Quotations.ch
  Directory : Das Porträt
GUIDE SUPPORT US BLOG
  • The Project Gutenberg EBook of Sämmtliche Werke 2: Die Toten Seelen II /
  • Novellen, by Nikolaj Gogol
  • This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
  • other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
  • whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
  • the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
  • www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
  • to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
  • Title: Sämmtliche Werke 2: Die Toten Seelen II / Novellen
  • Die Toten Seelen II / Der Mantel / Die Nase / Das Porträt
  • Author: Nikolaj Gogol
  • Editor: Otto Buek
  • Translator: Otto Buek
  • Mario Spiro
  • S. Bugow
  • Release Date: March 1, 2017 [EBook #54263]
  • Language: German
  • *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 2: DIE ***
  • Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
  • Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was
  • produced from images made available by the HathiTrust
  • Digital Library.
  • Nikolaus Gogol
  • Tote Seelen, II
  • Novellen
  • Nikolaus Gogol
  • Sämmtliche Werke
  • In 8 Bänden
  • Herausgegeben
  • von
  • Otto Buek
  • Band 2
  • München und Leipzig
  • bei Georg Müller
  • 1909
  • E. R. W.
  • Nikolaus Gogol
  • Die Abenteuer Tschitschikows oder Die toten Seelen
  • Übertragen
  • von
  • Otto Buek
  • Band 2
  • München und Leipzig
  • bei Georg Müller
  • 1909
  • E. R. W.
  • Inhalt
  • Die Abenteuer Tschitschikows, Zweiter Teil Seite 1
  • Novellen:
  • Der Mantel » 223
  • Die Nase » 283
  • Das Porträt » 329
  • Die Abenteuer des Grafen Tschitschikows
  • oder
  • Die Toten Seelen.
  • Zweiter Teil
  • Erstes Kapitel.
  • Warum bloß wollen wir die Armut, nichts als die Armut und die
  • beklagenswerte Unvollkommenheit unseres Lebens öffentlich zur Schau
  • stellen, indem wir die Menschen aus der Wildnis, aus den entlegensten
  • Winkeln unseres Vaterlandes ausgraben und hervorziehen? -- Was ist zu
  • machen, wenn das nun einmal die Eigenart des Verfassers ist, und wenn er
  • selbst so sehr an seiner eigenen Unzulänglichkeit krankt, daß er eben
  • nur dies eine kann: die Armut und nichts als die Armut und
  • Unvollkommenheit unseres Lebens darstellen, indem er seine Menschen aus
  • der Wildnis und aus den entlegensten Winkeln unseres Vaterlandes
  • ausgräbt? Und so sind wir denn abermals mitten in die Wildnis
  • hineingeraten und wieder auf ein ödes trauriges Nest gestoßen. Und noch
  • dazu welch ein Nest und welch eine Wildnis!
  • Wie der Riesenwall einer unendlichen Festung mit Türmen und Bastionen,
  • zog sich in endlosen Windungen von mehr als tausend Werst eine
  • ununterbrochene Gebirgskette hin. Stolz und majestätisch erhob sie sich
  • über die grenzenlose Ebene, bald als nackter Ton- und Kalkfelsen, bald
  • als senkrecht abstürzende Bergwand, durchsetzt von Spalten und Rissen,
  • bald wieder in Form von grünen Kuppen, bedeckt mit jungem Buschwerk, das
  • zwischen kahlen Baumstümpfen emporragte und von weitem wie zartes
  • Lammfell aussah, bald endlich als dichter dunkler Wald, den die Axt
  • seltsamer Weise noch verschont hatte. Der Fluß, der überall zwischen
  • hohen Ufern dahinströmte, folgte den Bergen in mancherlei
  • Schlangenwindungen, nur hie und da entfernte er sich von ihnen, floß
  • zwischen Feldern und Wiesen dahin, schlängelte sich in leuchtenden
  • Serpentinen, verschwand plötzlich, noch einmal hell aufblitzend im
  • strahlenden Sonnenlicht in einem Gehölz von Birken, Espen oder Erlen und
  • tauchte endlich wieder triumphierend aus dem Dunkel hervor, überall
  • begleitet von Brücken, Windmühlen und Dämmen, die ihm bei jeder Wendung
  • nachzueilen schienen.
  • An einer Stelle war die steile Gebirgsmasse besonders dicht mit dem
  • Lockenschmuck jungen Baumgrünes überzogen. Durch künstliche Anpflanzung
  • hatte sich hier dank den Unebenheiten des Gebirgshanges die Vegetation
  • aus Nord und Süd zusammengefunden. Eiche, Ahorn, Birnbäume und
  • Weidenbüsche, Beifuß und Birke, Fichten und dicht von Hopfen umrankte
  • Ebereschen kletterten überall, _hier_ einträchtig und sich gegenseitig
  • im Wachstum unterstützend, _dort_ sich hemmend und eng zusammