fühlten, wandte sich, geführt von Fridigern,
  • Alatheus und Saphrax, mit der Bitte an den römischen Kaiser, er möge es
  • ihnen erlauben, die Donau zu überschreiten, sich am südlichen Ufer des
  • Flusses anzusiedeln und die römischen Provinzen gegen Überfälle der
  • immer mächtiger werdenden Barbaren zu verteidigen. Der Kaiser
  • Valentinian, der das Reich gemeinschaftlich mit seinem Bruder Valens
  • regierte, nahm diese unerwartete Hilfe mit Freuden an -- und die
  • Westgoten überschritten die Donau. Unterdessen hatten die Ostgoten und
  • ein Teil der Westgoten, die im Südosten wohnten, häufig unter
  • Hungersnöten zu leiden, und da sie sahen, daß die Not immer stärker
  • wurde, baten sie den Kaiser Valens, der die östlichen Provinzen
  • verwaltete und in Konstantinopel residierte, sie mit allerhand Waren zu
  • versorgen und ihnen zu gestatten, mit den Bewohnern des Landes Handel zu
  • treiben.
  • Der Kaiser befahl den Regenten von Thracien, Lupicinus und Maximus, die
  • Bitten der Goten in allen Punkten zu erfüllen; beide waren typische
  • Griechen aus der byzantinischen Zeit -- hinterlistig und immer bereit,
  • auch ohne dringende Veranlassung ein Verbrechen zu begehen, den Barbaren
  • gegenüber aber hielten sie jede Missetat für erlaubt. Sie ließen sich
  • mit den Goten nicht erst in Handelsgeschäfte ein, sondern raubten sie
  • ganz einfach aus und trieben sie bis zum Äußersten, so daß diese
  • genötigt waren, ihre eigenen Frauen und Kinder zu verkaufen; endlich
  • luden sie die heldenmütigsten Goten unter freundschaftlichen Vorwänden
  • zu sich ein und beschlossen, sie heimlich umzubringen. Dies rief die
  • Rachsucht dieses wilden Volkes, das sich jedoch noch ein ursprünglich
  • menschliches Gefühl bewahrt hatte, wach. Ungeheure Scharen von Goten
  • fielen in Thracien ein, drangen bis Konstantinopel vor, brannten alles
  • nieder und plünderten und äscherten alle Städte und ihre Umgegenden ein,
  • die sie auf ihrem Wege antrafen. Der Kaiser Valens befand sich in einer
  • sehr mißlichen Lage. Er war ein eifriger Arianer und verfolgte
  • unbarmherzig alle Gegner dieser Sekte. Infolgedessen hatte er viele
  • Feinde, und selbst sein Bruder Valentinian, der Kaiser von Rom war,
  • verweigerte ihm seine Hilfe. Überdies war der Kaiser Valens auch sehr
  • grausam und mißtrauisch; man hatte ihm geweissagt, ein Mann, dessen Name
  • mit den Buchstaben Theo... beginnt, würde seinen Untergang herbeiführen
  • -- und so ließ er denn sämtliche Theoderiche, Theodate und Theodosiusse,
  • die irgendein bedeutenderes Amt bekleideten, erdolchen oder erwürgen. Es
  • versteht sich von selbst, daß diese Taten in seinen Untertanen keinen
  • allzu großen Eifer und keine Neigung, ihren Monarchen zu verteidigen,
  • wachriefen, und außerdem waren diese Untertanen ein erbärmliches und
  • charakterloses Volk; die Soldaten waren jederzeit bereit, zu meutern und
  • beim ersten Anlaß die Flucht zu ergreifen; die Staatsgelder wanderten in
  • die Hände von Eunuchen, Günstlingen, Konkubinen und schlauen Priestern,
  • und so erhielt Valens schließlich die Strafe für sein früheres Leben.
  • Verlassen von den fliehenden Soldaten, suchte er Schutz in einer
  • armseligen Hütte und wurde zusammen mit dieser von den rachsüchtigen
  • Goten verbrannt. Nur der Unkenntnis der Goten, die sich nicht auf die
  • Belagerung einer Stadt verstanden, verdankte Konstantinopel seine
  • Rettung. Triumphierend und mit Beute beladen kehrten die Goten zu ihren
  • Wohnsitzen zurück, bei den Römern eine schauerliche Erinnerung an ihren
  • Besuch hinterlassend.
  • Bald darauf erfolgte die endgültige Teilung des römischen Reichs. Der
  • Kaiser Theodosius hoffte, es noch durch diese Säkularisierung zu retten,
  • er glaubte, die Schwäche des Reiches sei die Folge seiner unermeßlichen
  • Größe und der Unmöglichkeit seiner Beherrschung durch einen einzelnen.
  • Die östliche Hälfte, die von nun an mit Recht die griechische genannt
  • wurde -- noch treffender hätte man sie das Reich der Eunuchen,
  • Komödianten, Günstlinge, Rennbahnen, der Verschwörer, der gemeinen
  • Mörder und der disputierenden Mönche nennen können -- erhielt Arcadius,
  • der ganz unter dem Einfluß seines verschmitzten Vormunds Rufinus stand;
  • die westliche Hälfte, die mit Unrecht die römische genannt wurde, weil
  • hier alle beliebigen Ämter der Verwaltung von Emporkömmlingen besetzt
  • waren, die von Goten, Vandalen oder anderen germanischen Völkern
  • abstammten und nur mit einem dünnen äußerlichen Firniß römischer Bildung
  • überzogen waren: diese westliche Hälfte, die mitten im eigenen Herzen
  • gewaltsam eindringende Feinde beherbergte, und die wie ein lebendiger
  • Leichnam die Lebenskraft in sich schwinden sah und fühlte, dies
  • weströmische Reich fiel dem minderjährigen Honorius zu, der sich völlig
  • von Stilicho leiten ließ; letzterer war von Geburt ein Vandale, der
  • unter Theodosius ein treuer und tapferer Vasall gewesen war, aber unter
  • dessen unbedeutendem Sohn ein gemeiner Schwächling wurde. Die Vormünder,
  • die die entgegengesetzten Enden Europas regierten, haßten einander. Das
  • erste Geschenk, das Rufinus, der schlau war wie ein byzantinischer
  • Grieche, seinem Feinde Stilicho übersandte, war das mächtige Heer der
  • Westgoten, die er überredet hatte, Italien zu erobern, während er ihnen
  • versprach, seinerseits Rom jede Hilfe zu verweigern. Und die Westgoten
  • verließen insgesamt ihre Wohnsitze in Dacien und an den Ufern der Donau
  • und drangen in Italien ein. Aber für Stilicho hatte diese Invasion gar
  • keine Schrecken, im Gegenteil, er freute sich im geheimen über sie und
  • knüpfte eine Menge von Plänen an sie. Vor allem hoffte er, mit Hilfe
  • dieser zahlreichen Menge junger, kräftiger Barbaren viele andere
  • Barbaren, die schon ins Innere des römischen Reichs eingedrungen waren,
  • zu vernichten. Damals _gehörte_ Gallien zu Rom und es gehörte doch auch
  • wieder nicht dazu. Der starke Frankenbund stand mit den unter seiner
  • Hegemonie vereinigten Stämmen an der Grenze dieses Landes; im Osten und
  • Süden, d. h. im Herzen Frankreichs, hatten sich's die Alemannen und
  • Burgunder bequem gemacht. In Spanien hielten die Sueven, die Alanen und
  • Vandalen die besten Teile des Landes, d. h. den Süden, besetzt, und die
  • römischen Präfekten und Befehlshaber spielten unter ihnen eine recht
  • traurige Rolle: sie bekleideten eine Würde, ohne die geringste Macht zu
  • besitzen. Es schien fast, als läge über der halben Welt statt des
  • römischen Reichs nur sein langer, mächtiger Schatten. Dieses Reich glich
  • einer tausendjährigen Eiche, die einen durch ihren ungeheuren Umfang in
  • Erstaunen setzt, aber deren Inneres schon längst verfault und vermodert
  • ist. Stilicho wußte geschickt Alarich von seiner Absicht, sich in
  • Italien niederzulassen, abzubringen, indem er ihm das reiche blühende
  • Spanien anbot. Er hatte sogar den Plan, diese Barbaren gegen seinen
  • Feind Rufinus aufzuhetzen; ja er träumte schon davon, sich, wenn der
  • Plan gelingen sollte, an Stelle des schwachen Honorius zum Kaiser
  • ausrufen zu lassen, aber die Sache war zu fein gesponnen, und statt
  • dessen sank sein eigener Kopf vom Rumpfe. Der schwache, unbedeutende
  • Honorius, der auch nicht einen von Stilichos Plänen erfaßt hatte, befahl
  • einem seiner Feldherrn, der ebenso unverständig war wie er, den Goten,
  • die sich schon nach Spanien gewandt hatten, um sie zu schädigen, in den
  • Rücken zu fallen. Da aber kehrte Alarich mit einem Male um und stand nun
  • plötzlich vor den Toren Roms. Wie gewöhnlich floh Honorius; der Senat,
  • der seine Ohnmacht einsah, flehte den mächtigen Goten an, er möge doch
  • abziehen, versprach ihm, Tribut zu bezahlen, und folgte ihm sofort einen
  • Teil aus; der Sieger entschloß sich, auf den anderen Teil zu warten, und
  • zog sich von Rom zurück. Kaum aber hörte Honorius, daß die Gefahr
  • vorüber sei, als er nach Rom zurückkehrte, doch er dachte nicht daran,
  • den versprochenen Tribut zu bezahlen. Da jedoch erschien Alarich in
  • heller Empörung vor den Mauern Roms, und drohte, die ewige Stadt in
  • einen Haufen Asche zu verwandeln.
  • Am 23. August 409 nahmen die Mauern der Weltresidenz den Anführer der
  • Goten in sich auf. Die herrlichen Häuser und Paläste wurden geplündert,
  • aber der fürchterliche Alarich verbot die Brandstiftung und das
  • Blutvergießen. Hieraus kann man ermessen, wie groß seine Willenskraft
  • und die Macht war, die er über seine wilden Heerscharen besaß, konnte er
  • sie doch _davon_ abhalten, wovon selbst ein Befehlshaber gebildeter
  • Truppen seine Soldaten nicht immer abzuhalten imstande ist. Von Honorius
  • war in der Stadt keine Spur zu entdecken, er hatte längst Zeit gefunden,
  • sich davonzumachen. Dafür aber machte der Eroberer kein Hehl aus seiner
  • tiefen Verachtung der Römer; er ernannte ihren Präfekten Attalus zum
  • Kaiser und ließ ihn auf den Knien vor der Tür seines Zeltes
  • vorbeirutschen. Nachdem er seinen Rachedurst gestillt hatte, verließ er
  • Rom und zog nach dem Süden Italiens. Hier schmiedete er große Pläne; er
  • erbaute eine Flotte und wollte schon seine siegreichen Fahnen nach der
  • afrikanischen Küste tragen, da gebot der Tod seinem Siegeszuge Halt. Um
  • ihm ein Grab zu bereiten, leiteten die Westgoten das Bett des
  • Busentostromes ab, gruben auf seinem Grunde ein tiefes Grab, in das sie
  • den Leichnam hinabsenkten, schütteten es zu und lenkten den Strom in
  • sein früheres Bett zurück, damit niemand das Grab des großen Goten
  • schänden oder ihm Schimpf antun könnte. Nach Alarichs Tode ward Athaulf
  • zum König gewählt und dieser führte die Goten endlich nach Spanien, wo
  • sie sich sehr bald festsetzten und ein mächtiges gotisches Königreich
  • gründeten, nachdem sie die unbedeutenden römischen Befehlshaber von dort
  • vertrieben hatten.
  • Die Einwanderung der Westgoten machte sich an allen Enden Spaniens
  • lebhaft bemerkbar. Die Alanen und Sueven wurden stark bedrängt und sahen
  • sich gezwungen, die Herrschaft der Goten anzuerkennen. Selbst die
  • Vandalen, die bis dahin in Spanien die stärkste Vormacht gebildet
  • hatten, wurden energisch zurückgedrängt und gegen die Küste des
  • Mittelmeers zurückgeworfen. Schon dachte der König Geiserich daran, nach
  • Afrika überzusetzen. Da trat ein Ereignis ein, das die Verwirklichung
  • seines Planes, wie absichtlich, noch beschleunigte. Um diese Zeit
  • herrschte in Rom für den minderjährigen Valentinian und seine Mutter der
  • berühmte Aëtius; er war sehr unternehmend, ehrgeizig, schlau und nicht
  • wählerisch in den Mitteln, wenn es galt, zu erringen, was er wünschte.
  • Aëtius hatte einen mächtigen Feind in Bonifacius, dem Statthalter in
  • Afrika, und daher war er entschlossen, ihn zugrunde zu richten. Zu
  • diesem Zweck ließ er ihn im Auftrag des Kaisers nach Rom rufen.
  • Bonifacius aber hatte den Plan durchschaut, und daher war er
  • entschlossen, in Afrika zu bleiben und Geiserich um Hilfe anzugehen. 427
  • landete Geiserich mit seinen Vandalen und einem Teil der Alanen an der
  • afrikanischen Küste und bezeichnete seinen Weg durch Brandstiftungen und
  • Verwüstungen. Zu spät sah Bonifacius ein, welchen Fehler er begangen
  • hatte, sich einen solchen Gast einzuladen. Er hatte sich bereits mit
  • seinem Kaiser ausgesöhnt und wollte nun seinem unruhigen Verbündeten
  • Einhalt gebieten. Aber es war nicht so leicht, mit Geiserich fertig zu
  • werden, und Bonifacius ward geschlagen. Geiserich steckte Karthago in
  • Flammen, plünderte die Häuser, metzelte die Einwohner nieder und riß
  • alle Reichtümer an sich, die er nur finden konnte.
  • Die schnellen Erfolge entfachten seinen wilden Ehrgeiz noch mehr. Bald
  • war die ganze Küste Nordafrikas der Herrschaft der Vandalen unterworfen.
  • Mit Feuer und Schwert bekehrte er die Bevölkerung zum arianischen
  • Glauben und gründete eins der mächtigsten Reiche dieser wilden und
  • finsteren Epoche. Nun aber wurde Geiserich übermütig. Seine
  • fürchterliche Flotte zerstreute sich über das Mittelmeer und machte
  • durch ihre Raubzüge jegliche Schiffahrt unmöglich. Jedes Jahr erschien
  • dieser numidische Löwe an sämtlichen Küsten des Mittelmeers, von
  • Griechenland und Illyrien bis Gibraltar, und raubte, als sammele er die
  • Ernte von den eigenen Feldern ein, alles, was diese blühenden und
  • bevölkerten Gegenden erzeugten. Spanien, Sizilien, Sardinien, Dalmatien
  • hatten abwechselnd die fürchterliche und zerstörende Hand dieses
  • gekrönten Piraten zu fühlen, der hier so schnell das erste Reich
  • christlicher Corsaren gegründet hatte. Endlich aber erfaßte ihn inmitten
  • aller Größe und der Pracht der zusammengeraubten Reichtümer jener
  • Geisteszustand, jene schreckliche Melancholie, die den Geist verdorren
  • läßt und quält und stets der Vorbote der Tyrannei, dieser furchtbaren
  • Seelenkrankheit der Herrscher, ist. Er begann mißtrauisch zu werden
  • gegen alle, die ihn umgaben, und sein Argwohn erstreckte sich zuletzt
  • sogar auf seine Gemahlin, die Tochter eines Königs der Westgoten: er
  • bildete sich ein, sie habe die Absicht, ihn zu vergiften. Ganz
  • hingenommen von diesem Gedanken, befahl er, ihr Nase und Ohren
  • abzuschneiden, und schickte sie so verunstaltet zu ihrem Vater. Weil er
  • aber die Rache der Goten fürchtete, machte er dem Hunnenführer Attila
  • den Vorschlag, von Norden aus in Spanien und Italien einzubrechen.
  • Attila residierte in Dacien; hier hatte er, unweit der Donau, sein
  • Standlager aus rohen, hölzernen Hütten aufgeschlagen, in deren Mitte
  • sich sein plumper Palast erhob. Attila war der Führer, der den Hunnen
  • bis dahin gefehlt hatte. Er hatte gezeigt, welch furchtbare Gewalt die
  • vorwärtsstürmende Kraft der Asiaten annehmen kann. Der ganze Nordosten
  • Europas erkannte seine Herrschaft an. Die lange Kette der Völker, die
  • dem schier unüberwindlichen Hunnenkönige Tribut zahlten, begann mit dem
  • Kaukasus und endete am Rhein. Die Goten, die Gepiden, die Alanen, die
  • Heruler, die Akatirer, die Thüringer und die Slawen, sie alle wurden von
  • den Grenzen seines schnell wachsenden Nomadenreichs umschlossen. Der
  • griechische Kaiser, der seine Verachtung kennen gelernt hatte, sandte
  • ihm demütig seinen Tribut und lag im Staube vor seiner Macht und Größe.
  • Attila war ein Mensch von kleiner Gestalt, fast ein Zwerg, mit einem
  • ungeheuren Kopf und kleinen Kalmückenaugen, und sein Blick war so
  • schnell, daß keiner seiner Untertanen ihn ertragen konnte, ohne
  • unwillkürlich zu zittern. Mit diesem Blick allein beherrschte er alle
  • seine Stämme, die trotz ihrer zerstreuten Wohnsitze und trotz der
  • Verschiedenheit ihrer Lebensweise, ihrer Sitten und Gebräuche durch sein
  • Wort zu einem einzigen Wesen zusammenschmolzen. Mitten unter seinen
  • Höflingen, die mit geraubtem Golde prunkten, ging dieser merkwürdige
  • Mensch in einem groben, weiten Gewand umher, lag auf einem gewöhnlichen
  • Lager von Filz und trank fast nur Wasser aus einem Holzeimer; weder sein
  • Roß, noch sein Sattel waren je mit Edelsteinen geschmückt, und er nannte
  • sich selbst die Geißel Gottes, die gesandt ward, um die Welt zu
  • züchtigen. Seine Macht über die Truppen war grenzenlos: sie glaubten,
  • daß er ein verzaubertes Schwert besäße, mit dem er die ganze Welt
  • erobern müsse. Die unterworfenen Völker beugten sich mit
  • bewunderungswürdigem Gehorsam unter seine Herrschaft. Übrigens war auch
  • jeder Gedanke an eine Empörung völlig ausgeschlossen, denn Attila hätte
  • leicht vor seinem Zelt eine Pyramide von Schädeln errichten können, bei
  • deren Anblick wohl einem jeden die Lust zu solchen Unternehmungen
  • vergangen wäre. Er ließ sich nicht gern ohne Grund in einen Krieg ein,
  • besonders wenn der Friede für ihn dieselben Vorteile hatte. Er war ein
  • furchtbarer Richter. Er konnte auch großmütig sein, aber nur gegen
  • Sklaven, die zu seinen Füßen lagen. Aber Attilas Rache .... jedoch
  • niemand hätte den Mut gehabt, seine Rache heraufzubeschwören.
  • Anscheinend hatte Geiserichs Vorschlag ihn in seinen eigenen Plänen
  • befestigt. Auf sein Gebot sammelten sich all seine zahllosen Stämme, und
  • er zog mit ihnen gen Westen. Das römische Reich merkte bald, welch große
  • Gefahr ihm drohte. Alle Nationen, die das Westeuropa jener Zeit
  • bevölkerten, wurden von einer gewaltigen Aufregung ergriffen. Und nun
  • geschah etwas Außerordentliches: Das ganze barbarische Westeuropa
  • vereinigte sich zu einem einzigen Bündnis, die Römer schlossen sich den
  • Zerstörern ihres Reichs, den Westgoten, Alanen und Franken an. Nomaden-
  • und Hirtenvölker stürzten sich auf seßhafte und zum Teil schon
  • ackerbauende Völker, das ungestüme despotische Asien auf das gefestigte,
  • freie Europa. Hier müssen wir bemerken, daß die germanischen Völker um
  • so freiheitsliebender waren, je weiter gen Westen sie lebten. Die Alpen
  • waren von alters her eine Schutzwehr der europäischen Freiheit und im
  • weiten Umkreise um sie herum haben sich die Stämme auch heute noch einen
  • gewissen Unabhängigkeitszug bewahrt. Die Marneebene in Frankreich sollte
  • der Schauplatz dieser in der Geschichte einzig dastehenden Schlacht
  • werden. Das freie Westeuropa, die Römer, die Westgoten, die Aremoriker,
  • die Breonen, die Burgunder, die Sachsen, die Alanen und die Franken
  • unter Führung ihrer Könige und Feldherrn und unter der Oberleitung des
  • gewandten Aëtius und das nomadisierende Osteuropa: die Ostgoten, Alanen,
  • Gepiden, Markomannen, Veneter, Longobarden, Heruler, Akatirer, Avaren,
  • Thüringer, Roktolanen sowie einige slawische Stämme unter der Führung
  • ihrer Fürsten, Könige und Prinzen, geleitet von dem einen allmächtigen
  • Willen Attilas, sollten eine Entscheidung über so manches herbeiführen,
  • was für die Nachwelt von höchster Bedeutung ward. Das freie Europa hielt
  • stand. Die unüberwindliche verderbenbringende Reiterei Attilas und die
  • verbündeten Völker wurden zurückgeworfen, und der unbezwingliche Hunne,
  • der seine ganze ihm zu Gebote stehende Willenskraft eingesetzt hatte,
  • kehrte mit seinen Roßherden und Völkern in die Ebenen Ungarns und
  • Pannoniens zurück. Aëtius, der nicht den Wunsch hatte, daß die
  • Westgoten, die sich in dieser blutigen Schlacht mehr denn alle übrigen
  • ausgezeichnet hatten, ein zu großes Übergewicht gewönnen, erleichterte
  • Attila den Rückzug. Die große Völkerliga zerfiel, nachdem sie ihre
  • Aufgabe erfüllt hatte, und alles kehrte, da man annahm, die Gefahr sei
  • vorüber, in seinen Anfangszustand zurück.
  • Aber der fürchterliche Hunnenführer raufte sich zornig seinen edlen
  • Haarschopf und fiel nach einem Jahr, nachdem er die Reihen seiner
  • Truppen durch neue ergänzt hatte, in Italien ein, wo der sorglose Kaiser
  • Valentinian und sogar Aëtius selbst nichts von Gefahr ahnten. Die erste
  • Stadt, die Attilas schwere Hand zu spüren bekam, war Aquileja. Er
  • äscherte sie vollkommen ein und wurde so die Veranlassung, daß ein
  • Häuflein überlebender Einwohner am Adriatischen Meere die Stadt Venedig
  • gründeten. Von hier zog er wie eine feurige Geißel durch ganz Italien.
  • Die Städte Concordia, Brescia, Vicenza, Padua, Verona, Mantua, Mailand,
  • Modena, Parma ließen nichts wie niedergebrannte Mauern sehen. »Ich
  • schwöre es,« rief der wilde Hunne, »da soll kein Gras mehr wachsen, wo
  • der Huf meines Rosses den Boden berührt hat!« Endlich sah auch Rom
  • Attila vor seinen Mauern. Der erschrockene Papst trat in vollem Ornat
  • und begleitet von einer ganzen Prozession dem unerbittlichen Hunnen
  • entgegen und, -- war es nun die Pracht des christlichen Ritus oder der
  • unter den wilden, ja selbst unter den heidnischen Völkern vielfach
  • verbreitete Gedanke, daß Rom etwas Heiliges in seinen Mauern berge --
  • genug, Attila begnügte sich damit, einen großen Tribut zu erheben, zog
  • sich zurück und verließ Italien.
  • Schon sollte die vereinigte Liga der westlichen Völker seine Macht und
  • Rache kennen lernen, aber sein plötzlicher Tod rettete sie. Attila fand
  • einen seltsamen Tod. Er, der so düster und zurückhaltend gewesen war,
  • der es nicht einmal geduldet hatte, daß der Griff seines Säbels und sein
  • Filzsattel mit goldenem Zierat oder Edelsteinen geschmückt werde,
  • veränderte von einem Tage zum andern seine Lebensweise. Nachdem er die
  • Tochter des Kaisers von Baktrien, ein Mädchen von wunderbarer Schönheit,
  • geheiratet hatte, gab er sich, ganz berauscht von Wein und Gelagen, mit
  • einer so wilden Leidenschaft der Sinnenlust hin, daß er seine ganze
  • stählerne Lebenskraft wie in einem Zuge ausströmen ließ. Ein Blutstrom
  • rann ihm aus Ohren, Mund und Nase, und er erstickte.
  • In einer unbekannten Wüste, in stockfinstrer Nacht grub man Attila das
  • Grab und begleitete diese Arbeit mit Gesängen, in denen seine
  • Heldentaten gepriesen wurden. Sein Leichnam wurde in einen dreiwändigen
  • Sarg gelegt -- die eine Wand war von Gold, die andre von Silber und die
  • letzte von Kupfer; seine Waffen und das Geschirr seiner Rosse wurde mit
  • ihm ins Grab gesenkt. Alle Knechte und Sklaven, die die Grube gegraben,
  • wurden am Grabe erstochen, damit kein Lebender je die Stelle fände, wo
  • die Gebeine des großen Mannes ruhten[13].
  • Nach dem Tode Attilas stoben die Hunnen plötzlich auseinander und
  • zerstreuten sich wie alle asiatischen Völker, die nur durch den
  • mächtigen Willen eines Führers zusammengehalten werden. Nunmehr
  • breiteten sich die europäischen Völker weiter und freier aus, sie wurden
  • selbständiger, und im Osten traten slawische Stämme mehr in den
  • Vordergrund, die sich allmählich vermehrten und in sechzig verschiedene
  • Stämme teilten; sie zogen bis nach Tirol, machten nach dem Abzug der
  • Ostgoten an den Grenzen des griechischen Kaiserreichs von sich reden,
  • drangen immer mehr in die weiten Ebenen ein und verwandelten sich
  • allmählich in seßhafte Völker.
  • Über Italien lagen nach den Verwüstungen Attilas noch lange Rauchwolken,
  • aber selbst in den halbzerstörten Ruinen nisteten noch immer allerhand
  • Tücken und Ränke, und in diesem völlig erschöpften Reiche gab es immer
  • noch elende Ehrgeizlinge. Dem Senator Maximus war es gelungen, Aëtius,
  • die einzige Stütze des schwankenden Thrones, vor dem ohnmächtigen Kaiser
  • Valentinian zu verdächtigen, und der undankbare Valentinian erschlug ihn
  • mit eigener Hand. Nun aber, als er dieser Stütze verlustig gegangen war,
  • fiel er selbst von der Hand des Maximus, dieser setzte sich die
  • Kaiserkrone auf sein von kindischem Ehrgeiz erfülltes Haupt und
  • heiratete die Witwe Eudoxia. Die Witwe aber dürstete nach Rache, sie war
  • empört über den gemeinen Mord an ihrem Gemahl, Italiens Schicksal
  • beunruhigte sie wenig, und so forderte sie Geiserich im geheimen auf,
  • nach Rom zu kommen, um den Tod des Kaisers, seines Verbündeten und
  • Freundes, zu rächen.
  • [Fußnote 13: Über die Hunnen und Attila siehe Jornandes, De Guignes,
  • Fischer.]
  • Geiserich ließ nicht gern lange auf sich warten; sofort verließ er mit
  • seinen Vandalen die afrikanische Küste, schiffte sich auf seinen
  • Piratenschiffen ein und landete in Italien. Und alles, was vom Schwert
  • Attilas verschont geblieben war, das vernichtete Geiserich in gewohnter
  • Weise. Er untersuchte nicht lange, wer recht und wer unrecht hatte, oder
  • wem er Hilfe leisten sollte. Alle traf dasselbe Schicksal. Geiserich
  • verstand sich besonders gut auf das Plündern; nach ihm fand niemand
  • etwas, woran er sich hätte bereichern können. Rom, das bis dahin selbst
  • von den Heiden verschont geblieben war, wurde von diesem christlichen
  • König ganz erbarmungslos geplündert; alles, was überhaupt mitgenommen
  • werden konnte, wurde mitgenommen. Er füllte seine Schiffe mit einer
  • Unzahl von Gefangenen, mit denen er selbst nichts anzufangen wußte; er
  • nahm eine Menge von Schauspielern und Künstlern mit, selbst die Frau des
  • Kaisers samt ihren Töchtern, denen er doch zu Hilfe geeilt war, zuletzt
  • holte er auch die goldene Kuppel vom Kapitol herunter und schleppte sie
  • zugleich mit anderen Schätzen nach Afrika.
  • Nach all diesen Ereignissen erinnerte Italien kaum noch an den Schatten
  • seines ehemaligen Ruhms. Einst in herrlicher Blüte prangend, der
  • Glanzpunkt der europäischen Natur, bot es jetzt den wilden Anblick eines
  • verwüsteten, zerstörten Landes dar. Der Name des Kaisers war in den
  • verlassenen Städten kaum noch zu hören. Der römische Imperator hatte gar
  • keine Einkünfte mehr. Er war nicht mehr imstande, seinem eigenen Heer,
  • das aus Herulern, Rugiern und Turcilingern bestand, seinen Sold zu
  • bezahlen. Und so setzte denn ihr Anführer Odoaker den Kaiser ab und
  • wurde selbst ein unbeschränkter und völlig unabhängiger Herrscher;
  • allein, er wollte die kaiserliche Würde gar nicht mehr annehmen, sondern
  • nannte sich ganz einfach König der Heruler. Ein anderer Teil des
  • römischen Heeres befand sich in Gallien, es war durch die Alpen
  • gewissermaßen von der Heimat abgeschnitten, und sein Anführer Syagrius,
  • der von den Ereignissen in Italien gar keine Kunde hatte, verteidigte
  • hier das gar nicht mehr existierende Reich gegen den vereinigten
  • Frankenbund, der um diese Zeit bereits übermächtig zu werden begann,
  • weil ein unternehmender König und Feldherr, Chlodwig, an seiner Spitze
  • stand. Syagrius, der von seinem Reich abgeschnitten war und gar keine
  • Verstärkungen erhielt, fiel es schwer, diesen frischen Kräften
  • Widerstand zu leisten: er gab nach, und Gallien wurde von fränkischen
  • Stämmen überschwemmt. Bald darnach brachen die Ostgoten unter der
  • Führung von Theoderich von den nördlichen Grenzen des oströmischen
  • Reiches auf, nahmen Italien ein und brachten die dort lebenden Völker
  • unter ihre Herrschaft. Kurze Zeit nachher setzten die Angelsachsen auf
  • ihren plumpen, kühnen Schiffen über das Meer, unterwarfen England -- und
  • damit fand die große Völkerwanderung, soweit sie sich in großen Massen
  • vollzog, endgültig ihren Abschluß, aber in engeren Grenzen und in
  • kleinerem Umfange nahm sie auch noch weiter ihren Fortgang. Die vielen
  • wilden Jäger, die dieses allgemeine Herüber- und Hinüberwandern und
  • dieser beständige Wechsel der Wohnsitze herangezogen hatten, waren von
  • einer starken Leidenschaft für allerhand Abenteuer und Wandern
  • ergriffen, und obgleich ganz Europa jetzt scheinbar unbeweglich dalag,
  • rührte es sich und wogte es dort hin und her wie auf einem ungeheuren
  • Marktplatz. Alle Nationen waren so durcheinandergemengt, daß es
  • vergeblich gewesen wäre, eine reine und unberührte entdecken zu wollen,
  • und erst mit der Zeit drückten bestimmte stabile Regierungsformen oder
  • Beschäftigungen den bedeutendsten unter ihnen eine besondere Eigenart
  • und bestimmte unterscheidende Merkmale auf. Damals gab es vier große
  • Völkergruppen oder -massen, die die anderen an Bedeutung überragten,
  • gleichsam vier Hauptpunkte, in denen sich die Macht Europas
  • konzentrierte. In Spanien -- die Westgoten, die mit einem Teil der von
  • ihnen unterjochten Völker dort eingefallen waren, sich daselbst, d. h.
  • in Spanien mit den Alanen, Sueven, Vandalen und einigen anderen von
  • diesen abhängenden Stämmen vereinigt und in dem Gebirge von Asturien
  • eine Menge feindlicher Banditenbanden wider sich aufgeregt hatten.
  • Ferner in Gallien die Franken, die bereits aus den früheren Nachbarn der
  • Römer, den Germanen von der Donau und vom Rhein, den Usipiern,
  • Sigambern, Cheruskern, Chatten, Brukteren, Angrivariern, Chasuariern und
  • anderen eine Nation gebildet, sich mit den einheimischen römischen
  • Galliern vereinigt, mit den unterworfenen Aremorikern, Bretonen,
  • Alemannen, Burgundern und zum Teil auch mit den Bajuwaren und Friesen
  • verbunden, ohne sich doch mit ihnen zu verschmelzen, und die das Gebiet
  • ihrer Herrschaft bis über die Alpen über den Rhein hinaus ausgedehnt
  • hatten.
  • Das war eine der mächtigsten Völkergruppen. Im nördlichen Deutschland
  • saßen die Sachsen, die durch ihre Wildheit und ihr Korsarentum Schrecken
  • erregten und sich nur wenig mit anderen Stämmen vermischt hatten, und in
  • Italien die Ostgoten, in deren Masse sich viele Abkömmlinge von Völkern
  • befanden, die in Osteuropa herumwanderten -- Sueven, Alanen, Avaren,
  • Slawen, Gepiden -- und die unter der geschickten und festen Regierung
  • Theoderichs eine Zeitlang das Übergewicht in Europa erlangten. Außerdem
  • übten diese großen Völkermassen noch eine Schutzherrschaft über eine
  • Menge weit abseits wohnender Stämme aus.
  • Die Grenzen zwischen ihnen verloren sich oft in unbekannte Räume; in dem
  • von den Grenzen eingeschlossenen Lande erhielten sich häufig viele
  • Völker, die hier ganz unabhängig durch- und nebeneinander lebten. So in
  • Mitteldeutschland -- die Longobarden, dann ein Teil der Bajuwaren, die
  • sich in Italien ausgezeichnet, und alle Völker, die einst in den ehemals
  • unermeßlichen Wäldern des Harzes und des felsigen Vorgebirges der Alpen
  • gelebt hatten. Der Osten Europas war von den völlig zerstreuten
  • slawischen Stämmen besetzt, die unter dem ewigen Druck aller aus Asien
  • nach Europa strömenden Völker noch nicht Zeit gefunden hatten, tätig in
  • die Weltgeschichte einzugreifen. Jenseits des so bezeichneten Kreises im
  • Norden und Osten wohnten verschiedene Völker, die noch in dunkler
  • Tatenlosigkeit dahinlebten.
  • Dies war die Lage Europas am Ende des V. Jahrhunderts, dessen Ausgang so
  • laut und unruhig war, als durch den unbeschreiblichen Ratschluß der
  • Vorsehung das gewaltige Chaos, das die dunklen Elemente zu einer neuen
  • Welt in sich trug, sich auf Europa niedersenkte, als sich Völker in
  • ungeheuren Massen verheerend auf andere Völker stürzten, zu jener Zeit,
  • als noch gewaltige, finstere Taten geschahen, als die Namen eines
  • Alarich, Geiserich und Attila gleich unruhigen Kometen durch die Welt
  • schwirrten, während die Alte Welt im Osten langsam vermoderte, als die
  • römische Kultur sich zaghaft an die Küsten Syriens, Alexandriens und
  • Konstantinopels drängte und die ketzerischen Lehren eines Nestor und
  • Eutiches an ihren gebrechlichen altersschwachen Kräften nagten.
  • IX
  • Memoiren eines Wahnsinnigen
  • Den 3. Oktober.
  • Heute hat sich etwas Außerordentliches ereignet. Ich stand diesen Morgen
  • ziemlich spät auf, und als Mawra mir meine frisch geputzten Stiefel
  • hereinbrachte, fragte ich sie, wieviel die Uhr sei. Als ich hörte, daß
  • es längst zehn geschlagen hätte, beeilte ich mich mit dem Ankleiden. Ich
  • muß gestehn, am liebsten wäre ich gar nicht in die Kanzlei gegangen, da
  • ich im voraus wußte, was für eine saure Miene unser Abteilungschef
  • machen würde. Schon seit geraumer Zeit pflegt er mich immer wieder zu
  • fragen: »Sag' mal, Freundchen, was geht eigentlich in deinem
  • Oberstübchen vor, du läufst hin und her wie ein Irrsinniger und wirfst
  • alles so durcheinander, daß sich selbst der Teufel nicht mehr auskennt,
  • du schreibst die Titel mit kleinem Anfangsbuchstaben und datierst und
  • numerierst die Akten nicht.« So ein verdammter Kerl! Sicherlich plagt
  • ihn der Neid, weil ich im Arbeitszimmer des Direktors sitze und die
  • Federn für Seine Exzellenz schneide. Mit einem Wort: ich wäre gar nicht
  • in die Kanzlei gegangen, wenn ich nicht die Hoffnung gehabt hätte, den
  • Kassierer zu sehn, und von diesem Juden wenigstens einen kleinen
  • Vorschuß auf mein Gehalt herauszukriegen. Das ist auch so eine Kreatur.
  • Gerechter Gott, eher bricht das Jüngste Gericht herein, als daß er einem
  • das Gehalt für einen Monat vorausbezahlt! Bitte ihn, soviel du willst,
  • geh meinetwegen zugrunde, sei in der größten Klemme -- der alte Satan
  • rückt nicht mit Geld heraus. Dafür muß er sich von seiner Köchin zu
  • Hause ohrfeigen lassen. Das ist ja weltbekannt. Ich sehe auch nicht ein,
  • was es für Vorteile hat, im Departement zu dienen. Man hat da doch gar
  • keine Einnahmen! In den Gouvernementsverwaltungen, in den Zivil- und
  • Staatsbehörden dagegen, das ist eine ganz andere Sache! Da sitzt einer
  • ganz in die Ecke gedrückt da und kritzelt irgend etwas -- sein Frack ist
  • ganz fadenscheinig -- er hat eine Fratze, daß man ausspucken möchte.
  • Aber seht mal hin, was er sich für eine Villa leistet! Man darf es gar
  • nicht erst wagen, ihm eine schön vergoldete Porzellantasse anzubieten.
  • »Das,« sagt er, »solch ein Geschenk, das ist was für 'nen Doktor.« Er
  • dagegen muß gleich ein paar Pferde, eine Equipage oder einen Biberkragen
  • für 300 Rubel haben. Äußerlich ist er so bescheiden und spricht so zart:
  • »Wollen Sie mir nicht für einen Augenblick Ihr Messerchen leihen, um
  • meine Feder zu schneiden!« und dabei rupft er einen derartig, daß er
  • einem kaum das Hemd am Leibe übrigläßt. Das muß man allerdings zugeben,
  • unser Dienst hat etwas Vornehmes, überall herrscht eine solche
  • Reinlichkeit, wie sie sich in keiner Gouvernementskanzlei finden dürfte,
  • alle Tische sind aus Mahagoni, und die Vorgesetzten sagen »Sie« zu
  • einem. Ja, ich muß gestehn, ich hätte längst die Kanzlei verlassen, wenn
  • nicht dieser vornehme Ton bei uns herrschte.
  • Ich legte meinen alten Mantel an und nahm einen Regenschirm in die Hand,
  • denn es regnete heftig. Die Straßen waren leer; nur ein paar alte
  • Weiber, die sich mit ihren über den Kopf geschlagenen Röcken vor dem
  • Regen schützten, einige russische Kaufleute unter riesigen Schirmen und
  • ein paar Droschken kamen mir entgegen. Von den besseren Leuten begegnete
  • ich nur einigen von unseren Beamten. Bei einer Straßenkreuzung erblickte
  • ich einen von ihnen. Als ich ihn bemerkte, dachte ich mir sofort: »He,
  • Freundchen, du gehst mir nicht in die Kanzlei, du eilst jener Schönen
  • nach, die vor dir herläuft, und spähst nach ihren Füßchen. Solche
  • Teufelskerle, diese Beamten! Bei Gott! Die geben selbst einem Offizier
  • nichts nach! Da braucht nur irgendein Mädel in einem netten Hütchen
  • vorüberzugehn, sofort hat er sie schon gekapert.« Als mir dies durch den
  • Sinn ging, fiel mein Blick auf einen Wagen, der gerade vor einem Laden
  • hielt, an dem ich vorüberkam. Ich erkannte ihn sofort: es war der Wagen
  • unseres Direktors. Ich überlegte: »Er hat in diesem Laden nichts zu tun
  • -- gewiß ist es seine Tochter!« Ich drückte mich dicht an die Wand. Der
  • Bediente öffnete den Schlag, und sie hüpfte heraus wie ein Vögelchen.
  • Sie wandte ihr Köpfchen nach rechts und nach links, wie reizend zuckte
  • sie mit den Brauen und wie blitzten ihre Augen! ..... Gott! mein Gott,
  • ich bin verloren, ganz verloren! ... Warum mußte sie aber auch bei solch
  • einem Wetter ausfahren! Da soll noch jemand behaupten, daß die Frauen
  • keine Leidenschaft für allerhand Putz und Flitterwerk haben. Sie hatte
  • mich nicht erkannt, ich hatte ja absichtlich versucht, mich ganz hinter
  • meinem Kragen zu verkriechen, weil ich einen ganz alten, fleckigen
  • Mantel von altmodischem Schnitt umgelegt hatte. Jetzt trägt man Mäntel
  • mit einem langen Kragen, und der meine hat mehrere kurze übereinander;
  • obendrein war das Tuch nicht einmal decatiert. Ihr Hündchen, das nicht
  • Zeit gehabt hatte, in die Ladentür zu schlüpfen, blieb auf der Straße.
  • Ich kenne dieses Hündchen, es heißt Maggie; ich hatte keine Minute auf
  • der Straße gestanden, da hörte ich plötzlich ein feines Stimmchen:
  • »Guten Tag, Maggie!« Was ist denn das, wer spricht denn da?! Ich schaute
  • mich nach allen Seiten um und sah zwei Damen unter einem Regenschirm
  • daherkommen: die eine war schon recht alt, die andere noch jung; sie
  • gingen an mir vorüber, da erklang es aufs neue: »Schäm' dich, Maggie!«
  • Hol's der Teufel! Ich sah, daß Maggie einen Hund beschnüffelte, der
  • hinter den Damen einherlief. »Aha!« sagte ich zu mir; »wie wird mir,
  • sollte ich am Ende betrunken sein? Aber das passiert mir ja nur höchst
  • selten!« »Nein, Fidel, du irrst dich!« Jetzt sah ich's deutlich: die,
  • die dies sagte, war Maggie selbst: »Ich war, wau, wau, ich war, wau,
  • wau, wau, sehr krank!« »Sieh einer das Hündchen an!« Ich muß gestehn,
  • ich war sehr erstaunt, als ich hörte, daß es geradeso sprach wie ein
  • Mensch. Aber als ich später alles ordentlich überlegte, hörte ich auf,
  • mich zu wundern. Wahrhaftig, so etwas ist auf Erden schon häufiger
  • vorgekommen! Man erzählt sich, daß in England einmal ein Fisch ans Land
  • geschwommen sei, der zwei Worte in einer so merkwürdigen Sprache
  • gesprochen hätte, daß sich die Gelehrten schon drei Jahre darüber den
  • Kopf zerbrechen und doch nicht herauskriegen können, was das für eine
  • Sprache war. Ich habe auch in der Zeitung von zwei Kühen gelesen, die in
  • einen Laden gekommen seien und ein Pfund Tee verlangt hätten. Aber ich
  • muß sagen, ich wunderte mich doch noch mehr, als ich Maggie sagen hörte:
  • »Ich habe dir geschrieben, Fidel; gewiß hat Polkan dir meinen Brief
  • nicht überbracht.« Teufel auch, ich habe noch nie im Leben gehört, daß
  • ein Hund schreiben kann. Richtig schreiben kann doch nur ein Edelmann
  • ... Natürlich, es kommt wohl auch einmal vor, daß irgendein Kaufmann,
  • ein Bureaumensch oder sogar ein Leibeigner etwas hinkritzelt! Aber das
  • ist doch immer nur ein mechanisches Geschreibsel! Ohne Punkte, ohne
  • Komma und ohne alles Stilgefühl! ...
  • Das setzte mich in Erstaunen. Ich muß gestehn, seit einiger Zeit fange
  • ich an, Dinge zu sehen und zu hören, die bis jetzt noch kein Mensch
  • gesehen und gehört hat. »Ich will mal diesem Hündchen folgen«, sagte ich
  • zu mir, »und erfahren, wie und was es denkt.« Ich spannte meinen Schirm
  • auf und ging hinter den Damen her. Wir bogen in die Erbsenstraße, dann
  • in die Meschtschanskaja, nachher in die Storljarnaja und endlich zur
  • Kokuschkin-Brücke ein und blieben vor einem großen Hause stehn. »Dieses
  • Haus kenne ich!« sagte ich zu mir, »es gehört Swerkow.« So ein Kasten!
  • Was leben da nicht alles für Leute! Wie viele Köchinnen und wie viel
  • Zugereiste gibt es da! Auch von uns Beamten gibt es da eine ganze Menge!
  • Die sitzen wie Hunde einer auf dem andern und hetzen noch einen dritten
  • auf ihn. Hier wohnt auch einer meiner Freunde, der sehr gut Piston
  • bläst. Die Damen stiegen in den fünften Stock hinauf. »Schön,« sagte ich
  • zu mir »jetzt will ich nicht mitgehen, ich will mir die Gegend merken
  • und nicht versäumen, mir die erste Gelegenheit zunutze zu machen.«
  • Den 4. Oktober.
  • Heute ist Mittwoch und daher habe ich meinen Chef in seinem
  • Arbeitszimmer aufgesucht. Ich kam absichtlich etwas früher, setzte mich
  • hin und spitzte noch einmal alle Federn an. Unser Direktor muß ein sehr
  • kluger Mensch sein. Sein ganzes Kabinett ist mit Bücherschränken
  • angefüllt. Ich las die Titel einiger Bücher. Lauter gelehrtes Zeug, so
  • gelehrt, daß unsereiner sich gar nicht dranwagen kann -- alles
  • französische oder deutsche Bücher. Und wenn man ihm erst ins Gesicht
  • sieht -- uff -- welche Würde leuchtet einem aus seinen Augen entgegen.
  • Ich habe noch nie gehört, daß er ein unnützes Wort gesagt hätte. Wenn
  • man ihm ein Papier reicht, bemerkt er höchstens: »Wie ist es heute
  • draußen?« »Feucht, Euere Exzellenz!« Ja, das ist keine Gesellschaft für
  • unsereinen. Er ist ein Staatsmann! Dennoch aber merke ich, daß er mich
  • besonders gern hat. Ach, wenn doch auch seine Tochter ... so eine
  • verfluchte Geschichte! ... Doch still davon! Kein Wort mehr! Ich las
  • heute in der »Biene«. Die Franzosen sind doch ein dummes Volk! Was
  • wollen sie eigentlich? Bei Gott, ich möchte sie alle übers Knie legen
  • und auspeitschen. Ich las auch eine sehr nette Beschreibung eines
  • Balles, die ein Gutsbesitzer aus Kursk verfaßt hatte. Diese Kursker
  • Gutsbesitzer schreiben doch sehr gut. Da bemerkte ich, daß die Uhr halb
  • eins schlug, und dennoch wollte »unser Chef« noch immer nicht aus seinem
  • Schlafzimmer herauskommen. Aber keine Feder ist imstande, das zu
  • beschreiben, was sich um halb zwei Uhr abspielte. Die Tür wurde
  • geöffnet, ich glaubte schon, es sei der Direktor, und sprang, mit den
  • Papieren in der Hand, vom Stuhl auf: aber es war sie, sie selbst! Alle
  • Heiligen! wie herrlich war sie angezogen! Ihr Kleid war schneeweiß wie
  • das Gefieder eines Schwanes -- ein wundervolles Kleid. Und wie sie mich
  • anblickte -- glich sie der Sonne -- bei Gott -- der Sonne! Sie grüßte
  • und sagte: »Ist Papa nicht hier gewesen?« Herr Gott! was für eine
  • Stimme! -- der reinste Kanarienvogel, wahrhaftig, der reinste
  • Kanarienvogel! »Euere Exzellenz!« wollte ich sagen, »vernichten Sie mich
  • nicht, aber wenn Sie mich schon durchaus vernichten wollen, so tun Sie
  • es mit Ihrem hochgeborenen Händchen!« Aber hol's der Teufel, die Zunge
  • versagte mir ihren Dienst, und ich sagte nur: »Durchaus nicht!« Sie sah
  • erst mich an, dann die Bücher und ließ dabei ihr Taschentuch fallen; ich
  • sprang eilig hinzu, glitt aber auf dem verfluchten Parkett aus und hätte
  • mir fast die Nase zerschlagen, doch hielt sie mich noch im letzten
  • Moment aufrecht und hob das Tuch auf! Alle Heiligen! Welch ein Tuch! der
  • allerfeinste Batist -- Ambrosia -- das reine Ambrosia! Man glaubte ihm
  • förmlich die Vornehmheit seiner Besitzerin anzumerken. Sie bedankte sich
  • und lächelte flüchtig, so daß sich ihre zuckersüßen Lippen kaum merklich
  • kräuselten, dann ging sie. Ich blieb noch eine Stunde lang sitzen, als
  • plötzlich der Diener hereintrat und sagte: »Aksentjij Iwanowitsch, gehen
  • Sie nach Hause, der Herr ist schon fortgefahren.« Ich kann dieses
  • Bedientenvolk nicht leiden; immer rekeln sie sich im Vorzimmer herum,
  • und unsereins zu grüßen, das fällt ihnen gar nicht ein. Aber das ist
  • noch nicht das Ärgste; einmal kam ein solcher Hund sogar auf den
  • Gedanken, mir eine Prise anzubieten, ohne vom Stuhl aufzustehen. Ja,
  • weißt du denn nicht, du dummer Sklave, daß ich ein Beamter und ein
  • Edelmann bin?! Indessen nahm ich meinen Hut, legte mir allein meinen
  • Mantel um, denn diesen hohen Herrn fällt es doch nicht ein, unsereinem
  • hineinzuhelfen, und ging meiner Wege. Zu Hause lag ich meistens auf dem
  • Bett. Dann schrieb ich ein paar schöne Verse ab:
  • »Da mein Lieb ein Stündchen nicht zu sehn ist --
  • 's muß ein Jahr schon her sein, dacht' ich;
  • Weil mein Leben mir so arg verhaßt ist,
  • Kann ich da noch leben? -- sagt' ich.«
  • Wahrscheinlich ist es ein Gedicht von Puschkin. Abends wickelte ich mich
  • fest in meinen Mantel und ging vor das Haustor Seiner Exzellenz, ich
  • wartete ziemlich lange, ob sie nicht vielleicht heraustreten und in den
  • Wagen steigen würde, ich hoffte, sie noch einmal zu sehn; aber sie kam
  • nicht. --
  • Den 6. November.
  • Der Abteilungschef ist ganz aus dem Häuschen! Als ich in die Kanzlei
  • kam, ließ er mich sofort rufen und sprach: »Sag' mir bitte, was tust du
  • eigentlich?« »Wie? ich tue gar nichts,« antwortete ich. »Höre mal, denk'
  • doch mal darüber nach, du bist doch schon über 40 Jahre alt -- es wäre
  • bald Zeit, daß du vernünftig wirst. Was bildest du dir eigentlich ein?
  • Du glaubst wohl, ich sei nicht hinter all deine Schliche gekommen? Du
  • läufst ja der Tochter unseres Direktors nach! Sieh dich doch nur mal an
  • und mach' dir mal klar, wer du eigentlich bist! Du bist doch eine Null
  • -- und weiter nichts. Du hast ja keinen Heller im Kasten. Wirf doch
  • einen Blick in den Spiegel -- wie kannst du nur an so etwas denken!«
  • Hol' ihn der Teufel! weil sein Gesicht an eine Medizinflasche erinnert
  • und weil er nur noch ein paar Haare auf dem Kopf hat, die er künstlich
  • zu einem Schopf zusammendreht, den er mit allerhand duftenden Pomaden
  • salbt, und weil er die Nase hoch trägt, bildet er sich ein, daß ihm
  • allein alles erlaubt sei. Ich verstehe, ich verstehe sehr gut, warum er
  • so wütend auf mich ist. Er beneidet mich, vielleicht weiß er, daß ich
  • bevorzugt werde, vielleicht hat er die Zeichen des Wohlwollens bemerkt,
  • die mir zuteil geworden sind. Ach was! Ich spucke auf ihn! Auch was
  • Großes! Ein -- Hofrat! trägt 'ne goldene Uhrkette und läßt sich Stiefel
  • zu 30 Rubel das Paar machen. Ach! hol ihn doch der Teufel! Bin ich etwa
  • aus niederem Stande? Bin ich etwa ein Schneider oder der Sohn eines
  • Unteroffiziers! Ich bin ein Edelmann! Ich kann mich doch auch
  • heraufdienen. Ich bin erst 42 Jahre alt --, und da beginnt doch
  • eigentlich der Dienst erst richtig. Warte nur, Freundchen! wir werden
  • auch noch einmal Oberst sein, ja, vielleicht, so Gott will, auch noch
  • ein bissel mehr! Dann schaffe ich mir eine schöne Wohnung an, vielleicht
  • noch eine bessere als deine. Du bildest dir wohl ein, daß es außer dir
  • keine anständigen Menschen gibt? Dann schaffe ich mir einen Frack nach
  • der neuesten Mode an und binde mir eine ebensolche Krawatte um wie du --
  • dann reichst du überhaupt nicht an mich heran. Ich habe bloß kein Geld
  • -- das ist das Pech.
  • Den 8. November.
  • Heute war ich im Theater. Man gab »Filatka, den russischen Narren«. Ich
  • habe sehr gelacht. Dann folgte noch eine Posse mit allerhand komischen
  • Couplets, in denen es über die Gerichtsbeamten herging, besonders wurde
  • ein Kollegienregistrator aufs Korn genommen; diese Couplets waren sehr
  • kräftig, und ich habe mich gewundert, daß die Zensur sie nicht
  • beanstandet hat. Von den Kaufleuten hieß es geradezu, daß sie das Volk
  • betrügen, daß ihre Söhne verschwenderisch leben und nach dem Adelsstand
  • streben. Dann gab's auch ein sehr amüsantes Couplet über die
  • Journalisten: der Autor bat das Publikum um Schutz vor ihnen, da sie
  • immer alles herunterreißen. Die heutigen Schriftsteller schreiben sehr
  • interessante Stücke. Ich gehe sehr gern ins Theater. Sobald ich nur ein
  • paar Groschen in der Tasche habe, kann ich der Versuchung nicht
  • widerstehn und geh' hinein. Es gibt unter den Beamten solche Schweine,
  • die durchaus nicht ins Theater gehen wollen -- richtige Bauern -- es sei
  • denn, daß man ihnen ein Freibillett schenkt. Da war auch eine Sängerin.
  • Sie sang wunderschön -- sie erinnerte mich an jene .... ach! so 'ne
  • Gemeinheit. Doch still, still ... kein Wort mehr davon.
  • Den 9. November.
  • Um 8 Uhr begab ich mich in die Kanzlei. Der Abteilungschef tat so, als
  • bemerke er mein Eintreten gar nicht. Ich meinerseits tat auch so, als
  • hätten wir nichts miteinander vorgehabt. Ich sah einige Akten durch und
  • verglich sie miteinander. Um 4 Uhr ging ich wieder fort. Ich kam an der
  • Wohnung des Direktors vorbei, aber es war niemand zu sehn. Nach Tisch
  • lag ich meist wieder auf dem Bett.
  • Den 11. November.
  • Heute saß ich im Arbeitszimmer unseres Direktors, schnitt dreiundzwanzig
  • Federn für ihn und für Ihre, oh, oh, oh, und für Ihre Exzellenz vier
  • Federn. Er hat es gern, wenn recht viele Federn auf seinem Tisch bereit
  • liegen. Oh, das muß ein Kopf sein! Er schweigt beständig, aber in diesem
  • Kopf -- glaub' ich -- erwägt er alles. Ich möchte gern wissen, worüber
  • er am meisten nachdenkt, und was er für Pläne schmiedet. Ich möchte das
  • Leben dieser Herrn gern so aus der Nähe beobachten, alle diese
  • Equivoquen und Hofintrigen; wie sie sich bewegen, und was sie in ihrem
  • Kreise tun und treiben: das würde ich gern erfahren! -- Schon häufig
  • hatte ich Lust, mich mit Seiner Exzellenz in ein Gespräch einzulassen,
  • aber weiß der Teufel, die Zunge versagt mir ihren Dienst. Schließlich
  • sagt man nur, daß es draußen kalt oder warm ist, und mehr bringt man bei
  • dem besten Willen nicht heraus. Wie gern würde ich einen Blick ins
  • Gastzimmer werfen, aber die Tür steht nur selten offen; von dem
  • Gastzimmer aus sieht man in ein zweites Zimmer! Gott, was für eine noble
  • Einrichtung! Was für Spiegel! Welch ein Porzellan! Ich würde auch gerne
  • mal in den Teil des Hauses hineinblicken, wo Ihre Exz.... ja, da möchte
  • ich gern einmal rein: in ihrem Boudoir, was stehen da wohl für
  • Fläschchen und Büchsen, was für herrlich duftende Blumen, die man kaum
  • anzuhauchen wagt, da liegt vielleicht auch ihr Kleid, das sie eben
  • abgelegt hat, und das mehr einem Lufthauch als einem Kleidungsstück
  • gleicht. Wie gern würde ich auch einen Blick ins Schlafzimmer werfen.
  • Das muß ein Wunderland ... das muß ein Paradies sein, wie es, glaube
  • ich, selbst im Himmel kein ähnliches gibt. Ich möchte das Bänkchen sehn,
  • auf das sie des Morgens beim Aufstehn ihr Füßchen setzt, ich möchte
  • sehn, wie sie sich die schneeweißen Strümpfe anzieht ... O Gott! o Gott!
  • Doch still! still! Kein Wort mehr! Heute fiel's mir plötzlich wie
  • Schuppen von den Augen: ich erinnerte mich des Gesprächs der beiden
  • Hunde, das ich auf dem Newsky-Prospekt belauscht hatte. »Gut,« dachte
  • ich bei mir, »ich werde jetzt alles erfahren! Ich müßte nur den
  • Briefwechsel dieser beiden elenden Hunde auffangen. Daraus werde ich
  • gewiß so manches erfahren.« Ich muß hier anmerken: einmal habe ich
  • Maggie sogar zu mir herangelockt und ihr gesagt: »Hör' einmal, Maggie,
  • wir sind jetzt allein, wenn du willst, werde ich sogar die Tür
  • schließen, so daß uns niemand sehen kann -- erzähle mir alles, was du
  • von dem Fräulein weißt: was treibt sie und wie ist sie, ich schwöre dir,
  • niemand soll etwas davon erfahren.« Aber das listige Hündchen kniff nur
  • den Schwanz ein, duckte sich ganz zusammen und schlich leise zur Tür
  • hinaus, als hätte es nichts gehört. Ich vermute schon lange, daß die
  • Hunde viel klüger sind als die Menschen; ich bin sogar überzeugt, daß
  • sie sprechen können, nur sind sie sehr eigensinnig. Ein Hund ist ein
  • großer Politiker: er bemerkt alles und beobachtet jeden Schritt, den der
  • Mensch macht. Nein, es mag biegen oder brechen, morgen gehe ich zu
  • Swerkow, frage Fidel aus und nehme, wenn es glückt, alle Briefe, die
  • Maggie ihr geschrieben, an mich.
  • Den 12. November.
  • Um 2 Uhr machte ich mich auf, denn ich wollte Fidel durchaus sehen und
  • aushorchen. Ich kann den Kohlgeruch, der aus allen Krämerläden in der
  • Meschtschanskaja aufsteigt, auf den Tod nicht leiden, dazu dringt noch
  • ein solcher Gestank aus allen Pforten, daß ich mir die Nase zuhielt und
  • mich, so schnell ich nur konnte, aus dem Staub machte. Und dann
  • verpesteten einem die gräßlichen Handwerker noch derartig die Luft mit
  • dem Ruß und dem Rauch, der aus ihren Werkstätten aufsteigt, daß es für
  • einen anständigen Menschen tatsächlich unmöglich ist, hier
  • spazierenzugehen. Als ich zum sechsten Stock emporgestiegen war und die
  • Glocke gezogen hatte, trat ein Mädchen heraus, das nicht übel aussah,
  • und dessen Gesicht mit kleinen Sommersprossen bedeckt war. Ich erkannte
  • sie. Es war dieselbe, die die alte Frau begleitet hatte. Sie errötete
  • ein wenig, und ich begriff sie sogleich. -- Die Kleine sehnte sich nach
  • einem Schatz. »Was wünschen Sie?« fragte sie. »Ich muß mit Ihrem
  • Hündchen sprechen.« Das Mädchen war offenbar sehr dumm! Ich merkte
  • sofort, daß sie dumm war! In diesem Moment kam der Hund bellend
  • herangesprungen: ich wollte ihn fassen, aber das Scheusal hätte mich mit
  • seinen Zähnen beinahe an der Nase gepackt. Plötzlich erblickte ich in
  • der Ecke sein Lager. Ach, das ist ja, was ich brauche! Ich trat näher,
  • wühlte das Stroh im Holzkasten durcheinander und holte zu meiner großen
  • Freude ein kleines Papierbündel hervor. Als das garstige Tier das sah,
  • biß es mich erst in die Wade, dann aber merkte es, daß ich die Papiere
  • eingesteckt hatte, und fing an zu winseln und zu schmeicheln, ich aber
  • sagte: »Nein, mein Schatz, lebe wohl!« und lief davon. Ich glaube, das
  • Mädchen hielt mich für einen Wahnsinnigen, denn sie erschrak furchtbar.
  • Als ich nach Hause kam, wollte ich mich sofort an die Arbeit machen und
  • die Briefe entziffern -- denn bei Licht sehe ich nicht gut. Aber Mawra
  • war gerade dabei, den Fußboden zu waschen. Diese dummen Finnländerinnen
  • sind besonders immer dann reinlich, wenn man es nicht brauchen kann. So
  • ging ich denn hinaus, um einen Spaziergang zu machen und das Geschehene
  • zu überdenken. Endlich werde ich alles erfahren! Alle ihre Pläne und
  • Intrigen, alle geheimen Triebfedern und werde alles ergründen. Diese
  • Briefe werden mir alles enthüllen. Die Hunde sind ein kluges Volk, sie
  • kennen die politischen Verhältnisse, und daher werde ich dort alles
  • Wissenswerte über unsern Chef finden, das Porträt und die Machinationen
  • dieses Mannes. Sicherlich wird auch einiges über _sie_ darin enthalten
  • sein, das ... doch still, kein Wort mehr. Gegen Abend kam ich nach Hause
  • und lag die meiste Zeit über auf dem Bett.
  • Den 13. November.
  • Nun wollen wir mal sehn! Der Brief ist ziemlich leserlich geschrieben.
  • Doch aber liegt etwas Hündisches in der Handschrift. Wir wollen mal
  • sehn:
  • »Liebe Fidel! Ich kann mich noch immer nicht recht an deinen
  • plebejischen Namen gewöhnen. Konnte man dir wirklich keinen besseren
  • geben? Fidel, Rose -- wie vulgär das klingt! Aber lassen wir das
  • jetzt beiseite, es freut mich sehr, daß wir beschlossen haben,
  • einander zu schreiben.«
  • Der Brief ist recht orthographisch geschrieben. Die
  • Interpunktionszeichen sind immer auf ihrem richtigen Platze, und die
  • Buchstaben sind nirgends verwechselt. Ja, ich glaube, daß selbst unser
  • Abteilungschef nicht so korrekt schreiben kann, obgleich er behauptet,
  • daß er die Universität besucht habe. Sehen wir weiter!
  • »Mir scheint, eine der größten Freuden des Lebens ist, seine
  • Gedanken, Gefühle und Eindrücke mit einem Freunde zu teilen.«
  • Hm ... diesen Gedanken hat sie aus einem deutschen Aufsatz, der in
  • russischer Sprache erschienen ist. Ich kann mich nicht auf den Titel
  • besinnen.
  • »Ich spreche aus Erfahrung, obgleich ich nicht weiter in der Welt
  • herumgekommen bin, als bis vor unsere Haustür. Ist mein Leben nicht
  • von Wohlstand umgeben? Mein Fräulein, das der Papa Sophie nennt,
  • liebt mich grenzenlos.«
  • O Gott, o Gott! Doch still, still! Kein Wort mehr!
  • »Papa liebkost mich auch häufig. Ich trinke Tee und Kaffee mit
  • Sahne. Ach, _ma chère_, ich muß Dir sagen, daß ich gar keine Freude
  • an großen abgenagten Knochen habe, wie sie unser Polkan in der Küche
  • zu fressen kriegt. Nur Wildpretknochen schmecken gut, und auch die
  • nur, wenn das Mark noch darin ist. Es schmeckt auch sehr gut, wenn
  • man mehrere verschiedene Saucen durcheinandermischt, nur dürfen
  • keine Kapern und keine Gemüse darin sein; aber ich kenne nichts
  • Schlimmeres, als die Gewohnheit, Hunden Brotkügelchen vorzusetzen.
  • Da fängt irgendein Herr, der bei Tisch sitzt, und der schon
  • allerhand Schund in seinen Händen gehalten hat, plötzlich an, mit
  • diesen selben Händen Brot zu kneten, ruft Dich herbei und steckt Dir
  • so eine Brotkugel zwischen die Zähne. Refüsieren darf man nicht --
  • so frißt man es denn, obwohl es einen ekelt, aber man frißt es
  • doch!«
  • Weiß der Teufel, was das ist! So ein Blödsinn! Als ob es kein besseres
  • Thema gäbe, über das man schreiben könnte. Wir wollen mal sehn, ob wir
  • auf der anderen Seite nichts Vernünftigeres finden.
  • ».... Ich bin gern bereit, Dich von allen Ereignissen zu
  • unterrichten, die sich bei uns abspielen. Ich habe Dir schon einiges
  • von der Hauptperson erzählt, die Sophie Papa nennt. Das ist ein sehr
  • merkwürdiger Mensch ...«
  • Endlich! Ich wußte es ja, sie haben einen politischen Blick für alle
  • Dinge. Laß uns 'n mal sehn -- was der Papa tut:
  • »... merkwürdiger Mensch. Er schweigt fast immer und spricht nur
  • selten; aber vor einer Woche sprach er in einem fort vor sich hin:
  • >Werde ich ihn bekommen oder werde ich ihn nicht bekommen?< Einmal
  • wandte er sich sogar mit der Frage an mich: >Wie denkst du, Maggie,
  • werde ich ihn bekommen, oder werde ich ihn nicht bekommen?< Ich
  • konnte rein gar nichts verstehen, beschnüffelte seine Stiefel und
  • schlich mich fort. Dann aber -- es ist jetzt eine Woche -- erschien
  • Papa plötzlich hocherfreut, _ma chère_. Den ganzen Morgen lang
  • gingen bei ihm uniformierte Herren ein und aus, die ihm alle zu
  • etwas gratulierten. Bei Tisch war er so vergnügt, wie ich ihn nie
  • zuvor gesehn, und er erzählte in einem fort Anekdoten.
  • Nach dem Essen hob er mich zu sich empor, deutete auf seinen Hals
  • und sagte: >Sieh mal, Maggie, was ist das?< Ich sah ein kleines
  • Bändchen auf seiner Brust, roch daran, fand aber gar nicht, daß es
  • gut duftete, schließlich leckte ich noch einmal daran: es schmeckte
  • etwas salzig.«
  • Hm, dieses Hündchen erlaubt sich, wie mir scheint, ein bißchen viel. Es
  • soll sich in acht nehmen, daß es keine Prügel kriegt! ... So, er ist
  • also ehrgeizig, das muß man sich merken!
  • »Leb' wohl, _ma chère_. Ich eile usw., usw. Morgen will ich meinen
  • Brief beenden.« --
  • »Guten Tag, jetzt bin ich wieder bei Dir. Heute war mein Fräulein
  • Sophie ...«
  • Ah, nun wollen wir mal sehn, was mit Sophie los ist! Ach, so 'ne
  • Gemeinheit ... Doch still, still! ... fahren wir fort.
  • »..... mein Fräulein Sophie in großer Aufregung. Sie rüstete sich zu
  • einem Ball, und ich war sehr erfreut, daß ich Dir in ihrer
  • Abwesenheit schreiben konnte. Meine Sophie ist immer sehr froh, wenn
  • sie einen Ball besuchen kann, obgleich sie sich beim Ankleiden fast
  • immer ärgert. Wozu sich die Menschen eigentlich anziehn und warum
  • laufen sie nicht so herum wie wir zum Beispiel? Es ist doch viel
  • bequemer und angenehmer. Ich kann auch nicht verstehen, was das für
  • ein Vergnügen ist, einen Ball zu besuchen. Sophie kommt von den
  • Bällen stets erst gegen 6 Uhr morgens nach Hause, und ich glaube
  • immer aus ihrem bleichen, elenden Aussehen zu erkennen, daß die
  • Ärmste nicht genug zu essen bekommen hat. Ich muß gestehn, ich
  • könnte nicht so leben. Wenn ich keine Sauce mit Rebhuhn und keine
  • gebratenen Hühnerflügel bekäme, so wüßte ich nicht, was mit mir
  • geschähe. Auch Sauce mit Brei schmeckt sehr gut. Dagegen Karotten,
  • Rüben oder Artischocken, die schmecken nie gut.«
  • Ein sehr ungleichmäßiger Stil. Man sieht doch gleich, daß dies kein
  • Mensch geschrieben hat. Er fängt an, wie es sich gehört, und schließt
  • wie ein Hund. Ich will mir doch noch einen weiteren Brief ansehen. Er
  • ist zwar ein bißchen lang, und auch das Datum fehlt.
  • »Ach, meine Liebe, wie fühlbar macht sich doch das Herannahen des
  • Frühlings! Mein Herz klopft, als erwarte es etwas! In meinen Ohren
  • klingt es unaufhörlich, so daß ich häufig minutenlang mit erhobenem
  • Bein lauschend an der Tür stehe! Ich will Dir gestehn, daß ich viele
  • Verehrer habe. Häufig betrachte ich sie, während ich gemächlich am
  • Fenster sitze. Ach, wenn Du wüßtest, was es für Mißgeburten unter
  • ihnen gibt! Der eine, ein plumper Köter, ist furchtbar dumm, die
  • Borniertheit spricht ihm aus dem Gesicht, er stolziert wichtig auf
  • der Straße einher und bildet sich ein, eine höchst bedeutende
  • Persönlichkeit zu sein; er denkt wohl, daß sich alle so ohne
  • weiteres in ihn verlieben werden. Aber keine Spur davon. Ich habe
  • ihn gar nicht beachtet und tat so, als hätte ich ihn nie gesehn. Und
  • was für eine fürchterliche Dogge da zuweilen vor meinem Fenster
  • stehnbleibt! Wenn sie sich auf die Hinterbeine stellte, was das
  • plumpe Tier sicherlich gar nicht kann, würde sie Sophies Papa, der
  • doch auch ziemlich groß und dick ist, um Kopfeslänge überragen.
  • Dieser Affe ist sicherlich ein schrecklicher Frechling. Ich knurrte
  • ihn an, aber er kümmerte sich absolut nicht drum und verzog keine
  • Miene, streckte nur seine Zunge heraus, wackelte mit seinen
  • mächtigen Ohren und schaute in mein Fenster hinein! -- solch ein
  • Bauer! Aber glaubst Du wirklich, _ma chère_, daß mein Herz
  • unempfindlich ist für all dies Werben?! Ach, nein ..... Wenn Du nur
  • den einen Kavalier gesehen hättest, der mitunter über den Zaun
  • unseres Nachbars klettert -- er heißt Tresor -- oh, _ma chère_ --
  • was der für ein Schnäuzchen hat!! ....«
  • Pfui Teufel! .... Was für ein Blödsinn! .... Wie kann man nur ganze
  • Seiten mit solchen Dummheiten anfüllen. Einen Menschen! Ich will einen
  • Menschen sehn; mich verlangt nach geistiger Nahrung, die meine Seele
  • speist und labt: und statt dessen diese Dummheiten ..... Doch ich will
  • eine Seite überschlagen, vielleicht wird's besser!
  • »... Sophie saß am Tisch und nähte etwas. Ich blickte zum Fenster
  • hinaus, weil ich mir gern die Spaziergänger anschaue, als plötzlich
  • der Diener hereintrat und Herrn Teplow meldete. >Ich lasse bitten!<
  • rief Sophie und umarmte mich stürmisch. >Ach, Maggie, Maggie! wenn
  • Du wüßtest, wer das ist: ein brünetter Kammerjunker! und Augen hat
  • er! schwarz und klar wie Achat!< und Sophie lief in ihr Zimmer.
  • Einen Augenblick später trat ein junger Kammerjunker mit einem
  • schwarzen Backenbart herein; er näherte sich dem Spiegel, ordnete
  • sein Haar und sah sich im Zimmer um. Ich knurrte und ging auf meinen
  • Platz zurück. Sophie kam bald zurück und beantwortete seinen
  • Kratzfuß mit einem fröhlichen Knicks; ich tat, als bemerke ich
  • nichts und schaute ruhig aus dem Fenster, beugte aber meinen Kopf
  • etwas zur Seite und versuchte zu hören, was sie sprachen. Ach, _ma
  • chère_, was das für Banalitäten waren! Sie redeten davon, wie eine
  • Dame beim Tanz anstatt des einen Pas einen anderen gemacht hätte,
  • ferner, daß ein gewisser Robow mit seinem Jabot einem Storche
  • außerordentlich ähnlich gesehen hätte und beinahe auf dem Parkett
  • ausgeglitten und gefallen wäre. Schließlich erzählten sie noch, daß
  • eine gewisse Lidina sich einbilde, sie habe blaue Augen, während sie
  • in Wirklichkeit grün seien usw. Ich dachte mir, wie kann man nur
  • diesen Kammerjunker mit Tresor vergleichen! Himmel! welch ein
  • Unterschied! Erstens hat der Kammerjunker ein vollkommen glattes
  • Gesicht, das von einem Backenbart eingerahmt ist, was so aussieht,
  • als ob er sich ein schwarzes Tuch um den Kopf gebunden hat. Wie
  • anders Tresor! Er hat ein ganz feines Schnäuzchen und mitten auf der
  • Stirn einen kleinen weißen Fleck. Auch Tresors Taille ist
  • unvergleichlich, viel schöner als die des Kammerjunkers. Auch seine
  • Augen, seine Manieren und seine Bewegungen sind ganz anders. Welch
  • ein Unterschied! Ich verstehe nicht, meine Liebe, was sie an ihrem
  • Teplow gefunden hat, und warum sie so entzückt von ihm ist?! ...«
  • Mir scheint auch, hier muß etwas nicht richtig sein. Es ist unmöglich,
  • daß dieser Teplow sie so bezaubert hat. Ich will mal weiter sehn:
  • »Mir scheint, wenn ihr schon dieser Kammerjunker so gefällt, wird
  • sie bald auch an jenem Beamten Gefallen finden, der in Papas Zimmer
  • sitzt. Ach, _ma chère_, wenn Du wüßtest, was das für ein Scheusal
  • ist. Die reine Schildkröte, die man in einen Sack gesteckt hat ...«
  • Was kann das wohl für ein Beamter sein?
  • »Sein Familienname ist höchst seltsam. Er sitzt immer da und
  • schneidet Federn. Die Haare auf seinem Kopf erinnern stark an einen
  • Büschel Heu. Papa benutzt ihn mitunter statt des Dieners zu
  • Botendiensten ...«
  • Mir scheint, dieses garstige Hündchen spielt auf mich an! Habe ich denn
  • Haare wie ein Heubüschel!
  • »Sophie kann sich nur mit Mühe des Lachens enthalten, wenn sie ihn
  • ansieht.«
  • Du lügst, verfluchter Hund! Welche boshafte Zunge! Als ob ich nicht
  • wüßte, daß dies alles vom Neid eingegeben ist, als ob ich nicht weiß,
  • wer hier dahintersteckt. Das ist doch eine Intrige des Abteilungschefs!
  • Dieser Mensch hat mir doch ewigen Haß geschworen -- nun schadet er mir
  • bei jedem Schritt, den ich tue. Übrigens will ich mir noch einen Brief
  • ansehn. Vielleicht klärt sich dann die Sache von selbst auf.
  • »_Ma chère_ Fidel, verzeih', daß ich so lange nicht geschrieben
  • habe. Ich war in einem Wonnerausch! Der Dichter hat wirklich recht,
  • der gesagt hat, daß die Liebe das zweite Leben ist. Außerdem gehen
  • große Veränderungen in unserem Hause vor. Der Kammerjunker besucht
  • uns jetzt täglich. Sophie ist wahnsinnig in ihn verliebt. Papa ist
  • sehr vergnügt. Ich habe sogar von unserem Grigorij gehört, -- der
  • bei uns den Fußboden fegt und immer Selbstgespräche führt -- daß die
  • Hochzeit bald stattfinden wird, denn Papa will durchaus, daß Sophie
  • einen General oder einen Kammerjunker oder einen Militäroberst
  • heiratet ...«
  • Hol's der Teufel! ich kann nicht mehr lesen ... Immer irgendein
  • Kammerjunker oder General. Alles Schöne, was es auf der Welt gibt --
  • fällt immer den Kammerjunkern oder Generälen zu. Du findest irgendein
  • elendes Ding, das dich glücklich machen könnte, und willst schon mit der
  • Hand darnach greifen, da wird es dir von einem Kammerjunker oder einem
  • General entrissen. Hol's der Teufel! ... Ich wünschte, ich würde selbst
  • General; nicht um ihre Hand zu gewinnen usw. -- nein, ich wünschte nur
  • deshalb, ich wäre General, um zu sehn, wie sie vor mir scharwenzeln und
  • alle diese höfischen Verbeugungen und Equivoquen machen würden, und um
  • ihnen dann sagen zu können, daß ich auf sie beide speie. Hol's der
  • Teufel -- es ist aber doch ärgerlich! Ich habe die Briefe dieses dummen
  • Hündchens in Stücke gerissen.
  • Den 3. Dezember.
  • Es kann nicht sein. Das sind Lügengespinste, die Hochzeit wird niemals
  • stattfinden! Was liegt denn daran, wenn er auch Kammerjunker ist! Das
  • ist doch nichts weiter als ein Titel und kein sichtbarer Gegenstand, den
  • man in die Hand nehmen könnte. Weil er Kammerjunker ist, bekommt er doch
  • kein drittes Auge auf der Stirn. Seine Nase ist doch auch nicht von
  • Gold, sondern aus demselben Stoff wie die meine und die anderer
  • Menschen! Er riecht doch und ißt nicht etwa mit ihr, und er niest und
  • hustet nicht mit ihr. Ich wollte schon immer ergründen, woher diese
  • Unterschiede stammen. Warum bin ich z. B. Titularrat und _wozu_ bin ich
  • Titularrat? Vielleicht bin ich gar nicht Titularrat! Vielleicht bin ich
  • ein Graf oder ein General und scheine nur Titularrat zu sein. Vielleicht
  • weiß ich noch selbst nicht, wer ich bin. Es gibt doch in der Geschichte
  • genug Beispiele dafür: irgendein ganz gewöhnlicher Mensch, der nicht
  • einmal Edelmann, sondern ein simpler Bürger oder Bauer ist -- entpuppt
  • sich plötzlich als hoher Würdenträger, Baron oder ... na, wie sagt man
  • doch gleich? Wenn also schon ein Bauer so emporsteigen kann, was kann
  • dann nicht erst aus einem Edelmann werden? Wie wär's z. B., wenn ich
  • plötzlich in Generalsuniform erschiene: auf der rechten Schulter eine
  • Epaulette und auf der linken Schulter eine Epaulette, und ein blaues
  • Band über der Achsel -- was wohl meine Schöne da für Augen machen würde?
  • Und was würde wohl erst unser Papa, unser Direktor dazu sagen? Oh -- er
  • ist ein großer Streber! Er ist ein Freimaurer, unbedingt ein Freimaurer;
  • wenn er sich auch verstellt, als sei er dieses und jenes, ich habe es
  • doch gleich bemerkt, daß er Freimaurer ist. Wenn er einem die Hand
  • reicht, streckt er einem nur zwei Finger entgegen. Ja -- warum sollte
  • ich denn nicht jeden Augenblick zum Generalgouverneur, zum Intendanten
  • oder zu so etwas Ähnlichem ernannt werden! Ich möchte wirklich gern
  • wissen, warum gerade ich Titularrat bin? Warum gerade Titularrat?
  • Den 5. Dezember.
  • Heute habe ich den ganzen Tag über Zeitungen gelesen. Was für
  • merkwürdige Dinge doch in Spanien vorgehen! Es war mir nicht einmal
  • leicht, zu verstehen, was da vorgeht! Man schreibt, daß der Thron
  • erledigt sei, und daß sich die Stände wegen der Wahl des Nachfolgers in
  • einer sehr schwierigen Lage befinden, und daß deswegen sogar Unruhen
  • ausgebrochen seien! Das scheint mit doch sehr sonderbar! Wie ist es nur
  • möglich, daß ein Thron erledigt wird! Man sagt: eine Donna solle den
  • Thron besteigen. Aber eine Donna kann doch keinen Thron besteigen. Das
  • geht doch nicht! Auf dem Throne muß doch ein König sitzen. Ja aber,
  • wendet man ein, es ist doch kein König da! Das kann aber doch nicht
  • sein, daß kein König da ist! Ein Land kann nicht ohne König existieren.
  • Ein König ist sicherlich da, aber er hält sich irgendwo verborgen. Es
  • ist sehr möglich, daß er im Lande weilt, aber irgendwelche
  • Familienverhältnisse oder Befürchtungen seitens der benachbarten Mächte,
  • wie Frankreich und anderer, veranlassen ihn, sich zu verbergen -- oder
  • gibt es vielleicht noch andere Gründe?
  • Den 8. Dezember.
  • Ich war schon im Begriff, in die Kanzlei zu gehn, aber verschiedene
  • Gründe und Bedenken hielten mich zurück. Die spanischen Angelegenheiten
  • wollen mir nicht aus dem Kopf. Wie ist es nur möglich, daß eine Donna
  • König wird. Das wird man gar nicht zulassen! England wird zuerst dagegen
  • Einspruch erheben! Auch die politische Lage Europas, der Kaiser von
  • Österreich und unser Kaiser ... Ich muß sagen, diese Ereignisse haben
  • mich dermaßen erschüttert und niedergeschmettert, daß ich den ganzen Tag
  • zu nichts fähig war. Mawra machte mir gegenüber die Bemerkung, daß ich
  • beim Essen sehr zerstreut gewesen sei. Sie hat ganz recht: ich habe in
  • meiner Zerstreutheit sogar zwei Teller fallen lassen, daß sie
  • zerbrachen. Nach Tisch ging ich spazieren, aber ich konnte nichts
  • Interessantes entdecken. Ich lag meistens auf dem Bett und dachte über
  • die spanischen Angelegenheiten nach.
  • Im Jahre 2000, den 43. April.
  • Der heutige Tag ist ein großer Jubeltag! Spanien hat wieder einen König!
  • Er ist gefunden! Dieser König bin ich! Erst heute habe ich es erfahren.
  • Ich muß gestehn, es erleuchtete mich wie ein Blitzstrahl. Ich begreife
  • nicht, wie ich denken, wie ich mir einbilden konnte, ich sei ein
  • Titularrat! Wie konnte sich dieser wahnsinnige, dieser aberwitzige
  • Gedanke in meinem Hirn festsetzen! Nur gut, daß es damals niemand
  • eingefallen ist, mich ins Narrenhaus zu sperren. Jetzt ist mir alles
  • klar. Es liegt alles vor mir wie auf der flachen Hand. Früher dagegen --
  • ich versteh' es nicht -- früher lag alles wie im Nebel vor mir. Ich
  • denke, dies alles kommt daher, weil die Menschen glauben, daß das Gehirn
  • des Menschen sich im Kopf befinde; dies ist gar nicht der Fall; in
  • Wirklichkeit trägt es der Wind vom Kaspischen Meer her. Zuerst eröffnete
  • ich Mawra, wer ich bin. Als sie vernahm, daß der spanische König vor ihr
  • steht, schlug sie die Hände über dem Kopfe zusammen und starb fast vor
  • Schreck. Die Dumme, sie hat noch nie einen spanischen König gesehn. Ich
  • versuchte, sie zu beruhigen und ihr mit gnädigen Worten mein Wohlwollen
  • auszudrücken, indem ich ihr erklärte, ich sei gar nicht böse auf sie,
  • weil sie mir mitunter meine Stiefel so schlecht geputzt habe. Das sind
  • doch einfache Leute. Mit ihnen kann man doch nicht über höhere Dinge
  • reden. Sie war darum so erschrocken, weil sie in dem Glauben lebt, daß
  • alle spanischen Könige Philipp II. ähnlich seien. Aber ich setzte ihr
  • auseinander, daß Philipp und ich nichts Gemeinsames miteinander hätten,
  • und daß ich keine Kapuziner bei mir habe. Ich ging heute nicht ins
  • Departement. Hol' es der Teufel! Nein, meine Herren, jetzt kriegt ihr
  • mich nicht mehr dahinein; ich denke nicht mehr daran, eure garstigen
  • Papiere abzuschreiben!
  • Den 86. Oktember zwischen Tag und Nacht.
  • Heute erschien unser Exekutor, um mich aufzufordern, in die Kanzlei zu
  • kommen; es ist schon bald drei Wochen, daß ich nicht in der Kanzlei war.
  • Aber die Menschen sind ungerecht. Sie rechnen mit Wochen. Das haben die
  • Juden eingeführt, weil sich ihr Rabbiner um diese Zeit wäscht! ... Ich
  • ging aber zum Spaß ins Bureau. Der Abteilungschef dachte, ich würde ihn
  • begrüßen und würde mich entschuldigen, aber ich sah ihn nur gleichgültig
  • an, nicht zu böse, aber auch nicht zu freundlich, und ließ mich auf
  • meinem Platz nieder, als bemerke ich niemand. Ich sah mir die ganze
  • Kanzleisippe an und dachte bei mir: wie, wenn ihr wüßtet, wer mitten
  • unter euch sitzt ... Gerechter Gott, was hätte sich da für ein Tumult
  • erhoben! Ja, selbst der Abteilungschef würde sich dann so tief vor mir
  • verbeugen, wie er es jetzt vor dem Direktor tut. Man legte ein paar
  • Akten vor mich hin; ich sollte einen Exzerpt daraus machen. Doch ich
  • rührte keinen Finger. Ein paar Augenblicke später entstand eine
  • allgemeine Unruhe. Man rief: der Direktor kommt. Mehrere Beamten
  • stürmten um die Wette hinaus, um sich ihm bemerkbar zu machen. Ich aber
  • rührte mich nicht vom Flecke. Als er durch unsere Abteilung
  • hindurchging, knöpften alle ihre Fräcke zu; aber ich tat nichts
  • dergleichen. Was ist denn ein Direktor? Sollte ich etwa vor dem
  • aufstehen? -- niemals! Was ist er auch für ein Direktor! Ein Stöpsel ist
  • er, aber kein Direktor. Ein ganz gewöhnlicher Stöpsel -- ein simpler
  • Stöpsel, und weiter nichts -- so einer, mit dem man Flaschen zukorkt. Am
  • meisten Spaß machte es mir, als man mir ein Papier zur Unterschrift
  • vorlegte. Sie glaubten sicherlich, ich würde ganz unten in einem Eckchen
  • eine Unterschrift hinsetzen -- Tischvorsteher Soundso -- fiel mir ja gar
  • nicht ein! Statt dessen signierte ich in der Mitte des Blattes, wo
  • gewöhnlich der Namenszug des Departementdirektors prangt, mit kräftigen
  • Zügen: »Ferdinand VIII.« Man hätte sehen müssen, was für ein
  • ehrfürchtiges Schweigen entstand! Aber ich winkte nur mit der Hand und
  • sagte: »Ich bedarf keiner Zeichen der Untertänigkeit« und ging hinaus.
  • Von dort ging ich sofort in die Wohnung des Direktors. Er war nicht zu
  • Hause. Der Bediente wollte mich nicht einlassen, aber ich herrschte ihn
  • derartig an, daß er die Hände sinken ließ. Von dort schritt ich geradaus
  • in ihr Ankleidezimmer. Sie saß vor dem Spiegel, sprang auf und tat einen
  • Schritt zurück. Ich sagte ihr aber nicht, daß ich der König von Spanien
  • bin. Ich sagte ihr nur, daß ihr ein so großes Glück bevorstehe, wie sie
  • es sich wohl nicht träumen lasse, und daß wir trotz aller Intrigen
  • unserer Feinde vereinigt bleiben würden. Mehr wollte ich auch nicht
  • sagen und daher ging ich hinaus. Oh! welch ein heimtückisches Geschöpf
  • ist doch das Weib! Erst jetzt habe ich begriffen, was das Weib ist!
  • Bisher wußte noch niemand, in wen sie verliebt ist: ich bin der erste,
  • der es entdeckt hat. Das Weib ist in den Teufel verliebt. Jawohl, ich
  • scherze nicht. Die Physiker reden lauter Dummheiten, wenn sie sagen, sie
  • sei dies und jenes. Sie liebt nur den Teufel. Schaun Sie nur hin: da
  • sitzt sie in einer Loge im ersten Rang und hält sich die Lorgnette vor
  • die Augen. Sie glauben, sie betrachtet jenen dicken Herrn mit dem Stern.
  • Keineswegs! sie schaut nach dem Teufel, der hinter seinem Rücken steht.
  • So -- jetzt hat er sich in seinen Frack verkrochen und winkt ihr von
  • dort aus mit dem Finger. Sie wird ihn sicherlich heiraten -- ganz
  • sicher. Und all diese Beamten und hohen Herren, ihre Väter, die überall
  • herumscharwenzeln, sich an den Hof drängen und laut erklären, sie seien
  • Patrioten und dies und jenes: sie wollen eine Leibrente haben, diese
  • Herren Patrioten! Ihre Mutter, ihren Vater, ja selbst ihren Gott werden
  • sie verkaufen, diese Judasse und Streber! Das macht alles der Ehrgeiz,
  • und dieser Ehrgeiz kommt nämlich daher, weil sich unter der Zunge ein
  • kleines Bläschen befindet; in ihm sitzt ein kleines Würmchen, so groß
  • wie ein Stecknadelkopf, und das alles rührt von einem Bader her, der in
  • der Erbsenstraße wohnt. Sein Name ist mir entfallen; aber es steht
  • völlig fest, daß er gemeinsam mit einer Hebamme in der ganzen Welt den
  • Islam verbreiten will, und daher soll in Frankreich, wie man sagt, schon
  • ein großer Teil der Bevölkerung den mohammedanischen Glauben bekennen.
  • Kein Datum, der Tag hatte kein Datum.
  • Ich ging inkognito auf dem Newsky spazieren, da kam der Kaiser
  • vorbeigefahren. Alles zog den Hut und ich auch; ich ließ mir's jedoch
  • nicht merken, daß ich der König von Spanien bin. Ich hielt es nicht für
  • angemessen, mich hier, vor dem Publikum, zu erkennen zu geben; vor allem
  • muß ich mich bei Hofe vorstellen. Ich habe damit gezögert, weil ich bis
  • jetzt noch kein spanisches Nationalkostüm habe. Ich müßte mir wenigstens
  • einen spanischen Mantel verschaffen. Ich wollte mir schon beim Schneider
  • einen bestellen -- aber diese Kerls sind ja die reinen Esel, und dazu
  • kommt noch, daß sie sich gar nicht für ihre Arbeit interessieren, sie
  • wollen nur Geschäfte machen, ihre Haupttätigkeit ist, die Straßen zu
  • pflastern. Ich habe beschlossen, mir den Mantel aus meinem neuen
  • Uniformrock, den ich erst zweimal getragen habe, machen zu lassen. Aber
  • damit ihn mir diese Lumpen nicht ruinieren, habe ich mich dahin
  • entschieden, ihn mir selbst zu nähen, und zwar hinter verschlossenen
  • Türen, damit es niemand sieht. Ich habe ihn ganz aufgetrennt und mit
  • einer Schere zerschnitten -- weil der Schnitt ja ganz anders sein muß.
  • Des Datums erinnere ich mich nicht,
  • der Monat war auch ausgeblieben,
  • weiß der Teufel, was da los war.
  • Der Mantel ist vollständig fertig. Mawra schrie auf, als ich ihn
  • umlegte. Dennoch kann ich mich noch nicht entschließen, mich bei Hofe
  • vorzustellen. Bis jetzt ist die Deputation aus Spanien noch nicht
  • angekommen. Ohne Deputation aber geht es wohl nicht. Auch würde mein
  • hoher Rang so nicht zur Geltung kommen. Ich erwarte die Deputation von
  • Stunde zu Stunde.
  • Den Ersten.
  • Ich bin ob der Saumseligkeit der Deputierten aufs höchste erstaunt! Was
  • für Gründe mögen sie aufgehalten haben! Doch nicht am Ende Frankreich?
  • Ja, das ist die unfreundlichste unter allen Mächten. Ich ging auf die
  • Post und fragte, ob die spanischen Deputierten noch nicht eingetroffen
  • wären; aber der Postmeister ist furchtbar dumm -- er weiß von nichts:
  • »Nein,« sagt er, »hier sind keine spanischen Deputierten; wenn Sie aber
  • einen Brief absenden wollen, so werden wir ihn gern zu der festgesetzten
  • Taxe befördern.« Hol' ihn der Teufel! Was soll ich mit einem Brief! Ein
  • Brief! So ein Unsinn -- Briefe schreiben nur Apotheker ..... Und auch
  • das nur, nachdem sie ihre Zunge in Essig getunkt haben. Denn ohne dies
  • wäre ihr ganzes Gesicht mit Flechten bedeckt.
  • _Madrid_, den 30. Februarius.
  • Da bin ich nun in Spanien! es ging so schnell, daß ich gar keine Zeit
  • hatte, zu mir zu kommen. Heute früh erschienen die spanischen
  • Deputierten bei mir, und wir stiegen alle zusammen in den Wagen. Ich
  • wunderte mich sehr über die ungewöhnliche Geschwindigkeit. Wir fuhren so
  • schnell, daß wir schon in einer halben Stunde die spanische Grenze
  • erreicht hatten. Übrigens gibt es jetzt in ganz Europa Eisenschienen,
  • und die Dampfer fahren sehr schnell. Spanien ist doch ein sonderbares
  • Land. Als ich das erste Zimmer betrat, erblickte ich eine Menge
  • Menschen, die alle rasierte Köpfe hatten. Ich erriet sofort, daß das
  • Granden oder Soldaten waren, denn die pflegen dort ihre Köpfe zu
  • rasieren. Das Benehmen des Reichskanzlers, der mich an der Hand führte,
  • erschien mir jedoch sehr merkwürdig: er stieß mich in eine kleine Stube
  • und sagte: »Bleib hier sitzen und wenn du noch einmal Lust verspüren
  • solltest, dich König Ferdinand zu nennen, werde ich dir diese Späße
  • schon ausprügeln.« Aber da ich wußte, daß er mich nur auf die Probe
  • stellen wollte, gab ich eine verneinende Antwort, worauf mich der
  • Kanzler zweimal auf den Rücken schlug, daß ich vor Schmerz beinah laut
  • aufgeschrien hätte, aber ich nahm mich zusammen, da ich mich erinnerte,
  • daß dies der Ritterschlag war, den man bei der Übernahme einer hohen
  • Würde erhält -- in Spanien haben sich nämlich die alten Rittersitten
  • noch erhalten. Als ich allein geblieben war, beschloß ich, an die
  • Staatsgeschäfte zu gehen. Ich entdeckte, daß China und Spanien ein und
  • dasselbe Land sind und nur aus Unwissenheit für zwei verschiedene
  • Staaten gehalten werden. Ich rate daher jedem, Spanien auf ein Blatt
  • Papier zu schreiben, wenn er China lesen will. Allein, das Ereignis, das
  • morgen stattfinden soll, erfüllt mich mit Sorge. Morgen um 7 Uhr wird
  • sich etwas Außerordentliches begeben: die Erde wird sich auf den Mond
  • setzen. Auch der berühmte englische Chemiker Wellington schreibt
  • hierüber. Ich muß gestehn, beim Gedanken an die außerordentliche
  • Zartheit und Zerbrechlichkeit des Mondes fühlte ich eine große Unruhe in
  • meinem Herzen. Der Mond wird doch gewöhnlich in Hamburg gemacht, und man
  • muß sagen, er wird sehr schlecht gemacht. Ich wundre mich, daß sich
  • England nicht darum kümmert. Er wird von einem lahmen Böttcher
  • hergestellt, und man merkt gleich, daß der Kerl keine Ahnung vom Monde
  • hat. Er benutzt dabei ein geteertes Seil und etwas Baumöl; daher auch
  • dieser schreckliche Gestank, der sich überall auf der Erde verbreitet,
  • daß man sich die Nase zuhalten möchte. Daher ist der Mond auch eine so
  • zarte Kugel, daß keine Menschen auf ihm leben können und daß er nur noch
  • von Nasen bewohnt wird. Darum können wir ja auch unsere Nasen nicht
  • sehen, denn sie sind alle auf dem Monde. Als ich mir vorstellte, daß die
  • Erde, diese schwere Masse, sich auf den Mond setzen und all unsere Nasen
  • zu Mehl zermahlen könnte, ergriff mich solch eine Unruhe, daß ich
  • schnell Schuhe und Strümpfe anzog und in den Saal des Reichsrats lief,
  • um der Polizei Order zu geben, sie solle die Erde daran hindern, sich
  • auf den Mond zu setzen. Die rasierten Granden, die ich in großer Zahl im
  • Saale des Reichsrats versammelt fand, sind eine sehr intelligente
  • Gesellschaft; als ich sagte: »Meine Herren! wir müssen den Mond retten,
  • die Erde will sich auf ihn setzen!« da erhoben sich alle und stürzten
  • alle fort, um meinen königlichen Willen auszuführen, ja, viele
  • kletterten auf die Wand, um den Mond zu holen; aber in diesem Augenblick
  • trat der große Kanzler herein. Als sie ihn erblickten liefen alle davon.
  • Ich, der König, blieb allein da. Aber zu meinem größten Erstaunen schlug
  • mich der Kanzler mit seinem Stock über den Rücken und trieb mich in mein
  • Zimmer. So groß ist die Macht der spanischen Volkssitten.
  • Im Januar desselben Jahres,
  • der auf den Februar folgte.
  • Ich kann noch immer nicht verstehn, was Spanien für ein merkwürdiges
  • Land ist. Die Volkssitten und die Hofetikette sind hier ganz
  • ungewöhnlich. Ich verstehe sie nicht, nein wirklich -- ich verstehe
  • nichts mehr! Heute hat man mir den Kopf geschoren, obgleich ich aus
  • Leibeskräften schrie und rief, ich wolle kein Mönch werden. Aber was
  • dann mit mir geschah, als sie mir kaltes Wasser auf den Kopf tropfen
  • ließen, das weiß ich nicht mehr. Solch eine Höllenpein habe ich noch nie
  • gefühlt. Ich wäre fast rasend geworden, so daß sie mich nur mit Mühe
  • bändigen konnten. Ich kann den Sinn dieser sonderbaren Sitte gar nicht
  • verstehen. Das ist eine ganz dumme und sinnlose Sitte. Die Unvernunft
  • der Könige, die diese Sitte noch immer nicht abgeschafft haben, ist mir
  • unbegreiflich. Aller Wahrscheinlichkeit nach bin ich in die Hände der
  • Inquisition gefallen, und ich fange an zu glauben, daß der, den ich für
  • den Kanzler hielt, der Großinquisitor in eigener Person ist. Aber ich
  • kann's nicht begreifen, daß der König der Inquisition verfallen konnte.
  • Es ist zwar möglich, daß Frankreich, und besonders Polignac dahinter
  • steckt. Oh, dieser Hund, dieser Polignac! Er hat geschworen, mir bis zu
  • meinem Tode zu schaden. Und nun hetzt und hetzt er mich; aber ich weiß
  • wohl, Freundchen, du wirst von England aufgereizt. Die Engländer sind
  • große Politiker. Sie machen immer Kniffe und Winkelzüge. Das ist doch
  • weltbekannt, wenn England eine Prise nimmt -- muß Frankreich niesen.
  • Den 25.
  • Heute kam der Großinquisitor wieder in mein Zimmer; aber als ich ihn aus
  • der Ferne herankommen hörte, verkroch ich mich unter einen Stuhl. Wie er
  • nun das Zimmer leer fand, fing er an zu schreien. Erst rief er:
  • »Poprischtschin!« Ich gab keinen Laut von mir; hierauf rief er:
  • »Aksentij Iwanow! Herr Titularrat und Edelmann!« Ich schwieg noch immer.
  • »Ferdinand VIII., König von Spanien!« Ich wollte meinen Kopf vorstecken,
  • dachte mir aber: »Nein, mein Lieber, du betrügst mich nicht, ich kenne
  • dich jetzt, du wirst mir wieder kaltes Wasser auf den Kopf gießen.«
  • Allein er erblickte mich und jagte mich mit dem Stock unter dem Stuhl
  • hervor. Dieser verfluchte Stock tut doch verdammt weh! Übrigens hat mich
  • eine Entdeckung, die ich heute gemacht habe, für alles entschädigt: ich
  • habe nämlich bemerkt, daß es bei jedem Hahn ein Spanien gibt: es
  • befindet sich unter den Federn, und zwar in der Nähe der Schwanzfedern.
  • Der Großinquisitor verließ mich übrigens in sehr übler Laune und drohte
  • mir irgendeine Strafe an. Aber ich achte nicht auf seinen ohnmächtigen
  • Zorn, da ich weiß, daß er doch nur eine Maschine und zwar ein Instrument
  • in Händen Englands ist.
  • D-34-en sten. Mon. des Jah. im Februar 349.
  • Nein, ich kann's nicht länger ertragen! Mein Gott, was fangen sie mit
  • mir an! Sie gießen mir kaltes Wasser auf den Kopf! Sie achten meiner
  • nicht, sie sehen und hören nicht auf mich! Was habe ich ihnen getan?
  • Warum quälen sie mich so? Was wollen sie von mir Armem? Was könnte ich
  • ihnen geben? Ich habe ja selbst nichts! Ich habe keine Kraft mehr, ich
  • kann diese Qualen nicht ertragen, mit denen sie mich quälen, mein Kopf
  • brennt mir, und alles dreht sich vor meinen Augen! Oh! rettet mich!
  • Bringt mich fort von hier! gebt mir ein Dreigespann schnellfüßiger
  • Rosse, die dahinstürmen wie ein Wirbelwind! steig ein, mein Wagenlenker!
  • läute, läute, mein Glöcklein, stürmt vorwärts, ihr meine Rosse, und
  • tragt mich fort aus dieser Welt! Weiter, immer weiter, damit ich nichts
  • von alledem, nichts, gar nichts mehr sehe. Sieh! da ballt der Himmel
  • sich vor mir zusammen, ein Sternchen funkelt in der Ferne. Der Wald mit
  • seinen dunkeln Bäumen zieht mondbestrahlt an mir vorüber. Grauer Nebel
  • breitet sich zu meinen Füßen, und eine Saite tönt in ihm. Rechts das
  • Meer und links Italien. Sieh, da tauchen Rußlands Hütten vor mir auf!
  • Ist das mein Vaterhaus, dort in der blauen Ferne? Sitzt nicht dort mein
  • Mütterchen am Fenster? O Mutter, Mutter, rette deinen armen Sohn! Lass
  • eine Träne auf seinen kranken Kopf fallen! blick' hin, wie sie ihn
  • quälen! drück' ihn ans Herz, den armen Verwaisten! es ist kein Platz für
  • ihn auf dieser Welt! man hetzt, man verfolgt ihn. Mutter erbarme dich
  • deines kranken Kindes ... Aber wissen Sie eigentlich schon, daß der Bei
  • von Algier eine Warze unter der Nase hat?
  • Aufsätze aus Puschkins »Zeitgenossen« (»_Sowremennik_«)
  • I
  • Über die Strömungen in der Zeitschriftenliteratur
  • der Jahre 1834-1835
  • Die Zeitschriftenliteratur, diese lebendige, frische, geschwätzige,
  • feinfühlige Literaturgattung, ist ebenso notwendig für die Wissenschaft
  • und die Kunst, wie die Verkehrsmittel für einen Staat, und wie die
  • Messen und die Börsen für den Handel und die Kaufmannschaft. Sie leitet
  • und lenkt den Geschmack der Menge, setzt alles in Umlauf und bringt
  • alles in Verkehr, was sich in der Bücherwelt ans Licht wagt und was ohne
  • sie in der einen wie in der anderen Beziehung nur totes Kapital wäre.
  • Sie stellt den schnellen, eigenwilligen Austausch aller Anschauungen,
  • das lebendige Wechselgespräch alles dessen dar, was unter der
  • Buchdruckerpresse hervorkommt; ihre Stimme ist die wahre Repräsentantin
  • der Ansichten einer ganzen Epoche und eines Jahrhunderts, solcher
  • Ansichten, die ohne sie ungehört verhallen würden. Sie ergreift und
  • zieht mit Absicht oder selbst, ohne es zu wollen, neun Zehntel alles
  • dessen in ihr Bereich, was Eigentum der Literatur wird. Wie viele Leute
  • gibt es nicht, die nur deshalb reden, kritisieren und Urteile fällen,
  • weil alle diese Urteile ihnen schon beinahe fertig zugetragen werden,
  • und die von sich aus nie eine Ansicht geäußert, über etwas geredet oder
  • etwas kritisiert hätten! Und daher hat die Zeitschriftenliteratur
  • jedenfalls ein Recht auf unsere größte Aufmerksamkeit.
  • Vielleicht hat sich der Mangel einer journalistischen Betätigung und
  • einer lebendigen modernen Bewegung bei uns seit langem nicht so deutlich
  • bemerkbar gemacht, wie in den zwei letzten Jahren. Der größte Teil
  • unserer Zeitschriften zeichnete sich durch eine große Farblosigkeit aus.
  • Viele von den alten Journalen waren eingegangen, andere vegetierten matt
  • und langsam weiter, neue erschienen nicht, außer etwa der
  • »Lesebibliothek« und dem neueren »Moskauer Beobachter«, obgleich sich
  • gerade um diese Zeit ein allgemeines Bedürfnis nach geistiger Nahrung
  • fühlbar machte, und die Zahl der Leser um ein bedeutendes zugenommen
  • hatte. So arm diese Epoche auch war, sie hat dasselbe Anrecht auf unsere
  • Aufmerksamkeit, wie vielleicht eine solche voller Leben und Bewegung,
  • denn sie gehört in gleicher Weise unserer Literaturgeschichte an. Die
  • Leser hatten völlig recht, wenn sie sich über die Dürftigkeit und Armut
  • unserer Zeitschriften beklagten: »Der Telegraph« hatte schon längst den
  • scharfen Ton nicht mehr, der durch seine feindliche Stellung gegenüber
  • den Petersburger Journalen bedingt war. »Das Teleskop« war mit Aufsätzen
  • angefüllt, denen es an jeder Frische und lebendigen Aktualität fehlte.
  • Um diese Zeit entschloß sich der Buchhändler Smirdin, der sich schon
  • längst durch seine Regsamkeit und Gewissenhaftigkeit bekannt gemacht
  • hatte, all seine kurzsichtigen Kollegen durch seine Unternehmungslust
  • beschämte und durch seine Wirksamkeit eine gewisse Bewegung in den
  • Buchhandel gebracht hatte, zu der Herausgabe einer großen allumfassenden
  • Zeitschrift; dazu wollte er sämtliche Literaten, die es in Rußland gab,
  • gewinnen und sie veranlassen, sich an seinem Unternehmen zu beteiligen.
  • Der Prospekt umfaßte nahezu alle Namen unserer russischen
  • Schriftsteller. Der Professor der arabischen Literatur, Herr Ssenkowski,
  • erklärte sich bereit, die Leitung der Zeitschrift zu übernehmen. Herr
  • Gretsch, der bereits seit langem als Herausgeber zweier Journale, der
  • »Nordischen Biene« und des »Sohnes des Vaterlandes« bekannt war, wurde
  • ihm als Redakteur zur Seite gestellt. Wir wissen nicht, ob sie sich
  • dieser Sache freiwillig annahmen, oder ob Herr Smirdin sie durch sein
  • Bitten dazu bewogen hatte; wie dem auch sei, jedenfalls war man im
  • allgemeinen darüber einig, daß der Buchhändler ein wenig unvorsichtig
  • vorgegangen sei. Da er eine so große Anzahl von Literaten für seine
  • Zeitschrift gewonnen hatte, hätte er die Wahl eines Redakteurs ihrem
  • Gutachten überlassen müssen. Überdies ließen alle Beteiligten eine sehr
  • wichtige Frage außer acht: sollte die Zeitschrift auf einen bestimmten
  • Ton abgestimmt sein, sollte sie eine bestimmte, im voraus festgelegte
  • Richtung vertreten oder sollte sie ein Sammelplatz aller möglichen
  • Anschauungen und Meinungen werden? Die Antwort, die die Zeitschrift auf
  • diese Frage gab, war sehr zweifelhaft; wie gewöhnlich erklärte sie, die
  • Kritik werde sehr wohlwollend und unparteiisch sein und sich jeder
  • persönlichen Invektiven und unvornehmer Allüren enthalten; ein
  • Versprechen, das jeder Journalist abzugeben pflegt. Aber schon mit dem
  • Erscheinen des ersten Heftes überzeugte sich das Publikum sofort, daß
  • die Zeitschrift durch den Ton, die Meinung und die Gedanken »eines
  • einzelnen« beherrscht wurde, und daß die Namen der Schriftsteller, deren
  • glänzende Reihen eine halbe Seite des Titelblatts einnahmen, nur
  • leihweise ausgeborgt worden waren, um eine größere Zahl von Abonnenten
  • anzulocken.
  • Der Buchhändler Smirdin tat seinerseits alles, was das Publikum _von
  • ihm_ zu erwarten berechtigt war. Die Ehrlichkeit, die ihn immer
  • ausgezeichnet hatte, bewies er auch wieder bei der Herausgabe der
  • Zeitschrift. Die Zeitschrift erschien mit ungewöhnlicher Pünktlichkeit:
  • am Ersten jedes Monats erhielten die Abonnenten einen so dicken Band
  • zugesandt, wie ihn ehedem keine von unseren Druckereien in zwei Monaten
  • hätte herstellen können. Statt der angekündigten achtzehn Bogen gab er
  • manchen Monat doppelt so viele. Sehen wir nun aber zu, ob auch die
  • Männer, denen er die innere Organisation der Zeitschrift anvertraut
  • hatte, ihre Pflicht erfüllten. Die Hauptperson, der _Spiritus rector_
  • der ganzen Zeitschrift war Herr Ssenkowski. Der Name des Herrn Gretsch
  • war nur _pro forma_ mit herangezogen; jedenfalls war nichts davon zu
  • merken, daß er an der Sache beteiligt war. Herr Gretsch ist schon seit
  • langem der unvermeidliche Ehrenredakteur jeder neubegründeten
  • Zeitschrift: wie man gewöhnlich einen würdigen, älteren Herrn
  • auffordert, bei allen Hochzeiten den Brautvater zu spielen. Aber was für
  • ein Ziel hatte die Redaktion dieser Zeitschrift im Auge, welches Problem
  • beabsichtigte sie zu lösen? Hier werden wir unwillkürlich nachdenklich,
  • und ebenso wird es wohl auch dem Leser ergehen. Herr Ssenkowski hat im
  • Programm nichts davon gesagt, was er sich für ein Ziel gesteckt habe und
  • welche Richtung er einzuhalten gedenke; nur das eine war für alle klar
  • ersichtlich, daß er sich sozusagen unbemerkt in die erste Nummer
  • einschlich, um sich am Ende des Bandes ganz als Herr im Hause zu
  • gebärden.
  • Übrigens darf man sich hierüber nicht beklagen: vielleicht ist ein
  • gewisser scharfer Ton, und sogar eine gewisse Frechheit für den
  • Journalisten unentbehrlich, was wir freilich keineswegs billigen,
  • obgleich es uns bekannt ist, daß ein Journalist durch derartige
  • Eigenschaften im Urteil der Menge immer nur gewinnt. Worauf aber
  • richtete dieser neue Herr seine besondere Aufmerksamkeit? welch ein
  • Gedanke beherrschte bei ihm alle anderen? wofür hatte er eine besondere
  • Vorliebe? war etwas zu merken von jenen unverrückbaren Grundsätzen, ohne
  • die ein Mensch charakterlos wird, die ihm eine gewisse Originalität
  • verleihen und die seine Physiognomie bestimmen?
  • Wenn man alles, was er in dieser Zeitschrift veröffentlicht hat,
  • durchliest, wenn man allen Worten, die er sagt, tiefer nachgeht, so kann
  • man sich unwillkürlich einer gewissen Verwunderung nicht erwehren: was
  • hat das zu bedeuten? was veranlaßt diesen Mann zum Schreiben? Wir sehen
  • einen Menschen vor uns, der sich sein Geld keineswegs ohne Gegenleistung
  • erwirbt, der im Schweiße seines Angesichts arbeitet, der sich nicht nur
  • um seine eigenen Aufsätze kümmert, sondern auch die fremden korrigiert
  • und verbessert -- mit einem Wort: einen Menschen, der unermüdlich tätig
  • ist. Wozu dient nun diese ganze Tätigkeit? Sehen wir uns einmal den
  • Leiter der Zeitschrift, wie er sich uns in den verschiedenen Gattungen
  • seiner literarischen Werke darstellt, näher an, und sagen wir dann
  • einige Worte über die Haupteigenschaften seiner Aufsätze, denn das ist
  • durchaus und in jeder Beziehung eine Notwendigkeit.
  • Herr Ssenkowski tritt in seiner Zeitschrift auf als Kritiker, als
  • Erzähler, als Gelehrter, als Satiriker, als Verkünder der neuesten
  • Ereignisse usw. usw., und zwar unter den Namen Brambeus, Morosow,
  • Tjutjundschu Oglu, A. Belkin und endlich in eigner Person. Als Gelehrter
  • hat Herr Ssenkowski einen recht umfangreichen Aufsatz über die Sagen
  • verfaßt -- einen Aufsatz, der voller Hypothesen ist, und zwar nicht
  • seiner eigenen, sondern solcher, die er auf gut Glück bei der flüchtigen
  • Lektüre einiger Bücher aufgelesen hat; diese Hypothesen gehören nicht
  • der russischen Geschichte an. Diese Sagen, die der scharfsinnige
  • Schlözer, der bis jetzt in bezug auf die Strenge und die Tiefe seines
  • kritischen Blicks nicht seinesgleichen gesunden, für Märchen erklärt
  • hat, die keine Beachtung verdienen, diese Sagen macht Herr Ssenkowski
  • zum Ecksteine der russischen Geschichte, ohne auch nur _einen_ Beweis
  • dafür anzuführen, der der Kritik standhält; es fällt ihm nicht ein,
  • ihren einzigartigen, wahren Wert festzustellen. Die Sagen sind poetische
  • Erzeugnisse eines Volkes, das eine große Rolle in der Geschichte
  • gespielt hat. Dieser Aufsatz, der voll theoretischer Figuren ist, hat
  • vielen braven, aber ein wenig beschränkten Leuten gefallen, und Herr
  • Bulgarin hat sogar eine Rezension über ihn geschrieben, in der er Herrn
  • Ssenkowski noch über Schlözer, Humboldt und alle Gelehrten stellt, die
  • jemals existiert haben. Ein anderer Gegenstand, auf den Herr Ssenkowski
  • sich sehr viel einbildet, und der sein eigentliches Steckenpferd ist,
  • ist der Orient. Hier hat er schon von jeher seine Stimme erhoben, und
  • sobald irgendein Artikel über den Orient erschien, oder dieser irgendwo
  • erwähnt wurde, und sei es auch nur in einem Gedicht, wurde er zornig und
  • behauptete, der Autor könne kein Urteil über den Orient haben, er dürfe
  • nicht über ihn urteilen, denn er kenne den Orient gar nicht. Man
  • verzeiht einem Menschen, der in seinen Gegenstand verliebt ist und der
  • erkennt, wie wenig die anderen ihn verstehen, gern ein Wort der
  • Empörung; aber dieser Mensch muß doch wenigstens eine anerkannte
  • Autorität sein. Herr Ssenkowski hätte tatsächlich etwas über den Orient
  • veröffentlichen sollen. Einem Menschen, der noch nichts geleistet hat,
  • glaubt man nicht so leicht aufs Wort, besonders wenn seine Urteile so
  • leichtfertig und vom Geist der Unduldsamkeit erfüllt sind; übrigens
  • findet man in seinen kleinen Aufsätzen über den Orient dieselben Fehler,
  • die er beständig bei anderen tadelt. In diesen Aufsätzen sagt er
  • tatsächlich nichts Neues über den Orient -- da findet man auch nicht
  • einen kräftigen Zug, keinen großen Gedanken, ja nicht einmal eine
  • geniale Vermutung! Es läßt sich nicht leugnen, daß Herr Ssenkowski ein
  • großes Wissen hat; im Gegenteil, man merkt sofort, daß er viel gelesen
  • hat; aber man spürt nirgends etwas von jener bewegenden, alles
  • beherrschenden Kraft, die ihn auf ein bestimmtes Ziel hin dirigiert.
  • Dieses ganze Wissen ist in einer Art Gärung begriffen, eins widerspricht
  • dem andern und verträgt sich nicht mit dem andern. Untersuchen wir
  • einmal seine Ansicht über die moderne schöne Literatur. In seinen
  • Kritiken läßt Herr Ssenkowski einen vollständigen Mangel an einer festen
  • Anschauung erkennen, so daß keiner seiner Leser mit Bestimmtheit zu
  • sagen vermöchte, was dem Rezensenten am besten gefällt, wovon seine
  • Seele ergriffen ward, woran er Geschmack findet: er verrät in seinen
  • Rezensionen _weder einen positiven noch einen negativen Geschmack --
  • sondern gar keinen_. Das, was ihm heute gefällt, wird morgen zur
  • Zielscheibe seines Spotts. Er war der erste, der Herrn Kukolnik neben
  • Goethe gestellt hat, um dann zu erklären, er hätte dies nur aus einer
  • gewissen Laune heraus getan. Folglich sind seine Rezensionen nicht die
  • Frucht seiner Überzeugung oder seines Gefühls, sondern nur das Produkt
  • von Stimmungen und Verhältnissen. Walter Scott, dieses große Genie,
  • dessen unsterbliche Werke ein so umfassendes und vollendetes Bild des
  • Lebens geben, Walter Scott wurde von ihm ein Charlatan genannt. Und das
  • mußte Rußland lesen -- das wurde zu Leuten gesagt, die bereits eine
  • gewisse Bildung besaßen und die Walter Scott gelesen hatten. Man darf
  • überzeugt sein, daß Herr Ssenkowski das unabsichtlich und nur aus
  • Übereilung gesagt hat, denn er hat sich noch nie viel darum gekümmert,
  • was er sagt, und er weiß im folgenden Artikel schon nicht mehr, was er
  • im vorhergehenden geschrieben hat.
  • In seinen Analysen und Kritiken sprach Herr Ssenkowski auch niemals von
  • dem inneren Charakter des Werkes, das er gerade untersuchte; nie gab er
  • eine genaue und präzise Bestimmung seines wahren Wertes: seine Kritik
  • bestand entweder in einem bedingungslosen Lob, in dem der Rezensent sich
  • von Herzen an seinen eigenen Phrasen berauschte, oder in einem Tadel,
  • aus dem eine seltsame Bitterkeit sprach. Sie drehte sich um lauter
  • Kleinigkeiten und beschränkte sich darauf, zwei oder drei Sätze zu
  • zitieren und sie dem Spott und Hohn preiszugeben. Nie wurde etwas davon
  • erwähnt, was sich der Schriftsteller in seinem Werke für eine Aufgabe
  • gestellt, wie er sie ausgeführt, und wenn er sie nicht ausgeführt hatte,
  • wie er sie hätte ausführen sollen. Vor allem aber beschäftigte sich Herr
  • Ssenkowski mit allerhand literarischem Unrat und einer großen Menge
  • aller möglichen seichten Bücher -- über sie machte er sich lustig, ergoß
  • er seinen Spott und ließ bei dieser Gelegenheit jenem Witz freien Lauf,
  • der einigen Lesern so wohl gefällt. Schließlich erhob er sogar ein
  • großes Geschrei wegen der zwei Fürwörter »dieser« und »jener«, die ihm
  • aus einem unbekannten Grunde mit dem Geiste der russischen Sprache
  • unvereinbar schienen. -- Über diese zwei Fürwörter schrieb er ganze
  • Traktate, und alle Aufsätze, die er über irgendein Thema verfaßte,
  • schlossen immer damit, daß die Fürwörter »dieser« und »jener« durchaus
  • zu verwerfen wären. Dies erinnerte an den alten Prozeß Tredjakowskis
  • gegen den Buchstaben y (_is hiza_) und das i (den zehnten Buchstaben des
  • russischen Alphabets), eine Sache, die erst vor kurzem von einem
  • Professor von neuem aufgenommen wurde. Ein Buch, in dem Herr Ssenkowski
  • diesen beiden Wörtlein begegnete, wurde feierlich als schlecht
  • geschrieben abgelehnt.
  • Seine eigenen Werke, seine Erzählungen und dergleichen erschienen unter
  • der Firma Brambeus. Diese Erzählungen und Aufsätze in Form von
  • Erzählungen fielen allgemein auf durch ihre sklavische und übertriebene
  • Nachahmung moderner französischer Autoren, besonders weil Herr
  • Ssenkowski die ganze zeitgenössische französische Literatur schlecht zu
  • machen suchte. Es ist unbegreiflich, wie wenig Scharfsinn er in diesem
  • Fall entwickelte und für wie einfältig er seine Leser hielt. Außerdem
  • ist es ganz unverständlich, weshalb er einigen seiner Aufsätze das
  • Prädikat »phantastisch« verlieh. Ein absoluter Mangel an Wahrheit, Natur
  • und Wahrscheinlichkeit genügt noch nicht, um das Prädikat »phantastisch«
  • zu rechtfertigen. Die phantastischen Werke des Barons Brambeus erinnern
  • an jene Bücher, die einige Zeit lang in großer Menge erschienen, wie
  • etwa das folgende: »Wenn's dir nicht paßt, so hör' nicht zu, doch stör'
  • mich nicht im Lügen« und ähnliche. Hier finden wir dieselbe
  • Leichtfertigkeit, ja, der Autor macht nicht einmal den Versuch, seine
  • Gedanken zu rechtfertigen. Erfahrene Leser wollen oft eine ganze Reihe
  • von Entlehnungen entdeckt haben, die sich der Autor in der Eile und in
  • der Hast, mit der er weiterstürmte, gestattete; er kümmerte sich nur
  • wenig um ihren Zusammenhang, und so verlor das, was im Original noch
  • einen Sinn hatte, in der Kopie jegliche Bedeutung.
  • Dies waren die Tätigkeit und die Leistungen des Leiters der
  • »Lesebibliothek«. Wir hielten es für nötig, etwas ausführlicher auf sie
  • einzugehen, da er in der »Lesebibliothek« Alleinherrscher war, und weil
  • seine Ansichten sich mit großer Geschwindigkeit zugleich mit den
  • viertausend Exemplaren des Journals über das ganze Rußland verbreiteten.
  • Eine Zeitschrift, die mit den vom Buchhändler Smirdin zur Verfügung
  • gestellten Mitteln herausgegeben wurde, konnte unmöglich ganz schlecht
  • sein. Sie hatte schon den großen Vorzug, daß jede Nummer einen großen
  • Umfang hatte und als dicker Band erschien. Das war eine angenehme
  • Neuerung für die Abonnenten, besonders für die Bewohner unserer Städte
  • und die Gutsbesitzer auf dem Lande. Die »Bibliothek« brachte mitunter
  • interessante Aufsätze aus ausländischen Zeitschriften, und in dem
  • lyrischen Teile begegnete man den Namen der Leuchten unseres russischen
  • Parnasses. Am besten aber war stets die Rubrik »Vermischtes«, die eine
  • bunte Menge der neuesten Neuigkeiten enthielt. Dieser Teil hatte etwas
  • Lebendiges und echt Journalistisches. Die schöne Prosaliteratur, sowohl
  • die Originale wie die Übersetzungen, die Erzählungen usw. ließen auf
  • wenig Geschmack und wenig Verständnis bei der Auswahl schließen. In der
  • »Lesebibliothek« pflegte auch etwas vorzukommen, was bis dahin in
  • Rußland unerhört war. Der Leiter korrigierte und arbeitete fast alle
  • Aufsätze um, die in ihr zum Abdruck kamen, und merkwürdigerweise gestand
  • er das ganz kühn und offen ein: »Bei uns in der >Lesebibliothek<
  • herrscht ein anderes Prinzip als bei anderen Zeitschriften,« erklärte er
  • einmal, »wir behalten keine Erzählung in ihrer ursprünglichen Form bei,
  • alle werden umgearbeitet, zuweilen ziehen wir zwei, zuweilen auch drei
  • zu einer zusammen, und die Aufsätze gewinnen außerordentlich durch
  • unsere Umarbeitungen.« Solch eine seltsame Bevormundung war bisher in
  • Rußland nicht üblich.
  • Viele Schriftsteller fingen an zu fürchten, das Publikum könne Aufsätze,
  • die häufig ganz ohne Unterschrift erschienen, oder mit fingierten Namen
  • gezeichnet waren, für Arbeiten von ihnen halten, und zogen sich deshalb
  • von der Mitarbeit an dieser Zeitschrift zurück. Die Zahl der Teilnehmer
  • schmolz so zusammen, daß die Herausgeber bereits im zweiten Jahre keine
  • lange Liste von Namen aufstellen konnten, sondern nur dunkel andeuteten,
  • daß sie die besten Schriftsteller zu ihren Mitarbeitern zählten, ohne
  • sie jedoch zu nennen. Und obgleich die Zeitschrift weder ihr Format noch
  • auch ihr Wesen änderte, wurden doch die Aufsätze merklich schlechter:
  • ein gewisser Mangel an Sorgfalt machte sich fühlbar. Schon wurde die
  • »Bibliothek« in den Hauptstädten weniger gelesen, in der Provinz dagegen
  • fand sie noch denselben Absatz, und die in ihr vertretenen Anschauungen
  • verbreiteten sich ebenso rasch. Wenden wir uns jetzt zu den anderen
  • Zeitschriften.
  • »Die Nordische Biene« brachte alle offiziellen Nachrichten und erfüllte
  • in dieser Beziehung ihre Aufgabe. Sie enthielt politische Mitteilungen
  • und die neuesten Nachrichten des Aus- und Inlands. Ihr Redakteur, Herr
  • Gretsch, erreichte bei ihrer Leitung eine hohe Stufe der Pünktlichkeit
  • und Gewissenhaftigkeit, sie erschien immer zur rechten Zeit; in
  • literarischer Hinsicht aber fehlte es ihr an jeder festen und bestimmten
  • Note und sie ließ keine starke Hand erkennen, die den in ihr vertretenen
  • Anschauungen eine bestimmte Richtung gab. Das war eine Art Korb, in den
  • ein jeder hineinwarf, was ihm gerade in den Sinn kam. Die
  • Bücherrezensionen, die fast immer wohlwollend waren, wurden von den
  • Freunden und mitunter von den Schriftstellern selbst geschrieben. In der
  • »Nordischen Biene« erprobten mancherlei anonyme Autoren, die sich hinter
  • verschiedenen Buchstaben versteckten, die Schärfe ihrer Federn -- ohne
  • Zweifel noch recht junge Leute, denn in ihren Aufsätzen machte sich ein
  • erhebliches Maß von Keckheit bemerkbar. Meist richteten sie ihre
  • Angriffe auf Leute, die sich gar nicht verteidigen konnten, und auf arme
  • hilflose Waisen. Auch las man da allerhand geistreiche Bosheiten, die
  • sich übrigens alle ziemlich ähnlich sahen und gegen allerhand unsaubere
  • Publikationen richteten. Das Wesen dieser Rezensionen bestand gewöhnlich
  • darin, daß man das Buch nach allen Richtungen lobte und dann zum Schluß
  • alle Verantwortung mit den Worten ablehnte: »Übrigens wäre es
  • wünschenswert, daß der verehrte Herr Autor einige kleine stilistische
  • und sprachliche Fehler verbessere« oder »Ein gutes Buch verlangt auch
  • eine gute Ausstattung« und dergleichen, woraufhin sich der Verfasser des
  • rezensierten Buches gewöhnlich gekränkt fühlte und sich über die
  • Parteilichkeit des Kritikers beklagte. Die Bücher wurden häufig von
  • denselben Rezensenten besprochen, die Berichte über die Eröffnung einer
  • neuen Tabaksfabrik in der Hauptstadt, über Pomoden usw. schrieben; diese
  • Berichte waren mitunter sehr geistreich, und die darin enthaltenen Witze
  • ließen auf wohlerzogene Leute schließen, die ohne allen Zweifel gute
  • Gründe hatten, mit den Fabrikbesitzern zufrieden zu sein. Übrigens
  • konnte man von der »Nordischen Biene« auch nicht mehr verlangen; dies
  • war eine stets pünktlich erscheinende, alljährliche Affiche, ihre
  • Aufgabe bestand darin, das Publikum einzuladen, das Urteil aber überließ
  • sie dem Leser selbst.
  • Die Zeitschrift, die den Titel der »Sohn des Vaterlandes« und das
  • »Nördliche Archiv« trug, blühte die ganze Zeit über im Verborgenen.
  • Niemand sprach von ihr, niemand berief sich auf sie, trotzdem aber
  • erschien sie regelmäßig einmal die Woche und war auf ihrer Rückseite ein
  • so ungeheures Programm abgedruckt, wie man es schwerlich noch
  • irgendwoanders finden wird. Der »Sohn des Vaterlandes« (so versprach das
  • Programm) würde Aufsätze über Archäologie, Medizin, Jurisprudenz,
  • Statistik, russische Geschichte, allgemeine Geschichte, russische
  • Literatur, ausländische Literatur und endlich noch über Literatur
  • überhaupt, über Geographie, Ethnographie usw., eine historische Galerie
  • usw. bringen. Manch ein Leser wird die Hände zusammenschlagen, wenn er
  • ein solch fürchterliches Programm liest, und meinen, dies wäre die
  • gewaltigste Enzyklopädie gewesen, die es je in der Welt gegeben hat.
  • Aber keine Spur davon: statt dessen erschien ein mageres, dünnes
  • Büchlein im Umfang von drei Bogen, das meist mit einem Aufsatz über
  • irgendeine Krankheit begann, der nicht einmal von Medizinern gelesen
  • wurde. Kritische Aufsätze und gar solche von lebendigem aktuellem Inhalt
  • gehörten keineswegs zu den gewöhnlichen Erscheinungen. Die politischen
  • Nachrichten dieser Zeitschrift bestanden in denselben trockenen Fakten
  • aus der »Nordischen Biene« und waren infolgedessen schon alle bekannt.
  • Dazwischen kamen auch recht merkwürdige Originalerzählungen zum Abdruck;
  • sie waren ungeheuer kurz und völlig farblos. Und selbst wenn dann einmal
  • etwas Bemerkenswertes darunter vorkam, so blieb es doch gänzlich
  • unbeachtet. Die Namen der Redakteure, der Herren Bulgarin und Gretsch,
  • prangten nur auf dem Titelblatt, und es gab nichts, was darauf
  • hindeutete, daß sie wirklich an der Herausgabe mit beteiligt waren.
  • Trotzdem aber existierte das Journal nun einmal, also mußte es doch
  • Leser und Abonnenten haben. Diese Leser und Abonnenten bestanden aus
  • allerhand ehrenwerten, alten Herren, die in der Provinz lebten und die
  • ebensosehr das Bedürfnis hatten, etwas zu lesen, wie nach dem
  • Mittagessen ein Stündchen zu schlafen und sich zweimal wöchentlich
  • rasieren zu lassen.
  • Während dieser ganzen Zeit erschien in Petersburg noch eine rein
  • literarische Zeitung, die sich gegen das Eindringen wissenschaftlicher
  • Interessen und anderer ernster Beiträge zu schützen wußte; sie war weder
  • politisch noch statistisch noch enzyklopädisch, sie trat für die alten
  • Überlieferungen ein, hatte aber bei alledem einen besonderen Charakter.
  • Diese Zeitung trug den Titel: »Literarische Beilage zum Invaliden«. In
  • ihr erschienen kleine Erzählungen und Unterhaltungen ländlicher
  • Gutsbesitzer über Literatur, diese waren häufig recht trivial,
  • enthielten jedoch mitunter auch allerhand Bosheiten, die der Wahrheit
  • sehr nahe kamen: der Leser bemerkte zu seiner Verwunderung, daß die
  • Gutsbesitzer sich gegen Ende der Artikel in richtige Literaten
  • verwandelten, die sich das Schicksal der modernen Literatur sehr zu
  • Herzen nahmen und ihre Urteile mit ätzendem Spotte würzten. Diese
  • Zeitschrift bekämpfte alle erfolgreichen Literaten, obwohl ihre ganze
  • Taktik darin bestand, irgendeinen Passus zu zitieren, der auf eine
  • gewisse Voreiligkeit, wie sie den Journalisten eigen ist, schließen
  • läßt, und dann von sich aus eine recht boshafte Bemerkung hinzuzufügen,
  • die nicht länger als eine Zeile und mit einem Ausrufungszeichen versehen
  • war. Herr Wojeikow war ein eifriger Jäger; er saß wie ein Fischer mit
  • seiner Angel am Ufer, ohne je die Geduld zu verlieren, obwohl meist nur
  • kleine Fische auf seinen Köder anbissen, während sich die großen wieder
  • losrissen und ins Wasser zurückschwammen. Man fühlte deutlich, daß der
  • Redakteur eine wahrhafte literarische Ader besaß; sein Blick war stets
  • mit nie erlahmender Aufmerksamkeit auf das journalistische Getriebe
  • gerichtet. Ich weiß nicht, ob seine Zeitung viele Leser hatte,
  • jedenfalls aber verdiente sie es, daß man hin und wieder einen Blick in
  • sie warf.
  • In Moskau erschien nur eine Zeitschrift: »Das Teleskop« mit einer
  • kleinen Beilage von einigen Seiten, unter dem Namen »Fama«; diese
  • Zeitschrift, die zu Anfang sehr lebhaft einsetzte, flaute jedoch sehr
  • schnell ab und bildete ein buntes Gemisch von allerhand Artikeln ohne
  • jede literarische Bedeutung. Es war augenfällig, daß die Herausgeber
  • sich nicht die geringste Mühe gaben und die einzelnen Nummern auf gut
  • Glück und ohne jede Sorgfalt erscheinen ließen.
  • Das Monopol, das die »Lesebibliothek« an sich gerissen hatte, mußte alle
  • übrigen Zeitschriften an ihrer empfindlichen Stelle treffen. Aber die
  • »Nordische Biene« wurde von demselben Herrn Gretsch herausgegeben,
  • dessen Name eine Zeitlang auf dem Titelblatt der »Bibliothek« stand,
  • deren Chefredakteur er angeblich war, obgleich dies Amt, wie wir schon
  • gesehen haben, nur ein Ehrentitel war; es war daher nur natürlich, daß
  • die »Nordische Biene« alles, was in der »Bibliothek« erschien, loben und
  • ihren wahren _Spiritus rector_, der unter einer Reihe von Decknamen
  • schrieb, einen russischen Humboldt nennen konnte. Aber auch ohne dies
  • wäre diese Zeitschrift wohl kaum als kräftige Gegnerin in Betracht
  • gekommen, da sie von keinem einheitlichen Willen geleitet wurde; die
  • verschiedenen Literaten blickten dort nur hin und wieder, wenn sie es
  • gerade nötig hatten, hinein. Auch der »Sohn des Vaterlandes« mußte
  • nachsprechen, was die »Biene« sagte. Und so konnten nur zwei
  • Zeitschriften gegen seine Anschauungen Front machen. Herr Wojeikow nahm
  • in der »Literarischen Beilage« einen Anlauf zur Opposition; aber diese
  • Opposition bestand lediglich in kleinen Bemerkungen über allerhand
  • journalistische Schnitzer und in ein paar glücklichen Witzen, die sich
  • in wenigen kurzen Worten und in einem Spott äußerten, der von einzelnen
  • Literaten sehr gut verstanden, von den Uneingeweihten aber kaum bemerkt
  • wurde. Niemals ließ er eine ausführliche und gründliche Kritik
  • erscheinen, die die Richtung der neuen Zeitschrift in irgendeiner Weise
  • kennzeichnete. »Das Teleskop« arbeitete in Gemeinschaft mit der »Fama«,
  • und zwar gegen die »Lesebibliothek«, aber es tat dies ohne jede Energie,
  • Ausdauer und ohne die dazu notwendige Geduld und Kaltblütigkeit. Seine
  • kritischen Aufsätze waren oft von Ärger über einen glücklichen Neuling
  • erfüllt; es spottete über den Barontitel des Herrn Ssenkowski, machte
  • einige richtige Bemerkungen über sein seltsames Kopieren der
  • französischen Schriftsteller, traf aber nicht den Kern der Sache. In der
  • »Fama« wiederholten sich dieselben Anspielungen auf Herrn Brambeus, und
  • zwar oft in der Analyse völlig belangloser Werke. Außerdem schadete sich
  • »Das Teleskop« außerordentlich durch das verspätete Erscheinen der
  • Nummern und die mangelnde Sorgfalt, mit der es redigiert wurde; und so
  • kam es, daß seine kritischen Artikel noch weniger verbreitet waren.
  • Es ist klar, daß die Kräfte und Mittel dieser Zeitschriften gegenüber
  • der »Lesebibliothek« kaum in Betracht kamen, die unter ihnen wie ein
  • Elefant unter winzigen Vierfüßlern erschien. Der Kampf war zu ungleich,
  • und, wie es scheint, zog man nicht in Erwägung, daß die »Lesebibliothek«
  • gegen fünftausend Abonnenten hatte, daß die von ihr vertretenen
  • Anschauungen selbst in solche Gesellschaftskreise drangen, wo man noch
  • nie etwas von der Existenz des »Teleskops« und der »Literarischen
  • Beilage« gehört hatte, und daß die Ideen und die in der »Lesebibliothek«
  • erscheinenden Aufsätze von den Herausgebern derselben »Lesebibliothek«,
  • die sich hinter verschiedenen Namen versteckten, aufs höchste gelobt und
  • herausgestrichen wurden, und zwar mit einem Enthusiasmus, der seine
  • Wirkung auf einen großen Teil des Publikums nie verfehlte; denn was dem
  • Gebildeten lächerlich scheint, das nimmt der beschränkte Leser in all
  • seiner Einfalt für bare Münze, und man konnte annehmen, daß bei der
  • Abonnentenzahl der Bibliothek die Anzahl der letzteren weit größer war;
  • dazu kommt, daß die meisten Abonnenten der »Lesebibliothek« Neulinge
  • waren, d. h. solche, die früher noch keine Journale gelesen hatten und
  • infolgedessen alles für die lauterste Wahrheit hielten, und daß endlich
  • die »Lesebibliothek« eine starke Stütze in den viertausend Exemplaren
  • der »Nordischen Biene« fand.
  • Die Entrüstung über dies unerhörte Monopol wurde schließlich sehr stark.
  • Endlich entschlossen sich einige Literaten in Moskau dazu, ihre eigene
  • Zeitschrift herauszugeben. Diese neue Zeitschrift war eine Notwendigkeit
  • nicht sowohl für das Publikum, d. h. für die größte Zahl der Leser, als
  • vielmehr für die Literaten, die in verschiedenem Maße unter der
  • »Bibliothek« zu leiden hatten. Sie war eine Notwendigkeit erstens für
  • die, die einer Freistatt bedurften, in der sie ihre Anschauungen äußern
  • konnten, denn die »Lesebibliothek« nahm keine kritischen Aufsätze auf,
  • wenn sie nicht dem Geschmack des Chefredakteurs entsprachen, und
  • zweitens für die, die zu ihrem Erstaunen erfahren mußten, wie der
  • Redakteur die Hand an ihre eigenen Werke legte; denn Herr Ssenkowski war
  • bereits so weit gelangt, daß er alle der Bibliothek eingesandten Artikel
  • ohne Ansehen der Person ihrer Autoren einer Bearbeitung unterzog. Er
  • korrigierte Aufsätze militärischen, historischen, literarischen,
  • nationalökonomischen Inhaltes usw., und das tat er alles ohne jede böse
  • Absicht, ohne sich weiter Rechenschaft abzugeben, oder sich dabei von
  • einem Gefühl der Notwendigkeit und des Anstandes leiten zu lassen, ja,
  • er dichtete sogar zu einer Komödie von Von-Wisin einen eigenen Schluß
  • hinzu, ohne zu berücksichtigen, daß diese ja schon ohnedies einen Schluß
  • hatte.
  • Dies alles war für die Schriftsteller sehr peinlich, die kein einziges
  • Organ hatten, in dem sie ihre Klagen vor der Welt und den Lesern
  • vorbringen konnten.
  • Aber schon allein das Gerücht von der Gründung eines neuen Journals rief
  • die Empörung der »Lesebibliothek« wach und veranlaßte sie zu einem
  • völlig unerwarteten Schritt: sie versicherte ihren Abonnenten und Lesern
  • mit ungewöhnlichem Eifer, daß die neue Zeitschrift keineswegs gut
  • gesinnt sei und einen streitsüchtigen Charakter haben würde. Ein
  • Artikel, der bei dieser Gelegenheit in der »Nordischen Biene« erschien,
  • war anscheinend von einem Menschen geschrieben, der voller Verzweiflung
  • seinen vollständigen Zusammenbruch vor Augen sieht. In ihm wurde dem
  • Publikum mitgeteilt, das neue Journal wolle die »Lesebibliothek«
  • zugrunde richten, und dies nur deshalb, weil die Herausgeber erklärt
  • hätten, sie würden eine gleiche Anzahl von Bogen erscheinen lassen wie
  • die »Lesebibliothek«. Nicht wahr, ein sehr unvorsichtiges Vorgehen? In
  • solch einem Falle muß man seine selbstischen Gefühle kunstvoll zu
  • verbergen suchen und den richtigen Moment abwarten, um erst dann dem
  • Gegner einen wohlgezielten Schlag zu versetzen. Weil ich eine
  • Zeitschrift herausgebe, soll etwa darum ein anderer keine herausgeben
  • dürfen? Und wie könnte ich zürnen, wenn mir jemand erklärt, er wolle
  • mich zum Vorbild nehmen? Sollte ich ihm nicht vielmehr dankbar sein?
  • Beweist er nicht gerade damit den hohen Grad von Achtung, den ich mir
  • bei dem Publikum erworben habe? Je mehr Wetteifer, desto mehr Gewinn für
  • die Leser und die Literaten.
  • Aber sehen wir zu, in welchem Maße der »Moskauer Beobachter« die
  • Erwartungen des nach Neuem lüsternen Publikums, die Hoffnungen der
  • gebildeten Leser, die Erwartungen der Literaten und die Befürchtungen
  • der »Lesebibliothek« rechtfertigte.
  • Die neue Zeitschrift hatte, trotz aller ihrer eifrigen Bemühungen, sich
  • überall bekannt zu machen, doch nicht die Mittel, ihr Erscheinen an
  • allen Ecken und Enden Rußlands anzukündigen, da die einzigen Herolde und
  • Verbreiter neuer Nachrichten seine Gegner, die »Nordische Biene« und die
  • »Lesebibliothek« waren, die natürlich nie eine in wohlwollendem Ton
  • gehaltene Anzeige über die neue Zeitschrift gebracht hätten. Sie begann
  • auch erst spät zu erscheinen, nicht zu Beginn des neuen Jahres, also
  • nicht zu der Zeit, wo gewöhnlich die Abonnements beginnen, und sie
  • versäumte es, für ein regelmäßiges Erscheinen der Bände und ihre
  • pünktliche Zustellung zu sorgen. Aber der Hauptgrund für den Mißerfolg
  • lag doch im Charakter der Zeitschrift selbst. Schon aus den ersten
  • Bänden, die zur Ausgabe gelangten, konnte man erkennen, daß die Gründung
  • der Zeitschrift nur die Folge einer leidenschaftlichen Wallung war. Auch
  • dem »Moskauer Beobachter« fehlte es an einer starken Triebfeder, die die
  • ganze Zeitschrift im Gange hielt. Der Redakteur ließ sich nur auf dem
  • Titelblatt sehen. Sein Name war fast völlig unbekannt. Bis dahin hatte
  • er nur einige wertvolle statistische Aufsätze geschrieben, die indessen
  • das rein literarisch gebildete Publikum gar nicht kannte. Seine
  • literarische Richtung war unbekannt. Das war ein großer Fehler der
  • Herausgeber des »Moskauer Beobachters«. Sie hatten vergessen, daß der
  • Redakteur immer eine hervorragende Persönlichkeit sein muß. Das ganze
  • Ansehen einer Zeitschrift ruht auf ihm, auf der Originalität seiner
  • Anschauungen, der Lebhaftigkeit seines Stils, auf seiner Sprache, die
  • allgemeinverständlich und immer unterhaltend sein muß, sowie auf der
  • Frische einer unermüdlichen Wirksamkeit. Aber Herr Androssow trat im
  • »Moskauer Beobachter« kaum merkbar hervor. Wenn die Herausgeber die
  • Absicht hatten, einen Redakteur an die Spitze des Blattes zu stellen,
  • der nur seinen Namen dazu hergab, wie das bei der allgemeinen Trägheit,
  • die bei uns in Rußland herrscht, üblich geworden ist, dann hätten sie
  • die redaktionelle Arbeit unter sich verteilen müssen. Aber sie
  • überließen dem Redakteur die ganze Verantwortung, und der »Moskauer
  • Beobachter« glich bald einem jener gelehrten Vereine, deren Mitglieder
  • überhaupt gar nichts tun, ja nicht einmal zu den Sitzungen erscheinen,
  • während sich der Präsident jeden Tag einfindet, in seinem Lehnstuhl
  • Platz nimmt und das Protokoll dieser spärlich besuchten Sitzung abfassen
  • läßt. Immerhin enthielt die Zeitschrift ein paar recht gute Aufsätze und
  • Gedichte von Jasikow und Baratinski; diese Juwelen unserer russischen
  • Literatur gereichten ihr zur höchsten Zierde, dennoch aber spürt man in
  • der Zeitschrift nichts von dem Puls des modernen Lebens oder von einer
  • regen und bewegten Tätigkeit; auch fehlte es ihr an jener
  • Mannigfaltigkeit, an der es einem periodisch erscheinenden Blatte nicht
  • fehlen darf. Die wertvollen Aufsätze, die in dieser Zeitschrift
  • erschienen, glichen wenigen grünen Oasen, die aus einem ganzen Meer
  • sandiger Steppen auftauchten. Auch schienen die Herausgeber nur geringe
  • Kenntnis davon zu haben, was dem Publikum gefällt und was nicht. Oftmals
  • verfielen auch gute Aufsätze der Langenweile, nur weil sie sich durch
  • mehrere Nummern hinzogen und stets mit der Unterschrift versehen waren:
  • »Fortsetzung folgt«. Dies war die Zeitschrift, die die Aufgabe hatte,
  • den Kampf mit der »Lesebibliothek« aufzunehmen.
  • Der »Beobachter« begann mit einem oppositionellen Aufsatz von Schewyrew
  • über die Handelsgeschäfte, wie sie in unserer Literatur aufgekommen
  • waren. Der Autor zog gegen den Handelsgeist in unserer Gelehrtenwelt zu
  • Felde, d. h. gegen das allgemeine Bestreben, sich aus der literarischen
  • Arbeit eine Erwerbsquelle zu schaffen. Der Hauptfehler dieses Aufsatzes
  • lag darin, daß der Autor seine Aufmerksamkeit nicht auf den Kernpunkt
  • richtete. Sodann donnerte er gegen alle, die für Geld schreiben, ohne
  • jedoch die Anschauungen des Publikums über den inneren Wert der Ware zu
  • widerlegen. Dieser Artikel war nur den Literaten verständlich, bereitete
  • der »Lesebibliothek« ein Ärgernis, bot jedoch dem Publikum keinerlei
  • Belehrung, das nicht einmal begriff, um was es sich handelte. Außerdem
  • war dieser Ausfall sogar völlig unberechtigt, da er sich gegen ein
  • unverbrüchliches Gesetz jeglicher Tätigkeit richtete. Die Literatur
  • mußte sich in ein Handelsunternehmen verwandeln, weil die Zahl der Leser
  • und das Bedürfnis nach Lektüre gewachsen war. Es ist nur natürlich, daß
  • in solch einem Fall die unternehmungslustigen Menschen, ohne viel
  • Talent, stets im Vorteil sind, wie bei jedem Handelsgeschäfte; wo ein
  • gewandter und geriebener Kaufmann einem einfältigen Käufer
  • gegenübersteht, trägt der erstere den Gewinn davon. Man mußte darauf
  • hinweisen, worin der Betrug besteht, und nicht die Höhe der Gewinne
  • abschätzen. Es ist noch kein Unglück, daß ein Literat sich ein
  • einträgliches Haus oder ein paar Pferde anschafft; das Schlimme ist nur,
  • daß dem armen Volk schlechte Ware geliefert wurde, und daß es sich noch
  • etwas auf diese Ware zugute tut. Herr Schewyrew hätte die Aufmerksamkeit
  • auf die armen Käufer und nicht auf die Händler lenken müssen. Die
  • Händler sind meist zugereiste Leute; heute sind sie hier und morgen sind
  • sie weiß Gott wo. Bei dieser Gelegenheit bekam auch der Buchhändler
  • Smirdin einen sehr ungerechten Vorwurf zu hören: dieser hatte sich
  • nichts zuschulden kommen lassen und hätte für seinen Unternehmungsgeist
  • und sein redliches Wirken nichts als Dankbarkeit verdient. Kein Zweifel,
  • er hat manchen Leuten zuviel Freiheit gelassen, die sich lieber mit
  • Handelsgeschäften als mit der Literatur hätten beschäftigen sollen. Das
  • Talent kriecht nicht und schmeichelt nicht, wohl aber die Habgier. Sich
  • hierüber zu beklagen, wäre ebenso komisch und seltsam, wie wenn man sich
  • über die Regierung beklagen wollte, wenn man einmal einem kurzsichtigen
  • Beamten begegnet. Für das Talent ist die Nachwelt da, dieser
  • unbestechliche Juwelier, der nur reinen Brillanten eine Fassung gibt.
  • Herr Schewyrew bewies in seinem Aufsatz zwar einen edlen Zorn gegen die
  • prosaische und unwürdige Richtung in unserer Literatur, aber auf die
  • Mehrzahl des Publikums machte dieser Artikel nicht den geringsten
  • Eindruck. Die »Bibliothek« antwortete nur kurz und ganz nach der Art
  • ihrer gewöhnlichen Taktik; sie wandte sich an die Zuschauer, d. h. an
  • ihre Abonnenten, und sagte: »Seht, was für eine unvornehme Gesinnung
  • Herr Schewyrew an den Tag gelegt hat, welchen Mangel an Anstand und an
  • vornehmen Gefühlen, indem er uns beschuldigte, daß wir nur für Geld
  • arbeiten, während wir doch ...« usw. Das ist die allgemeine Taktik
  • unserer Petersburger Zeitschriften und Tagesblätter, sowie ihnen irgend
  • jemand ihre Habgier und ihre Untätigkeit zum Vorwurf macht, beklagen sie
  • sich sofort bei dem Publikum über die unanständige Ausdrucksweise und
  • den unvornehmen Charakter ihrer Gegner und sie erklären, der betreffende
  • Aufsatz sei nur geschrieben worden, um das Publikum zu reizen und ihm
  • das Geld aus der Tasche zu locken. Und daher hielten sie es ihrerseits
  • für ihre heilige Pflicht, das Publikum zu warnen.
  • Und so kam es denn, daß der Ausfall des »Moskauer Beobachters« an der
  • »Lesebibliothek« abprallte wie eine Flintenkugel am dicken Fell eines
  • Nashorns, wobei der plumpe Vierfüßler nicht einmal nieste. Nachdem der
  • »Moskauer Beobachter« seine Kugel abgeschossen hatte, hüllte er sich in
  • Schweigen -- ein Beweis dafür, daß er noch gar keinen wohlüberlegten
  • Aktionsplan entworfen hatte und absolut nicht wußte, wie und womit er
  • anfangen solle. Man hätte entweder gar nicht anfangen sollen, oder, wenn
  • man einmal begonnen hatte, nicht so bald wieder aufhören dürfen. Nur
  • durch eine unablässige Tätigkeit hätte der »Beobachter« durchdringen und
  • seinen Namen im Publikum bekannt machen können, wie das einstmals dem
  • »Telegraph« gelungen war, der in der gleichen Weise und unter beinahe
  • gleichen Verhältnissen gewirkt hatte. Der »Beobachter« ließ bald darauf
  • noch einige Nummern erscheinen, ohne jedoch auch nur in einer etwas zur
  • Verteidigung und zur Begründung seiner Anschauungen zu sagen. Endlich,
  • nachdem schon mehrere Nummern erschienen waren, druckte er einen
  • Aufsatz, der sich gegen Brambeus richtete und sich auf einen vor
  • längerer Zeit in der »Bibliothek« abgedruckten Artikel bezog. Dieser
  • Aufsatz hatte den Namen »Brambeus und die junge Literatur« getragen, und
  • Brambeus hatte sich in ihr als Gesetzgeber und Schöpfer einer neuen
  • Schule und als Führer einer neuen Epoche -- der russischen Literatur
  • bezeichnet.
  • Dies war allerdings sehr merkwürdig. Es ist ja schon vorgekommen, daß
  • Literaten sich selbst gelobt haben, indem sie sich entweder den Namen
  • ihrer Freunde beilegten, oder auch in ihrem eigenen Namen; aber wenn sie
  • es taten, so geschah es immerhin mit einer gewissen Schamhaftigkeit,
  • worauf sie es später selbst versuchten, die ganze Sache eigenhändig
  • wieder zu vertuschen, da sie fühlten, daß sie sich etwas vergeben
  • hatten. Noch nie aber hat ein Autor sich selbst so frei, so ungeniert
  • gelobt, wie der Baron Brambeus. Dieser originelle Artikel war allzu
  • aufsehenerregend, als daß er unbemerkt bleiben konnte. Das »Teleskop«
  • nahm ihn sich vor und spottete recht kurzweilig aber freilich nur ganz
  • flüchtig über ihn. Auch Herr Wojeikow wies mit seiner gewöhnlichen
  • Schlauheit auf ihn hin, und schließlich hatte der Aufsatz auch einen
  • Artikel im »Moskauer Beobachter« zur Folge. Der Zweck dieses Artikels
  • war, den Beweis zu führen, aus welchen Quellen das Talent und die
  • Berühmtheit des Barons Brambeus herstammen, welche Werke fremder Autoren
  • er benutzt, als ob sie sein eigenes Eigentum wären, kurz, aus was für
  • Lappen sich Baron Brambeus seinen Schlafrock zusammengeflickt hätte.
  • Einige anonyme Bücher, die bald danach erschienen, brachten den
  • »Moskauer Beobachter« in gänzliche Vergessenheit. Selbst die
  • »Lesebibliothek« hörte schließlich auf, ihn noch weiter zu erwähnen, ein
  • so ohnmächtiger Gegner war er geworden; sie fuhr nach wie vor fort, über
  • Wichtiges und Unwichtiges zu scherzen, und schrieb über alles, was ihr
  • gerade unter die Feder kam.
  • Dies waren die Taten unserer Zeitschriften. Nachdem wir diese
  • dargestellt, wollen wir zusehen, ob sie in diesen zwei Jahren etwas
  • geleistet haben, was in der Geschichte der Literatur niedergelegt zu
  • werden verdient oder ihr einen eigenartigen Zug aufzuprägen geeignet
  • wäre, zu was für Anschauungen, was für Meinungsäußerungen sie den Grund
  • gelegt, was sie festgestellt und welchem Gedanken sie Bürgerrecht
  • verschafft haben. Ein langes Programm, das Aufsätze über Statistik,
  • Medizin, Literatur usw. verspricht, hat gar keine Bedeutung. Die
  • Ankündigung, daß die Kritik wohlwollend, frei von persönlicher
  • Gehässigkeit und unparteiisch sein werde, bestimmt auch noch kein festes
  • Ziel. Und doch sollte ein solches Ziel die notwendige Voraussetzung
  • einer jeden Zeitschrift sein. Selbst die große Zahl der in ihr
  • erscheinenden Aufsätze hat noch keine Bedeutung, wenn die Zeitschrift
  • keine eigene Meinung hat, und wenn in ihr keine, und sei es nur eine
  • einzige Richtung, zum Ausdruck kommt, die auf ein bestimmtes Ziel
  • hinweist. Die Herausgabe des »Telegraph« hatte doch offenbar den Zweck,
  • alle möglichen veralteten eingewurzelten, fast mechanisch gewordenen
  • Gedanken unserer derzeitigen Verfechter des Alten und der Klassiker zu
  • stürzen. Der »Moskauer Beobachter«, eine der besten Zeitschriften,
  • obwohl in ihm nicht viel von einer modernen Bewegung zu spüren war,
  • hätte die Aufgabe gehabt, das Publikum mit den hervorragendsten
  • Schöpfungen Europas bekannt zu machen, den Kreis unserer Literatur zu
  • erweitern und uns neue Vorstellungen über die Schriftsteller aller
  • Zeiten und Völker zu vermitteln. Hier ist nicht der Platz, davon zu
  • reden, inwieweit diese beiden Zeitschriften ihren Zweck erfüllt haben;
  • zum mindesten konnten die Leser in ihnen ein solches Streben bemerken.
  • Aber man sehe sich einmal die Zeitschriften, die in den zwei letzten
  • Jahren erschienen sind, aufmerksam an; man versuche es, den
  • Grundgedanken einer jeden festzustellen. Man wird vergeblich nach einem
  • solchen Grundgedanken suchen. Wenn man einen der Bände aufschlägt, ist
  • man erstaunt über die Armseligkeit und Belanglosigkeit der Gegenstände,
  • die dort behandelt werden. Darnach könnte man meinen, in der
  • literarischen Welt habe auch nicht ein einziges wichtiges Ereignis
  • stattgefunden. Und dennoch ist
  • 1. der berühmte Schotte gestorben, der große Künder des Herzens, der
  • Natur und des Lebens, dieser reichste, mannigfaltigste Genius des XIX.
  • Jahrhunderts;
  • 2. hat in der gesamten europäischen Literatur eine neue
  • Geschmacksrichtung voller Unruhe, Erregung und Bewegung die Oberhand
  • gewonnen. Es erschien eine Reihe unreifer, zusammenhangsloser
  • jugendlicher Werke, die jedoch eine starke Begeisterung und eine
  • mächtige Glut ausströmten: eine Folge der politischen Gärungen des
  • Landes, in dem sie entstanden. Diese seltsame Literatur, unruhig wie ein
  • Komet und ebenso unorganisch wie er, hat Europa lebhaft erregt und sich
  • schnell bis an alle Enden der literarischen Welt verbreitet. Und
  • wenngleich diese Erscheinungen einen universellen europäischen Charakter
  • tragen, so haben sie doch auch auf Rußland einen Einfluß ausgeübt; aber
  • fassen wir einmal die rein russischen literarischen Ereignisse ins Auge;
  • 3. hat sich hier in hohem Maße die Lektüre von Romanen und trockenen,
  • langweiligen Erzählungen verbreitet; zugleich machte sich eine
  • allgemeine Gleichgültigkeit gegen die Poesie geltend;
  • 4. erschienen neue Auflagen der Werke von Derschawin und Karamsin, die
  • laut nach einer literarischen Kennzeichnung und nach einer wahrhaften,
  • richtigen Bewertung verlangten, wie die aller übrigen älteren
  • Schriftsteller; denn in der literarischen Welt gibt es keinen Tod, und
  • die Toten greifen ebenso in unser Leben ein und handeln und wirken mit
  • uns wie die Lebenden. Sie verlangten nach einer Rückerstattung dessen,
  • was ihnen wirklich gebührt; sie forderten die Zurücknahme ungerechter
  • Anklagen und falscher Wertschätzungen, die ganze Jahre hindurch und auch
  • heute noch gedankenlos wiederholt werden.
  • Aber haben denn unsere Zeitschriften auch -- auf Grund strenger
  • Überlegung -- ausgesprochen, wer Walter Scott war, worin seine Wirkung
  • bestanden hat, was die moderne französische Literatur bedeutet, unter
  • welchen Bedingungen sie entstanden ist, woher sie stammt, was die
  • Ursachen der falschen Geschmacksrichtung waren und worin ihr Wesen
  • bestand; warum die Poesie von Prosawerken abgelöst wurde; auf welcher
  • Bildungsstufe das russische Publikum steht, wer dieses russische
  • Publikum ist, und was die Originalität und Eigenart unserer
  • Schriftsteller ausmacht?
  • Vergebens wird der Leser in dieser Richtung nach neuen Gedanken oder
  • auch nur nach Spuren eines tiefen, gewissenhaften Studiums suchen.
  • Auf Walter Scott hat man bei uns nur ein wenig geschimpft. Die
  • französische Literatur wurde von den einen mit einem kindlichen
  • Enthusiasmus aufgenommen; sie erklärten, die modernen Schriftsteller
  • wären bis in die tiefsten Geheimnisse des menschlichen Herzens
  • eingedrungen, die selbst einem Cervantes und Shakespeare verborgen
  • geblieben wären; andere wieder schmähten sie, ohne selbst zu wissen
  • warum, während sie selbst Werke im Geschmack dieser Schule schrieben,
  • nur mit dem Unterschied, daß diese noch mehr Unsinn und mehr Torheiten
  • enthielten. Die Frage: warum bei uns fade Romane und Erzählungen einen
  • solchen Erfolg haben, hat keinen von ihnen beschäftigt, statt dessen
  • brachten sie zu den schon existierenden noch ihre eigenen auf den Markt.
  • Über unser Publikum sagten sie nur, es sei ein hochachtbares Publikum
  • und es müsse sich auf alle Zeitschriften und alle möglichen Blätter
  • abonnieren, denn diese könne ein jeder lesen: der Familienvater wie der
  • Kaufmann, der Militär wie der Literat; über Derschawin, Karamsin und
  • Krylow hatten sie gar nichts zu sagen, oder sie wiederholten einfach
  • dasselbe, was ein Kreisschullehrer seinen Schülern erzählt, und halfen
  • sich mit einem paar banalen Phrasen.
  • Worüber schrieben also unsere Journalisten? Sie sprachen von den
  • beliebtesten und nächstliegendsten Dingen, sie redeten von sich selbst,
  • lobten in ihren Zeitschriften ihre eigenen Aufsätze, waren
  • ausschließlich mit sich selbst beschäftigt und schenkten allen anderen
  • Gegenständen höchstens eine kühle, leidenschaftslose Beachtung. Alles
  • Große und Außerordentliche schien unsichtbar geworden zu sein. Ihre
  • gleichgültige Kritik richtete sich auf Gegenstände, die kaum der Rede
  • wert waren.
  • Worin bestand nun der eigentliche Charakter dieser Kritik? Was in ihr am
  • deutlichsten zum Ausdruck kam, war folgendes:
  • 1. Eine starke Mißachtung der eigenen Meinung. Fast nie hatte man den
  • Eindruck, daß der Kritiker seine Tätigkeit für etwas Wichtiges hielt,
  • mit einem Gefühl der Ehrfurcht, und nachdem er sich die Sache zuvor
  • überlegt hatte, an sie heranging; daß er, während er seine Feder führte,
  • an die kleine Zahl seiner Zeitgenossen gedacht hätte, die eine höhere,
  • edlere Bildung besaßen und vor denen er für jedes seiner Worte
  • Rechenschaft ablegen mußte. Die Kritik in unseren Zeitschriften war
  • meist eine Art Possenreißerei. Was tat man, wenn man das Buch eines
  • Schriftstellers lobte, den man protegieren wollte? Man sagte nicht etwa
  • einfach: »dieses Buch ist gut,« oder »es verdient in dieser und jener
  • Hinsicht Anerkennung,« o nein: die Rezensenten erklärten, »dieses Buch
  • ist wundervoll, ganz außergewöhnlich, es ist unerhört genial, es ist das
  • beste russische Buch; es kostet fünfzehn Rubel, der Autor steht hoch
  • über Walter Scott, Humboldt, Goethe und Byron. Kaufen Sie dies Buch,
  • lassen Sie es sich einbinden und stellen Sie es in Ihre Bibliothek,
  • kaufen Sie auch die zweite Auflage und stellen Sie sie gleichfalls in
  • Ihre Bibliothek, es kann nie schaden, wenn man zwei Exemplare von einem
  • guten Werk besitzt.« Der größte Teil der Bücher wurde ohne jede
  • Überlegung und ganz kritiklos verherrlicht. Wenn man alle Bücher
  • zusammenzählen wollte, die als erstklassig angepriesen wurden, so könnte
  • wohl jemand glauben, es gäbe in der ganzen Welt keine reichere Literatur
  • als die russische; wenn ihn nicht -- freilich erst nach einiger Zeit --
  • die widersprechenden Urteile derselben Rezensenten über dieselben Werke
  • nachdenklich und stutzig machen müßten. Und dieselbe Maßlosigkeit trat
  • in den abfälligen Urteilen über Werke von Autoren hervor, die sich den
  • Haß oder die Abneigung des Kritikers zugezogen hatten. Und so ergoß sich
  • sein Zorn ebenso rückhaltslos, indem er einem momentanen Gefühl nachgab.
  • 2. Der literarische Unglaube und die literarische Unbildung. Diese
  • beiden Eigentümlichkeiten haben sich in der letzten Zeit in unserer
  • Literatur besonders verbreitet. Nie findet man den Namen von
  • Schriftstellern erwähnt, die ihre Laufbahn bereits vollendet haben, und
  • die, von der Sonne des Ruhmes umstrahlt, von ihrer Höhe auf uns
  • herabblicken. Kein Rezensent hat seine Augen ehrfürchtig zu ihnen
  • erhoben und ihnen Beachtung geschenkt. Fast nie begegnet man den Namen
  • eines Derschawin, Lomonossow, Von-Wisin, Bogdanowitsch, Batjuschkow usw.
  • auf den Seiten unserer Zeitschriften. Nie hört man was über ihren
  • Einfluß, der auch heute noch fortdauert und sich heute noch bemerkbar
  • macht. Nie werden sie zur Vergleichung mit der heutigen Epoche
  • herangezogen. Es ist, als wäre unserem Zeitalter die Wurzel
  • abgeschnitten, als gäbe es keinen Ursprung, von dem wir herstammten, und
  • als gäbe es für uns keine Geschichte unserer Vergangenheit. Diese
  • literarische Unbildung verbreitet sich hauptsächlich unter den jüngeren
  • Rezensenten, so daß unsere zeitgenössische, kritische Literatur wie
  • etwas Fremdes, Angeschwemmtes erscheint. Ein, zwei Jahre vergehen, und
  • die Reden, die anfänglich ziemlich laut und rege waren, verstummten und
  • verhallten wie ein Ton ohne Resonanz oder wie eine Phrase, die auf dem
  • gestrigen Ball fiel. Die Namen der Schriftsteller, die ihren Ruhm längst
  • fest begründet, und die Namen derer, die erst nach einem solchen
  • streben, sind zu einem bloßen Spielzeug geworden. Der eine Rezensent
  • richtet die wieder auf, die sein Gegner fallen gelassen hat, und das
  • alles geschieht ohne jede Kritik ganz gedanken- und ideenlos. Häufig
  • verdankt ein Name seinen Ruhm dem Streit zweier Rezensenten. Von den
  • Schriftstellern unseres Vaterlandes wird nicht geredet, dafür beginnt
  • jeder Rezensent, selbst wenn er über ein ganz unbedeutendes, belangloses
  • Buch schreibt, unbedingt mit Shakespeare, den er nie gelesen hat. Es ist
  • heutzutage eben Mode, von Shakespeare zu reden -- also her mit dem
  • Shakespeare! Er erklärt: »Wir wollen das vorliegende Buch von folgendem
  • Gesichtspunkt aus betrachten. Sehen wir zu, inwieweit unser Autor mit
  • Shakespeare übereinstimmt,« und dabei ist das Buch, das analysiert
  • werden soll, -- ein barer Unsinn, der ohne jegliche Absicht, mit
  • Shakespeare zu rivalisieren, geschrieben ist, und höchstens mit dem
  • Geist und der Ausdrucksweise des Rezensenten selbst Ähnlichkeit hat.
  • 3. Der Mangel an einer rein ästhetischen Genußfähigkeit und an
  • Geschmack. In den Moskauer Journalen findet man noch hin und wieder
  • einen gewissen Geschmack oder eine Art Liebe zur Kunst, die Kritik der
  • Petersburger Zeitschriften, besonders die der sogenannten »anständigen«
  • dagegen ist außerordentlich dürftig. Die besprochenen Werke werden hoch
  • über die Byrons, Goethes usf. erhoben. Aber nirgends gewinnt der Leser
  • den Eindruck, daß dies der Ausfluß eines Gefühls, ein Zeichen des
  • Verständnisses ist, daß es aus der Tiefe einer dankerfüllten,
  • tiefergriffenen Seele hervorquillt. Ihr Stil ist trotz seiner äußeren
  • oft verschnörkelten, glänzenden Prunkhaftigkeit von einer ertötenden
  • Kälte. Nur dann merkt man ihm eine gewisse Lebhaftigkeit und einen
  • leidenschaftlichen Schwung an, wenn sich der Rezensent an einer wunden
  • Stelle getroffen, wenn er sich in seiner persönlichen Würde getroffen
  • fühlt. Die Gerechtigkeit verlangt, daß wir hier die Kritiken von
  • Schewyrjow erwähnen, die eine lobenswerte Ausnahme bilden. Er teilt uns
  • seine Eindrücke in der Form mit, wie seine Seele sie aufnimmt. Aus
  • seinen Aufsätzen spricht stets ein Mensch, der nachdenkt, ja, der sich
  • mitunter vom ersten Eindruck fortreißen läßt.
  • 4. Die Kleinheit der Gedanken und ein kleinliches Prahlen. Wir haben
  • schon gesehen, daß die Kritik sich nie mit bedeutenden Fragen
  • beschäftigte. Die Aufmerksamkeit der Rezensenten war stets auf eine
  • ganze Reihe inhaltsloser Bücher gerichtet, nicht etwa deshalb, um sie zu
  • analysieren, sondern um die Liebenswürdigkeit des Kritikers zu beweisen
  • und die Leser zum Lachen zu bringen. In wie hohem Maße die Kritik mit
  • allerhand Torheiten und albernen Streitereien beschäftigt war, konnten
  • die Leser bereits aus dem berühmten Prozeß gegen die beiden armen
  • Fürwörter »_dieser_ und _jener_« ersehen. So weit also ist es allmählich
  • mit der russischen Kritik gekommen!
  • Wer aber waren denn die, die bei uns über die Literatur redeten? Während
  • dieser Zeit ließen weder Schukowski, noch Krylow, noch Fürst Wjasemski
  • ihre Meinung hören, auch die, die noch vor kurzer Zeit eine Zeitschrift
  • herausgegeben hatten, die in mancherlei Aufsätzen ihre eigene Stimme
  • erhoben und einen eigenen Geschmack und wirkliche Kenntnisse an den Tag
  • gelegt hatten, waren verstummt: kann man sich da noch über solche
  • Zustände in unserer Literatur wundern?
  • Warum schwiegen denn die Schriftsteller, die in ihren Werken ein echtes
  • ästhetisches Gefühl offenbart hatten? Hielten sie es für unter ihrer
  • Würde, in die Sphäre der Tagesliteratur hinabzusteigen, wo gewöhnlich
  • allerhand Kämpfer laut miteinander im Streite liegen? Wir haben kein
  • Recht, hierüber zu entscheiden. Wir wollen hier nur bemerken, daß eine
  • Kritik, die von echtem Geschmack und einem tiefen Verstand geleitet
  • wird, daß die Kritik eines hochbegabten Talentes gleichwertig ist mit
  • jeder originalen Schöpfung: aus ihr lernen wir den Schriftsteller, den
  • sie analysiert, und in noch höherem Maße den Kritiker selbst kennen. Die
  • Kritik eines Talentes überlebt das ephemere Dasein einer Zeitschrift.
  • Für die Geschichte der Literatur ist sie geradezu unschätzbar. Unsere
  • Literaturgeschichte ist noch jung. Sie hat nur wenige Koryphäen
  • hervorgebracht; aber für die Kritik eines Denkers bietet sie ein reiches
  • Feld dar und Arbeit für viele Jahre. Unsere Schriftsteller haben sich
  • eine völlig eigenartige Form geschaffen; trotz des gemeinsamen Zuges
  • unserer Literatur, der Neigung zur Nachahmung, enthalten sie doch rein
  • russische Elemente, ja selbst die Art, wie wir nachahmen, hat einen ganz
  • besonderen nordischen Charakter an sich und stellt auch in der
  • europäischen Literatur eine beachtenswerte Erscheinung dar. Aber genug
  • davon. Wir wollen diese Ausführungen mit dem aufrichtigen Wunsch
  • schließen, daß sich bei uns im kommenden Jahr eine lebhaftere Tätigkeit
  • entwickeln, und bei einer größeren Anzahl von Zeitschriften die
  • Abhängigkeit vom Monopol immer mehr verschwinden möge, auf daß dadurch
  • bei allen ein lebhafterer Wetteifer entbrenne, ihre Bestimmung zu
  • erfüllen. Zum mindesten macht sich schon heute darin ein tröstliches
  • Streben bemerkbar, daß einzelne Zeitschriften versprechen, im kommenden
  • Jahre der Herausgabe ihrer Bände mehr Sorgfalt zuzuwenden als früher.
  • Die Verleger des »Sohnes des Vaterlandes« und des »Teleskop« haben von
  • Verbesserungen gesprochen. Man kann kaum daran zweifeln, daß bei
  • größerer Mühewaltung mehr geleistet werden kann. Jedenfalls begleiten
  • wir unseren Wunsch mit herzlicher Aufrichtigkeit und der heißen
  • Fürbitte: Möge das Streben aller und eines jeden einzelnen
  • tausendfältige Frucht tragen; je uneigennütziger und gewissenhafter
  • seine Tätigkeit sein wird, um so mehr wohlverdiente Anerkennung und
  • Dankbarkeit möge ihm zuteil werden.
  • II
  • Petersburger Skizzen
  • 1836
  • I
  • Seltsam -- wohin nur die Residenz Rußlands verschlagen ward --: Bis ans
  • Ende der Welt. Ein merkwürdiges Volk, diese Russen. Einst besaßen sie in
  • Kiew eine Hauptstadt, da war es zu heiß, da war es nicht kalt genug; und
  • so siedelte denn die russische Residenz nach Moskau über -- doch nein,
  • auch hier war's noch nicht kalt genug. Herrgott! Also her mit
  • Petersburg! Aber wie wildfremd sind sich dafür auch Mutter und Sohn! Was
  • für eine Landschaft! Was für eine Natur! Die Luft ist mit Nebel erfüllt,
  • die blasse, graugrüne Erde ist mit verkohlten Baumstümpfen, Tannen,
  • Kiefern und kleinen Erdhügeln bedeckt ... Noch gut, daß einen die
  • blitzschnell vorüberfliegenden, schnurgeraden Chausseen und die
  • russische Troika mit Sang und Klang wie im Sturmwind an ihnen
  • vorbeitragen. Und welch ein Unterschied -- welch ein Unterschied
  • zwischen den beiden. Moskau ist noch bis heute ein langbärtiger
  • russischer Bauer -- Petersburg dagegen ist schon ein gewandter Europäer.
  • Wie sich das alte Moskau weit ausgedehnt, wie es in die Breite gewachsen
  • ist! Und wie hat sich dagegen das stutzerhafte Petersburg
  • zusammengezogen und in die Länge gestreckt! Von allen Seiten ist es von
  • Spiegeln umstellt, hier die Newa, dort der Finnische Meerbusen!
  • Wahrhaftig, es fehlt ihm nicht an Gelegenheit, sich selbst anzuschauen,
  • sich zu bespiegeln! Bemerkt es nur das kleinste Stäubchen oder Flöckchen
  • auf seinem Kleide, so wird's sofort entfernt. Moskau ist ein altes
  • Hausmütterchen, es bäckt seine Pfannkuchen, sitzt daheim, sieht sich die
  • Dinge von ferne an und läßt sich, ohne sich vom Sessel zu erheben,
  • erzählen, wie es in der Welt hergeht. Petersburg dagegen ist ein flotter
  • Bursche, der nie zu Hause sitzt, der immer gut angezogen ist, sich für
  • Europa schön macht und den Ausländern zunickt. In Petersburg ist alles
  • in steter Bewegung, vom Keller bis hinauf zur Dachkammer; um Mitternacht
  • fängt man an, französische Brötchen zu backen, die am nächsten Morgen
  • allesamt von der aus den verschiedensten Volksstämmen zusammengesetzten
  • Bevölkerung verzehrt werden; während der Nacht leuchtet bald eins seiner
  • Augen, bald das andre. Während der Nacht liegt ganz Moskau in tiefem
  • Schlaf, am Morgen aber schlägt es ein Kreuz, verneigt sich nach allen
  • vier Himmelsrichtungen und fährt dann mit seinen Kalatschi[14] auf den
  • Markt. Moskau ist _weiblichen_[15], Petersburg männlichen Geschlechts.
  • In Moskau gibt es lauter Bräute, in Petersburg lauter Freier. Petersburg
  • gibt mehr acht auf seine Kleidung, hat die grellen Farben nicht gern,
  • ebensowenig wie alle kühnen Abweichungen von der Mode, Moskau dagegen
  • verlangt, daß, wenn's schon eine Mode geben soll, diese auch nach allen
  • Regeln durchgeführt werde; trägt man lange Taillen -- dann müssen sie
  • noch viel länger werden; werden große Frackaufschläge getragen, dann
  • sind sie hier so groß wie das Tor einer Scheune. Petersburg -- ist ein
  • Mensch von peinlicher Akkuratesse -- ein echter Deutscher, es erwägt
  • alles und rechnet alles nach, und ehe es eine Abendgesellschaft gibt,
  • tut es einen Blick in die Tasche; Moskau -- ist ein russischer Edelmann,
  • wenn er sich einmal amüsiert, dann amüsiert er sich so, daß er hinfällt,
  • und kümmert sich nicht darum, ob er mehr ausgibt, als er in der Tasche
  • hat. Moskau liebt die goldene Mittelstraße nicht. Alle Moskauer
  • Zeitschriften bringen am Schluß jeder Nummer, sie mögen einen noch so
  • gelehrten Inhalt haben, immer ein Modebild; die Petersburger
  • Zeitschriften bringen nur selten Illustrationen als Beilage, aber wenn
  • sie einmal eine beifügen, dann kriegt ein Leser, der das nicht gewöhnt
  • ist, einen Schreck. Die Moskauer Zeitschriften reden von Kant, Schelling
  • usf. usf., in den Petersburger Journalen wird nur vom Publikum und über
  • die gute Gesinnung geschrieben ... In Moskau halten die Zeitschriften
  • Schritt mit dem Jahrhundert, verspäten sich aber bei Zustellung ihrer
  • Nummern; in Petersburg halten die Journale nicht Schritt mit dem
  • Jahrhundert, dafür erscheinen sie mit großer Pünktlichkeit zur
  • festgesetzten Zeit. In Moskau bringen die Literaten ihr Geld durch, in
  • Petersburg verdienen sie welches. In Moskau fährt alle Welt in dichte
  • Bärenpelze eingehüllt -- und meist zu einem Diner; in Petersburg läuft
  • alles in Friesröcken herum, die Hände tief in die Taschen vergraben, und
  • fliegt in höchster Eile zur Börse oder ins Bureau. Moskau amüsiert sich
  • bis 4 Uhr morgens und verläßt am nächsten Tage das Bett nicht vor 2 Uhr.
  • Petersburg amüsiert sich auch bis 4 Uhr morgens, und doch eilt es am
  • andern Tage, als ob nichts passiert wäre, schon um 9 Uhr in seinem
  • Friesrock in die Kanzlei. Nach Moskau kommt Rußland mit vollen Taschen
  • und kehrt erleichtert wieder zurück. Nach Petersburg kommen die Leute
  • mit leerem Beutel und fahren mit einem hübschen Kapital nach allen
  • Himmelsgegenden auseinander. Nach Moskau kommt Rußland in
  • Winterschlitten auf holperigen Winterwegen gefahren, um zu kaufen und zu
  • verkaufen: in Petersburg läuft das russische Volk im Sommer zu Fuß, um
  • bei einem Bau Beschäftigung zu finden und um zu arbeiten. Moskau -- ist
  • die große Vorratskammer, hier türmt sich Ballen über Ballen, und den
  • kleinen Händler beachtet es kaum. Petersburg ist ganz in kleine Stücke
  • zersplittert, hat sich in lauter Läden und Kaufhäuser aufgelöst und
  • macht Jagd auf die ärmeren Käufer. Moskau sagt: »Wenn der Käufer mich
  • braucht -- wird er mich schon finden!« Petersburg fährt Ihnen mit seinen
  • Aushängeschildern direkt unter die Nase, verkriecht sich mit seinem
  • »Weinausschank« bis unter den Fußboden Ihrer Wohnung und bringt seine
  • Droschkenhaltestellen geradewegs in Ihrem Haustor unter. Moskau sieht
  • über seine eigenen Einwohner hinweg und sendet seine Waren nach ganz
  • Rußland; Petersburg verkauft seine Krawatten und seine Handschuhe an
  • seine eigenen Beamten. Moskau ist eine große Markthalle; Petersburg --
  • ein heller Kaufladen. Moskau ist für Rußland eine Notwendigkeit. Rußland
  • ist eine Notwendigkeit für Petersburg. In Moskau begegnet man nur selten
  • einem Frack mit Uniformknöpfen, in Petersburg hat jeder Frack solche
  • Knöpfe. Petersburg macht sich gern über die Unbeholfenheit und
  • Geschmacklosigkeit Moskaus lustig. Moskau spottet über Petersburg, weil
  • hier nicht gut russisch gesprochen wird. In Petersburg spazieren um 2
  • Uhr auf dem Newsky-Prospekt Leute, von denen man meinen könnte, sie
  • seien aus den Modebeilagen der Journale, die in den Schaufenstern
  • ausliegen, entsprungen; sogar ganz alte Damen haben hier so dünne
  • Taillen, daß man lachen muß; in Moskau trifft man stets inmitten der
  • Masse modern gekleideter Spaziergänger eine alte Frau mit einem
  • Kopftuch, die keine Spur von Taille hat. Ich könnte noch mancherlei
  • sagen, allein es ist --
  • [Fußnote 14: Eine Art Semmel.]
  • [Fußnote 15: Moskau = russisch Moskwa ist weiblichen, Petersburg spr.
  • Pitirburg -- männlichen Geschlechts.]
  • »Ein Abstand von ganz ungeheurer Größe! ...«
  • II
  • Es ist schwer, die allgemeine Physiognomie von Petersburg zu schildern.
  • Es hat etwas, das an eine amerikanische Kolonie in Europa erinnert:
  • ebensowenig ursprüngliche Nationalität und ebensoviel fremdländische
  • Mischlinge, die sich noch nicht zu einer festen Masse zusammengefügt
  • haben. Soviel verschiedene Nationen sich hier zusammen finden,
  • ebensoviel Gesellschaftsschichten gibt es hier. Diese Kreise sind streng
  • voneinander geschieden: Aristokraten, Beamte im Dienste, Handwerker,
  • Engländer, Deutsche, Kaufleute, sie alle bilden Kreise, die sich nur
  • ganz selten miteinander vereinigen, gewöhnlich aber für sich leben und
  • sich unterhalten, ohne daß einer von dem andern etwas weiß.
  • Jeder von diesen Kreisen besteht, wenn man genauer zusieht, wieder aus
  • einer Menge kleiner Kreise, die gleichfalls nicht miteinander
  • zusammenhängen. Nehmen wir z. B. die Beamten. Die jungen Gehilfen der
  • Tischvorsteher bilden ihren eigenen Kreis, und nie wird der
  • Abteilungschef zu ihnen herabsteigen. In Gegenwart eines Kanzleibeamten
  • hebt wiederum der Tischvorsteher seinen Kopf um ein paar Zoll höher. Die
  • deutschen Handwerker und die deutschen Beamten bilden auch ihren
  • besonderen Kreis. Die Lehrer bilden einen Kreis, die Schauspieler einen,
  • ja sogar die Literaten, die noch immer recht zweideutige und
  • zweifelhafte Persönlichkeiten darstellen, stehen abseits für sich da.
  • Mit einem Wort, es ist fast so, wie wenn eine riesengroße Postkutsche
  • bei einem Gasthause vorgefahren wäre, in der alle Gäste während der
  • Fahrt in ihre Mäntel gehüllt dagesessen hätten, und nur darum zusammen
  • in den allgemeinen Saal träten, weil eben kein anderer Raum vorhanden
  • ist. Der Versuch, öffentliche Vereine zu gründen, hat bis jetzt keinen
  • Erfolg gehabt. Der Petersburger besucht auch den Klub nur, um dort
  • Mittag zu essen, und nicht, um seine Zeit dort zu verbringen. Daß
  • Petersburg noch nicht zu einem Gasthaus geworden ist, das liegt allein
  • an einer inneren Naturanlage des Russen, der, trotzdem er sich beständig
  • an den Fremden abschleift, sich immer noch eine gewisse Originalität
  • bewahrt hat. Um von jedem dieser einzelnen Kreise erzählen zu können, um
  • ihr Leben, das in Genüssen und Vergnügen, Hoffnungen und Schmerzen
  • dahinfließt, zu studieren, müßte man zu den Leuten gehören, die gar
  • nicht schreiben, weil diese Leute -- dies ist der Lohn für ihre
  • Tätigkeit -- absolut keine Zeit haben. Also lassen wir die Bälle und
  • Soireen beiseite. Ich will mich den Vergnügungen zuwenden, die eine
  • längere Erinnerung an sich zurücklassen und die von allen
  • Gesellschaftsklassen mitgemacht werden. Die Theater und Konzerte -- das
  • sind die Punkte, wo alle Klassen der Petersburger Gesellschaft
  • zusammenstoßen, wo sie genug Muße haben, sich aneinander sattzusehen.
  • Das Ballett und die Oper -- sind der König und die Königin der
  • Petersburger Theater. Sie waren noch prächtiger, rauschender,
  • hinreißender als in den früheren Jahren, und die entzückten Zuschauer
  • hatten völlig vergessen, daß es auch noch eine gewaltige Tragödie gibt,
  • die den gleichgestimmten Herzen der stumm lauschenden Menge
  • unwillkürlich die erhabensten Gefühle einhaucht, daß es eine Komödie
  • gibt, die das getreue Abbild der sich vor uns hin und her bewegenden
  • Gesellschaft ist: eine tief durchdachte Komödie, die durch die Tiefe
  • ihrer Ironie uns zum Lachen reizt; nicht zu jenem Lachen, das durch
  • einen oberflächlichen Eindruck, durch einen flüchtigen Witz oder durch
  • einen Kalauer hervorgerufen wird, auch nicht zu jenem Lachen, das die
  • rohe Menge in unserer Gesellschaft bewegt, die nach Verrenkungen und
  • fratzenhaften Verzerrungen der Natur verlangt, sondern zu jenem
  • elektrisierenden, belebenden Lachen, das, durch den blendenden
  • Gedankenblitz erschüttert, unwillkürlich, frei, ungewollt, unmittelbar
  • aus der Seele hervorströmt, das aus dem ruhigen Genuß geboren wird und
  • nur durch einen hohen Verstand hervorgerufen werden kann. Die Zuschauer
  • hatten recht, wenn sie von dem Ballett und der Oper entzückt waren ...
  • Auf der dramatischen Bühne gab es Melodramen und Possen und zugereiste
  • Gäste, die sich auf der französischen Bühne zu Hause fühlten, aber auf
  • der russischen eine recht merkwürdige Rolle spielten. Es ist ja eine
  • längst anerkannte Tatsache, daß die russischen Schauspieler sich recht
  • seltsam ausnehmen, wenn sie Marquis, Vicomtes und Barone spielen, ebenso
  • wie die französischen Schauspieler wahrscheinlich recht komisch wären,
  • wenn sie versuchen wollten, russische Bauern darzustellen. Und wie
  • machen sich Bälle, Abendgesellschaften und moderne Routs, die in den
  • russischen Stücken vorkommen, auf der Bühne? Und die Possen? Die Posse
  • hat sich schon längst die russische Bühne erobert und bildet die
  • Unterhaltung der Mittelklassen, denn diese Leute wollen eben lachen. Wer
  • hätte gedacht, daß wir nicht nur Übersetzungen, sondern auch
  • Originalpossen auf der russischen Bühne zu sehen bekommen würden? Eine
  • russische Posse! Es ist wirklich sehr merkwürdig, und zwar deshalb, weil
  • dieses leichte, farblose Spiel nur bei den Franzosen entstehen konnte,
  • bei einer Nation, deren Charakter keine tiefen, unwandelbaren Züge
  • besitzt; aber wenn man den immer noch etwas schwerfälligen und rauhen
  • russischen Charakter zwingt, sich als »_petit maître_« zu bewegen, dann
  • kommt es mir immer so vor, wie wenn einer von unseren wohlbeleibten,
  • pfiffigen und langbärtigen Kaufleuten, der bis dahin nichts anderes als
  • schwere Stulpenstiefel getragen hat, statt dieser den einen Fuß mit
  • einem schmalen Schuh und Strümpfen _à jour_ bekleiden wollte, während
  • der andere noch im Stiefel steckt, und dann in diesem Aufzuge im ersten
  • Paar der Française erscheinen wollte.
  • Es sind schon fünf Jahre, seit sich das Melodrama und die Posse alle
  • Theater der Welt erobert haben. Welch eine Nachäfferei! Sogar die
  • Deutschen .... wer hätte das gedacht, daß selbst die Deutschen, dieses
  • gediegene, zu tiefen, ästhetischen Genüssen geneigte Volk, daß die
  • Deutschen jetzt Possen schreiben und spielen und geschwollene, kalte
  • Melodramen zusammenkleistern und für die Bühne bearbeiten. Ja, wenn
  • dieses Miasma noch auf den Wink eines mächtigen Genies hergetragen
  • worden wäre! Als alle Welt der Leier Byrons nachahmte, war dies
  • keineswegs lächerlich; im Gegenteil, in diesem Streben lag etwas
  • Tröstliches. Aber daß Dumas, Dulange und andere -- universale
  • Gesetzgeber werden konnten! ... Ich möchte schwören, das XIX.
  • Jahrhundert wird sich dieser fünf Jahre schämen! O Molière! großer
  • Molière! du, der du deine Charaktere so großzügig ausstattetest, mit
  • einer solchen Vollkommenheit entwickeltest, der du ihre Schatten so
  • eingehend studiert hast, und du strenger, umsichtiger Lessing, und du
  • edel glühender Schiller, der du die Menschenwürde in so poetisch
  • verklärtem Lichte dargestellt hast! schaut hin, was jetzt nach euch auf
  • eurer Bühne geschieht, seht, was für ein seltsames Ungeheuer sich unter
  • dem Namen des Melodramas unter uns eingeschlichen hat! Wo ist denn unser
  • Leben? wo bleiben wir mit all unseren heutigen Leidenschaften und
  • Seltsamkeiten? Wenn wir doch nur einen schwachen Widerschein davon in
  • unseren Melodramen erblicken könnten! Aber unser Melodrama lügt in der
  • schamlosesten Weise ....
  • Welch unbegreifliche Erscheinung: nur das große, tiefe, ungewöhnliche
  • Talent bemerkt und entdeckt das, was uns alltäglich umgibt, was
  • unzertrennlich mit uns verwachsen ist, das Gewöhnliche; das dagegen, was
  • nur selten geschieht, was eine Ausnahme bildet, was uns durch seine
  • Häßlichkeit, durch seine Unförmlichkeit inmitten der Ordnung in
  • Erstaunen setzt, ist gerade das, wonach die Mittelmäßigkeit mit beiden
  • Händen greift. Und so fließt das Leben eines großen Talents wie ein
  • großer breiter Strom in voller Regelmäßigkeit, rein wie ein Spiegel,
  • dahin und reflektiert mit derselben Klarheit die dunklen und die hellen
  • Wolken: bei der Mittelmäßigkeit dagegen fließt es hin wie eine trübe und
  • schmutzige Welle und spiegelt weder die Helligkeit noch die Finsternis.
  • Das _Seltsame_ ist der Gegenstand des heutigen Dramas geworden. Es kommt
  • vor allem darauf an, eine Begebenheit darzustellen, die unbedingt neu,
  • unbedingt merkwürdig, noch nie dagewesen und ganz unerhört sein muß: ein
  • Mord, eine Feuersbrunst, die allerwildesten Leidenschaften, an die man
  • in der modernen Gesellschaft gar nicht einmal denkt! Wie wenn die Söhne
  • des glühenden Afrika europäische Fräcke angezogen hätten; Henker und
  • Gift -- nichts als Effekt, dieser ewige unvermeidliche Effekt, und doch
  • weckt keine Gestalt unsere Teilnahme. Noch nie hat ein Zuschauer das
  • Theater gerührt und tränenden Auges verlassen, im Gegenteil, er setzt
  • sich eilig und in einer seltsamen Erregung in den Wagen, und es dauert
  • lange, bis er seine Gedanken sammeln und sich klar über sie werden kann.
  • Solch ein Schauspiel bietet man unserer verfeinerten, gebildeten
  • Gesellschaft! Unwillkürlich steigen die blutigen Wettkämpfe, zu denen
  • ganz Rom während der Epoche höchster Macht und stumpfer Übersättigung
  • zusammenströmte, vor einem auf. Aber, Gott sei Dank, wir sind noch keine
  • Römer und stehen nicht vor dem Untergang unseres Daseins, sondern im
  • Morgenrot des Lebens! Wenn man alle Melodramen, die in unserer Zeit
  • gegeben worden sind, zusammennimmt, so könnte man glauben, in ein Museum
  • geraten zu sein, in dem absichtlich alle Mißgeburten und Auswüchse der
  • Natur vereinigt sind, oder besser gesagt -- man glaubt einen Kalender
  • vor sich zu haben, in dem mit kalendermäßiger Kaltblütigkeit alle
  • merkwürdigen Ereignisse eingetragen sind, und wo unter jedem Datum zu
  • lesen steht: heute geschah an dem und dem Orte folgender
  • Spitzbubenstreich; heute wurde der Räuber und Brandstifter Soundso
  • geköpft; dann und dann hat der Handwerker X. seine Frau umgebracht ....
  • und dergleichen mehr. Ich kann mir das Staunen eines unserer Nachkommen
  • vorstellen, der das Leben unserer Gesellschaft aus unseren Melodramen
  • studieren wollte.
  • Da ist es denn nicht zu verwundern, daß das Ballett und die Oper noch
  • eine erfreuliche Erscheinung sind und einem eine gewisse Erholung
  • bieten: hier findet man doch noch einen ruhigen Genuß. Die Oper wird bei
  • uns mit einem gierigen Enthusiasmus aufgenommen. Bis heute noch ist die
  • Begeisterung nicht vorüber, mit der sich ganz Petersburg auf die
  • lebendige, feurige Musik der »Fenella« und die wilde, von höllischen
  • Genüssen erfüllte Musik »Robert des Teufels« stürzte. -- »Semiramis«,
  • die noch vor fünf Jahren vom Publikum sehr kühl aufgenommen wurde,
  • versetzt heute, wo die Musik Rossinis fast einen Anachronismus bildet,
  • dasselbe Publikum in Verzückung. Über den Enthusiasmus, den die Oper
  • »Das Leben für den Zaren« hervorgerufen hat, will ich gar nicht erst
  • reden: er ist begreiflich und ganz Rußland bekannt. Über diese Oper
  • müßte man entweder sehr viel oder gar nichts sagen.
  • Ich rede jedoch nicht gern über die Musik oder über den Gesang. Mir
  • scheint, alle musikalischen Traktate und Rezensionen müssen die Musiker
  • von Fach langweilen; in der Musik ist das allermeiste unaussprechlich
  • und beruht auf einer unbewußten Wirkung. Die Leidenschaften der Musiker
  • -- sind keine irdischen Leidenschaften; die Musik ist nur hin und wieder
  • der Ausdruck unserer Leidenschaften oder besser gesagt: sie ahmt ihre
  • Stimme nach, um auf sie gestützt, sich wie ein perlender, singender
  • Springquell gänzlich anderer Leidenschaften in eine andere Sphäre
  • emporzuschwingen. Ich will nur noch bemerken, daß sich die Melomanie
  • immer mehr verbreitet. Leute, denen man gar keine musikalische Denkart
  • zutrauen würde, sitzen beständig in dem »Leben für den Zaren«, im
  • »Robert«, in der »Norma«, in »Fenella« und in »Semiramis«. Beinahe
  • zweimal in jeder Woche wird eine Oper aufgeführt; jede von ihnen erlebt
  • unzählige Aufführungen, und trotzdem ist es häufig schwer, ein Billett
  • zu bekommen. Ist das nicht eine Folge unserer slawischen zum Gesang
  • neigenden Natur? Und ist es nicht eine Rückkehr zu unserer alten Zeit,
  • nach einer Reise durch das fremde Land der europäischen Kultur, wo alles
  • um uns herum eine fremde Sprache sprach und wo sich lauter fremde
  • Menschen um uns drängten -- eine Rückfahrt in einem russischen
  • Dreigespann mit seinen klingenden Glocken -- ist es nicht so, als
  • erhöben wir uns von unserem Sitz, und als riefen wir, unsere Mützen
  • schwenkend, aus: »In der Fremde ist es schön -- aber zu Hause ist's doch
  • noch besser.«
  • Was für eine herrliche Oper könnte man nach unseren nationalen Motiven
  • komponieren! Zeigt mir ein Volk, das mehr Lieder hätte! Unsere Ukraine
  • hallt wider von Liedern. Auf der Wolga, von ihrer Quelle bis zum Meere,
  • ertönen -- die ganze Reihe der dahintreibenden Barken entlang -- die
  • Lieder der Schiffsknechte. Unter Gesang werden in ganz Rußland aus
  • Balken von Fichtenholz die Hütten gezimmert. Mit Gesang fliegen die
  • Ziegel von Hand zu Hand und wachsen Städte wie Pilze empor. Alte Frauen
  • singen, wenn der kleine Russe in Windeln gewickelt wird, wenn er sich
  • verheiratet und wenn er begraben wird. Alles, was reist, Adlige und
  • Bürgerliche, fliegen beim Gesang des Kutschers dahin. Am Schwarzen Meer
  • singt der bartlose braune Kosak mit dem pechschwarzen Schnurrbart,
  • während er seine Flinte ladet, ein altes Lied; und dort am anderen Ende
  • Rußlands erlegt der russische Händler rittlings auf einer Eisscholle
  • sitzend, den Walfisch mit seiner Harpune und singt ein Lied dazu. Und da
  • sollte es uns an Stoff zu einer nationalen Oper fehlen! Die Oper Glinkas
  • ist nur ein schöner Anfang. Er hat es mit viel Glück verstanden, in
  • seinem Werk zwei slawische Tonsprachen zu vereinigen; man hört es
  • deutlich, wo der Russe und wo der Pole spricht; aus dem Gesang des einen
  • hört man die freie, weite Melodie des russischen Liedes heraus, aus dem
  • des anderen den kecken, schnellen Rhythmus der polnischen Mazurka.
  • Das Petersburger Ballett ist hervorragend. Bei dieser Gelegenheit muß
  • ich ein paar Worte über das Ballett überhaupt sagen. Die
  • Ballettaufführungen in Paris, Petersburg und Berlin haben eine hohe
  • Vollendung erreicht; aber man muß gestehen, daß der Fortschritt nur in
  • der wachsenden Pracht der Kostüme und der Dekorationen besteht, das
  • eigentliche Wesen des Balletts, jedoch, die Erfindung hält nicht Schritt
  • mit der Ausstattung, die Ballettschreiber bringen nur wenig Neues in den
  • Tänzen. Bisher fehlt es noch an dem eigentlich Charakteristischen. Sehen
  • wir einmal zu: an allen Enden der Welt gibt es überall Nationaltänze;
  • der Spanier tanzt ganz anders als der Schweizer, der Schotte wiederum
  • anders als der Deutsche (bei Teniers), der Russe anders als der Franzose
  • und der Asiate. Selbst in den verschiedenen Provinzen desselben Staates
  • wechseln die Tänze. Der Russe des Nordens tanzt nicht so wie der
  • Kleinrusse, wie der Südslawe, der Pole oder Finne; der Tanz des einen
  • ist ausdrucksvoll, der des andern gefühllos, der eine ist wild und
  • rasend, der andere ruhig, der eine gewaltsam und schwerfällig, der
  • andere leicht und ätherisch. Woher stammt diese Mannigfaltigkeit der
  • Tänze? Sie stammt aus dem Charakter der Völker, aus ihrer Lebensweise
  • und der Art ihrer Beschäftigung. Ein Volk, das ein stolzes,
  • kriegerisches Leben führt, bringt diesen Stolz auch in seinem Tanz zum
  • Ausdruck; bei einem sorglosen, freien Volk spiegelt sich auch in den
  • Tänzen eine grenzenlose Freiheit und eine poetische Selbstvergessenheit;
  • ein Volk, das in einem heißen Klima lebt, läßt auch in seinen
  • Nationaltänzen Glut, Leidenschaft und Eifersucht spüren. Der Schöpfer
  • eines Balletts kann zur Charakterisierung seiner tanzenden Helden, wenn
  • er sich nur von einem feinen Geschmack leiten läßt, aus diesem reichen
  • Stoffe wählen, soviel er will. Es versteht sich von selbst, daß er, wenn
  • er erst einmal den Grundcharakter erfaßt hat, ihn noch weiter entwickeln
  • und sich weit über sein Original emporschwingen kann, so wie ein
  • musikalisches Genie aus einem einfachen Liede, das es auf der Straße
  • hört, ein ganzes Gedicht macht. Wenigstens wird der Tanz erst dann einen
  • tieferen Sinn erhalten, und so kann diese leichte, luftige und feurige
  • Sprache, die bis jetzt immer noch etwas beengt und beschränkt erscheint,
  • sich zu höherer Form und Plastik entwickeln.
  • Die Petersburger sind große Freunde des Theaters. Wenn Sie einmal an
  • einem frischen, kalten Morgen, während der rosig goldene Himmel von
  • durchsichtigen Rauchwolken, die aus den Schornsteinen aufsteigen,
  • durchzogen wird, auf dem Newsky-Prospekt spazieren sollten, dann treten
  • Sie um diese Zeit ins Foyer des Alexandra-Theaters: Sie werden erstaunt
  • sein über die hartnäckige Geduld, mit der die hier versammelte
  • Volksmenge in dichten Haufen den Billettverkäufer belagert, der seine
  • Hand aus dem Kassenfenster herausstreckt. Wie viel Lakaien aller Art
  • drängen sich hier, der eine im grauen Mantel mit einer bunten seidenen
  • Krawatte, aber ohne Mütze, und ein anderer, bei dem der dreistöckige
  • Kragen der Livree einem bunten Tintenwisch aus Tuch in Gestalt eines
  • Schmetterlings gleicht. Hier drängen sich auch jene Beamten, die sich
  • die Stiefel von ihren Köchinnen putzen lassen, und die niemand haben,
  • den sie nach einem Theaterbillett schicken können. Hier können Sie auch
  • sehen, wie ein echtrussischer Held plötzlich die Geduld verliert, auf
  • den Schultern der ganzen Menge bis zur Kasse vordringt und sein Billett
  • empfängt. Dann erst wird Ihnen klar werden, wie sich bei uns die Liebe
  • zum Theater bemerkbar macht. Und was wird auf unseren Bühnen gegeben? --
  • Melodramen und Vaudevilles! ... Ich hasse diese Melodramen und
  • Vaudevilles.
  • Die Lage der russischen Schauspieler ist sehr traurig. Vor ihnen zittert
  • und brodelt ein aufnahmefähiges Publikum, und sie müssen Leute
  • darstellen, die sie noch nie gesehen haben. Was sollen sie mit diesen
  • seltsamen Helden anfangen, die weder Franzosen noch Deutsche sind,
  • sondern halbverrückte Leute, die weder eine bestimmte Leidenschaft noch
  • eine charakteristische Physiognomie haben? Wie soll man da zeigen, was
  • man kann, wie sollen sich unter solchen Verhältnissen Talente
  • entwickeln? Gebt uns um Gottes willen wahrhaft russische Charaktere,
  • gebt uns uns selber, unsere Gauner und unsere Querköpfe! herauf mit
  • ihnen auf die Bühne und gebt sie dem Gelächter aller preis! Das Lachen
  • -- ist etwas wahrhaft Großes, es raubt uns weder das Leben, noch unser
  • Eigentum, und doch steht der Schuldige da wie ein Hase, dem man die
  • Beine zusammengebunden hat. Wir haben uns so sehr an die farblosen
  • französischen Stücke gewöhnt, daß wir uns beinahe fürchten, unsere
  • eigenen zu sehen. Wenn man uns einen lebendigen Charakter vorführt, so
  • glauben wir gleich, das sei eine persönliche Anspielung, weil die
  • dargestellte Person weder einem _Paysan_, einem Theater-Tyrannen, einem
  • Reimschmied, einem Richter oder dergleichen verbrauchten Typen gleicht,
  • die von zahnlosen Autoren förmlich in ihre Stücke geschleppt werden, so
  • wie man etwa einen jener unvermeidlichen Figuranten auf die Bühne
  • schleppt, die vor dem Publikum mit dem gleichen stereotypen Lächeln ihre
  • im Laufe von vierzig Jahren bis zur Virtuosität einstudierten »Pas«
  • herunterholzen. Wenn man z. B. sagt, daß es in einer Stadt einen nicht
  • ganz nüchternen Hofrat gibt, so fühlen sich gleich alle Hofräte
  • beleidigt, und manch ein anderer »Rat« sagt wohl gar: »Wie ist das nur
  • möglich, ich habe einen Verwandten, der ist Hofrat: ein vortrefflicher
  • Mensch! wie kann man denn sagen, daß es einen betrunkenen Hofrat gibt!«
  • Als ob ein einziger einen ganzen Stand um seine Ehre bringen könnte! Und
  • solch eine Empfindlichkeit ist bei uns tatsächlich in allen
  • Gesellschaftsklassen verbreitet. Braucht es etwa noch der Beispiele? Man
  • denke nur an den »Revisor«.
  • Es ist wirklich peinlich. Es wäre doch wirklich höchste Zeit,
  • einzusehen, daß nur eine getreue Darstellung von Charakteren -- nicht in
  • ihren längst bekannten immer aufs neue wiederholten allgemeinen Zügen --
  • sondern in einer Form von wahrhaft nationalem Gepräge, die uns durch
  • ihre Lebendigkeit überrascht, so daß wir ausrufen: »Ja aber, mir
  • scheint, das ist doch ein Bekannter von mir!« -- daß nur solch eine
  • Darstellung einen wesentlichen Nutzen bringt. Wir haben aus dem Theater
  • ein Spielzeug in der Art jener Rasselchen gemacht, womit man Kinder
  • herbeilockt, wir haben vergessen, daß das Theater ein Katheder ist, von
  • dem aus man einer ganzen großen Menge eine lebendige Lehre vorträgt, auf
  • ein Beispiel hinweist, wo uns beim festlichen Lichterglanz, beim Lärm
  • der Musik, unter einstimmigem Gelächter, ein weitbekanntes, verstecktes
  • Laster gezeigt wird, und wo, begleitet von der geheimen Stimme der
  • allgemeinen Teilnahme, ein allbekanntes, sich ängstlich verbergendes,
  • edles Gefühl ans Licht gezogen wird.
  • Aber genug vom Theater. Ich habe schon zuviel davon geredet. Der
  • Winterkarneval schließt mit einer lauten und lärmenden Woche ab; dann
  • fliegt die eine Hälfte der Petersburger auf Schaukeln durch die Luft
  • oder saust wie der Wirbelwind die Rodelbahn hinunter, während sich die
  • andere Hälfte in eine lange Kette von Wagen verwandelt, die sich kaum
  • vorwärtsbewegt, immer wieder aufgehalten von dem für Ordnung sorgenden
  • Gendarmen; da gibt's den ganzen Tag über und am Abend alle möglichen
  • Vorstellungen, und der ganze Admiralitätsplatz ist mit Nußschalen
  • bedeckt ....
  • Still und finster ist die Zeit der großen Fasten. Es ist einem, als
  • vernehme man eine Stimme, die einem zuruft: »Halt ein, Christenmensch:
  • sieh zu, wie du lebst.« Die Straßen sind leer. Man sieht keine Wagen.
  • Ein sinnender Zug liegt auf den Gesichtern der Vorübergehenden. Ich
  • liebe dich, du Zeit der Nachdenklichkeit und des Gebets! Freier und mit
  • mehr Überlegung werden meine Gedanken dahinfließen, und diese ganze
  • seichte, eitle Gesellschaft wird sicherlich müde und verschlafen
  • daliegen und vergessen, zu mir zu kommen und mich mit ihrem trivialen
  • Gerede über Whist, Literatur, Auszeichnungen und Theater zu plagen.
  • Die Fastenzeit in Petersburg ist das Fest der Musik. Um diese Zeit
  • kommen hier Musiker aus allen Teilen Europas zusammen. Das
  • Monstre-Konzert zum Besten der Invaliden hat immer etwas Gewaltiges;
  • vierhundert Musiker! das macht einen mächtigen Eindruck! Wenn der
  • harmonische Zusammenklang von vierhundert Tönen unter dem dröhnenden
  • Gewölbe emporhallt, dann muß, wie mir scheint, auch die Seele jedes
  • Zuhörers, und wäre sie noch so armselig, von einer ganz ungewöhnlichen
  • Erschütterung durchzittert werden.
  • Während der Fastenzeit fällt dann und wann ein Sonnenstrahl in die
  • Petersburger Atmosphäre. Der westliche Teil, der dem Meere zugewandt
  • ist, wird heller. Der Norden blickt von der Wiborger Seite weniger
  • finster herüber. Immer häufiger halten die Wagen auf der Straße, und die
  • Insassen steigen aus, um auf dem Trottoir spazierenzugehen. Seit dem
  • Jahre 1836 ist der Newsky-Prospekt, dieser laute, ewig bewegte, emsige,
  • vorwärtsdrängende Newsky-Prospekt ganz heruntergekommen: der Treffpunkt
  • der vornehmen Welt ist an den Englischen Kai verlegt worden. Der
  • verstorbene Kaiser liebte den Englischen Kai. Er ist auch wirklich
  • wundervoll. Aber jetzt, wo der Korso dahin verlegt worden ist, habe ich
  • erst bemerkt, daß der Kai etwas zu kurz ist. Die Spaziergänger sind
  • trotzdem noch im Vorteil, denn die Hälfte des Newsky-Prospekts war immer
  • von Handwerkern und Beamten besetzt, und man hatte hier die Aussicht,
  • dreimal soviel Püffe zu bekommen, wie an irgendeinem anderen Ort.
  • Warum eilt nur unsere Zeit, die durch nichts zu ersetzen ist, so schnell
  • dahin? Wer ruft sie zu sich? Was bilden doch die großen Fasten für einen
  • ruhigen, stillen Zeitabschnitt! Was kann man in diesen sieben Wochen
  • nicht alles vollbringen? Jetzt will ich mich endlich ernstlich an meine
  • Arbeit machen. Jetzt werde ich endlich vollenden, was mich der Lärm und
  • die allgemeine Unruhe nicht vollenden ließen. Aber ach, die erste Woche
  • geht schon zu Ende! Ich habe noch nicht angefangen und schon kommt die
  • zweite hinter ihr hergejagt, schon ist die erste Hälfte der dritten
  • vorüber, schon kommt die vierte heran, schon beginnt der große Jahrmarkt
  • im Gostinnij Dwor[16], und eine ganze Galerie von jungen Weidenruten mit
  • wächsernen Früchten und Blumen blüht unter den dunklen Hallen auf. Als
  • ich an dieser bunten Allee, in deren Dunkel eine Menge von roh
  • geschnitztem Kinderspielzeug aufgetürmt war, vorüberging, wurde mir
  • recht peinlich zumute. Ich ärgerte mich über die rotwangigen
  • Kinderfrauen, die sich hier in ganzen Trupps herumtrieben, über die
  • Kinder, die ganz glücklich vor diesem Haufen eines ihnen so viel
  • Vergnügen bereitenden Plunders stehenblieben, und über den schwarzen
  • untersetzten Griechen mit dem großen Schnurrbart, der sich moldauischer
  • Konditor titulierte und allerhand zweifelhafte und undefinierbare
  • Leckereien feilbot. Die auf den Tisch ausgebreiteten Stiefelbürsten,
  • bleiernen Äffchen, Gabeln und Messer, Honigkuchen und kleinen Spiegel
  • widerten mich an. Die bunte Menge aber drängt sich und schiebt sich
  • immerfort weiter, überall begegnet man demselben Ausdruck in den Zügen;
  • mit derselben Neugierde wie im vorigen Jahr, wie vor zwei und drei und
  • mehr Jahren, blickt man auf all die Dinge; ich aber und jeder einzelne
  • Mensch von diesem Volk sind schon nicht mehr dieselben, es sind andere
  • Gefühle, die es heute bewegen, nicht die, die es im vergangenen Jahr
  • bewegten, die Gedanken sind finsterer geworden, von den Lippen strahlt
  • uns kein so heiteres Seelenlächeln entgegen wie ehedem, und jeden Tag
  • verliert es etwas von seiner früheren Lebhaftigkeit!
  • [Fußnote 16: Eine große Markthalle in Petersburg.]
  • Auf der Newa gab es früh Eisgang. Ohne von den Winden beunruhigt zu
  • werden, taute das Eis noch beinahe vor dem eigentlichen Eisgang auf und
  • war so locker, daß es sich, während es von der Strömung fortgetragen
  • wurde, von selbst auflöste. Bei nahezu gleicher Zeit sandte auch der
  • Ladoga-See seine Eismassen hinunter. Die Hauptstadt war plötzlich wie
  • verwandelt. Die Spitze des Glockenturms der Peter-Pauls-Kirche, die
  • Festung, die Wilhelmsinsel, die Wiborger Seite und der englische Kai --
  • alles nahm ein malerisches Aussehen an. Rauchwolken ausstoßend, kam der
  • erste Dampfer herangeflogen! Von Wassilij Ostrow und nach ihm hin fuhren
  • die ersten, mit Beamten, Soldaten, alten Kinderfrauen und englischen
  • Kanzleibeamten besetzten Kähne über die Newa. Ich kann mich nicht
  • erinnern, daß wir in jüngster Zeit so ein stilles, heiteres Wetter
  • gehabt haben. Es war am Abend vor Ostersonntag, als ich den Boulevard
  • der Admiralität betrat und auf ihm bis zum Landungsplatz der Dampfer
  • schritt, von dem einem zwei Jaspis-Vasen entgegenleuchten; da lag mit
  • einem Male die Newa offen vor mir, auf der Wiborger Seite schimmerte das
  • helle Rot des Himmels durch einen blauen Nebel hindurch, die Häuser der
  • Petersburger Seite waren in ein beinahe violettes Licht getaucht, das
  • ihr unschönes Äußere verhüllte, die Kirchen, über deren gewölbte Flächen
  • der Nebel seine monotone Decke breitete, schienen wie auf einen
  • Hintergrund von hellrosa Stoff gemalt oder aufgeklebt, und in dieser
  • violetten und hellblauen Finsternis blitzte allein die Turmspitze der
  • Peter-Pauls-Kirche auf und spiegelte sich im unendlichen Wasserspiegel
  • der Newa -- da schien mir's, als sei ich gar nicht in Petersburg,
  • sondern als wäre ich in eine andere Stadt versetzt, in der ich schon
  • einmal gewesen war, wo ich alles kenne und wo es das gibt, was
  • Petersburg nicht hat ... Da war auch der bekannte Ruderknecht, den ich
  • schon mehr als ein halbes Jahr nicht gesehen hatte, er machte sich am
  • Ufer mit seinem Kahn zu schaffen, vertraute Reden klangen an mein Ohr;
  • und dann das Wasser und der Sommer, die es in Petersburg nicht gab.
  • Ich liebe den Frühling außerordentlich. Sogar hier in diesem rauhen
  • Norden ist er meine liebste Jahreszeit. Mir scheint, kein Mensch in der
  • ganzen Welt liebt ihn so wie ich. Mit ihm kehrt meine Jugend zu mir
  • zurück; im Frühling ist meine Vergangenheit mehr als eine bloße
  • Erinnerung -- sie liegt vor meinem Blick und treibt mir Tränen in die
  • Augen. Ich war durch die hellen, klaren Tage des Ostersonntags so
  • berauscht, daß ich den großen Jahrmarkt auf dem Admiralitätsplatz gar
  • nicht bemerkte. Nur ganz von ferne sah ich, wie eine Schaukel einen
  • jungen Burschen, Arm in Arm mit einer Dame in elegantem Hut, hoch in die
  • Luft trug, und an einer Ecke streifte mein Auge das große Schild einer
  • Schaubude, auf dem ein ungeheurer roter Teufel mit einer Axt in der Hand
  • abgebildet war. Sonst habe ich nichts mehr gesehen.
  • Es ist fast, als ob das Leben der Residenz mit dem Ostersonntag seinen
  • Abschluß findet, und es scheint, als mache sich hierauf alles, was wir
  • auf der Straße sehen, auf die Reise. Die Vorstellungen und die Bälle
  • nach Ostern sind nichts als die Reste von denen, die vor der Fastenzeit
  • stattfanden, oder besser gesagt -- sie sind die letzten Gäste, die
  • später aufbrechen als die anderen, am Kamin noch einige Worte wechseln,
  • und die Hand vor den Mund legen, um ihr Gähnen zu verbergen. Die Stadt
  • trocknet ganz aus, auch die Trottoirs sind trocken. Die Petersburger
  • Gentlemen spazieren im bloßen Rock, jeder mit einem andern Spazierstock
  • herum; statt der schweren Kutschen sieht man halbgedeckte Droschken und
  • Kabrioletts über das glatte Straßenpflaster rollen. Jetzt werden auch
  • viel weniger Bücher gelesen. Schon sieht man in den Schaufenstern statt
  • der wollenen Strümpfe Sommermützen und Reitpeitschen ausliegen. Mit
  • einem Wort, während des ganzen Monats April scheint ganz Petersburg im
  • Aufbruch begriffen. Es ist so angenehm, die sitzende, seßhafte
  • Lebensweise aufzugeben und von einem weiten Weg unter einen andern
  • Himmel nach den grünen Hainen des Südens, nach Ländern, in denen eine
  • neue Luft weht, zu träumen. Der hat es gut, dem am Ende einer
  • Petersburger Straße die in die Wolken ragenden Berge des Kaukasus, die
  • Seen der Schweiz, das mit Lorbeeren und Anemonen geschmückte Italien
  • oder das trotz seiner Öde noch herrliche Griechenland winkt .... Aber
  • halt ein, mein Gedanke: noch türmen sich zu meinen beiden Seiten die
  • Häuser Petersburgs empor ....
  • III
  • Italienische Sommernächte
  • Erste Nacht.
  • Sie waren so süß und so qualvoll, diese schlaflosen Nächte. Er saß krank
  • in seinem Lehnstuhl. Ich war bei ihm. Der Schlaf wagte es nicht, meine
  • Lider zu berühren. Stumm und gehorsam schien er das Heiligtum unseres
  • nächtlichen Wachseins zu achten. Es war mir so süß, neben ihm zu sitzen
  • und ihn anzuschaun. Schon seit zwei Nächten sagten wir uns _du_. Wie
  • viel näher war er mir seitdem gerückt. Er saß immer gleich sanft, still
  • und ergeben da. Gott! wie freudig, mit welcher Heiterkeit hätte ich
  • seine Krankheit auf mich genommen! Und wenn mein Tod ihm seine
  • Gesundheit hätte zurückgeben können, wie bereitwillig hätte ich mich ihm
  • in die Arme geworfen!
  • * * * * *
  • Heute nacht war ich nicht bei ihm. Ich hatte mich endlich entschlossen,
  • wieder einmal zu Hause zu schlafen. Oh! wie häßlich, wie trivial war
  • diese Nacht und mein verächtlicher Schlaf! Ich schlief schlecht,
  • obgleich ich alle Nächte in der vergangenen Woche schlaflos verbracht
  • hatte. Der Gedanke an ihn peinigte mich. Ich sah ihn vor mir, wie er
  • mich flehend und vorwurfsvoll anblickte. Ich sah ihn mit den Augen der
  • Seele. Wie ein Verbrecher eilte ich am nächsten Morgen in aller Frühe zu
  • ihm. Er erblickte mich von seinem Bett aus und lächelte mit jenem
  • Engelslächeln, das ihm jetzt eigen war. Er reichte mir die Hand und
  • drückte sie liebevoll. »Verräter!« sagte er. »Du bist mir untreu
  • geworden.« -- »Mein Engel,« rief ich aus, »verzeihe mir. Ich habe
  • gefühlt, wie du gelitten. Ich habe mich die ganze Nacht gequält. Meine
  • Ruhe war keine Ruhe. Verzeihe mir.« Er war so gütig. Mild drückte er
  • meine Hand. Wie war ich da für die Qualen meiner so sinnlos verbrachten
  • Nacht belohnt! -- »Mein Kopf ist mir so schwer,« sagte er. Ich fächelte
  • ihm mit einem Lorbeerzweig Kühlung zu. »Oh, wie kühl, wie schön das
  • ist!« sagte er. Seine Worte waren ... ach, wie waren diese Worte ...!
  • Was hätte ich damals nicht dafür gegeben -- auf welche irdischen Güter,
  • diese verächtlichen, gemeinen, häßlichen Güter hätte ich damals nicht
  • verzichtet ... nein ... oh, sprechen wir nicht davon! O du, in dessen
  • Hände diese formlosen, schwachen Zeilen, dieser matte Ausdruck meiner
  • Gefühle, kommen -- wenn sie überhaupt in deine Hände kommen -- du wirst
  • mich verstehn. Sonst wirst du sie nie zu sehen bekommen. Du wirst
  • verstehn, wie häßlich dieser ganze Haufen von Schätzen und Ehren, dieser
  • tönenden Lockungen der Holzpuppen ist, die man Menschen nennt. Oh! mit
  • welcher Freude, mit welcher Wut wollte ich alles zerstampfen und
  • zertreten, was das mächtige Zepter des Kaisers des Nordens zu
  • verschenken hat, wenn ich nur wüßte, daß ich damit ein Lächeln auf
  • seinem Antlitz erkaufen könnte, das mir eine kleine Erleichterung
  • ankündigt.
  • »Warum hast du mir einen so schlimmen Mai gebracht?« sagte er, als er
  • erwachte; er saß im Lehnstuhl, er hörte den Wind, der hinter den
  • Fensterscheiben brauste, die süßen Wohlgerüche wilder Jasminblüten und
  • weißer Akazien mit sich führte und sie mit den Rosenblättern durch die
  • Luft trug.
  • * * * * *
  • Um 10 Uhr ging ich zu ihm hinunter. Ich hatte ihn vor drei Stunden
  • verlassen, um selbst etwas auszuruhn und etwas zurechtzumachen, um ihm
  • eine kleine Abwechslung zu verschaffen, damit mein Erscheinen ihm später
  • mehr Freude bereite. Ich kam um 10 Uhr zu ihm hinunter. Er saß schon
  • über eine Stunde allein. Die Gäste, die bei ihm gewesen waren, hatten
  • ihn längst verlassen. Er saß allein. Die Qual der Einsamkeit war auf
  • seinem Gesicht zu lesen. Als er mich erblickte, winkte er leicht mit der
  • Hand. »O du mein Retter,« sagte er. Noch heute klingen mir diese Worte
  • im Ohre. »O du mein Engel, du hast dich gelangweilt?« »Oh! wie habe ich
  • mich gelangweilt!« antwortete er. Ich küßte ihn auf die Schulter. Er
  • reichte mir seine Wange. Wir küßten uns; er drückte noch immer meine
  • Hand.
  • Achte Nacht.
  • Er lag nicht gern im Bett und legte sich fast nie nieder. Er zog seinen
  • Lehnstuhl und die sitzende Stellung vor. Aber in dieser Nacht sagte ihm
  • der Arzt, er müsse sich ausruhn. Mißmutig stand er auf, stützte sich auf
  • meine Schulter und ging zu seinem Bett. Mein liebes Herz! Sein müder
  • Blick, sein bunter warmer Rock, sein langsamer Schritt, ich sehe das
  • alles noch, es steht mir vor Augen. Er lehnte sich an meine Schulter und
  • flüsterte mir ins Ohr, indem er einen Blick auf das Bett warf: »Jetzt
  • bin ich verlassen.« -- »Wir wollen nur eine halbe Stunde im Bett
  • bleiben,« sagte ich ihm, »dann setzen wir uns wieder in deinen Stuhl!«
  • Ich blickte auf dich, du liebe, zarte Blüte! Die ganze Zeit, während du
  • im Bett oder im Lehnstuhl schliefst oder nur schlummertest, folgte ich
  • jeder deiner Bewegungen, bei jedem Blick aus deinen Augen wie durch eine
  • unerklärliche Gewalt an dich gebannt.
  • Wie seltsam neu war mir damals mein Leben, und doch war mir's, als sei
  • das alles nur eine Wiederholung von etwas Fernem, längst Dagewesenem!
  • Aber mir scheint, es ist schwer, eine Vorstellung davon zu geben, mir
  • war's, als kehre ein flüchtiger, neuer Abschnitt meiner Jugend zu mir
  • zurück, einer Zeit, wo die junge Seele nach Freundschaft und
  • Verbrüderung mit ihren jungen Altersgenossen dürstet, nach einer
  • wahrhaft jugendlichen Freundschaft voller lieber, beinahe kindlicher
  • Kleinigkeiten und gegenseitiger Beweise einer zärtlichen Anhänglichkeit;
  • wo es so süß ist, einander Aug' in Auge zu schauen, wo man häufig sogar
  • zu dem überflüssigsten Opfer bereit ist. Alle diese süßen, jungen,
  • frischen Gefühle -- die, ach, nur die Bewohner einer unwiederbringlich
  • verlorenen Welt sind -- alle diese Gefühle kehrten zu mir zurück. Mein
  • Gott, warum nur? Ich blickte auf dich, meine liebe, junge Blüte! Wehte
  • mich darum dieser liebliche Duft der Jugend so plötzlich an, um mich
  • dann mit einemmal in eine noch größere, tödliche Erstarrung der Gefühle
  • zu stürzen, und um mich plötzlich um zehn Jahre älter zu machen, damit
  • ich noch verzweifelter, noch hoffnungsloser auf mein dahinschwindendes
  • Leben sehen sollte? So flammt ein ausgehendes Licht noch ein letztes Mal
  • in der Luft auf und erleuchtet noch einmal zitternd die düstren Mauern,
  • um dann für immer zu erlöschen.
  • Rom
  • Ein Fragment
  • Deutsch von Otto Buek
  • Sieh dir den Blitz an, wenn er durch kohlschwarze Wolken bricht und
  • schier unerträglich aufleuchtet in einer wahren Flut von Licht: so sind
  • die Augen der Albanerin Anunziata. An ihr erinnert alles an jene alten
  • Zeiten, als der Marmor aufzuleben begann und der Meißel in der Hand des
  • Bildhauers blitzte. Ein schwerer Zopf dichter, pechschwarzer Haare
  • schlang sich in zwei Ringen hoch um das Haupt, um in vier langen Locken
  • auf den Hals herabzufallen. Wem sie den leuchtenden Schnee ihres
  • Antlitzes zuwenden mochte -- ihr Bild prägte sich jedem tief ins Herz
  • hinein. Wandte sie jemand ihr Profil zu -- so strömte ein wunderbarer
  • Adel von ihm aus, und der schöne Schwung der Linien übertraf alles, was
  • je eines Malers Pinsel geschaffen hat. Oder drehte sie einem den Rücken
  • und ließ sie ihm ihren Hinterkopf mit dem herrlichen, aufwärts gekämmten
  • Haar, den leuchtenden Hals und die überirdische, nie gesehene Schönheit
  • ihrer Schultern sehen -- so wirkte sie auch da wie ein Wunder. Aber am
  • herrlichsten war sie, wenn sie ihre Augen auf jemand richtete, ihn ansah
  • und kalte Schauer in sein Herz goß. Hell wie Erz tönte ihre volle
  • Stimme. Kein geschmeidiger Panther hätte es an Kraft, Stolz und
  • Schnelligkeit der Bewegungen mit ihr aufnehmen können. In jedem Teile
  • ihres herrlichen Körpers erschien sie wie die Krone der Schöpfung, von
  • den Schultern bis hinab zu dem lebenatmenden Fuß von antiker Bildung --
  • ja bis zur letzten Zehe dieses Fußes. Wohin sie gehen mochte -- stets
  • ließ sie ein Bild vor dem Auge erstehen: wenn sie abends mit der
  • getriebenen Bronzevase auf dem Haupte zum Brunnen eilte, so schien sich
  • die ganze Umwelt mit einer wunderbaren Harmonie zu erfüllen: die
  • herrlichen Linien des Albanergebirges verloren sich sanfter in der
  • Ferne, blauer als sonst erschien die Tiefe des römischen Himmels,
  • schlanker strebte die Zypresse zur Höhe, und der schönste unter den
  • Bäumen des Südens, die römische Pinie, hob sich mit ihrer schirmartigen,
  • wie in der Luft schwebenden Spitze zarter und reiner vom Himmel ab. Und
  • alles, der Brunnen, wo auf den Marmorstufen die Albanermädchen, eine
  • größer und schlanker als die andre, in Haufen beieinander standen und
  • mit ihren kräftigen, silbernen Stimmen durcheinanderschwatzten, während
  • in klingendem, diamantenem Strahl das Wasser emporsprang und
  • nacheinander die untergehaltenen kupfernen Krüge füllte, -- der Brunnen,
  • die Mädchengruppen, -- alles schien allein um ihretwillen da zu sein, um
  • ihre sieghafte Schönheit noch heller erstrahlen, um erkennen zu lassen,
  • daß sie über alles herrscht und gebietet, wie eine Königin über ihr
  • Hofgesinde. Oder, wenn an einem Feiertage die dunkle Baumgalerie, die
  • von Albano nach Castel Gandolfo führt, voll festlich gekleideter
  • Menschen ist, wenn unter ihrer dunklen Wölbung die Minenti stutzerhaft
  • in Sammetkleidern mit leuchtenden Gürteln und einer goldfarbenen Blume
  • an ihrem Kastorhut einherspazieren, wenn zahlreiche Esel mit
  • halbgeschlossenen Augen schlanke, kräftige Albanerinnen und
  • Frascatanerinnen in malerischer Haltung mit weithin schimmerndem, weißem
  • Kopfputz im Schritt oder im Galopp vorübertragen, oder mühsam,
  • fortwährend stolpernd und so gar nicht malerisch mit einem langen,
  • unbeweglichen, in einen erbsgrauen, undurchdringlichen Mantel gehüllten
  • Engländer vorüberziehen, der aus Furcht, seine Füße könnten die Erde
  • berühren, mit spitzwinklig emporgezogenen Beinen dasitzt, oder mit einem
  • Künstler in einer schlichten Bluse, einem an einem Riemen befestigten
  • Holzkasten und einem kecken Van-Dyk-Bärtchen vorbeitraben, während
  • Schatten und Sonnenlicht abwechselnd über die ganze Gruppe huschen --
  • selbst dann, d. h. selbst an solch einem Feiertage ist es einem weit
  • wohler zumute, wenn sie da ist, als wenn sie fehlt. Die Passage läßt sie
  • strahlend und ganz in Licht gehüllt aus ihrer finstern, dunklen Tiefe
  • heraustreten. Der Purpurstoff ihres albanischen Kleides flammt wie Gold,
  • das ein Sonnenstrahl berührt hat. Eine wundersame Feiertagsstimmung
  • leuchtet einem jeden von ihrem Anlitz entgegen, und wer ihr begegnet,
  • bleibt wie angewurzelt stehen: der stutzerhafte Minenti mit der Blume am
  • Hut stößt einen Schrei der Überraschung aus, das Gesicht des Engländers
  • im erbsgrauen Mantel verwandelt sich in ein Fragezeichen, und der
  • Künstler mit dem Van-Dyk-Bärtchen ...; doch dieser bleibt viel länger
  • auf einem Flecke stehen, als alle andern, wie wenn er sich dächte: ja,
  • das wäre ein herrliches Modell für eine Diana, eine stolze Juno, eine
  • verführerische Grazie wie überhaupt für jede Frau, die jemals auf einer
  • Leinwand dargestellt ward! Und er fügt wohl in Gedanken kühn hinzu: ja,
  • das wäre ein Paradies, wenn ein solches Wunder mein bescheidenes Atelier
  • für immer schmücken könnte.
  • Wer aber ist _er_, dessen Blick sich so viel leidenschaftlicher und wie
  • gebannt an ihre Spuren heftet! Wer ist er, der jedes ihrer Worte, jede
  • ihrer Bewegungen und Gedankenregungen so aufmerksam auf ihrem Gesichte
  • verfolgt. Ein fünfundzwanzigjähriger Jüngling, ein römischer Fürst, der
  • Nachkomme einer Familie, die einst die Ehre, den Stolz und die Schmach
  • des Mittelalters bildete und die nun in einem wunderbaren alten Schloß
  • auf ihr nahes Ende wartete. Dieses mit Fresken von Guercin und Caracci
  • gezierte Schloß beherbergte eine Bildergalerie voll nachgedunkelter
  • Gemälde, verblichener Stoffe, lazurblauer Tische und wurde von einem
  • _Maestro di casa_ verwaltet, der selbst grau wie ein Falke war.
  • Vor kurzem erst hatten ihn die römischen Straßen erblickt: diese
  • schwarzen Augen, die hinter dem über die Schulter geworfenen Mantel
  • Blitze hervorschleuderten, diese Nase von antiker Kontur, das Elfenbein
  • seiner Stirn und die auf sie herabfallende wehende Locke seidenen
  • Haares. Nach fünfzehnjähriger Abwesenheit war er wieder in Rom
  • aufgetaucht; nun ein stolzer Jüngling, er, der noch vor kurzem ein Kind
  • gewesen war.
  • Aber der Leser muß unbedingt erfahren, wie das alles geschah, und daher
  • wollen wir schnell die Geschichte dieses jungen, aber an starken
  • Eindrücken schon so reichen Lebens an uns vorüberziehen lassen. Seine
  • frühste Jugend hatte der Fürst in Rom verlebt; er erhielt eine
  • Erziehung, wie sie bei den hohen römischen Würdenträgern, deren Leben
  • sich seinem Ende entgegenneigt, üblich ist. Ein Abbé vertrat bei ihm die
  • Stelle des Lehrers, Aufsehers, Gouverneurs usw.; dieser war ein strenger
  • Klassiker, ein Verehrer der Briefe Pietro Bembos, der Werke des Giovanni
  • della Casa und einiger fünf oder sechs Gesänge Dantes, die er beim Lesen
  • stets mit lebhaften Ausrufen wie: »_Dio che cosa divina!_« begleitete,
  • um nach ein paar Zeilen gleich wieder hinzuzufügen: »_Diavolo che divina
  • cosa!_« Darin bestand das ganze künstlerische Werturteil und die ganze
  • Kritik der von ihm so bewunderten Werke -- im übrigen aber sprach er nur
  • über Broccoli und Artischocken, -- dies war sein Lieblingsthema, und er
  • wußte ganz genau, zu welcher Jahreszeit das Kalbfleisch am besten sei
  • und in welchem Monat man damit beginnen könne, junges Ziegenfleisch zu
  • essen; über all diese Gegenstände unterhielt er sich am liebsten auf der
  • Straße, wo er gewöhnlich einen andern Abbé zu treffen pflegte; er trug
  • schwarze seidene Strümpfe, in die er zuvor ein Paar wollene
  • hineinstopfte, wodurch er seine dicken Waden geschickt zur Geltung zu
  • bringen wußte, nahm regelmäßig einmal im Monat eine Portion _Olio di
  • ricino_ in einer Tasse Kaffee als Purgiermittel ein und wurde, wie alle
  • Abbés, mit jedem Tag und jeder Stunde wohlbeleibter. Es ist begreiflich,
  • daß sich der junge Fürst bei einer solchen Erziehung kein großes Wissen
  • aneignete. Er erfuhr nur, daß die lateinische Sprache die Mutter der
  • italienischen sei, daß es drei Arten von Monsignori gibt: solche in
  • schwarzen Strümpfen, solche in violetten Strümpfen und endlich solche,
  • die beinahe so viel bedeuten, wie ein Kardinal; er lernte einige Briefe
  • Pietro Bembos -- meist Glückwunschschreiben an die zu jener Zeit
  • lebenden Kardinäle -- kennen, machte nähere Bekanntschaft mit der
  • Corsostraße, wo er häufig mit dem Abbé spazierenging, sowie ferner mit
  • der Villa Borghese und mit zwei bis drei Läden, vor denen der Abbé
  • haltzumachen pflegte, um sich Papier, Federn und Schnupftabak zu kaufen,
  • und endlich noch mit der Apotheke, wo jener sein _Olio di ricino_ bezog.
  • Das war der ganze Horizont, der das Wissen des Zöglings umschloß. Von
  • den anderen Ländern und Staaten hatte der Abbé nur in ganz unklaren und
  • unsicheren Andeutungen gesprochen: er hatte erwähnt, daß es ein sehr
  • reiches Land, Frankreich, gäbe, daß die Engländer gute Kaufleute seien
  • und eine große Vorliebe für das Reisen hätten, daß die Deutschen -- sehr
  • viel tränken und daß im Norden ein barbarisches Land Moscovien liege, in
  • dem eine furchtbare Kälte herrsche, bei der ein menschliches Gehirn
  • leicht in die Brüche gehen könne. Wahrscheinlich hätte der Zögling bis
  • zu seinem fünfundzwanzigsten Jahre kaum noch etwas über diese Tatsachen
  • hinaus erfahren, wenn es dem alten Fürsten nicht plötzlich eingefallen
  • wäre, die alte Erziehungsmethode fallen und dem Sohne eine europäische
  • Bildung geben zu lassen, was wohl zum Teil dem Einfluß einer
  • französischen Dame zuzuschreiben war, auf die der Fürst seit einiger
  • Zeit überall -- im Theater wie auf Spaziergängen -- beständig seine
  • Lorgnette richtete, wobei er alle Augenblicke sein Kinn in sein
  • ungeheures weißes Jabot versenkte und sich eine schwarze Locke auf
  • seiner Perücke zurechtstrich. So wurde denn der junge Fürst nach Lucca
  • geschickt, um hier die Universität zu beziehen. Dort entfaltete sich
  • während eines sechsjährigen Aufenthaltes seine lebhafte italienische
  • Natur, die unter der langweiligen Aufsicht des Abbés nur geschlummert
  • hatte: Es zeigte sich, daß der Jüngling eine nach erlesenen Genüssen
  • dürstende Seele und eine starke Beobachtungsgabe besaß. Die italienische
  • Universität, wo die Wissenschaft unter der harten Hülle trockener,
  • scholastischer Formen dahinvegetierte, befriedigte die jüngere
  • Generation nicht mehr, an deren Ohr schon die Kunde von dem lebendigen
  • Geiste gedrungen war, die hie und da über die Alpen kam. Der Einfluß
  • Frankreichs machte sich bereits in Oberitalien bemerkbar: er wurde
  • zugleich mit allerhand neuen Moden, Vignetten, Vaudevilles und
  • gekünstelten Produkten der zügellosen, ungeheuerlichen und
  • leidenschaftlichen französischen Muse, die aber dennoch Spuren eines
  • starken Talentes erkennen läßt, hierher getragen. Die starke politische
  • Bewegung, die sich seit der Julirevolution in den Zeitschriften
  • bemerkbar machte, fand auch hier ihr Echo. Man träumte von der
  • Wiederherstellung der entschwundenen ruhmvollen italienischen
  • Vergangenheit und blickte voller Empörung auf die verhaßte weiße Uniform
  • der österreichischen Soldaten. Aber die zu ruhigen Genüssen reizende
  • italienische Natur machte sich nicht Luft in einem Aufstand, zu dem sich
  • der Franzose ohne lange Bedenken entschlossen hätte: all diese Gefühle
  • strömten nur in dem einen unbestimmten Wunsch zusammen, das wahre Europa
  • jenseits der Alpen kennen zu lernen. Die ewige Bewegung, die es
  • durchflutete, und sein heller Glanz erschienen in lockender Ferne. Dort
  • war alles neu, stand alles im Gegensatz zu dem ehrwürdigen Alter
  • Italiens, dort hatte das XIX. Jahrhundert und das wahre europäische
  • Leben begonnen. Ein heißes Sehnen riß die Seele des jungen Fürsten
  • dorthin; er träumte von hellem Licht und Abenteuern, und jedesmal
  • umwölkte ein drückendes Gefühl der Wehmut seinen Geist, wenn er der
  • Unmöglichkeit inne wurde, seinen Wunsch erfüllt zu sehen: er kannte den
  • unbeugsamen, despotischen Willen des alten Fürsten, und er fühlte sich
  • außerstande, es mit ihm aufzunehmen -- da erhielt er plötzlich einen
  • Brief von dem Fürsten, in dem dieser ihm befahl, nach Paris zu reisen,
  • seine Studien in der dortigen Universität zu beendigen und nur in Lucca
  • die Ankunft eines Onkels abzuwarten, um sich mit diesem zusammen auf die
  • Reise zu begeben. Der junge Fürst sprang vor Glück in die Höhe, küßte
  • seine sämtlichen Freunde ab, gab ihnen in einer Osterie, die in der
  • Umgegend der Stadt lag, ein Festmahl und war zwei Wochen später bereits
  • unterwegs mit einem Herzen, das jedem Gegenstand mit frohem Pochen
  • entgegenschlug. Als man den Simplon passiert hatte, leuchtete ein
  • freudiger Gedanke in seinem Kopfe auf; er befand sich auf der andern
  • Seite der Alpen: er war in Europa. Die wilde Unform der Schweizer Alpen,
  • die sich ohne weite Perspektiven und ohne jene weich in der Ferne
  • verlaufenden Tiefen in die Höhe türmten, erschreckte zunächst seinen an
  • die hohe Ruhe und an die heitere wollüstige Schönheit der italienischen
  • Natur gewöhnten Blick. Aber er erheiterte sich mit einem Schlage beim
  • Anblick der europäischen Städte, der prachtvollen hellen Gasthöfe und
  • des Komforts, der jeden Reisenden erwartete, so daß er sich's bequem
  • machen konnte, wie wenn er zu Hause wäre. Diese kokette Sauberkeit und
  • dieser Glanz -- das war ihm alles neu. In den deutschen Städten fühlte
  • er sich ein wenig überrascht durch den etwas seltsamen Körperbau der
  • Deutschen und den Mangel an Grazie, Harmonie und Schönheit, für die der
  • Italiener ein angeborenes Gefühl im Busen trägt; auch die deutsche
  • Sprache machte einen unangenehmen Eindruck auf sein musikalisches Ohr,
  • aber nun lag die französische Grenze vor ihm, und sein Herz erbebte. Die
  • leichten, hüpfenden Laute einer modernen europäischen Sprache trafen
  • zärtlich kosend sein Ohr, und mit Wonne suchte er ihr sanft gleitendes
  • Geräusch aufzufangen; schon in Italien waren ihm diese Laute als etwas
  • Hohes erschienen, befreit von allen krampfhaften Bewegungen, wie sie den
  • starken Sprachen aller Völker der gemäßigten Zone eigen sind, die sich
  • noch nicht gewöhnt haben, sich in maßvollen Grenzen zu halten. Einen
  • noch größeren Eindruck aber machten auf ihn die Frauen, diese seltsamen,
  • leicht dahinschwebenden Geschöpfe. Er war überrascht über diese
  • flüchtigen Wesen mit den kaum hervortretenden zarten Formen, den kleinen
  • Füßen, dem feinen ätherischen Gliederbau, dem Feuer der Augen, das
  • Hingabe und Sympathie ausströmte, und ihrem leichten, kaum über
  • Andeutungen hinausgehenden Geplauder. Voller Ungeduld erwartete er die
  • Ankunft in Paris, das er in seiner Einbildung mit Türmen und Palästen
  • ausschmückte; er machte sich ein eigenes Phantasiebild von dieser Stadt,
  • und mit pochendem Herzen gewahrte er endlich die ersten Anzeichen der
  • Nähe der Hauptstadt: Plakate an den Mauern, Buchstaben von ungeheurer
  • Größe, immer zahlreicher werdende Omnibusse und Diligencen, -- und nun
  • erschienen die ersten Häuser der Vorstadt. Doch jetzt war er in Paris
  • und fühlte sich dunkel von der ungeheueren Außenseite der Stadt
  • umfangen; Staunen erfaßte ihn, als er die Bewegung und all den Glanz in
  • den Straßen erblickte, dies wirre Durcheinander der Dächer, den Wald der
  • Schornsteine, die dichten stillosen Häusermassen mit den eng
  • beieinanderstehenden bunten Läden, die häßlichen nackten,
  • zusammenhangslosen Fassaden, diese zahllose bunte Menge goldener
  • Buchstaben, die alle Wände bedeckten, bis auf die Dächer und sogar auf
  • die Schornsteine emporkletterten, die hellen unteren Stockwerke, die aus
  • lauter Spiegelgläsern bestanden, und in die man bequem hineinsehen
  • konnte. Dies also war Paris, dieser ewig kochende Krater, dieser
  • Springbrunnen, der eine wahre Funkengarbe von Neuigkeiten, von
  • Aufklärung, Moden, erlesenem Geschmack und winzigen, aber mächtigen
  • Gesetzen ausspie, denen sich selbst die Tadler nicht zu entziehen
  • vermochten: diese große Ausstellung aller Erzeugnisse der Kunst,
  • höchster Meisterschaft und aller Talente, die sich in den
  • unbedeutendsten Winkeln Europas verbergen, die drängende Sehnsucht und
  • der schönste Traum eines Zwanzigjährigen, diese Wechselstube und dieser
  • Jahrmarkt Europas. Ganz betäubt und unfähig, sich zu sammeln, streifte
  • er durch die Straßen, die von allerlei Volk wimmelten und von
  • zahlreichen Rinnen, die die Räder vorüberrollender Omnibusse
  • hinterließen, durchfurcht waren, bald gefesselt durch den Anblick eines
  • Cafés und seiner wunderbaren, geradezu königlichen Ausstattung, bald
  • wieder überrascht durch die berühmten gedeckten Passagen, wo ihn das
  • dumpfe Geräusch von einigen tausend Fußgängern betäubte, meist jungen
  • Leuten, die sich wie eine kompakte Masse vorwärts bewegten, und völlig
  • geblendet von dem flimmernden Glanz der Kaufläden, die von oben her
  • durch ein auf das Glasdach der Galerie fallendes Licht erleuchtet
  • wurden. Zuweilen auch blieb er vor einem der vielen Plakate stehen, die
  • in Millionen Exemplaren und dicht nebeneinanderhängend, das Auge durch
  • ihre Buntheit beunruhigten: das waren laute Ankündigungen von etwa
  • vierundzwanzig Vorstellungen, die hier täglich stattfanden, und einer
  • schier unendlichen Anzahl aller möglichen Konzerte; und als nun endlich
  • dies ganze märchenhafte Durcheinander gegen Abend bei der zauberischen
  • Gasbeleuchtung aufflammte -- als alle Häuser plötzlich gleichsam
  • durchsichtig wurden und von unten herauf lebhaft zu leuchten begannen,
  • da geriet er vollends in Verwirrung: die Fenster und die Gläser der
  • Magazine schienen ganz verschwunden, ja überhaupt nicht mehr vorhanden
  • zu sein, und das ganze Innere schien unbewacht unmittelbar an der Straße
  • zu liegen, einen flimmernden Glanz um sich zu verbreiten und sich tief
  • innen in den Gläsern zu spiegeln. _Ma quest' è una cosa divina!_
  • wiederholte der lebhafte Italiener fortwährend.
  • Sein Leben floß schnell dahin, wie das Leben vieler Pariser und das der
  • zahlreichen jungen Ausländer, die nach Paris kommen. Bereits um neun Uhr
  • befand er sich, kaum, daß er aus dem Bett gesprungen war, in einem
  • prachtvollen Café mit modernen Fresken unter Glas und einer von Gold
  • strotzenden Decke. Auf den Tischen lagen ganze Stöße von Zeitungen und
  • Zeitschriften gewaltigen Formats, und ein Kellner von vornehmem Äußern
  • schritt mit einer wundervollen Kaffeekanne in der Hand an den Gästen
  • vorbei. Hier trank er mit der Genußsucht eines Sybariten aus einer
  • ungeheuren Tasse den fetten Kaffee, lehnte sich wohlig in das weiche
  • elastische Sofa zurück und dachte an die niedrigen, dunklen
  • italienischen Cafés mit ihren unsauberen Bottegas und ihren schmutzigen,
  • ungewaschenen Gläsern. Dann vertiefte er sich in die Lektüre der
  • ungeheuren Zeitungen und gedachte der schwindsüchtigen kleinen
  • Zeitschriften Italiens, des »Diario di Roma«, des »Il Pirato« und
  • ähnlicher, in denen nichts wie harmlose politische Nachrichten und
  • womöglich Anekdoten über die Thermopylen und den Perserkönig Darius zu
  • lesen waren. Hier dagegen spürte man überall die glühende Leidenschaft,
  • die dem Schriftsteller die Feder geführt hatte. Hier überstürzten sich
  • die Fragen förmlich, jede Erwiderung rief eine neue hervor -- hier
  • schien sich ein jeder nach Kräften durchzusetzen, sich recht breit zu
  • machen und großzutun: irgendeiner drohte mit einer baldigen politischen
  • Umwälzung und verkündigte einen Zusammenbruch des Staates, jede kaum
  • merkliche Bewegung in der Kammer und im Ministerium, jede ihrer Aktionen
  • wuchs sich zu einer gewaltigen, machtvollen Bewegung der hartnäckigen
  • Parteien aus und hallte als lautes, wütendes Geschrei aus den Journalen
  • wider. Ja, der Italiener verspürte etwas wie Furcht, wenn er dies las
  • und daran dachte, daß vielleicht schon morgen die Revolution ausbrechen
  • könnte; wie von einem Dunst umnebelt verließ er das Lesezimmer, und erst
  • die Straßen von Paris vermochten es, den ganzen Ballast in einem
  • Augenblick aus seinem Kopfe zu vertreiben. Dieser über alle Gegenstände
  • dahinhüpfende Glanz, diese bunte Bewegung erschienen ihm nach der
  • schweren Lektüre fast wie zarte Blumen, die sich an dem Rande eines
  • Abgrundes angesiedelt hatten. Mit einem Schlage befand er sich wieder
  • ganz auf der Straße und war bald gleich allen andern in jeder Hinsicht
  • ein müßiger Flaneur. Er sah sich die fröhlichen, graziösen
  • Verkäuferinnen an, die gleich kaum erblühten Knospen im ersten Lenz der
  • Jugend prangten, und die alle Pariser Kaufläden anfüllten, als wenn die
  • rauhe Gestalt des Mannes etwas Anstößiges an sich hätte und hinter den
  • großen Fensterscheiben wie ein schwarzer Fleck erschienen wäre. Er sah,
  • wie die bis zur Koketterie schmalen, mit den feinsten Seifen gewaschenen
  • Händchen ihm lockend entgegenglänzten, wie sie damit beschäftigt waren,
  • das Konfektpapier zu falten, während die Augen hell und unverwandt auf
  • die Vorübergehenden gerichtet waren; er sah, wie sich an einer andern
  • Stelle ein blondes, lieblich geneigtes Köpfchen, die langen Wimpern tief
  • in die Seiten eines Moderomans versenkt, am Fenster abzeichnete, und wie
  • die Schöne gar nicht bemerkte, daß bereits ein ganzer Haufen junger
  • Leute vor ihr stand, ihren schneeweißen Hals, ja, jedes Härchen auf dem
  • Kopfe betrachtete, und selbst das leise Wogen des Busens belauschte, das
  • die Lektüre begleitete. Er blieb auch vor einem Bücherladen stehen, wo
  • ihm seltsame Buchstaben gleich Hieroglyphen entgegenblickten, oder wo
  • sich dunkle Vignetten gleich schwarzen Spinnen von dem dicken glänzenden
  • Papier abhoben, Vignetten, die meist mit einem solchen Schwung und einer
  • solchen Leidenschaft hingeworfen waren, daß es oft ganz unmöglich war,
  • herauszubekommen, was sie eigentlich darstellten. Oder er sah sich eine
  • Maschine an, die für sich allein einen ganzen Laden ausfüllte und die
  • hinter der großen Spiegelscheibe in voller Tätigkeit war, indem sie eine
  • ungeheure Walze, die Schokolade zerrieb, hin und her wälzte. Er blickte
  • auch in die Läden hinein, vor denen die Pariser Krokodile, die Hände in
  • den Taschen und mit offenem Munde, stundenlang herumstehen: da sah man
  • wohl einen gewaltigen roten Hummer aus dem grünen Gemüse hervorgucken,
  • oder eine getrüffelte Pute mit der lakonischen Überschrift »300 Frank«
  • thronen, oder gelbe und rote Fische mit goldigen Flossen und Schwänzen
  • in Glasvasen herumschwimmen. Oder er schlenderte auf den breiten
  • Boulevards herum, die das ganze enge winklige Paris majestätisch
  • durchquerten; da sah man, wie sich mitten in der Stadt gewaltige Bäume
  • bis zur Höhe eines sechsstöckigen Hauses emporreckten, und wie sich
  • Scharen von Fremden und ein Haufen urwüchsiger Pariser Löwen und Tiger,
  • die in den Novellen und Erzählungen nicht immer richtig dargestellt
  • sind, auf dem Asphalttrottoir drängten. Und wenn er genug herumflaniert
  • und des Schauens satt war, dann begab er sich in ein Restaurant, wo die
  • mit Spiegelscheiben ausgeschlagenen Wände längst im Glanze des Gaslichts
  • erstrahlten und unzählige Gruppen von Damen und Herren widerspiegelten,
  • die hinter den kleinen im Saale verstreuten Tischen saßen und sich
  • geräuschvoll unterhielten. Nach dem Diner eilte er sogleich ins Theater,
  • wobei ihm nur die Wahl schwer wurde, für welches er sich entscheiden
  • sollte: denn jedes hatte seine eigene Berühmtheit, jedes seinen
  • hervorragenden Autor, jedes seine besonderen Schauspiele. Überall wurden
  • Novitäten aufgeführt. Dort gab es ein glänzendes Vaudeville,
  • lebensprühend, oberflächlich und jeden Tag neu, wie der Franzose selbst,
  • ein Stück, das vielleicht in drei müßigen Minuten entstanden war, und
  • beim Publikum, dank der unerschöpflichen Laune des Schauspielers, von
  • Anfang bis zu Ende unaufhörliche Lachstürme entfesselte. Dort wieder gab
  • man ein Drama voller Glut und Leidenschaft. -- Und unwillkürlich
  • verglich er die trockene, dürftige Schaubühne Italiens, wo der alte
  • Goldoni, den schon alle auswendig konnten, unaufhörlich wiederholt, oder
  • allerhand neue Komödien aufgeführt wurden, deren Harmlosigkeit und
  • Naivität selbst ein Kind hätten langweilen müssen -- unwillkürlich
  • verglich er jene mageren Erzeugnisse mit dieser lebendigen, hastigen
  • dramatischen Flut, wo das Eisen geschmiedet wurde, solange es noch heiß,
  • und wo jedermann besorgt war, seine Novität könne vorzeitig kalt werden.
  • Wenn er sich dann gründlich ausgelacht, aufgeregt und satt gesehen
  • hatte, kehrte er müde und ganz überwältigt von all den Eindrücken nach
  • Hause zurück und sank ins Bett, den einzigen Gegenstand, den der
  • Franzose bekanntlich in seiner Stube nicht entbehren kann. Wenn er ein
  • Arbeitszimmer, ein Mittagessen und des Abends einen beleuchteten Raum
  • braucht, dann sucht er ein öffentliches Gebäude auf. Aber der Fürst
  • unterließ es trotzdem nicht, mit diesem abwechslungsreichen Müßiggang
  • auch die geistige Betätigung zu verbinden, nach der seine Seele voller
  • Ungeduld dürstete. Er besuchte auch die Vorlesungen sämtlicher berühmter
  • Professoren. Das lebendige, oftmals Begeisterung ausströmende Wort, die
  • neuen Gesichtspunkte und die neuen Seiten, die der redegewandte
  • Professor den Dingen abzugewinnen wußte, hatten für den jungen Italiener
  • etwas Überraschendes. Er fühlte plötzlich, wie eine Hülle von seinen
  • Augen sank, wie die Gegenstände, die er früher kaum bemerkt hatte, nun
  • plötzlich in einem neuen, hellen Lichte erstrahlten, und wie der alte
  • Plunder von allerhand Kenntnissen, die er sich bisher angeeignet hatte
  • und die bei der übergroßen Zahl der jungen Leute gewöhnlich wieder
  • spurlos in Vergessenheit geraten, da es ihnen an Gelegenheit zur
  • Anwendung fehlt, plötzlich lebendig zu werden begann und nun, mit neuem
  • Auge angesehen, sich für immer in seinem Gedächtnis befestigte. Er
  • unterließ es auch nicht, sich alle berühmten Prediger, Publizisten und
  • Redner, die Diskussionen in der Kammer und überhaupt alles anzuhören,
  • was den Ruhm von Paris bildet und in Europa laut von sich reden macht.
  • Und trotzdem es ihm häufig an den Mitteln fehlte, da er vom alten
  • Fürsten nur einen geringen Wechsel erhielt, wie er wohl einem Studenten,
  • aber keinem Fürsten angemessen ist, fand er dennoch Gelegenheit, sich
  • alles anzusehen, sich Zutritt bei allen Zelebritäten zu verschaffen,
  • deren Ruhm die europäischen Blätter beständig ausposaunen, indem eins
  • das andre wiederholt, ja, er lernte sogar die Modeschriftsteller
  • persönlich kennen, deren seltsame Schöpfungen, wie die vieler andrer,
  • einen so starken Eindruck auf seine junge leidenschaftliche Seele
  • gemacht hatten, und in denen alle Welt eine bisher noch nie
  • angeschlagene Saite und bislang noch von niemand erfaßte Regungen der
  • Leidenschaften zu vernehmen glaubte. Mit einem Wort, das Leben des
  • jungen Italieners nahm eine große, vielgestaltige Wendung und ward von
  • dem mächtigen Glanze europäischen Lebens umstrahlt. Welche Unzahl von
  • Eindrücken an einem einzigen Tage: sorgloser Müßiggang und ein unruhiges
  • Erwachen, eine leichte Beschäftigung der Augen und eine angestrengte
  • Arbeit des Geistes, ein Vaudeville im Theater, eine Predigt in der
  • Kirche, der politische Wirbel in den Zeitschriften und in der Kammer,
  • das Händeklatschen in den Auditorien, der erschütternde Donner des
  • Konservatoriumsorchesters, der ätherische Glanz der tanzenden Bühne, der
  • laute Lärm auf den Straßen -- welch ein mächtig flutendes Leben für
  • einen fünfundzwanzigjährigen Jüngling! Es gibt keinen herrlicheren Punkt
  • als Paris, und für nichts in der Welt hätte er ein solches Leben
  • hingegeben. Wie angenehm und lustig ist's doch, mitten im Herzen Europas
  • zu leben, wo man immer höher emporsteigt, während man vorwärtsschreitet,
  • wo man fühlt, daß man ein Glied der großen universellen Gemeinschaft
  • ist. Ja mitunter kam ihm sogar der Gedanke, Italien gänzlich Valet zu
  • sagen und sich für immer in Paris niederzulassen. Italien erschien ihm
  • jetzt wie ein finsterer, mit Schimmel bedeckter Winkel Europas, wo alles
  • Leben und jede Bewegung erstorben war.
  • So entflohen vier heiße Jahre seines Lebens -- vier Jahre von ungeheurer
  • Bedeutung für einen Jüngling -- doch am Schluß dieses Abschnittes
  • erschien ihm gar manches schon nicht in demselben Lichte wie ehemals.
  • Von vielem fühlte er sich enttäuscht. Dasselbe Paris, das unaufhörlich
  • neue Fremde anzog, diese nie erlöschende Leidenschaft der Pariser machte
  • auf ihn längst nicht mehr den Eindruck wie früher. Er sah, wie diese
  • große Vielseitigkeit und Bewegtheit des Lebens verging, ohne Folgen
  • blieb und in der Seele keinen fruchtbaren Niederschlag hinterließ. In
  • dem Wirbel dieser ewigen siedenden Bewegung und Tätigkeit entdeckte er
  • nun eine furchtbare Untätigkeit und ein schreckliches Vorherrschen des
  • Wortes über die Tat. Er sah, wie jeder Franzose scheinbar nur mit dem
  • erhitzten Kopfe arbeitete, wie diese Lektüre der mächtigen
  • Zeitungsblätter den ganzen Tag in Anspruch nahm und keine Stunde für das
  • praktische Leben übrigließ, wie jeder Franzose in diesem seltsamen
  • Strudel einer von Druckerschwärze beherrschten papierenen Politik
  • erzogen wurde und ohne jede Kenntnis des Standes, dem er angehörte, ohne
  • alle die ihm zukommenden Rechte und Lebensverhältnisse auch in der
  • Praxis kennen gelernt zu haben, sich schon der einen oder andern Partei
  • anschloß, sich all ihre Interessen feurig und leidenschaftlich zu Herzen
  • nahm, und seinen Gegnern heftig entgegentrat, ohne seine Interessen,
  • noch seine Gegner von Angesicht zu kennen -- und das Wort _Politik_ fing
  • schließlich an, unserem Italiener lebhaften Ekel zu erregen.
  • In den Bewegungen des Geistes, des Handels ... überall und in allem
  • glaubte er nur gewaltsame Anstrengungen und ein ewiges Streben nach
  • neuen Sensationen zu entdecken. Der eine suchte aus allen Kräften dem
  • andern, wenn auch nur für einen Moment, den Rang abzulaufen. Der
  • Kaufmann verwandte sein ganzes Kapital auf die Ausstattung seines
  • Ladens, um die Menge durch seinen Glanz und seine Pracht anzulocken. Der
  • Buchhandel nahm seine Zuflucht zu allerhand Bildern und Illustrationen,
  • mit denen die Bücher ausgestattet wurden, sowie zu einem luxuriösen
  • Buchschmuck, um hierdurch die erkaltende Aufmerksamkeit wieder auf sich
  • zu lenken: In ihren Romanen und Novellen suchten die Schriftsteller den
  • Leser durch die Seltsamkeit unerhörter Leidenschaften und durch
  • Darstellung häßlicher Ausgeburten der menschlichen Natur zu fesseln.
  • Alles schien sich einem frech und ohne Aufforderung von selbst
  • anzubieten und aufzudrängen, wie eine Dirne, die die Männer nachts auf
  • der Straße einzufangen sucht; alles streckte in wildem Wetteifer seine
  • Hand möglichst weit aus, wie ein drängender Haufe zudringlicher Bettler.
  • Selbst in der Wissenschaft und in den so durchgeistigten Vorlesungen,
  • deren Wert er unbedingt anerkennen mußte, glaubte er die Absicht
  • herauszufühlen, Vorzüge ans Licht zu stellen, mit ihnen zu prahlen und
  • sich selbst in Szene zu setzen: überall gab es glänzende Episoden, aber
  • dem Ganzen fehlte doch der mächtige, feierliche, erhabene Fluß. Überall
  • das Bestreben, bisher unbeachtete Tatsachen aufzuspüren und ihnen eine
  • ungeheure Bedeutung beizulegen, oft zum Nachteil der Einstimmigkeit und
  • Harmonie des Ganzen, nur um sich den Ruhm einer Entdeckung zu sichern;
  • und schließlich dieses fast durchgängige, dreiste Selbstbewußtsein,
  • dieser völlige Mangel einer Erkenntnis unserer Unwissenheit -- und
  • unserem Italiener fiel ein Vers ein, in dem der italienische Dichter
  • Alfieri in einer boshaften Laune den Franzosen den Vorwurf macht:
  • _Tutto fanno, nulla sanno,_
  • _Tutto sanno, nulla fanno._
  • _Gira volta son Francesi,_
  • _Piu gli pesi, men ti danno._
  • Eine trübselige Stimmung bemächtigte sich des jungen Fürsten. Vergebens
  • versuchte er es, sich zu zerstreuen und Menschen aufzusuchen, die er
  • achtete, aber seine italienische Natur wollte nicht mit der
  • französischen zusammenstimmen. Er schloß zwar schnell Freundschaften,
  • aber ein Tag genügte, um den Franzosen bis zur letzten Faser seines
  • Wesens kennen zu lernen; am nächsten Tage gab es schon nichts mehr an
  • ihm zu erforschen. Weiter als bis zu einer gewissen Tiefe konnte man
  • keine Frage in seine Seele versenken, und die scharfe Klinge des
  • Gedankens wollte nicht weiter eindringen, und doch hatte der Italiener
  • ein viel zu tiefes Gefühl, um eine ihm völlig befriedigende Antwort bei
  • einem leichtsinnig veranlagten Menschen finden zu können. So stieß er
  • auf eine seltsame Leere, selbst in den Herzen derer, denen er seine
  • Achtung nicht versagen konnte. Und er erkannte zuletzt, daß die ganze
  • Nation, bei all ihren glänzenden Eigenschaften, ihrem edlen Streben,
  • ihren ritterlichen Aufwallungen, dennoch blaß und unvollkommen blieb:
  • ein leichtes Vaudeville, daß sie selbst geschaffen hatte. Über ihr ruhte
  • keine erhabene Idee von hoher Würde. Überall gab es nur Andeutungen von
  • Gedanken, aber die _eigentlichen_ Gedanken fehlten: überall gab es nur
  • halbe und keine ganzen Leidenschaften, alles blieb unvollendet, flüchtig
  • hingeworfen, mit rascher Hand skizziert; die ganze Nation war eine
  • glänzende Vignette, und nicht das Bild eines großen Meisters.
  • War es nur eine melancholische Stimmung, die ihn plötzlich überfallen
  • hatte und ihn nun alles in einem solchen Lichte sehen ließ, oder lag der
  • Grund dazu in dem wahrhaften, frischen, inneren Gefühl der Italiener --
  • genug, dies Paris mit all seinem Lärm und Glanz wurde ihm bald eine
  • drückende Wüste, und unwillkürlich flüchtete er sich bis an die ödesten
  • und entlegensten Enden der Stadt. Nur die italienische Oper besuchte er
  • noch; nur da allein schien seine Seele auszuruhen, und die Klänge der
  • heimatlichen Sprache wuchsen jetzt für ihn bis zu ihrer ganzen Macht und
  • Fülle empor. Immer häufiger sah er jetzt sein ihm fast gänzlich aus dem
  • Gedächtnis entschwundenes Italien vor sich: dort irgendwo in weiter
  • Ferne und in einem eigentümlichen, verlockenden Lichte; sein mahnender
  • Ruf wurde mit jedem Tage deutlicher vernehmbar, und so entschloß er sich
  • denn am Ende, an seinen Vater zu schreiben, er möge ihm erlauben, nach
  • Rom zurückzukehren, da er kein Bedürfnis empfände, länger in Paris zu
  • bleiben. Zwei Monate lang blieb jede Antwort, ja sogar der gewohnte
  • Wechsel aus, den er schon längst zu erwarten hatte. Anfänglich wartete
  • er geduldig, da er den launischen Charakter seines Vaters kannte,
  • endlich aber bemächtigte sich seiner eine gewisse Unruhe. Er ging jede
  • Woche mehrmals zu seinem Bankier und erhielt doch immer nur die gleiche
  • Antwort, daß keinerlei Nachrichten aus Rom eingetroffen seien. Schon war
  • seine Seele der Verzweiflung nahe. Die Mittel zur Bestreitung seines
  • Lebensunterhalts waren schon seit langer Zeit erschöpft, schon hatte er
  • mehrfach beim Bankier eine Anleihe machen müssen, doch auch dies Geld
  • war bereits ausgegeben, und schon lange Zeit aß, frühstückte und lebte
  • er auf Kredit; man begann ihn bereits schief und unfreundlich anzusehen,
  • -- aber nicht einmal seine Freunde wollten das geringste von sich hören
  • lassen. Ein Gefühl tiefer Vereinsamung überfiel ihn. Voller Erwartung
  • und Unruhe irrte er durch diese ihm tödliche Langeweile einflößende
  • Stadt. Jetzt im Sommer erschien sie ihm noch weit unerträglicher; die
  • große Menge der Reisenden hatte sich in die Bäder begeben, oder befand
  • sich in den großen europäischen Gasthöfen und unterwegs. Eine gewisse
  • Öde und Leere warf ihre Schatten auf alles. Die Gebäude und Straßen von
  • Paris waren unerträglich; die Gärten verschmachteten elend inmitten der
  • Häuser, auf die die Sonne heiß herniederbrannte. Halbtot blieb er an der
  • Seine auf einer schweren, lastenden Brücke oder am schwülen Ufer stehen,
  • und versuchte es, sich selbst zu vergessen, oder sich durch irgendeinen
  • Anblick zu zerstreuen; eine unendliche Langeweile verzehrte ihn, und ein
  • unbekannter Wurm nagte an seinem Herzen. Endlich erbarmte sich das
  • Schicksal seiner -- und eines Tages überreichte ihm sein Bankier einen
  • Brief. Er stammte von seinem Onkel, der ihm mitteilte, daß der alte
  • Fürst nicht mehr am Leben sei, und daß er nun kommen könne, um über die
  • Erbschaft zu verfügen; dies erfordere seine persönliche Anwesenheit,
  • weil die Vermögensverhältnisse sich in großer Unordnung befänden. Der
  • Brief enthielt auch noch eine magere Banknote, die gerade dazu reichte,
  • die Reise und den vierten Teil seiner Schulden zu bezahlen. Der junge
  • Fürst wollte keinen Augenblick länger zögern, er wußte den Bankier, wenn
  • auch nicht ohne Mühe, dazu zu bewegen, auf die Bezahlung der Schuld zu
  • warten, und besorgte sich einen Platz im Postwagen. Eine schwere Last
  • schien von seiner Seele genommen zu sein, als Paris in der Ferne vor ihm
  • versank und die frische Luft der Felder ihn anwehte. Zwei Tage darauf
  • war er schon in Marseille; er wollte jedoch nicht eine einzige Stunde
  • ruhen und bestieg noch am selben Abend das Dampfschiff. Er fühlte sich
  • durch das Mittelmeer heimatlich berührt; umspülte es doch die Küsten
  • seines Vaterlandes, und schon beim Anblick seiner unendlichen Wogen
  • fühlte er sich erfrischt. Es ist schwer, die Empfindung zu schildern,
  • die ihn beschlich, als er die erste italienische Stadt -- das
  • prachtvolle Genua erblickte. Doppelt so schön erschienen ihm nun die
  • mächtig emporstrebenden bunten Glockentürme, die gestreiften Kirchen aus
  • weißem und schwarzem Marmor und das ganze Amphitheater mit den vielen
  • Türmen, das ihn beim Einlaufen des Dampfers plötzlich von allen Seiten
  • umgab. Nie zuvor hatte er Genua gesehen. Diese funkelnde Buntheit der
  • Häuser, Kirchen und Paläste inmitten dieser feinen ätherischen Luft, die
  • in einer fast unbegreiflichen Bläue erstrahlte, -- war ganz
  • unvergleichlich. Er stieg ans Ufer und befand sich sogleich in diesen
  • dunklen, wunderbaren, engen, mit Fliesen ausgelegten Straßen, über denen
  • oben nur ein ganz schmaler Spalt blauen Himmels sichtbar war. Dieses
  • dichte Nebeneinander der hohen gewaltigen Häuser, dieser Mangel jeden
  • Wagengerassels, diese kleinen dreieckigen Plätze und dazwischen die
  • gewundenen Linien der Straßen, die wie kleine Korridore aussehen und
  • unzählige Läden Genuesischer Gold- und Silberschmiede beherbergen, --
  • das alles hatte für ihn etwas Überraschendes. Die malerischen
  • Spitzenmäntel der Frauen, die kaum merklich von dem warmen Siroccowind
  • hin und her bewegt wurden, ihr fester Tritt, der helle Klang der Stimmen
  • auf den Straßen, die offenstehenden Tore der Kirchen, der Weihrauchduft,
  • den sie ausströmten -- dies alles wehte ihn an wie ein Hauch aus fernen,
  • längst vergangenen Zeiten. Es fiel ihm ein, daß er schon seit vielen
  • Jahren nicht mehr in der Kirche gewesen war, in der Kirche, die in jenen
  • aufgeklärten Gegenden Europas, wo er geweilt hatte, ihre hohe, reine
  • Bedeutung eingebüßt hatte. Vorsichtig trat er ein und sank stumm neben
  • dem prachtvollen, marmornen Säulengang auf die Knie; er betete lange,
  • ohne selbst zu wissen, um was er bat -- er dankte Gott dafür, daß
  • Italien ihn wieder in seinen Schoß aufgenommen, daß ihn wieder ein
  • Bedürfnis nach dem Gebet überkommen hatte, daß seine Seele so feierlich
  • gestimmt war ..., und das war sicherlich das schönste Gebet. Mit einem
  • Wort, er ließ Genua wie eine wundervolle Station hinter sich zurück:
  • hier hatte er den ersten Kuß Italiens empfangen. Und mit demselben
  • heiteren Gefühl sah er Livorno, das öde Pisa und das von ihm bisher so
  • wenig gekannte Florenz an sich vorüberziehen. Majestätisch grüßten ihn
  • die schwere facettierte Kuppel des florentinischen Doms, die dunklen
  • Paläste einer königlichen Architektur und die strenge Größe der kleinen
  • Stadt. Dann ging's weiter über den Apennin, auch hier begleitete ihn
  • dieselbe heitere Seelenstimmung, und als dann endlich nach einer
  • sechstägigen Reise in klarer Ferne auf blauem Himmelsgrunde eine sich
  • herrlich rundende Kuppel aufleuchtete -- oh! wie viel Gefühle drängten
  • sich da plötzlich in seiner Brust! Nie hatte er ähnliche gekannt, und er
  • hätte sie auch nicht aussprechen können. Aufmerksam betrachtete er jeden
  • Hügel und jede Erhebung. Und nun waren endlich auch der Ponte Molle und
  • das Stadttor da, jetzt nahm ihn der schönste aller Plätze auf, die
  • Piazza del Popolo; der Monte Pincio mit seinen Terrassen, Treppen,
  • Statuen und den sich oben ergehenden Menschen tauchte auf! Gott! wie
  • fing da sein Herz an zu pochen! Der Vetturino jagte über die Corsostraße
  • dahin, auf der der Fürst einst so unschuldig und treuherzig mit dem Abbé
  • spazierengegangen war, als er noch nichts andres wußte, als daß die
  • lateinische Sprache die Mutter der italienischen sei. Und nun zogen auch
  • wieder alle Häuser an ihm vorbei, an denen er jede Einzelheit auswendig
  • kannte: der Palazzo Ruspoli mit seinem ungeheueren Café, die Piazza
  • Colonna, der Palazzo Sciarra, der Palazzo Doria, und endlich bogen die
  • Reisenden in die engen Gassen ein, auf die die Ausländer so schimpfen;
  • hier lärmte es nicht und wimmelte es nicht von Menschen, und nur selten
  • begegnete man dem Laden eines Barbiers mit ein paar gemalten Lilien über
  • der Tür, oder dem eines Hutmachers, der einen breitkrempigen
  • Kardinalshut vor dem Eingang aufgehängt hatte, oder endlich einem Laden
  • mit geflochtenen Stühlen, die gleich hier am Ort und mitten auf der
  • Straße hergestellt wurden. Endlich machte der Wagen vor einem
  • großartigen Palais im Stil Bramantes halt. In dem kahlen, noch nicht
  • aufgeräumten Flur ließ sich niemand sehen. Auf der Treppe wurde der
  • Ankömmling von dem alten gebrechlichen _Maestro di casa_ begrüßt, weil
  • der Portier wie gewöhnlich mit seinem Stab ins Café gegangen war, wo er
  • die größte Zeit zu verbringen pflegte. Der Alte öffnete eilig die Läden,
  • und allmählich wurde es hell in den gewaltigen, altertümlichen Sälen.
  • Ein trauriges Gefühl bemächtigte sich des Fürsten -- ein Gefühl, das ein
  • jeder versteht, der nach einer Abwesenheit von mehreren Jahren nach
  • Hause zurückkehrt, wo einem alles so viel älter und verödeter vorkommt,
  • und wo jeder Gegenstand, den wir seit unserer Kindheit kennen, eine so
  • trübselige Sprache redet. Und je heiterer die Erinnerungen sind, die
  • sich an ihn knüpfen, um so drückender ist das Gefühl der Wehmut, das bei
  • seinem Anblick unser Herz ergreift. Der Fürst durchschritt die lange
  • Flucht der Säle, betrat flüchtig das Arbeitszimmer und das Schlafzimmer,
  • wo vor noch gar nicht langer Zeit der alte Besitzer des Schlosses auf
  • einem Bett einzuschlafen pflegte, über dem sich ein Baldachin mit
  • Quasten und einem Wappen erhob, und aus dem er gewöhnlich in Pantoffeln
  • und im Schlafrock ins Arbeitszimmer trat, um ein Glas Eselsmilch zu
  • trinken, da er gern dick werden wollte. Dann besichtigte er das
  • Ankleidezimmer, wo der Alte sich einst mit der peinlichsten Sorgfalt
  • einer alten Kokette geputzt hatte; pflegte er sich doch von hier aus in
  • seinem Wagen, begleitet von seinen Lakaien zum Corso nach der Villa
  • Borghese zu begeben, wo er seine Lorgnette unaufhörlich auf eine
  • Engländerin richtete, die gleichfalls hier ihre Spazierfahrt machte. Auf
  • den Tischen und in den Schubladen konnte man noch die Reste von
  • Schminke, Puder und aller möglichen Farben finden, mit deren Hilfe sich
  • der Greis zu verjüngen suchte. Der _Maestro di casa_ erzählte, er habe
  • noch zwei Wochen vor seinem Tode den festen Entschluß gefaßt, zu
  • heiraten, und hätte sogar ausdrücklich zu diesem Zwecke eine
  • Konsultation mit ausländischen Doktoren abgehalten, um mit diesen zu
  • beraten, wie man wohl _con onore i doveri di marito_ erfüllen könne,
  • aber eines schönen Tages sei er nach einem Besuche bei einigen
  • Kardinälen und einem Prior ganz müde nach Hause zurückgekehrt, habe sich
  • in seinen Lehnsessel gesetzt und sei den Tod der Gerechten gestorben,
  • obwohl sein Tod noch seliger gewesen wäre, wenn es ihm nach den Worten
  • des _Maestro di casa_ ein paar Minuten früher eingefallen wäre, nach
  • seinem Beichtvater _il padre_ Benvenuto zu schicken. Der junge Fürst
  • hörte sich das alles zerstreut an, ohne mit seinen Gedanken bei der
  • Sache zu sein. Nachdem er sich von der Reise und den seltsamen
  • Eindrücken erholt hatte, machte er sich daran, seine Angelegenheiten zu
  • ordnen. Er war erschrocken über die Verwirrung, die hier herrschte.
  • Alles, vom Kleinsten bis zum Größten, befand sich in einem geradezu
  • unmöglichen Durcheinander. Vier nie enden wollende Prozesse wegen ein
  • paar verfallener Schlösser und Güter in Ferrara und Neapel, alle
  • Einnahmen schon auf drei Jahre im voraus völlig erschöpft; Schulden und
  • tiefste Armut inmitten von höchstem Prunk und Luxus -- das war das Bild,
  • das sich den Augen des Fürsten darbot. Der alte Fürst war eine
  • unbegreifliche Mischung von Geiz und Verschwendung gewesen. Er hielt
  • sich ein großes Personal von Bedienten, die er nicht bezahlte, die
  • nichts außer ihrer Livree erhielten und sich mit den Trinkgeldern der
  • Ausländer begnügen mußten, die beim Fürsten erschienen, um sich die
  • Galerie anzusehen. Der Fürst hatte Jäger, Offizianten, _Lakaien_, die
  • hinter seinem Wagen herfuhren, und _Lakaien_, die nirgends hinfuhren und
  • nur tagelang in einem nahegelegenen Café oder in einer benachbarten
  • Osteria saßen und schwatzten. Der junge Fürst entließ sofort das ganze
  • Gesindel, all diese Lakaien und Jäger, und behielt nur den alten
  • _Maestro di casa_; er hob fast den ganzen Marstall auf, verkaufte alle
  • Pferde, die nie gebraucht worden waren, berief die Rechtsanwälte zu
  • sich, um weitere Beschlüsse über die Prozesse zu fassen, und wußte es so
  • einzurichten, daß von den vier Prozessen nur noch zwei übrigblieben; auf
  • die übrigen Prozesse verzichtete er, da sie ja doch gänzlich
  • aussichtslos waren. Er nahm sich vor, sich von nun ab in allem
  • einzuschränken und in seinem Leben die strengste Ökonomie walten zu
  • lassen. Das wurde ihm nicht sehr schwer, da er sich schon früh gewöhnt
  • hatte, sich einzuschränken. Es wurde ihm auch nicht schwer, dem Verkehr
  • mit seinen Standesgenossen zu entsagen; -- übrigens bestand diese ganze
  • Gesellschaft nur aus zwei oder drei aussterbenden Familien, deren
  • Erziehung ganz auf ein paar dürftigen Brocken französischer
  • Bildungselemente beruhte, ferner aus einem reichen Bankier, um den sich
  • ein Kreis von Ausländern scharte, und in ein paar unnahbaren,
  • zugeknöpften, unfreundlichen Kardinälen, die ihr Leben in größter
  • Zurückgezogenheit beim Tresettspiel (einer Art Schafskopf) mit ihrem
  • Kammerdiener oder Barbier verbrachten. Mit einem Wort, er sonderte sich
  • gänzlich von allen Menschen ab, widmete sich ganz dem Studium Roms und
  • erinnerte in dieser Beziehung sogar an die Ausländer, die zunächst durch
  • die unbedeutende schmucklose Außenseite der Stadt mit ihren dunklen
  • fleckigen Häusern überrascht sind und sich, von Gasse zu Gasse irrend,
  • erstaunt fragen: wo ist denn das gewaltige, alte Rom? um es erst später
  • wahrhaft kennen zu lernen, wenn das antike Rom allmählich aus den engen
  • Gassen hervorzutreten beginnt: hier in Form einer dunklen Arke, dort in
  • Form marmorner, in die Mauer eingelassener Karniese, einer verwitterten
  • Porphyrsäule, eines Giebels inmitten eines übelriechenden Fischmarkts;
  • oder als ein vollständiger Porticus vor einer neueren Kirche, oder
  • endlich ganz abseits und dort in der Ferne, wo die bewohnte Stadt ein
  • Ende nimmt; hier wächst es plötzlich aus tausendjährigem Efeulaub und
  • Aloen mitten aus der offenen Ebene in seiner ganzen Größe hervor: als
  • ungeheures Kolosseum, als Triumphpforte, als Ruinen der unübersehbaren
  • Cäsarenpaläste, der kaiserlichen Bäder, der Tempel und Gräberhallen, die
  • auf dem offenen Felde verstreut liegen; jetzt bemerkt der Fremde schon
  • nichts mehr von den neuen engen Straßen und Gassen, ganz umfangen von
  • der antiken Welt; in seiner Erinnerung erstehen die gewaltigen Gestalten
  • der Cäsaren, und sein Ohr glaubt den Schrei und das Beifallsgeklatsch
  • des römischen Volks zu vernehmen.
  • Aber es ging ihm doch auch wieder nicht so, wie dem Ausländer, der
  • allein für seinen Titus Livius und Tacitus schwärmt, an allem
  • vorübersieht und für nichts Sinn hat, außer für die Antike, und der in
  • einer edeln und pedantischen Aufwallung gern die ganze neue Stadt
  • niederreißen würde -- nein, er fand alles gleich schön, die antike Welt,
  • die sich unter dem dunklen Architrav regte, das gewaltige Mittelalter,
  • das überall die Spuren gigantischer Künstler und einer wunderbaren
  • Freigebigkeit der Päpste hinterlassen hatte, und endlich die an dieses
  • sich anschließende neue Zeit mit ihren zahlreich sich drängenden neuen
  • Völkern. Ihm gefiel diese wunderbare Verschmelzung zu einem Ganzen,
  • dieser Charakter einer dicht bevölkerten Hauptstadt und dieser Charakter
  • einer einsamen Wüste, die sich hier miteinander mischten, diese Paläste
  • und Säulen, dieses Gras und das wilde Gebüsch, das sich an den Mauern
  • dahinzog, der lärmende Markt inmitten dunkler, einsamer, unten
  • verdeckter Massen, das helle Geschrei des Fischhändlers in der
  • Säulenhalle, der Limonadenverkäufer vor dem Pantheon mit seiner
  • fliegenden und mit grünem Laub geschmückten Bude; ihm gefiel selbst die
  • Unscheinbarkeit dieser dunklen, unordentlichen Straßen, der Mangel aller
  • hellen, gelben Farbe an den Häusern, dieses Idyll inmitten der Stadt,
  • die Ziegenherde, die auf dem Straßenpflaster ausruhte, das Schreien der
  • Kinder und diese reine feierliche Stille, die unsichtbar auf allen
  • Dingen zu liegen schien, und die auch den Menschen umfing. Ihm gefielen
  • diese unaufhörlichen Überraschungen, diese Plötzlichkeiten, die einem in
  • Rom so auffallen. Wie ein Jäger, der am frühen Morgen auf die Jagd geht,
  • oder wie ein alter Ritter, der auf Abenteuer auszieht, so machte er sich
  • jeden Tag auf, um neue und immer neue Wunder aufzusuchen; er blieb
  • unwillkürlich stehen, wenn sich plötzlich inmitten einer ärmlichen Gasse
  • ein Palast vor ihm auftürmte, der eine finstere und strenge Größe
  • atmete. Seine schweren unerschütterlichen Mauern waren aus dunklem
  • Travertin errichtet, seine Spitze krönte eine prachtvolle, wunderbar
  • ausgeschmückte, kolossale Karniese, die mächtige Tür war mit marmornen
  • Tragbalken ausgelegt, und die Fenster mit ihrem herrlichen
  • architektonischen Schmuck boten einen majestätischen Anblick dar. Oder
  • es blickte ihm plötzlich auf einem kleinen Platz ein malerischer Brunnen
  • entgegen, der sich selbst und seine vom Moos verunstalteten granitenen
  • Stufen mit feuchtem Naß besprengte, oder eine finstere, schmutzige
  • Straße endete plötzlich mit einer glänzenden architektonischen
  • Dekoration eines Bernini, mit einem gen Himmel strebenden Obelisk, mit
  • einer Kirche oder einer Klostermauer mit ihren kohlschwarzen Karniesen,
  • die auf dem dunkelblauen Himmel im Glanze der Sonne aufflammten; je
  • weiter sich die Straßen in die Tiefe verloren, um so häufiger wurden die
  • Paläste und die architektonischen Schöpfungen eines Bramante, Borromini,
  • Sangallo, della Porta, Vignola, Buonarotti, und es wurde ihm endlich
  • klar, wie man nur hier in Italien das Gefühl hat, daß es eine
  • Architektur gibt, und etwas von ihrer strengen künstlerischen Größe
  • ahnt. Aber noch größer war der geistige Genuß, wenn er in das Innere der
  • Kirchen und Paläste trat, wo sich Arken, flache Pfeiler und runde Säulen
  • aus allen möglichen Marmorarten, unterbrochen von blauen
  • Basaltkarniesen, von Porphyr, Gold und antiken Steinen, miteinander zu
  • einer wundervollen Harmonie verbanden, sich einstimmig einem tief
  • durchdachten Plane fügend, und wo sich hoch über dies alles die
  • unsterbliche Schöpfung des Pinsels erhob. Sie waren von einer hohen
  • Schönheit, diese tief durchdachten Ausschmückungen der Säle, voll von
  • einer königlichen Größe und architektonischen Pracht, die sich in diesem
  • fruchtbaren Zeitalter überall ehrfürchtig vor der Malerei zu beugen
  • wußte, als der Künstler noch Architekt, Maler und sogar Bildhauer in
  • einer Person war. Diese mächtigen Schöpfungen des Pinsels, wie sie heute
  • schon nicht mehr vorkommen, erhoben sich finster vor ihm auf den dunklen
  • Mauern, sie, die noch immer aller Nachahmung unerreichbaren,
  • unbegreiflichen Vorbilder. Und wenn er nun in das Innere eines solchen
  • Gebäudes eintrat und sich immer tiefer in dem Anblick versenkte, dann
  • glaubte er zu fühlen, wie sich sein Geschmack, dessen Keim seine Seele
  • schon immer barg, beinahe merklich entwickelte. Wie kleinlich und
  • armselig erschien ihm gegenüber dieser majestätischen, wunderbaren
  • Pracht aller Prunk des XIX. Jahrhunderts, der höchstens brauchbar war,
  • Läden auszuschmücken, und der nichts als Möbeltischler, Tapezierer,
  • Zimmerleute, Vergolder und einen ganzen Haufen von Handwerkern
  • hervorgebracht, die Welt -- der Raffaele, Tiziane und Michelangelos
  • beraubt und die Kunst bis zum Handwerk herabgedrückt hatte! Wie elend
  • erschien ihm jetzt all dieser Luxus, der einen nur beim ersten Blick
  • verblüfft, und den man bald mit Gleichmut betrachtet, angesichts dieses
  • erhabenen Einfalls, seine Mauern mit unsterblichen Gebilden des Pinsels
  • auszuschmücken, dieser wunderbaren Idee der Besitzer jener Paläste --
  • sich einen ewigen Gegenstand des Genusses zu verschaffen in Stunden, wo
  • man ausruht von der Arbeit und von den lärmenden Sorgen des Lebens, sich
  • in einen Winkel zurückzieht, weit abseits von allen Menschen, in ein
  • altertümliches Sofa zurückgelehnt, seinen Blick stumm auf die Wand
  • richtet und mit der Seele tief in die Geheimnisse des Pinsels eindringt,
  • ganz in die Betrachtung der in der Schönheit webenden geistigen Ideen
  • verloren! Denn unendlich erhebt die Kunst den Menschen, indem sie den
  • Regungen unserer Seele eine wunderbare Schönheit und einen hohen Adel
  • verleiht. Wie klein erschien ihm vor dieser unerschütterlichen,
  • fruchtbaren Pracht, die den Menschen mit Gegenständen umgab, die seine
  • Seele mit Bewegung erfüllten und veredelten, der heutige kleinliche
  • Schmuck, wie er alljährlich von der unruhigen Mode ausgespien und wieder
  • zerstört wird, diesem seltsamen, unbegreiflichen Produkt des XIX.
  • Jahrhunderts, vor dem sich die Weisen stumm beugen, dieser verheerenden
  • Vernichterin alles dessen, was ungeheuer, erhaben und heilig ist. Wenn
  • er sich derartigen Überlegungen hingab, schoß ihm unwillkürlich der
  • Gedanke durch den Kopf: »Rührt nicht vielleicht daher jene gleichgültige
  • Kälte, die unser gegenwärtiges Zeitalter umfängt, jenes gemeine
  • Geschäftsinteresse und diese vorzeitige Abstumpfung der Sinne, die noch
  • nicht einmal Zeit hatten, zu erwachen und sich zu entwickeln? Man
  • beraubte den Tempel seiner Heiligtümer, und der Tempel ist kein Tempel
  • mehr. Fledermäuse und böse Geister haben ihre Wohnstätte in ihm
  • aufgeschlagen.«
  • Je tiefer sein Blick in die Dinge eindrang, um so mehr überraschte ihn
  • die ungewöhnliche Fruchtbarkeit jenes Zeitalters, und unwillkürlich
  • mußte er ausrufen: »Wie und wann vermochten sie nur all dies zu
  • erschaffen?« Dieser wunderbare Charakter, der Rom auszeichnete, wuchs
  • für ihn mit jedem Tag zu immer mächtigerer Größe empor. Eine Galerie
  • neben der andern, und immer noch wollten sie kein Ende nehmen. Dort jene
  • Kirche barg irgendein Wunderwerk des Pinsels, dort jene verwitternde
  • Mauer entzückte den Blick durch eine Freske, deren Farben bereits zu
  • erlöschen drohten, und dort auf den hoch emporgetürmten Marmorblöcken
  • und Säulen, die aus alten heidnischen Tempeln hierher gebracht worden
  • waren, leuchtete einem ein von einem unsterblichen Pinsel
  • ausgeschmückter Plafond entgegen. Das alles glich einer tief verborgenen
  • Goldader, die mit gewöhnlicher Erde bedeckt und nur dem Bergmann allein
  • bekannt war. Wie voll war seine Seele jedesmal, wenn er nach Hause
  • zurückkehrte, und wie verschieden war dieses von ruhiger, feierlicher
  • Stille erfüllte Gefühl von jenen unruhigen Eindrücken, mit denen Paris
  • seine Seele so sinnlos bestürmt hatte, wenn er müde und abgespannt nach
  • Hause zurückkehrte und nur selten fähig war, sich über das Ergebnis
  • dieser Empfindungen Rechenschaft abzulegen.
  • Jetzt erschien ihm die unscheinbare und dunkle Außenseite Roms, über die
  • die Ausländer so sehr klagen, noch mehr zu diesen innern Schätzen der
  • Stadt zu stimmen. Es wäre ihm geradezu peinlich gewesen, nach alledem
  • auf eine moderne Straße mit ihren prunkvollen Läden, den stutzerhaft
  • gekleideten Menschen und den eleganten Equipagen hinauszutreten: dies
  • wäre ihm fast wie eine unheilige Zerstreuung, ja wie eine
  • Tempelschändung vorgekommen. Diese bescheidene Stille, dieser
  • eigentümliche Charakter der römischen Bevölkerung, dieser Schatten des
  • XVIII. Jahrhunderts, der noch in Form eines schwarzen Abbés in einem
  • Dreimaster mit schwarzen Strümpfen und Schuhen oder eines purpurnen
  • altertümlichen Kardinalswagens mit seinen vergoldeten Achsen, Rädern,
  • Karniesen und Wappen durch die Straßen huschte, gefiel ihm weit besser,
  • denn dies alles stimmte so gut mit der Gravität und Würde Roms überein:
  • dieses lebendige, nie hastende Volk, das ruhig und malerisch durch die
  • Straßen schritt, den Mantel über den Arm geschlagen oder die Jacke über
  • der Schulter, ohne jenen schwerfälligen Ausdruck in den Gesichtern, der
  • ihm so seltsam bei den blauen Blusenträgern und überhaupt an der ganzen
  • Bevölkerung von Paris aufgefallen war.
  • Hier erschien selbst die Armut in einem heiteren Lichte, sorglos und
  • unbekannt mit Qualen und Tränen streckte sie unbefangen und schön ihre
  • Hand aus; hier wirkte alles schön und heiter: die malerischen Regimenter
  • von Mönchen, die in langen weißen und schwarzen Kleidern über die
  • Straßen gingen, ein schmutziger rothaariger Kapuziner, der plötzlich in
  • seinem hellen kamelfarbenen Kleide in der Sonne aufleuchtete, endlich
  • dieses ganze Künstlervolk, das sich hier von allen Weltenden
  • zusammenfand, die engen Fetzen europäischer Kleidung fortwarf und in
  • freien, malerischen Kostümen einherging, ihre würdigen majestätischen
  • Bärte, wie wir sie auf den Porträts Leonardo da Vincis und Tizians
  • finden, und die so wenig Ähnlichkeit mit dem häßlichen, schmalen
  • Bärtchen haben, das sich der Franzose zurecht schneidet und dann fünfmal
  • im Monat stutzen lassen muß. Hier bekam der Künstler ein Gefühl für das
  • lange wallende Haar, das er sich in dichten Locken herunterfallen ließ.
  • Hier erhielt selbst der Deutsche mit seinen krummen Beinen und seinem
  • ungegliederten Körperbau einen bedeutenden Ausdruck, ließ sich seine
  • goldenen Locken über die Schultern fallen und kleidete sich in eine
  • leicht gefaltete griechische Bluse oder einen Sammetrock, wie er unter
  • dem Namen Cinquecento bekannt ist und wie ihn nur die Künstler in Rom
  • tragen. Auf ihren Gesichtern lagen die Spuren einer strengen Ruhe und
  • einer friedlichen Arbeit. Selbst die Gespräche und Meinungsäußerungen,
  • die man auf den Straßen, in den Cafés, in den Osterien vernahm, hatten
  • keine Ähnlichkeit mit denen, die der Fürst in den anderen Straßen
  • Europas gehört hatte, ja sie waren ihnen geradezu entgegengesetzt. Hier
  • hörte man nichts von gefallenen Fonds, von Kammerdebatten oder von der
  • spanischen Frage. Hier sprach man nur von einer neuerdings entdeckten
  • antiken Statue, von der Kraft des Pinsels der großen Meister, hier
  • stritt man sich und diskutierte über das neu ausgestellte Werk eines
  • modernen Künstlers, über Volksfeste, oder man hörte hier Reden, in denen
  • der Mensch sein Inneres preisgab, und die in Europa durch langweilige
  • Salongespräche und politische Unterhaltungen verdrängt sind, die selbst
  • jeden beseelten Ausdruck aus den Gesichtern vertrieben haben.
  • Oft verließ er die Stadt, um sich in der Umgegend umzusehen, und dann
  • setzten ihn neue Wunder in Erstaunen. Wie herrlich waren diese stummen
  • Wüsten der römischen Felder, die mit Ruinen antiker Tempel übersät, sich
  • mit unbeschreiblicher Ruhe ringsherum erstreckten. Bald ließ die dichte
  • Decke gelber Blüten sie ganz wie in Gold getaucht erscheinen, bald
  • wieder ließen die roten Blüten wilden Mohns sie aufglühen wie eine
  • neuentfachte Kohle. Nach vier verschiedenen Seiten bot sich ein
  • vierfacher wunderbarer Anblick dar. Auf der einen Seite flossen die
  • Felder unmittelbar in einer scharfen ebenen Linie mit dem Horizont
  • zusammen. Die Arken der Wasserleitungen schienen in der Luft zu schweben
  • und gleichsam auf den glänzenden silbernen Himmel aufgeklebt zu sein.
  • Auf der andern Seite sah man hinter den Feldern die Berge
  • hindurchschimmern. Sie türmten sich nicht wild und jäh aus der Ebene
  • empor, wie in Tirol oder in der Schweiz, sondern in harmonischen
  • fließenden Linien, sich hebend und senkend und umstrahlt von der
  • herrlichen Klarheit der Luft, schienen sie zum Himmel emporfliegen zu
  • wollen. An ihrem Fuße zog sich eine lange Arkade von Wasserwerken gleich
  • einem langgestreckten Fundament dahin, der Gipfel der Berge glich der
  • luftigen Fortsetzung eines wunderbaren Gebäudes, und die Farbe des
  • Himmels war hier schon nicht mehr silbern, sondern hatte jenen
  • unbeschreiblichen Ton des jungen Flieders. In einer dritten Richtung
  • wurden diese Felder gleichsam durch Berge begrenzt, aber hier traten sie
  • näher an sie heran, türmten sich höher empor, traten mit ihren
  • Vorderreihen noch stärker hervor und verschwanden in sanften Abstufungen
  • in der Ferne. Die dünne blaue Luft ließ ihre Farben wunderbar abgetönt
  • erscheinen, und durch diese blaue ätherische Hülle hindurch sah man kaum
  • merklich die Häuser und Villen von Frascati durchschimmern, hier leise
  • und sanft berührt von den Strahlen der Sonne, dort untertauchend in dem
  • Helldunkel kaum erkennbarer Heine, die in der Ferne erglühten. Aber wenn
  • man sich plötzlich umdrehte, dann lag mit einemmal ein neues Bild vor
  • einem. Die Felder gingen unmittelbar in die Stadt Rom über. Die Ecken
  • und die Linien der Häuser zeichneten sich scharf und klar ab, in
  • scharfen Konturen rundeten sich die Kuppeln, die Statuen des
  • lateranischen Johann und die majestätische Kuppel der Peterskirche, die
  • immer höher und höher emporstrebte, je mehr man sich von ihr entfernte,
  • und die endlich den ganzen Horizont einsam beherrschte, wenn die ganze
  • Stadt bereits verschwunden war. Noch mehr aber liebte er es, diese
  • Felder während eines Sonnenunterganges von der Terrasse einer der Villen
  • von Frascati oder Albano zu betrachten. Dann erschienen sie wie ein
  • unübersehbares Meer, das hinter dem dunklen Gitter der Terrasse
  • erglänzte und aufstieg. Alle Unebenheiten und Linien verschwanden in dem
  • sie umspielenden Lichte. Anfangs erschienen sie noch grünlich, und hie
  • und da erkannte man noch die Arken und Grabmäler, die auf ihnen
  • verstreut waren, dann aber spielten sie plötzlich in regenbogenfarbenem
  • Lichte, in hellen, durchscheinenden, gelben Tönen, und kaum noch konnte
  • man die Ruinen der antiken Baudenkmäler erkennen. Endlich aber färbten
  • sie sich immer tiefer purpurrot, verschlangen selbst die unendliche
  • Kuppel und flossen in ein tiefes Himbeerrot zusammen, und nur noch der
  • in der Ferne glänzende goldene Streifen des Meeres trennte sie von dem
  • Horizont, der ebenso purpurrot dalag, wie sie. Niemals aber hatte er
  • gesehen, daß die Felder gleich dem Himmel wie in Flammen getaucht waren.
  • Lange stand er, ganz erfüllt von einer unbeschreiblichen Wonne, in
  • diesen Anblick versunken, da, und dann hatte er wieder alles vergessen,
  • selbst sein Entzücken. Und wenn dann auch die Sonne untergegangen war,
  • der Horizont schnell erlosch und sich noch schneller, ja beinahe
  • plötzlich die Felder verdunkelten, wenn dann der Abend sein finsteres
  • Antlitz zeigte, Leuchtkäfer in feurigen Fontänen über den Ruinen
  • emporschwirrten und jenes plumpe geflügelte Insekt, das aufrecht
  • herangeflogen kommt wie ein Mensch und unter dem Namen Teufel bekannt
  • ist, ihm plötzlich sinnlos ins Auge flog, dann erst merkte er, daß die
  • Kälte der südlichen Nächte bereits herabgesunken war und ihn ganz
  • durchschüttelte, und er beeilte sich, in die Straßen der Stadt zu
  • kommen, um nicht an dem Fieber, wie es hier im Süden verbreitet ist, zu
  • erkranken.
  • So floß sein Leben in dem Genuß der Natur, der Künste und der Antike
  • dahin. Bei dieser Lebensweise erfaßte ihn plötzlich stärker als je der
  • Wunsch, sich tiefer in die Geschichte Italiens zu versenken, die er
  • bisher nur fragmentarisch und in einzelnen Episoden kennen gelernt
  • hatte. Ohne dies wäre ihm die Gegenwart unvollständig und unvollkommen
  • erschienen, und so machte er sich gierig daran, die Archive, die
  • Chroniken und Memoiren zu studieren. Er konnte sie jetzt nicht bloß so
  • lesen wie irgendein Italiener, der ewig in der Stube hockt, sich mit
  • Leib und Seele in die beschriebenen Vorgänge versenkt und über der
  • großen Zahl der Personen und der Ereignisse, die sich um ihn drängen,
  • die große Masse, das Ganze übersieht; -- er konnte jetzt alles ruhig
  • überschauen, wie aus einem Fenster des Vatikan. Sein Aufenthalt
  • außerhalb Italiens inmitten des Lärms und der Bewegung tätiger Völker
  • und Staaten diente ihm als strenge Prüfung und Probe bei allen Schlüssen
  • und Folgerungen, und verlieh seinem Auge eine reiche Vielseitigkeit und
  • einen allumfassenden Blick. Wenn er jetzt in den Geschichtsbüchern las,
  • war er noch mehr und ohne alle Voreingenommenheit überrascht durch die
  • Größe und den Glanz der italienischen Vergangenheit. Er war ganz
  • erstaunt über die schnelle und vielseitige Entwicklung des Menschen auf
  • einem so schmalen, engbegrenzten Fleckchen Erde, durch die mächtige und
  • kraftvolle Regsamkeit aller Kräfte. Er sah, wie hier der Mensch in
  • voller Tätigkeit war, wie jede Stadt ihre eigene Sprache sprach und ihre
  • große Geschichte besaß, die ganze Bände ausfüllte, und wie hier mit
  • einem Schlage alle Arten und Gestalten des bürgerlichen Lebens und der
  • Regierungsformen entsprangen: -- ewig bewegte Republiken voll starker
  • unbotmäßiger Charaktere, und mitten unter ihnen -- allmächtige Despoten,
  • eine ganze Stadt voll königlicher Kaufleute, von geheimen Fäden der
  • Regierung umsponnen unter der monarchischen Scheingewalt des einen
  • Dogen; die Fremden, die herbeigerufen worden waren und nun inmitten der
  • einheimischen Bewohner lebten, die starken Zusammenstöße und
  • Abwehrmaßregeln im Schoße eines unbedeutenden Städtchens, der fast
  • märchenhafte Glanz der Herzöge und Monarchen winziger Länder, alle die
  • Mäzene, Protektoren und Inquisitoren, diese ganze Reihe großer Männer,
  • die um ein und dieselbe Zeit zusammentrafen, die Lyra, der Zirkel, das
  • Schwert und die Palette, diese Tempel, die mitten im Streit, im Kampf
  • und während mächtiger Unruhen errichtet wurden, diese Feindschaften, die
  • Blutrache, diese Züge des Großmuts und diese ganze Masse romantischer
  • Ereignisse im bürgerlichen Leben, mitten im Wirbel des politischen,
  • gesellschaftlichen Daseins, und das wundersame Band, das sich um dies
  • alles schlang, eine so erstaunliche Entfaltung aller Seiten des
  • politischen und bürgerlichen Lebens, ein solches Erwachen aller
  • menschlichen Elemente in einem so engen Bezirk, die an andern Orten
  • immer nur in Bruchstücken und auf großen Flächen zur Darstellung kamen!
  • -- Und das alles war plötzlich verschwunden, plötzlich dahin, alles war
  • erloschen wie erkaltete Lava und von Europa selbst aus seinem Gedächtnis
  • getilgt, wie ein alter unnützer Plunder.
  • Nirgends, nicht einmal in den Journalen läßt uns das arme Italien seine
  • des Diadems beraubte Stirn sehen; mit seiner politischen Bedeutung hat
  • es jeden Einfluß auf die Welt verloren.
  • »Wie aber,« dachte er, »wird denn sein Ruhm nie wieder auferstehen? Gibt
  • es denn gar kein Mittel, ihm seinen entschwundenen Glanz wiederzugeben?«
  • Und er gedachte der Zeit, als er noch als Student der Universität, als
  • er in Lucca von der Zurückführung der ruhmreichen Vergangenheit geträumt
  • hatte; er erinnerte sich, wie dies der liebste Gedanke der italienischen
  • Jugend gewesen war und wie sie gutmütig und treuherzig beim vollen
  • Becher davon geschwärmt hatten. Und nun mußte er erkennen, wie
  • kurzsichtig diese jungen Leute gewesen waren und wie kurzsichtig die
  • Politiker sind, die dem Volke Trägheit und Sorglosigkeit vorwerfen. Und
  • eine dunkle Ahnung des mächtigen Fingers, vor dem der Mensch verstummt
  • und sich demütig beugt, des mächtigen Fingers, der den Weltereignissen
  • ihr Ziel und ihren Gang vorschreibt, bemächtigte sich seiner und
  • erfüllte sein Gemüt mit Staunen und Ehrfurcht. Aus dem Schoße Italiens
  • hatte Er den armen von seinem eigenen Heimatlande verfolgten Genueser
  • emporsteigen lassen, der allein sein ganzes Vaterland zugrunde richten
  • sollte, indem er ein neues unbekanntes Land und neue weite Seewege
  • entdeckte. Der Horizont der Welt erweiterte sich; das Leben Europas
  • erhielt einen mächtigen Schwung und ward erfüllt von lebhafter Bewegung.
  • Schiffe begannen die Welt zu umsegeln und machten die mächtigen Kräfte
  • des Nordens frei. Das Mittelmeer verödete, und wie das versandende Bett
  • eines Flusses, versandete Italien, das in dem Wettstreit zurückgeblieben
  • war. Noch steht Venedig, noch spiegeln sich seine erloschenen Paläste in
  • den Wellen des Adriatischen Meeres, und ein herzzerreißender Schmerz
  • erfüllt die Seele des Fremden, wenn ihn der Gondelführer gebeugten
  • Hauptes an den kahlen Mauern und zerstörten Brüstungen stummer marmorner
  • Balkone vorüberrudert. Stumm liegt Ferrara da und schreckt uns mit dem
  • drohend finstern Anblick seines herzoglichen Schlosses. Traurig und öde
  • stehen in ganz Italien die gebeugten Türme und die architektonischen
  • Wunder inmitten einer Generation, die gleichgültig zu ihnen emporsieht.
  • Laut schallt das Echo durch die einst so lebhaften Straßen, und der
  • ärmliche Vetturino hält vor einer schmutzigen Osteria, die sich in einem
  • prunkvollen Schloß angesiedelt hat. Im härenen Bußkleid des Bettlers
  • wandelt das heutige Italien einher, und wie staubige Lumpen hängen an
  • ihm die Fetzen seines verblichenen Königsmantels.
  • In einer Aufwallung tiefen Seelenschmerzes hätte er mitunter sogar
  • Tränen vergießen können. Aber dann bemächtigte sich seiner von selbst
  • ein großer trostreicher Gedanke, und ein höheres Ahnungsvermögen gab ihm
  • die Gewißheit, daß Italien noch nicht gestorben sei, daß die Spuren
  • seiner ewigen unerschütterlichen Macht über die ganze Welt sich noch
  • fühlbar machten, daß sein gewaltiger Genius ewig über dem Lande schwebt,
  • er, der von Anbeginn das Schicksal Europas in seinen Busen gelegt hatte,
  • der das Kreuz in die finsteren europäischen Wälder trug, der mit dem
  • Schifferhaken der bürgerlichen Ordnung den an ihren fernen Grenzen
  • hausenden halbwilden Menschen an sich zog, der die Glut des Verkehrs und
  • des Welthandels entfachte, die Listen der Politik und das verwickelte
  • Federwerk der bürgerlichen Verhältnisse spielen ließ, all seine
  • geistigen Kräfte glanzvoll entfaltete, seine Stirn mit dem heiligen
  • Kranze der Poesie umwand, und als der _politische_ Einfluß Italiens
  • bereits zu schwinden begann, die Welt mit herrlichen Wundern erfüllte:
  • mit Kunstwerken, die den Menschen mit nie geahnten Genüssen und
  • göttlichen Gefühlen beschenkten, wie sie bisher noch nie den Schächten
  • seiner Seele entstiegen waren. Und als nun auch das Jahrhundert der
  • Kunst zur Neige ging und die ganz von ihren Rechnungen und Geschäften in
  • Anspruch genommenen Menschen für sie erkalteten, da schwebt er über der
  • Welt und wird er getragen von den klagenden Seufzern der Musik, und an
  • den Ufern der Seine, an der Newa, an der Themse, an der Moskwa, am
  • Mittelmeer und am Schwarzen Meer, an den Küsten Algeriens und auf
  • fernen, vor kurzem noch halbbarbarischen Inseln ertönt begeisterter
  • Beifall zum Preise der unser Ohr mit Wohllaut erfüllenden Sänger. Und
  • endlich beherrscht er selbst durch sein ehrwürdiges Alter und als Bild
  • des Verfalls und der Verwesung drohend die Welt: diese erhabenen
  • architektonischen Wunder blieben uns erhalten wie ein mahnender
  • Schatten, als ein ewiger Vorwurf, um Europa seinen kleinlichen
  • chinesischen Luxus und seine kindliche, spielerische, geistige
  • Zersplitterung entgegenzuhalten. Dieser ganze Haufen untergegangener
  • Welten und diese wunderbare Mischung mit der ewig blühenden Natur -- das
  • alles existiert nur zu dem Zweck, um die Welt aufzurütteln, um den
  • Bewohner des Nordens zuweilen wie im Traum diesen Süden sehen zu lassen,
  • es existiert nur, damit der Gedanke an ihn, ihn aus dem kalten Leben und
  • all der Geschäftigkeit, die die Seele verhärtet und erstarren läßt,
  • herausreiße und über sich emporhebe, indem sich plötzlich ein
  • leuchtender, den Menschen weit mit sich forttragender Ausblick vor ihm
  • auftut, ihm eine coliseische mondbeglänzte Nacht, das in Schönheit
  • sterbende Venedig, ein unsichtbares Leuchten des Himmels und das warme
  • Gekose der herrlichen Luft vorzaubert -- auf daß er wenigstens _einmal_
  • in seinem Leben ein _schöner Mensch_ sei.
  • In einem solchen feierlichen Augenblick söhnte er sich mit dem
  • Niedergang und Verfall seines Vaterlandes aus, und nun glaubte er,
  • überall Keime des ewigen Lebens und einer besseren Zukunft zu erblicken,
  • die uns der ewige Schöpfer der Welt unablässig bereitet. In solchen
  • Augenblicken dachte er auch häufig über die Bedeutung des römischen
  • Volkes für die Gegenwart nach; und es schien ihm, als ob hier noch ein
  • ganz unverbrauchtes Material vorliege. In den Epochen des Glanzes hatte
  • es auch nicht ein _einziges_ Mal eine bedeutende Rolle gespielt; nur die
  • Päpste und die adligen Familien hatten ihre Namen ins Buch der
  • Geschichte eingezeichnet, das Volk aber war unbeachtet geblieben. Das
  • Spiel der Interessen in ihm und um es herum hatte nicht in seinen Kreis
  • eingegriffen und es nicht mit sich fortgerissen; noch war es unberührt
  • von jeglicher Bildung geblieben, die wie ein Sturmwind die in ihm
  • schlummernden Kräfte aufgerüttelt hätte. Etwas von kindlicher Güte und
  • Vornehmheit lag in seiner Natur. Dieser Stolz auf den römischen Namen,
  • der Grund weshalb ein großer Teil der Bürger, die sich für Nachkommen
  • der alten Quiriten hielten, nie eine ehrliche Verbindung mit andern
  • Bevölkerungsklassen einging; dieser aus Gutmütigkeit und Leidenschaft
  • gemischte Charakter, ein Beweis für seine Schönheit und Reinheit (der
  • Römer vergißt nie das Gute oder Böse, das ihm angetan wird; er ist
  • entweder gut oder böse, verschwenderisch oder geizig, seine Laster und
  • Tugenden ruhen noch in ihren ursprünglichen Schächten und haben sich
  • noch nicht zu einem unbestimmten Ganzen vermischt wie beim Menschen
  • unserer Zivilisation, der alle möglichen Leidenschaften, jedoch nur in
  • ganz geringen Dosen besitzt und bei dem sie alle unter der
  • Oberherrschaft des Egoismus stehen); diese Unmäßigkeit und diese
  • Neigung, aus dem Vollen zu genießen -- ein allgemein verbreiteter Zug
  • bei allen starken Völkern -- das alles wurde für ihn von großer
  • Bedeutung. Und dann diese strahlende ungekünstelte Heiterkeit, wie wir
  • sie heute kaum bei einem andern Volke finden, überall, wo der Fürst
  • hingekommen war, hatte er den Eindruck gewonnen, als mache man mühsame
  • Anstrengungen, das Volk zu _zerstreuen_ und zu unterhalten; hier dagegen
  • unterhielt es sich selbst, hier wollte es selbst mit teilnehmen; während
  • des Karnevals war es kaum zu zügeln; alles, was es im Laufe eines Jahres
  • zurückgelegt hatte, war es bereit, in diesen einundeinhalb Wochen wieder
  • durchzubringen; für ein Kostüm konnte es sein ganzes Geld ausgeben; der
  • einfache Mann verkleidet sich als Bajazzo, als Weib, als Poet, als
  • Doktor oder Graf, schwatzt euch allerhand törichtes Zeug vor oder hält
  • euch wohl gar eine Vorlesung, ob ihr nun zuhört oder nicht -- und diese
  • Fröhlichkeit ergreift alle miteinander wie ein Wirbel, vom
  • vierzigjährigen Mann bis zum jüngsten Burschen, der letzte Bettler, der
  • nichts hat, was er anziehen könnte, wendet seinen Kittel um, schwärzt
  • sich sein Gesicht mit Kohle, schließt sich dem bunten Haufen an und
  • läuft mit. Und diese Heiterkeit entspringt ganz einfach seiner Natur,
  • sie ist kein Produkt des Rausches, denn dasselbe Volk pfeift einen
  • Betrunkenen aus, wenn es ihm auf der Straße begegnet. Und dann -- diese
  • Züge eines angeborenen künstlerischen Instinkts und Gefühls! hatte doch
  • einmal in Gegenwart des Fürsten eine einfache Frau einen Künstler auf
  • einen Fehler in seinem Gemälde aufmerksam gemacht; er sah, wie dieses
  • Gefühl sich in der malerischen Kleidung und in dem Schmuck der Kirchen
  • ausprägte, sah wie das Volk in _Gensano_ die Straßen mit Blumenteppichen
  • bedeckte, wie die vielfarbigen Blumenblätter sich zu bunten Flecken und
  • Schatten verwandelten und auf dem Pflaster zu allerhand Figuren
  • gruppierten -- zu dem Wappen eines Kardinals, zum Bilde des Papstes, zu
  • einem Namenszug, zu Vögeln, Tieren und verschieden gestalteten
  • Arabesken; er sah, wie die Eßwarenhändler, die Pizzicaruoli am Abend vor
  • Ostersonntag ihre Läden ausschmückten: die Schinken, die Würste, die
  • weißen Schweinsblasen, die Zitronen und allerhand Blätter ordneten sich
  • zu einem bunten Mosaik zusammen, das einen _Plafond_ darstellte. Die
  • zylindrischen Parmesankäse und andere Käsesorten bildeten ganze
  • Säulenreihen, indem sie sich übereinander türmten; Talgkerzen
  • gruppierten sich zu dem mosaikartigen Gewebe eines Vorhanges, der die
  • inneren Wände schmückte; da sah man ganze Statuen und historische
  • Gruppen, die einen christlichen oder biblischen Stoff darstellten, aus
  • schneeweißem Talg gegossen, den der erstaunte Beschauer für Alabaster
  • halten mußte -- der ganze Boden verwandelte sich in einen heiteren
  • Tempel, in dem vergoldete Sterne erstrahlten, der von kunstvoll
  • aufgehängten _Ampeln_ erleuchtet wurde und in dessen Spiegelscheiben
  • sich zahllose Haufen von Ostereiern spiegelten. Zu alledem ist ein
  • gewisser Geschmack erforderlich, und der Pizzicaruolo machte das nicht,
  • weil es ihm etwas einbrachte, sondern nur um andere und sich selbst an
  • diesem Anblick zu erfreuen. Und endlich war dies ein Volk, das sich
  • seiner eigenen Würde bewußt war: hier bildete es das Volk: _il popolo_,
  • und nicht den gemeinen Pöbel; es war sich bewußt, die wahren Urelemente
  • des ersten Quiritenzeitalters in sich zu tragen; nicht einmal die
  • fremden Reisenden, diese Verführer, die die Korruption in die müßig
  • dahinlebenden Völker tragen, -- brachten es fertig, dies Volk zu
  • verderben, obwohl sich freilich infolge der Überflutung mit fremden
  • Gästen die Gasthäuser und die Landstraßen mit einer Klasse von
  • verächtlichen Leuten bevölkern, nach denen sich der Reisende häufig ein
  • Urteil über das ganze Volk bildet. Sogar die Torheit der
  • Regierungsmaßnahmen, dieser zusammenhanglose Haufen aller möglichen
  • Gesetze, die zu den verschiedensten Zeiten und unter ganz
  • verschiedenartigen Verhältnissen entstanden waren, und noch bis heute
  • nicht wieder aufgehoben sind, unter denen es sogar Edikte gibt, die aus
  • der alten römischen Republik stammen, selbst sie haben es nicht
  • vermocht, in diesem Volke das hohe Rechtsbewußtsein zu entwurzeln. Er
  • verfolgt den unehrlichen Gläubiger mit seinem Tadel, begleitet den
  • Leichenzug der Verstorbenen mit Pfeifen und spannt sich großmütig vor
  • den Leichenwagen, der den Leib eines vom Volke geliebten Mannes mit sich
  • führt. Selbst das Betragen der Geistlichkeit, das häufig Ärgernis
  • erregen könnte und in andern Ländern Sittenlosigkeit und Korruption zur
  • Folge haben würde, scheint keinen Eindruck auf das Volk zu machen: denn
  • es versteht die Religion von ihren heuchlerischen Dienern zu
  • unterscheiden und ist noch nicht angekränkelt von dem kalten Geist des
  • Unglaubens. Und schließlich haben es selbst die Not und die Armut, diese
  • unvermeidlichen Begleiterscheinungen eines stagnierenden Staates, nie zu
  • finsteren Übeltaten verleitet: dieses Volk bleibt immer heiter, erträgt
  • alles mit Ruhe, und nur in Romanen und Erzählungen lesen wir von
  • Mordtaten und Messerstechereien auf den Straßen. Aus diesen Zügen ersah
  • der Fürst, daß er es hier mit einem starken, noch unberührten Volke zu
  • tun hatte, dem sich offenbar in der Zukunft noch ein großes Feld der
  • Betätigung eröffnen mußte. Die europäische Bildung hatte es, wie es
  • schien, mit Absicht übergangen und keine ihrer Vollkommenheiten in
  • seinem Busen Wurzeln schlagen lassen. Selbst die geistliche Herrschaft,
  • dieses seltene Schattengebilde, das sich aus einer vergangenen Zeit
  • herübergerettet hatte, hatte sich gleichsam nur zu dem Zwecke erhalten,
  • um die Nation vor fremden Einflüssen zu behüten, damit keiner der
  • ehrgeizigen Nachbarn sich an ihm vergreife, und damit sein stolzes
  • Volkstum in stiller Einsamkeit warte, bis seine Stunde kommen werde. Und
  • dennoch hatte man hier in Rom nicht den Eindruck der Totenstarre; selbst
  • diese Ruinen und die prunkvolle Armut strömten nichts von jener
  • peinigenden, wühlenden Stimmung aus, die uns bei der Betrachtung der
  • Überreste einer bei lebendigem Leibe verwesenden Nation befällt. Hier
  • war man von dem entgegengesetzten Gefühl beherrscht: von einer heiteren,
  • feierlichen Ruhe. Und jedesmal, wenn der Fürst an dies alles dachte,
  • versank er unwillkürlich in Sinnen, und es schien ihm, als läge eine
  • seltsame geheimnisvolle Bedeutung in dem Worte: »das ewige Rom«.
  • Die Folge davon war, daß er sich mit immer größerem Eifer dem Studium
  • seines Volkes hingab. Er beobachtete es auf den Straßen und in den
  • Cafés, von denen jedes sein eigenes Publikum hatte; in dem einen
  • verkehrten die Antiquare, in einem andern die Jäger und die Schützen, in
  • einem dritten die Bedienten der Kardinäle, in einem vierten die
  • Künstler, in einem fünften die ganze römische Jugend und die römischen
  • Dandys. Er beobachtete es in den Osterien, in den echten römischen
  • Osterien, in die sich nie ein Fremder verirrt, wo sich ein römischer
  • _Nobile_ zuweilen neben einem _Minente_ niederläßt, und wo an heißen
  • Tagen alle Anwesenden ihre Röcke und Krawatten ablegen; oder er besuchte
  • eine jener kleineren ärmlichen aber malerischen Vorstadtschenken mit
  • ihren luftigen Fenstern ohne Glasscheiben, wo die Römer mit ihren
  • Familien oder in zahlreicher Gesellschaft einkehrten, um dort zu Mittag
  • zu essen, oder, wie sie sich ausdrückten, __per far allegria__. Er ließ
  • sich neben ihnen am Tische nieder, speiste mit ihnen zu Mittag und
  • beteiligte sich an ihren Unterhaltungen, immer wieder erstaunt über
  • ihren schlichten, gesunden Menschenverstand und über die Lebhaftigkeit
  • und Originalität, mit der diese ungebildeten Leute zu erzählen
  • verstanden. Die beste Gelegenheit jedoch, sie kennen zu lernen, bot sich
  • ihm während der Zeremonien und Festlichkeiten, wenn die ganze
  • Bevölkerung Roms plötzlich an der Oberfläche erscheint und eine schier
  • unendliche Menge holder Schönheiten vor einem auftauchen, von deren
  • Existenz man bisher keine Ahnung hatte, und wie man ihnen nur noch auf
  • den Basreliefs und in den Anthologien der Alten begegnet. Diese großen,
  • tiefen Augen, diese Alabasterschultern, diese pechschwarzen Haare, die
  • sich in tausendfältigen Formen ums Haupt schlingen oder auf die
  • Schultern herabfallen, malerisch durchbohrt von einem goldenen Pfeil,
  • diese Hände, dieser stolze Gang -- dies alles erinnerte ihn an die
  • ernste, klassische Schönheit, und hatte nichts gemein mit dem
  • leichtsinnigen Reiz graziöser Frauen. Hier glichen die Frauen mehr den
  • Bauten Italiens: sie glichen entweder Palästen oder ärmlichen Hütten,
  • sie waren entweder vollendete Schönheiten oder ganz häßlich; die
  • Mittelmäßigkeit war hier überhaupt nicht vertreten, _hübsche_ Frauen gab
  • es hier nicht. Und er genoß ihren Anblick, wie er die Verse einer
  • herrlichen Dichtung genoß, deren Schönheit sich noch weit über die der
  • andern erhebt, und die in der Seele einen kühlen, erfrischenden Schauer
  • hervorrufen.
  • Allein, bald gesellte sich zu all diesen Genüssen ein Gefühl, das all
  • den andern den Krieg erklärte -- ein Gefühl, das die mächtigsten
  • Leidenschaften aus ihrem geistigen Schlummer erweckte, Leidenschaften,
  • die sich in demokratischer Rebellion gegen die hohe Seeleneinheit
  • auflehnten: er erblickte Anunziata. Und so sind wir denn endlich bei dem
  • hehren Bildnis angelangt, das sein helles Licht über den Anfang unserer
  • Erzählung verbreitete.
  • Es war zur Zeit des Karnevals. »Heute gehe ich nicht zum Corso,« sagte
  • der Principe zu seinem _Maestro di casa_, während er aus dem Hause trat,
  • »der Karneval fängt an, mich zu langweilen; ich finde die Gartenfeste
  • und die Aufzüge, wie sie im Sommer stattfinden, viel schöner.«
  • »Ja ist denn das ein Karneval?« versetzte der Alte. »Das ist ein
  • Karneval für Kinder. Ich erinnere mich eines Karnevals! Da sah man auf
  • dem ganzen Corso auch nicht einen Wagen, und auf den Straßen gab's die
  • ganze Nacht Musik; die Maler, die Architekten und Bildhauer stellten
  • ganze Gruppen und veranstalteten große Aufführungen, und das Volk -- der
  • Herr Fürst verstehen doch -- das _ganze_ Volk, alle -- alle Vergolder,
  • Rahmenbauer, Mosaikleger, sämtliche schönen Frauen, die ganze Signoria
  • und alle Nobili -- sie alle, alle ... machten mit ... _o quanta
  • allegria_! Das war ein richtiger Karneval. Aber heutzutage, was ist denn
  • das für ein Karneval! Ach! ...« sagte der Alte, zuckte die Achseln, und
  • dann sagte er noch einmal »Ach«, zuckte nochmals die Achseln und fügte
  • schließlich hinzu: »_E una porcheria!_« -- Der _Maestro di casa_
  • unterstützte seinen Ausruf in einer lebhaften Aufwallung seines
  • Temperaments mit einer äußerst kräftigen Geste, beruhigte sich aber
  • sogleich wieder, als er bemerkte, daß der Fürst schon längst nicht mehr
  • vor ihm stand, sondern sich schon lange auf der Straße befand. Da er
  • keine Lust hatte, sich am Karneval zu beteiligen, hatte er weder eine
  • Maske mitgenommen noch auch ein Drahtnetz vors Gesicht gelegt. Er hüllte
  • sich tief in seinen Mantel und wollte sich über den Corso nach dem
  • andern Stadtteil begeben. Aber das Menschengewühl war zu groß. Er
  • drängte sich zwischen zwei Menschen hindurch, wobei ihm eine Ladung Mehl
  • auf den Kopf geschüttet wurde; ein bunter Harlekin schlug ihm während er
  • mit seiner Kolombine an ihm vorbeistürmte mit seiner Knarre auf die
  • Schulter, von allen Seiten flogen ihm »_confetti_« und Blumensträuße ins
  • Gesicht, von beiden Seiten flüsterte ihm jemand ins Ohr, von rechts ein
  • Graf und von links ein Arzt, der ihm eine lange Vorlesung über den
  • Inhalt seines Blinddarmes hielt. Es war völlig unmöglich zwischen all
  • den Menschen hindurchzukommen, denn die Volksmenge wuchs immer mehr an,
  • und die lange Kette der Wagen machte halt, da sie nicht mehr vorwärts
  • kommen konnte. Jetzt richtete sich die Aufmerksamkeit der Menge auf
  • einen mutigen Burschen, der auf Stelzen die Häuserreihen entlang
  • schritt, obwohl ihm jeden Augenblick die Stelzen unter den Beinen
  • weggeschlagen werden konnten und er Gefahr lief, sich auf dem Pflaster
  • zu Tode zu fallen. Aber deswegen schien er sich keine Sorge zu machen.
  • Er trug einen ausgestopften Riesen auf seiner Schulter, den er mit einer
  • Hand festhielt, und in der andern Hand ein Stück Papier mit einem Sonett
  • und einem darangehefteten Schwanz, wie man sie bei Papierdrachen findet,
  • und schrie dazu aus voller Kehle: »_Ecco il gran poeta morto! Ecco il
  • suo sonetto colla coda._« (Da ist der verstorbene große Dichter! Das ist
  • sein Sonett mit dem Schwanz [_coda_][17].) Der verwegene Bursche hatte
  • eine so dichte Menschenmenge um sich geschart, daß der Fürst in dem
  • Gedränge kaum noch zu atmen vermochte. Endlich setzte sich die ganze
  • Menge hinter dem toten Poeten in Bewegung, auch die lange Wagenreihe,
  • worüber der Fürst sehr erfreut war, obgleich ihm in dem Gedränge der Hut
  • vom Kopfe geschlagen worden war, nach dem er jetzt eilig griff. Als er
  • noch damit beschäftigt war, den Hut aufzuheben, schlug er die Augen auf
  • und blieb wie angewurzelt stehen: vor ihm stand ein Mädchen von einer
  • unbeschreiblichen Schönheit, sie hatte ein leuchtendes albanisches
  • Kostüm an und kam in Gesellschaft von zwei andern gleichfalls schönen
  • Frauen daher, die aber neben ihr verblaßten, wie die Nacht vor dem Tage.
  • Das war ein herrliches Wunderbildnis. Alles mußte vor ihrem Glanze
  • dahinschwinden. Wenn man sie ansah, wurde es einem klar, warum die
  • italienischen Dichter schöne Frauen mit der Sonne verglichen. Ja, das
  • war eine Sonne, das war die vollkommenste Schönheit! Aller Glanz, der
  • uns zersplittert und auf die einzelnen Schönen dieser Welt verteilt
  • entgegenstrahlt, war hier in einer einzigen vereinigt. Wenn man ihren
  • Busen und ihre Büste ansah, erkannte man sogleich die Mängel des Busens
  • und der Büste anderer schöner Frauen. Im Vergleich mit ihrem dichten
  • glänzenden Haar mußte jedes andere Haar dünn und farblos erscheinen.
  • Ihre Hände mußten jeden Menschen zum Künstler machen! denn wie ein
  • Künstler hätte er sie ewig anschauen mögen und es nie gewagt, sie
  • anzuhauchen. Im Vergleich mit ihren Füßen mußten die Füße aller
  • Engländerinnen, aller Deutschen, aller Französinnen und der Frauen aller
  • andern Nationen wie Holzspäne erscheinen, nur die antiken Bildhauer
  • haben die hehre Idee ihrer Schönheit in ihren Statuen festgehalten. Ihre
  • Schönheit war vollkommen und wie dazu geschaffen, jedermann in gleicher
  • Weise zu blenden. Hierzu bedurfte es nicht eines besonderen Geschmacks;
  • angesichts solcher Vollendung mußten alle Geschmacksrichtungen
  • zusammentreffen; vor ihr mußten alle andächtig auf die Knie sinken, der
  • Gläubige wie der Ungläubige wären vor ihr niedergefallen, wie vor einer
  • plötzlichen Erscheinung der Gottheit. Der Fürst sah, wie die ganze Menge
  • und alle Anwesenden, soviel ihrer da waren, sie anstarrten, wie sich ein
  • unwillkürliches mit Entzücken gemischtes Staunen in den Zügen der Frauen
  • malte, wie sie immer wieder ausriefen: »_O bella!_« wie alle ohne
  • Ausnahme sich in Künstler verwandelt zu haben schienen und ganz im
  • Anschauen des schönen Wesens verloren waren. Aber im Gesicht des
  • Mädchens war nichts zu lesen, außer einem lebhaften Interesse für den
  • Karneval: sie sah nur die Menge und die Masken, merkte nichts von den
  • auf sie gerichteten Augen und hörte kaum auf die hinter ihr stehenden
  • Herren in Sammetjacken, anscheinend ihre Verwandten, die sie
  • wahrscheinlich hieher begleitet hatten. Der Fürst suchte von den Leuten,
  • die neben ihm standen, zu erfahren, wer und woher wohl dies wunderschöne
  • Mädchen sei, aber man antwortete ihm überall bloß mit einem Achselzucken
  • und einer unbestimmten Geste und fügte vielleicht noch hinzu: »Ich weiß
  • nicht, wahrscheinlich ist's eine Fremde[18].« Unbeweglich und mit
  • angehaltenem Atem schien er sie mit seinen Blicken verschlingen zu
  • wollen. Endlich richtete auch das schöne Mädchen ihre tiefen Augen auf
  • ihn, um sie jedoch sogleich verlegen von ihm abzuwenden. Ein Schrei
  • weckte ihn aus seinen Träumereien: vor ihm stand ein mächtiger Wagen.
  • Eine Anzahl Masken in roten Blusen rief ihn beim Namen, bestreute ihn
  • mit Mehl und begleitete ihre Späße mit dem langgezogenen Rufe »hu ... hu
  • ... hu!« In einem Nu war er unter dem lauten Gelächter der Umstehenden
  • von Kopf bis zu den Füßen mit Mehl überschüttet. Ganz weiß wie Schnee,
  • ja selbst mit weißen Augenwimpern, eilte der Fürst nach Hause, um sich
  • umzuziehen.
  • [Fußnote 17: In der italienischen Poetik gibt es eine besondere Form,
  • die unter dem Namen Sonett mit dem Schwanz (_con la coda_) bekannt ist
  • -- sie wird dann angewandt, wenn das Gedicht den ganzen Gedanken nicht
  • zu fassen vermag und daher ein Zusatz erforderlich wird, der oft größer
  • ist als das eigentliche Sonett.]
  • Als er zu Hause angekommen war und sich umgekleidet hatte, war soviel
  • Zeit verstrichen, daß nur noch einundeinhalb Stunden bis zum Ave-Maria
  • übrigblieben. Die Wagen kehrten bereits leer vom Corso zurück: die
  • Insassen hatten sich auf die Balkons zurückgezogen, um sich das Volk
  • anzusehen, das sich in Erwartung der Pferderennen noch immer durch die
  • Straßen drängte. Als er in den Corso einbog, stieß er auf einen Wagen,
  • der mit Männern und Frauen angefüllt war. Die Männer trugen Jacken, die
  • Frauen hatten Blumenkränze auf dem Haupt und Zimbeln und Kastagnetten in
  • den Händen. Die Insassen des Wagens schienen in heiterer Stimmung nach
  • Hause zurückzukehren, er war an der Seite mit Girlanden geschmückt, und
  • die Speichen und Reifen der Räder waren mit grünen Zweigen umwunden.
  • Aber das Herz des Fürsten wurde kalt, als er sah, daß im Wagen, inmitten
  • der Frauen, das schöne Mädchen saß, das einen so tiefen Eindruck auf ihn
  • gemacht hatte. Ein strahlendes Lächeln erleuchtete ihr Antlitz, und
  • unter Schreien und Singen rollte der Wagen schnell an ihm vorbei. Sofort
  • machte der Fürst sich auf und eilte ihm nach, aber ein langer Zug von
  • Musikanten kam ihm in den Weg: eine Geige von schreckenerregender Größe
  • kam auf einem sechsrädrigen Wagen dahergefahren. Ein Mann saß rittlings
  • auf dem Gestell, und ein anderer, der ihr zur Seite ging, strich mit
  • einem gewaltigen Fiedelbogen über vier dicke Stricke, die die Saiten
  • darstellen sollten. Die Herstellung dieser Geige hatte wahrscheinlich
  • viel Mühe und große Unkosten an Zeit und Geld verursacht. Voran schritt
  • ein Mann mit einer ungeheueren Trommel. Eine große Menge Volks, junge
  • Burschen und Knaben folgten in hellen Scharen dem Musikantenaufzug, und
  • die ganze Prozession wurde beschlossen durch einen in Rom wegen seiner
  • Leibesfülle bekannten Pizzicaruolo, der eine Klistierspritze von der
  • Größe eines Kirchturms in der Hand trug. Als der Zug die Straße
  • verlassen hatte, sah der Fürst, daß es schon zu spät war und daher
  • keinen Sinn mehr hatte, hinter dem Wagen herzulaufen; zudem wußte er ja
  • auch nicht, welchen Weg er eingeschlagen hatte. Dennoch aber konnte er
  • den Gedanken nicht aufgeben, das schöne Mädchen wieder aufzufinden.
  • Seine Einbildungskraft zauberte ihm immer wieder dieses strahlende
  • Lachen und den offenen Mund mit der langen Reihe wundervoller Zähne vor.
  • »Das ist ein Blitzstrahl und kein Weib!« sagte er immer wieder zu sich
  • selbst und fügte stolz hinzu: »Sie ist eine Römerin: ein solches Weib
  • konnte nur in Rom geboren werden. Ich muß sie unbedingt wiedersehn; ich
  • trage Verlangen nach ihrem Anblick, nicht um sie zu lieben -- nein, ich
  • möchte sie nur ansehen, ihre ganze Gestalt betrachten: ihre Augen, ihre
  • Hände, ihre Finger, ihre glänzenden Haare. Ich will sie nicht küssen,
  • ich möchte sie nur ansehen. Wie nur? So muß es doch auch sein, das liegt
  • im Wesen der Natur; sie hat kein Recht, ihre Schönheit zu verbergen und
  • mit sich fortzutragen. Die vollendete Schönheit ward der Welt ja darum
  • geschenkt, damit jeder sie anschaue, und auf daß er ihr Bild ewig in
  • seinem Herzen trage. Wenn sie nur _schön_, nur eine gewöhnliche
  • Schönheit und kein Wesen von dieser höchsten Vollkommenheit wäre, dann
  • hätte sie wohl das Recht, einem _Einzelnen_ anzugehören, er könnte sie
  • in eine Wüste forttragen und der Welt ihren Anblick vorenthalten. Aber
  • die vollkommene Schönheit muß jedem sichtbar sein. Läßt denn ein
  • Architekt einen prachtvollen Tempel in einer engen Gasse errichten?
  • Nein, er stellt ihn auf einen offenen Platz hin, damit der Mensch ihn
  • von allen Seiten betrachten und sich an ihm erfreuen könne. >Ward etwa
  • deshalb das Licht angezündet,< sagt der göttliche Meister, >auf daß man
  • es verberge und unter den Scheffel stelle. Nein das Licht ward
  • angezündet, auf daß es auf dem Tische stehe, allen Helligkeit spende und
  • auf daß sich alle im Lichte bewegen.< Nein, ich muß sie unbedingt
  • sehen!« So sprach der Fürst zu sich selbst, dachte dann lange nach und
  • ging alle Mittel durch, die ihn zu seinem Ziele führen könnten; endlich
  • schien er eins gefunden zu haben: sofort und ohne einen Augenblick zu
  • zögern begab er sich in eine der entlegenen Gassen, deren es in Rom sehr
  • viele gibt, wo es nicht einmal einen Kardinalspalast mit einem gemalten
  • Wappen auf dem ovalen Holzschilde gibt, wo sich über jedem Fenster und
  • jeder Tür der engen Häuschen eine Nummer befindet, wo sich das Pflaster
  • bucklig emportürmt und wieder senkt, und wohin sich von Fremden
  • höchstens ein geriebener deutscher Künstler mit seinem Feldstecher und
  • seinem Farbenkasten verirrt, oder etwa noch ein Ziegenbock, der hinter
  • der vorübergehenden Herde zurückgeblieben ist und stehenbleibt, um sich
  • diese merkwürdige Straße anzuschauen, die er noch nie gesehen hat. Hier
  • hört man die sonoren Stimmen der Römerinnen; in allen Fenstern ertönt
  • Geplauder und lebhafte Wechselrede. Hier herrscht volle Aufrichtigkeit,
  • und der Passant kann hier alle häuslichen Geheimnisse erfahren; selbst
  • Mutter und Tochter sprechen hier nicht anders miteinander, als indem
  • beide ihre Köpfe zum Fenster hinausstecken. Männer sieht man hier
  • überhaupt nicht. Kaum erglänzt der erste Strahl der Morgensonne, und
  • schon öffnet sich das Fenster, und _siora_ Susanna blickt auf die Straße
  • hinaus. In einem anderen Fenster erscheint _siora_ Grazia, noch damit
  • beschäftigt, sich den Rock anzuziehen, sodann öffnet _siora_ Nanna das
  • Fenster, auf sie folgt _siora_ Lucia, die sich das Haar kämmt, und
  • endlich streckt _siora_ Cecilia ihre Hand aus dem Fenster, um sich die
  • Wäsche zu holen, die auf einer Schnur vor dem Hause hängt und nun ihre
  • Strafe dafür erhält, daß sie so widerspenstig war und sich so schwer
  • erreichen ließ: denn Donna Cecilia drückt sie zornig zusammen und wirft
  • sie mit den Worten: _che bestia!_ auf den Boden. Hier lebt alles, hier
  • ist alles in Bewegung, hier fliegt plötzlich ein Schuh aus dem Fenster,
  • um einen unartigen Jungen oder einen Ziegenbock zu treffen, der mit
  • einem einjährigen Kind an einem Korb steht, es beschnuppert und seinen
  • Kopf vorbeugt, um ihm zu zeigen, was zwei Hörner sind. Hier blieb nichts
  • unbekannt, hier wußte man alles. Die Signoras waren über alles
  • unterrichtet, was auf der Welt passierte, sie wußten, was _siora_
  • Giudita sich für ein Tuch gekauft hatte, bei wem es heut Fisch zum
  • Mittagessen gab, wer Barbaruccias Geliebter und welcher Kapuziner der
  • beste Beichtvater war. Nur selten flocht auch der Gatte ein Wort ein,
  • der meist auf der Straße an die Mauer gelehnt dastand, eine kurze Pfeife
  • in den Zähnen hielt, und es für seine Pflicht hielt, wenn er von einem
  • Kapuziner reden hörte, ein paar Worte wie: »Das sind alles Gauner!«
  • hinzuzufügen, worauf er wieder fortfuhr, seine Nase in Rauchwolken
  • einzuhüllen. Hier kam nie ein Wagen vorbeigefahren, außer etwa ein
  • zweirädriger Rumpelkasten, der von einem Maultier gezogen wurde und Mehl
  • für den Bäcker mitführte, gewöhnlich wurde er auch von einem schläfrigen
  • Esel begleitet, der kaum dazu zu bewegen war, seinen Korb mit den
  • Broccoli bis an seinen Bestimmungsort zu schleppen, trotz aller Hühs der
  • Straßenjungen, die seine unempfindlichen Lenden mit Steinwürfen
  • regalierten. Hier gibt es keine Magazine außer ein paar kleinen Läden,
  • wo Brot, Bindfaden und Glasflaschen feilgeboten werden, und einem
  • dunklen, engen Café, das sich in einer Straßenecke befindet, da konnte
  • man stets den Anblick eines beständig auf die Straße herauslaufenden
  • Bottegas genießen, der den Signoris in kleinen Blechkannen Kaffee oder
  • eine in Ziegenmilch gekochte Schokolade, die unter dem Namen »Aurora«
  • bekannt ist, servierte. Alle Häuser gehörten hier zwei, drei, mitunter
  • aber auch vier Hausbesitzern, von denen der eine nur den
  • lebenslänglichen Nießbrauch, ein zweiter nur eine Etage besaß, deren
  • Mietzins er jedoch nur zwei Jahre lang erheben durfte, wonach der Stock
  • auf Grund eines Testaments auf zehn Jahre an den _padre_ Vincenzo fiel,
  • dessen rechtlicher Anspruch jedoch von einem Verwandten des
  • ursprünglichen Besitzers, der in Frascati wohnte, und der schon
  • rechtzeitig für die Einleitung eines Prozesses gesorgt hatte,
  • angefochten wurde. Es gab auch solche Hausbesitzer, die nur ein einziges
  • Fenster in einem bestimmten Hause und zwei andere in einem andern Hause
  • besaßen, und die Einkünfte von dem Fenster, für das der unordentliche
  • Mieter übrigens den Mietzins meist schuldig blieb, mit einem Bruder
  • teilten, -- mit einem Wort, hier gab es in Hülle und Fülle Material für
  • unaufhörliche Prozesse und reichen Broterwerb für die Advokaten und
  • Kuriale, die Rom überschwemmten. Alle Damen, von denen soeben gesprochen
  • wurde, sowohl die vornehmsten, die stets mit ihrem vollen Namen genannt
  • wurden, wie die geringeren Ranges, die nur mit Diminutiven beehrt
  • wurden: alle Tettas, Tuttas, Nannas usw. hatten meistens gar nichts zu
  • tun; das waren Gattinnen von Rechtsanwälten, kleinen Beamten, kleinen
  • Kaufleuten, Trägern, Facchinos, gewöhnlich aber Frauen unbeschäftigter
  • Bürger, deren ganzes Talent darin bestand, sich geschickt mit ihren
  • nicht mehr ganz intakten Mänteln zu drapieren. Viele von den Signoras
  • standen den Malern Modell. Hier gab es Modelle aller Arten. Wenn sie
  • Geld hatten, verbrachten sie ihre Zeit mit ihren Männern oder in großer
  • Gesellschaft in den Osterien, hatten sie kein Geld -- so waren sie
  • deshalb auch nicht betrübt, sondern saßen am Fenster und blickten auf
  • die Straße hinaus. Heute war die Straße stiller als sonst, weil ein Teil
  • der Bewohner mit der Volksmenge nach dem Corso gezogen waren. Der Fürst
  • ging auf die alte verfallene Tür eines Häuschens zu, die zahlreiche
  • Löcher aufwies, so daß selbst der Hauswirt lange mit dem Schlüssel nach
  • dem Schlüsselloch suchen mußte. Er war eben im Begriff, nach dem Ring zu
  • greifen, als er plötzlich die Worte vernahm: »Signor Principe will Peppe
  • sehen?« Er hob das Haupt und erblickte _siora_ Tutta, die ihren Kopf aus
  • dem dritten Stock hervorstreckte.
  • [Fußnote 18: Die Römer nennen alle, die nicht in Rom leben, Fremde
  • (_forestieri_), auch wenn sie nur zehn Meilen außerhalb der Stadt
  • wohnen.]
  • »So ein vorlautes Frauenzimmer!« rief _siora_ Susanna aus dem
  • gegenüberliegenden Fenster. »Der Principe ist vielleicht gar nicht
  • deswegen gekommen, um Peppe zu sehen!«
  • »Natürlich, um Peppe zu sehen! Nicht wahr, Herr Fürst? Doch nur um Peppe
  • zu sprechen? Nicht wahr? Herr Fürst? Um Peppe zu sprechen?«
  • »Ach was, Peppe! Was für einen Peppe,« fuhr _siora_ Susanna, mit beiden
  • Händen gestikulierend, fort. »Der Fürst hat gerade Zeit, jetzt an Peppe
  • zu denken! Jetzt ist doch Karneval. Der Fürst will sicher mit seiner
  • Cousine Marchesa Montelli, und mit seinen Freunden eine Wagenfahrt
  • unternehmen und in die Stadt fahren, _per far allegria_. Peppe! Peppe!«
  • Der Fürst war höchst erstaunt, solche Details über die Art, wie er seine
  • Zeit verbringen wollte, zu vernehmen, aber er hat keinen Anlaß, sich zu
  • wundern, denn _siora_ Susanna wußte alles.
  • »Nein, meine lieben _signore_,« sagte der Fürst, »ich muß in der Tat
  • Peppe sprechen.«
  • Diesmal jedoch war es _siora_ Grazia, die die Antwort erteilte; sie
  • hatte schon längst ihren Kopf aus einem Fenster der zweiten Etage
  • herausgestreckt und saß lauschend da. Sie schnalzte zur Antwort ein
  • wenig mit der Zunge und machte eine bezeichnende Bewegung mit dem Finger
  • -- das gewöhnliche Zeichen der Verneinung bei den Römerinnen -- und
  • fügte dann hinzu: »Er ist nicht zu Hause.«
  • »Aber vielleicht wissen Sie, wo er ist, wohin er gegangen ist?«
  • »Eh, wohin wird er gegangen sein!« versetzte _siora_ Grazia, indem sie
  • ihren Kopf ein wenig auf die Seite neigte, »vielleicht -- in die
  • Osteria, am Platz beim Brunnen; wahrscheinlich hat ihn jemand
  • aufgefordert; er ist halt irgendwohin gegangen: _chi lo sa_ (wer will es
  • wissen).«
  • »Wenn der Principe ihm irgend etwas zu bestellen hat,« fiel hier Signora
  • Barbaruccia ein, die am gegenüberliegenden Fenster saß und im Begriff
  • war, sich einen Ohrring ins Ohr zu hängen: »Sie brauchen es mir nur zu
  • sagen, ich will es ihm ausrichten.«
  • »Nein, lieber nicht,« dachte der Fürst und dankte für ein solches
  • Entgegenkommen. In diesem Augenblick lugte aus einer Nebengasse eine
  • mächtige schmutzige Nase hervor, die wie eine ungeheure Axt über den
  • gleich darauf zum Vorschein kommenden Lippen und über dem ganzen Gesicht
  • schwebte: das war Peppe in eigener Person.
  • »Da ist Peppe!« rief _siora_ Susanna. »Da kommt Peppe, _sior_ Principe!«
  • rief Signora Grazia lebhaft aus ihrem Fenster.
  • »Er kommt, Peppe kommt!« trompetete _siora_ Cecilia aus einer
  • Straßenecke.
  • »Principe, Principe! Das ist ja Peppe! Da ist Peppe! (_ecco_ Peppe,
  • _ecco_ Peppe!)« schrien die Kinder auf der Straße.
  • »Ich seh, ich sehe,« sagte der Fürst, ganz betäubt von dem lauten
  • Geschrei.
  • »Da bin ich, _eccellenza_. Da bin ich!« sagte Peppe, indem er die Mütze
  • abnahm. Man merkte es ihm an, daß er schon etwas vom Karneval abgekriegt
  • hatte. Er war auf einer Seite mit einer Ladung Mehl bedacht worden: der
  • ganze Rücken und eine Seite waren ganz weiß, der Hut war eingekeilt und
  • das ganze Gesicht mit weißen Tupfen bedeckt. Peppe war schon deswegen
  • merkwürdig, weil er sein ganzes Leben lang den Diminutivnamen Peppe
  • getragen hatte. Er hatte sich durchaus nicht bis zum Giuseppe
  • aufschwingen können, obwohl er bereits grau zu werden begann. Er stammte
  • sogar aus einer guten und wohlhabenden Kaufmannsfamilie, aber er hatte
  • sein letztes Häuschen in einem Prozeß verloren. Schon sein Vater, ein
  • Mensch von derselben Gattung wie Peppe, trotzdem er _sior_ Giovanni
  • genannt wurde, hatte sein ganzes Vermögen aufgezehrt, und nun fristete
  • Peppe gleich vielen andern notdürftig sein Leben, so wie es gerade kam:
  • bald nahm er Dienste bei einem Ausländer, bald spielte er den Boten bei
  • einem Rechtsanwalt, bald brachte er einem Künstler das Atelier in
  • Ordnung, bald wieder diente er als Wächter in einem Weinberg oder in
  • einer Villa und je nach dem Amt, das er bekleidete, wechselte er auch
  • beständig sein Kostüm. Mitunter begegnete man Peppe in einem weiten Rock
  • und einem runden Hut auf der Straße, bald wieder in einem engen Kaftan,
  • der an zwei drei Stellen geplatzt war, und so enge Ärmel hatte, daß
  • Peppes lange Arme wie zwei Besenstiele aus ihnen hervorguckten, zuweilen
  • aber erschien er in einem ganz undefinierbaren Kostüm, wobei er die
  • einzelnen Kleidungsstücke noch nicht einmal richtig angezogen hatte:
  • mitunter konnte man fast glauben, er habe die Jacke an Stelle der Hosen
  • angezogen und sie hinten, so gut es eben ging, zugebunden. Er war stets
  • zu allen möglichen Diensten bereit und übernahm allerlei Aufträge,
  • häufig sogar, ohne daß dabei etwas für ihn abfiel. Er lief hin und
  • verkaufte für die in seiner Straße wohnenden Damen allerhand alten
  • Plunder: in Pergament gebundene Bücher eines verarmten Abbés oder
  • Antiquars oder das Gemälde eines Künstlers; er ging morgens zu den Abbés
  • und nahm ihre Hosen und Schuhe, um sie zu putzen, mit sich nach Hause,
  • wobei er es dann meist vergaß, sie zur rechten Zeit wieder
  • zurückzubringen, bloß aus dem übereifrigen Wunsch, sich irgendeinem
  • Dritten gefällig zu erweisen, und die Abbés hatten dann den ganzen Tag
  • über Zimmerarrest, da sie ja nicht ohne Hosen und Stiefel ausgehen
  • konnten. Oft fiel ihm eine beträchtliche Geldsumme zu. Aber er verfügte
  • über sie nach römischer Art, d. h. schon am folgenden Tage war fast
  • nichts mehr davon übrig, und dies nicht etwa deshalb, weil er das Geld
  • für sich verbrauchte oder verschwendete, sondern weil er alles in der
  • Lotterie verspielte, für die er eine große Leidenschaft besaß. Es gab
  • kaum eine Nummer, mit der er es nicht schon versucht hatte. Jede
  • unbedeutende, ganz alltägliche Begebenheit erhielt für ihn eine große
  • Bedeutung. Wenn es sich einmal ereignete, daß er irgendeinen Plunder auf
  • der Straße fand, so sah er gleich in seinem Wahrsagebuch nach, unter
  • welcher Nummer er dort verzeichnet stand, um sich sofort das
  • entsprechende Lotteriebillett zu besorgen. Einmal träumte er, daß der
  • Satan, -- den er ohnedies aus einem unbekannten Grunde jedesmal zu
  • Beginn des Frühlings im Traume sah -- daß ihn der Satan bei der Nase
  • gepackt hielt und über die Dächer sämtlicher Häuser schleifte, von der
  • St. Ignatiuskirche, über den ganzen Corso durch die Tre Ladronigasse bis
  • nach der Via della Stamperia, bis er endlich auf der Treppe der Trinita
  • haltmachte und sagte: »Das hast du dafür, daß du zum heiligen Pankratius
  • gebetet hast, Peppe! Deine Nummer wird nicht gewinnen.« Dieser Traum
  • machte in der ganzen Straße großes Aufsehen, und besonders _siora_
  • Cecilia und _siora_ Susanna regten sich sehr über ihn auf; aber Peppe
  • deutete ihn in seiner Weise: er holte sofort sein Wahrsagebuch und fand
  • hier, daß der Teufel 13, die Nase 24 und der heilige Pankratius 30
  • bedeutet, und kaufte sich noch am selbigen Morgen alle drei Nummern.
  • Dann addierte er alle drei Zahlen zusammen, was 67 ergab und besorgte
  • sich noch Nummer 67. Wie gewöhnlich waren alle vier Nummern Nieten. Ein
  • anderes Mal geriet er in Streit mit einem Weinbauer, einem dicken Römer
  • namens _sior_ Raphael Tomacelli. Was der Anlaß zu diesem Streite war,
  • das weiß Gott allein; es gab jedoch zwischen ihnen einen sehr lauten,
  • von lebhaften Handbewegungen begleiteten Disput, und schließlich wurden
  • beide kreidebleich -- ein drohendes Zeichen, auf das hin gewöhnlich alle
  • Frauen entsetzt ans Fenster eilen und der vorüberkommende Spaziergänger
  • sich in Sicherheit zu bringen sucht -- mit einem Wort, ein Zeichen
  • dafür, daß beide Parteien gleich zum Messer greifen werden. Und in der
  • Tat, der dicke Tomacelli hatte bereits seine Hand in den ledernen
  • Stiefelschaft gesteckt, der seine dicke Wade eng umspannte, um sein
  • Messer hervorzuholen, und rief: »Warte nur, ich krieg dich schon, du
  • Kalbskopf!« als sich Peppe plötzlich mit der Hand vor den Kopf schlug
  • und eilig das Schlachtfeld verließ. Es war ihm eingefallen, daß er sich
  • noch nie ein Lotteriebillett auf das Stichwort »Kalbskopf« gekauft
  • hatte. Er sah im Wahrsagebuch nach, unter welcher Nummer der »Kalbskopf«
  • verzeichnet stand, und lief schleunigst nach der Lotteriekollekte, so
  • daß alle Straßenbewohner, die sich bereits auf ein blutiges Schauspiel
  • gefaßt gemacht hatten, durch diese unerwartete Wendung aufs höchste
  • überrascht wurden, ja selbst Raphael Tomacelli ließ sein Messer wieder
  • in den Stiefelschaft gleiten, wußte lange nicht, was er nun beginnen
  • sollte und sagte schließlich: »_Che uomo curioso!_« (Seltsamer Mensch!)
  • Übrigens ließ sich Peppe dadurch, daß die Billette stets Nieten waren,
  • und daß das Geld weggeworfen war, nicht im mindesten beirren. Er war
  • fest überzeugt, daß er einmal reich werden würde, und wenn er an einem
  • Laden vorüberging, unterließ er es nie, zu fragen, was ein jeder
  • Gegenstand koste. Als er einmal erfuhr, daß ein großes Haus verkauft
  • werden sollte, begab er sich zum Verkäufer, um sich bei diesem genauer
  • danach zu erkundigen, und als seine Bekannten sich über ihn lustig
  • machten, versetzte er treuherzig: »Was lacht ihr, warum lacht ihr? Ich
  • will es doch nicht gleich kaufen, sondern später einmal, wenn ich Geld
  • haben werde. Das ist doch gar nicht so seltsam ... Ein jeder sollte sich
  • ein Vermögen erwerben, um seinen Kindern, den Armen, oder für einen
  • Kirchenbau und andre schöne Dinge etwas zu hinterlassen ... _Chi lo
  • sa._« Der Fürst kannte ihn schon lange, sein Vater hatte ihn sogar
  • einmal als Bedienten engagiert, aber sehr bald wieder davongejagt, weil
  • Peppe seine Livree bereits in einem Monat aufgetragen und die ganzen
  • Toiletten des alten Fürsten durch einen unvorsichtigen Stoß mit dem
  • Ellenbogen aus dem Fenster auf die Straße geworfen hatte. »Hör mal,
  • Peppe!« sagte der Fürst. »Was befehlen _eccellenza_?« versetzte Peppe,
  • der barhaupt vor dem Fürsten stand, »der Herr Fürst braucht nur zu
  • sagen, >Peppe!< und schon bin ich da! Daher brauchen der Herr Fürst nur
  • zu sagen: >Hör mal, Peppe!< so erwidere ich schon: _ecco me eccelenza_!«
  • »Du mußt mir folgenden Dienst leisten, Peppe!« ... Bei diesen Worten sah
  • der Fürst sich um, und bemerkte, daß sich sämtliche _siore_ Grazias,
  • sämtliche Susannen, Barbarucci, Tettas und Tuttas, soviel ihrer da
  • waren, neugierig aus dem Fenster lehnten; die arme _siora_ Cecilia aber
  • war beinahe im Begriff, auf die Straße herunterzufallen. »Hm, die Sache
  • steht schlimm!« dachte der Fürst, »komm Peppe, folge mir!«
  • Mit diesen Worten schritt er voran, während Peppe ihm gesenkten Hauptes
  • folgte und vor sich hinmurmelte: »Eh! diese Weiber sind so neugierig,
  • weil's eben Weiber sind, weil sie eben neugierig sind.«
  • Lange schritten sie, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, aus
  • einer Straße in die andere. Peppe dachte bei sich: »Der Fürst will mir
  • wahrscheinlich einen wichtigen Auftrag geben, weil er nicht in Gegenwart
  • der andern davon reden will; folglich habe ich ein schönes Geschenk oder
  • gar Geld von ihm zu erwarten. Wenn mir der Fürst aber Geld gibt, was
  • soll ich damit anfangen? Soll ich es dem Cafébesitzer _sior_ Serviglio
  • geben, dem ich schon lange was schuldig bin? _Sior_ Serviglio wird in
  • der ersten Fastenwoche sicherlich sein Geld von mir zurückfordern, denn
  • er hat all sein Geld für den Bau der ungeheuren Geige verbraucht, an der
  • er drei Monate lang eigenhändig gearbeitet hat, um während des Karnevals
  • mit ihr durch alle Straßen zu ziehen, jetzt wird _sior_ Serviglio
  • wahrscheinlich noch lange statt Rostbraten nur Ziegenfleisch und in
  • Wasser gekochte Broccoli essen, bis er sich wieder mit seinem Café genug
  • Geld verdient hat. Oder soll ich _sior_ Serviglio noch nicht bezahlen,
  • sondern ihn bloß zum Mittagessen in eine Osteria auffordern? Denn _sior_
  • Serviglio ist ein -- _vero Romano_ und wird mir um der ihm erwiesenen
  • Ehre willen die Rückzahlungsfrist noch ein wenig verlängern; die
  • Lotterie beginnt bestimmt in der zweiten Woche der Fasten. Wie soll ich
  • nur bis dahin das Geld verwahren? Die kann ich es so verstecken, daß
  • weder Giacomo noch Meister Petruccio, der Drechsler, etwas davon
  • erfährt, die mich sicherlich bitten werden, ihnen etwas zu leihen?
  • Giacomo hat nämlich all seine Kleider bei den Juden im Gettho versetzt,
  • Meister Petruccio hat gleichfalls seine Kleider zum Juden ins Gettho
  • getragen, und hat einen Unterrock und das letzte Tuch seiner Frau in
  • Stücke gerissen, um sich als Weib zu verkleiden ... wie soll ich es nur
  • anstellen, daß ich ihnen nichts leihen muß?« Dies waren die Gedanken,
  • die Peppe durch den Kopf gingen.
  • Der Fürst seinerseits aber dachte: »Peppe kann herauskriegen, wo das
  • schöne Mädchen wohnt, wer sie ist und kann sie mir auffinden. Erstens
  • kennt er alle Menschen und hat daher eher als alle andern Gelegenheit,
  • in der Menge einem Freund zu begegnen, er kann von diesem etwas
  • erfahren, kann in alle Cafés und Osterien hineinblicken und kann sogar
  • jemand ansprechen, da er durch seine Figur bei niemand Verdacht erregt.
  • Er schwatzt zwar mitunter zuviel und ist recht zerstreut, aber wenn man
  • ihn bei seiner Römerehre faßt und ihm sein Ehrenwort abnimmt, so wird er
  • das Geheimnis schon zu bewahren wissen.«
  • So dachte der Fürst, während er die Straßen durchschritt; endlich blieb
  • er stehen, als er gewahrte, daß er die Brücke längst überschritten hatte
  • und sich schon lange auf _der_ Seite Roms befand, die jenseits des
  • Tibers liegt, daß er bereits bergan ging und daß die Kirche S. Pietro in
  • Montorio nicht mehr fern war. Um nicht auf dem Wege stehenzubleiben,
  • betrat er den Platz, von dem aus man ganz Rom überblicken kann und sagte
  • zu Peppe gewandt: »Hör mal, Peppe: ich muß dich um einen Dienst bitten.«
  • »Was wünschen _eccellenza_?« versetzte Peppe.
  • In diesem Augenblick aber sah der Fürst Rom vor sich liegen; wie ein
  • herrliches, leuchtendes Panorama breitete sich die ewige Stadt vor ihm
  • aus. Auf der ganzen hellen Masse der Häuser, Kirchen, Kuppeln und
  • Turmspitzen lag der leuchtende Glanz der herabsinkenden Sonne. Einzeln
  • und in ganzen Gruppen traten eines hinter dem andern die Häuser, die
  • Dächer, die Statuen, die schwebenden Terrassen und die Galerien hervor;
  • dort funkelten die dünnen Spitzen der Türme und Kuppeln einer Masse und
  • spielten mit der kapriziösen Buntheit bemalter Laternen in tausend
  • Farben, dort trat ein ganzer Palast hervor, dort die schön geschmückte
  • Spitze der Antoninussäule mit dem Kapitäl und der Statue des Apostels
  • Paulus; mehr rechts strebten die Gebäude des Kapitols mit ihren Rossen
  • und Statuen in den Himmel, noch mehr rechts über der leuchtenden Masse
  • der Häuser und Dächer erhob sich majestätisch und streng das finstere
  • Massiv des coliseischen Kolosses, dort wieder funkelte eine Flucht von
  • Mauern, Terrassen und Kuppeln, in blendendes Sonnenlicht getaucht. Und
  • über der ganzen blitzenden Masse grüßten die Wipfel steinerner Eichen
  • fern aus den Villen der Ludovisi und Medici mit ihrem dunklen Laub
  • herüber, über ihnen ragte ein Wald von römischen Pinien empor, die ihre
  • zarten Stämme mit den kuppelförmigen Wipfeln in die Luft streckten. Und
  • dieses ganze Bild wurde seiner ganzen Länge nach begrenzt von
  • dunkelblauen Bergen, die sich zart und durchsichtig wie die Luft am
  • Horizont erhoben und von einem phosphoreszierenden Lichte umwoben
  • wurden. Kein Wort und kein Pinsel hätte die wunderbare Harmonie und den
  • einträchtigen Zusammenhang aller Züge dieses Bildes schildern können!
  • Die Luft war so rein und durchsichtig, daß die zarteste Linie der fernen
  • Gebäude klar hervortrat und daß alles so nahe erschien, wie wenn man es
  • mit der Hand greifen konnte. Das letzte kleinste architektonische
  • Ornament, der Arabeskenschmuck eines Gesimses -- alles zeichnete sich
  • mit einer unbeschreiblichen Deutlichkeit ab. In diesem Augenblick
  • ertönte ein Kanonenschuß und ein ferner, in eins zusammenfließender
  • Schrei der Volksmenge -- das Zeichen, daß die reiterlosen Rosse schon
  • vorbeigaloppiert waren und damit der Karnevalstag seinen Abschluß
  • gefunden hatte. Die Sonne sank immer tiefer herab und näherte sich dem
  • Erdrand; ihr Abglanz auf der Masse der Bauwerke wurde immer rosiger und
  • glühender, die Stadt erschien jetzt noch belebter und näher, die Pinien
  • noch dunkler, das Blau der Berge wurde noch tiefer, sie
  • phosphoreszierten noch stärker, und der erlöschende Himmelsäther wurde
  • noch wundersamer und feierlicher! ... O Gott, welch ein Anblick! Und
  • ganz hingerissen von all der Herrlichkeit vergaß der Fürst sich selbst,
  • die Schönheit Anunziatas, das rätselhafte Schicksal seines Volkes und
  • alles, was es auf dieser Welt gab.
  • Anhang
  • I
  • Arabesken
  • Die Arabesken sind in der ersten Januarhälfte des Jahres 1835
  • erschienen; die Unterschrift des Zensors trägt das Datum »den 10.
  • November 1834«.
  • Arabesken (Erster Teil)
  • I. _Skulptur, Malerei und Musik._ Der Entwurf zu diesem Aufsatz stammt
  • aus dem Jahre 1831, die endgültige Bearbeitung für den Druck fällt in
  • das Jahr 1834.
  • II. _Über das Mittelalter._ Dieser Aufsatz, Gogols Antrittsvorlesung,
  • ist im August 1834 niedergeschrieben.
  • III. _Ein Kapitel aus einem historischen Roman._ Wurde zum erstenmal in
  • dem Almanach »Nordische Blumen für das Jahr 1831« (»_Ssewernyje zwety na
  • 1831 god_«) abgedruckt. Die Unterschrift des Zensors trägt das Datum
  • »den 18. Dezember 1830«.
  • IV. _Über den Unterricht in der Weltgeschichte._ Dieser Aufsatz ist im
  • Dezember 1833 geschrieben. In der ersten Hälfte des Jahres 1834 wurde er
  • noch einmal überarbeitet und erschien dann in der neuen Fassung im
  • Februarheft der »Zeitschrift des Kultusministeriums« (»_Journal
  • Ministerstwa Narodnawo prossweschtschenja_«) Jahrgang 1834.
  • V. _Ein Überblick über das Werden Kleinrußlands._ Der erste Entwurf zu
  • diesem Aufsatz stammt aus dem Jahre 1833; im März 1834 wurde er für den
  • Druck neu bearbeitet und erschien zum erstenmal im Aprilheft der
  • »Zeitschrift des Kultusministeriums«, Jahrgang 1834, unter dem Titel
  • »Ein Abschnitt aus der Geschichte Kleinrußlands«, Band I, Buch I,
  • Kapitel I.
  • VI. _Einige Worte über Puschkin._ Der erste Entwurf stammt aus dem Jahre
  • 1832, die letzte Bearbeitung für den Druck aus dem Jahre 1834.
  • VII. _Über die Architektur unserer Zeit._ Dieser Aufsatz ist in der
  • zweiten Hälfte des Jahres 1833 begonnen, 1834 wurde er vor der
  • Drucklegung noch einmal überarbeitet.
  • VIII. _Al-Mamun._ Dieses Essay stammt aus dem Jahre 1834.
  • Arabesken (Zweiter Teil)
  • I. _Das Leben._ Der Entwurf zu dieser Skizze stammt aus dem Jahre 1832,
  • die letzte Bearbeitung aus dem Jahre 1834.
  • II. _Schlözer, Müller und Herder._ Der erste Entwurf zu diesem Aufsatz
  • stammt aus dem Jahre 1832, die letzte Fassung aus dem Jahre 1834.
  • III. _Der Newsky-Prospekt._ Diese Novelle wurde 1833 oder im Anfang des
  • Jahres 1834 begonnen. Im Oktober 1834 wurde sie für den Druck
  • fertiggestellt.
  • Bei der Umarbeitung erhielt folgende Stelle der ursprünglichen
  • Handschrift eine neue Fassung: »Wenn Piragow seine Uniform angehabt
  • hätte, so hätte wahrscheinlich die Achtung vor seinem Rang und seiner
  • Würde die wilden Teutonen sicherlich von ihrem Unternehmen abstehen
  • lassen; aber er war ja nur als Zivilist und als Privatperson erschienen
  • -- im Rock und ohne Epauletten. In rasender Wut rissen die Deutschen ihm
  • den Rock vom Leibe; Hoffmann setzte sich ihm mit dem ganzen Gewicht
  • seines Leibes auf die Beine, Kunz packte ihn am Kopfe und Schiller
  • ergriff ein Rutenbündel, das bei ihm den Dienst eines Besens versah. Ich
  • muß zu meinem großen Bedauern gestehen, daß der Leutnant Piragow äußerst
  • schmerzhafte Prügel bezog.« (Vergl. Seite 238.)
  • IV. _Über die kleinrussischen Lieder._ Dieser Aufsatz ist im März des
  • Jahres 1834 niedergeschrieben und im Aprilheft der »Zeitschrift des
  • Kultusministeriums«, Jahrgang 1834, erschienen.
  • V. _Gedanken über Geographie._ Dieser Aufsatz erschien zum erstenmal in
  • der ersten Nummer der »Literaturzeitung« (»_Literaturnaja Gaseta_«) im
  • Januarheft des Jahrgangs 1831 unter dem Titel »Einige Gedanken über die
  • Art, wie man Kinder in der Geographie unterrichten soll«. Die neue
  • Fassung, wie sie in den Arabesken vorliegt, stammt aus dem Jahre 1834.
  • VI. _Der letzte Tag von Pompeji._ Ist im August des Jahres 1834
  • geschrieben.
  • VII. _Der Gefangene._ Stammt aus dem Jahre 1830.
  • VIII. _Über die Völkerwanderung am Ende des V. Jahrhunderts._ Ist
  • wahrscheinlich im September des Jahres 1834 geschrieben.
  • IX. _Memoiren eines Wahnsinnigen._ Stammt aus dem Jahre 1834.
  • II
  • Aufsätze aus Puschkins »Zeitgenossen«
  • I. _Über die Strömungen in der Zeitschriftenliteratur der Jahre
  • 1834-1835._ Dieser Aufsatz wurde im Februar 1836 begonnen und erschien
  • in neuer Bearbeitung im April des Jahres 1835 im ersten Bande des
  • »Zeitgenossen« (»_Sowremennik_«) von Puschkin.
  • II. _Petersburger Skizzen 1836._ Dieser Aufsatz besteht aus zwei Teilen.
  • Der erste Teil stammt aus dem Jahre 1835, der zweite aus dem April und
  • Mai des Jahres 1836. Beide Teile wurden zum erstenmal im sechsten Bande
  • von Puschkins »Zeitgenossen« abgedruckt, der erst nach seinem Tode
  • erschien und die vom 2. Mai 1837 datierte Unterschrift des Zensors
  • trägt.
  • III. _Italienische Sommernächte._ Der Entwurf zu diesen Skizzen stammt
  • aus dem Jahre 1839.
  • III
  • Rom
  • Ein Fragment
  • S. T. Aksakow, dem Gogol diese Erzählung 1839 selbst vorgelesen hat,
  • nennt sie die »Italienische Novelle Anunziata«. Die Erzählung ist noch
  • vor dem September desselben Jahres in Rom niedergeschrieben. Gegen Ende
  • des Jahres 1841 wurde das Fragment vor der Drucklegung noch einmal
  • überarbeitet. Es erschien in der dritten Nummer des »Moskwitjanin« (»der
  • Moskauer«) vom Jahre 1842.
  • * * * * *
  • Diese Nachträge und Anmerkungen sind der russischen Ausgabe von
  • _Tichonrawow_ und _Schenrock_ (Petersburg 1901) entnommen.
  • _Der Herausgeber._
  • Druck von Mänicke und Jahn, Rudolstadt.
  • Anmerkungen zur Transkription
  • Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten. Auch
  • Variationen in der Transliteration der russischen Namen wurden nicht
  • verändert.
  • Im Original ist in den »Memoiren eines Wahnsinnigen« im letzten
  • Eintrag (Seite 384) der Monatsname »Februar« um 180 Grad gedreht
  • (kopfstehend) geschrieben.
  • Offensichtliche Fehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt
  • (vorher/nachher):
  • [S. 3]:
  • ... kann man wohl schon die Unvollkommenheit deines Ganzen ...
  • ... kann man wohl schon die Unvollkommenheit des Ganzen ...
  • [S. 10]:
  • ... apelliert an unsere Sympathie und nicht an unsere
  • Genußfähigkeit. ...
  • ... appelliert an unsere Sympathie und nicht an unsere
  • Genußfähigkeit. ...
  • [S. 27]:
  • ... plötzlich in schrecklicher Majestät auf, diese endenlosen ...
  • ... plötzlich in schrecklicher Majestät auf, diese endlosen ...
  • [S. 31]:
  • ... der inmitten seiner unvermeßlichen Ländereien, im Kreise ...
  • ... der inmitten seiner unermeßlichen Ländereien, im Kreise ...
  • [S. 31]:
  • ... singen -- der unerbitterliche Dolch erreichte sie am Ende ...
  • ... singen -- der unerbittliche Dolch erreichte sie am Ende ...
  • [S. 34]:
  • ... ist, und niemand erfährt etwas von von ihnen. ...
  • ... ist, und niemand erfährt etwas von ihnen. ...
  • [S. 39]:
  • ... der heute den Pirjatinsker Kreis von dem Lublinschen ...
  • ... die heute den Pirjatinsker Kreis von dem Lublinschen ...
  • [S. 40]:
  • ... des Mirgorodschen Regiments nannte, zu tun! ... Man ...
  • ... des Mirgorodschen Regiments nannte, zu tun? ... Man ...
  • [S. 43]:
  • ... heuzutage nie eine kurze, klare Antwort geben, er wird ...
  • ... heutzutage nie eine kurze, klare Antwort geben, er wird ...
  • [S. 44]:
  • ... doch gar nicht gehört, daß bei Lochwitze ein Lager
  • aufgeschlagen ...
  • ... doch gar nicht gehört, daß bei Lochwitza ein Lager
  • aufgeschlagen ...
  • [S. 50]:
  • ... nachdem er zweiundfünzig Seelenmessen für den verstorbenen ...
  • ... nachdem er zweiundfünfzig Seelenmessen für den verstorbenen ...
  • [S. 54]:
  • ... erwürgst ja den Kater? Ich habe dir was Süßes mitgebracht! ...
  • ... erwürgst ja den Kater! Ich habe dir was Süßes mitgebracht! ...
  • [S. 74]:
  • ... Nordosten in drohender Majestät die Wacht; die bebefreiten ...
  • ... Nordosten in drohender Majestät die Wacht; die befreiten ...
  • [S. 125]:
  • ... kein harmonisches Ganze mehr. ...
  • ... kein harmonisches Ganzes mehr. ...
  • [S. 125]:
  • ... so wurden dieser schließlich primitiv und einfach bis zur ...
  • ... so wurde dieser schließlich primitiv und einfach bis zur ...
  • [S. 127]:
  • ... Wölbung nach den Wolken strebt oder in einen gegewaltigen ...
  • ... Wölbung nach den Wolken strebt oder in einen gewaltigen ...
  • [S. 140]:
  • ... mit ihrem bunten Gewande, und ihrem kostbarem Halsgeschmeide. ...
  • ... mit ihrem bunten Gewande, und ihrem kostbaren Halsgeschmeide. ...
  • [S. 146]:
  • ... Äußere annehmen, bald wieder einen fröhlichen Ausdruck, ...
  • ... Äußeres annehmen, bald wieder einen fröhlichen Ausdruck, ...
  • [S. 158]:
  • ... die keine bestimmte Gesetze kennen, liegt die ...
  • ... die keine bestimmten Gesetze kennen, liegt die ...
  • [S. 161]:
  • ... Fanatismus, -- einen Fantismus, der die Massen
  • auseinanderriß, ...
  • ... Fanatismus, -- einen Fanatismus, der die Massen
  • auseinanderriß, ...
  • [S. 168]:
  • ... des Menschen. Alles ist vergänglich. Gemein ist alle ...
  • ... Menschen. Alles ist vergänglich. Gemein ist alle ...
  • [S. 179]:
  • ... ein unzertrennliches Ganze ist das Ziel, nach dem seine ...
  • ... ein unzertrennliches Ganzes ist das Ziel, nach dem seine ...
  • [S. 192]:
  • ... Lesen von Journälen beschäftigen, mit einem Wort, ...
  • ... Lesen von Journalen beschäftigen, mit einem Wort, ...
  • [S. 197]:
  • ... Epaulette bringen sie schon in solch eine Vewirrung, daß ...
  • ... Epaulette bringen sie schon in solch eine Verwirrung, daß ...
  • [S. 199]:
  • ... Licht dies Lächeln vorgegaukelt hatt. Allein, der ...
  • ... Licht dies Lächeln vorgegaukelt hatte. Allein, der ...
  • [S. 263]:
  • ... nie ein schönes Ganze zurückbleiben. -- Es werden ...
  • ... nie ein schönes Ganzes zurückbleiben. -- Es werden ...
  • [S. 271]:
  • ... in Kiew, einen King Bench? Über diese wird das ...
  • ... in Kiew, einen King Bench! Über diese wird das ...
  • [S. 273]:
  • ... ein organisches Ganze zu bilden. ...
  • ... ein organisches Ganzes zu bilden. ...
  • [S. 283]:
  • ... Schrecken und doch wieder seinen Schreck plötzlich
  • vergessend, ...
  • ... Schrecken und doch wieder ihren Schreck plötzlich vergessend, ...
  • [S. 306]:
  • ... der Zivilisation wären überhaupt um viele Jahrhunderte ...
  • ... der Zivilisation wäre überhaupt um viele Jahrhunderte ...
  • [S. 331]:
  • ... von selbst, daß diese Taten in seine Untertanen keinen allzu ...
  • ... von selbst, daß diese Taten in seinen Untertanen keinen allzu ...
  • [S. 399]:
  • ... durchaus zu verwerfen wären. Dies erinnnerte an den ...
  • ... durchaus zu verwerfen wären. Dies erinnerte an den ...
  • [S. 410]:
  • ... Beobochter« die Erwartungen des nach Neuem ...
  • ... Beobachter« die Erwartungen des nach Neuem ...
  • [S. 410]:
  • ... Biene« unb die »Lesebibliothek« waren, die natürlich nie ...
  • ... Biene« und die »Lesebibliothek« waren, die natürlich nie ...
  • [S. 424]:
  • ... allerhand Kämpfer laut miteinander im Streite liegen. ...
  • ... allerhand Kämpfer laut miteinander im Streite liegen? ...
  • [S. 424]:
  • ... mit jeder orginalen Schöpfung: aus ihr lernen wir den ...
  • ... mit jeder originalen Schöpfung: aus ihr lernen wir den ...
  • [S. 444]:
  • ... Verhältnissen Talente entwickeln. Gebt uns um Gottes ...
  • ... Verhältnissen Talente entwickeln? Gebt uns um Gottes ...
  • [S. 444]:
  • ... Autoren förmlich in ihre Stücken geschleppt werden, so wie ...
  • ... Autoren förmlich in ihre Stücke geschleppt werden, so wie ...
  • [S. 462]:
  • ... hob sich mir ihrer schirmartigen, wie in der Luft schwebenden ...
  • ... hob sich mit ihrer schirmartigen, wie in der Luft schwebenden ...
  • [S. 462]:
  • ... klingendem, diamentenem Strahl das Wasser emporsprang ...
  • ... klingendem, diamantenem Strahl das Wasser emporsprang ...
  • [S. 492]:
  • ... Adel verleiht. Wie klein erschien ihm vor dieser
  • unschütterlichen, ...
  • ... Adel verleiht. Wie klein erschien ihm vor dieser
  • unerschütterlichen, ...
  • [S. 497]:
  • ... ründeten sich die Kuppeln, die Statuen des lateranischen ...
  • ... rundeten sich die Kuppeln, die Statuen des lateranischen ...
  • [S. 501]:
  • ... ihm seinen entschwundenen Glanz wiederzugeben.« Und ...
  • ... ihm seinen entschwundenen Glanz wiederzugeben?« Und ...
  • [S. 501]:
  • ... er gedacht der Zeit, als er noch als Student der Universität, ...
  • ... er gedachte der Zeit, als er noch als Student der
  • Universität, ...
  • [S. 529]:
  • ... er kann von diesen etwas erfahren, kann in alle Cafés ...
  • ... er kann von diesem etwas erfahren, kann in alle Cafés ...
  • End of the Project Gutenberg EBook of Sämmtliche Werke 6: Arabesken,
  • Prosaschriften, Rom, by Nikolaj Gogol
  • *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 6: ***
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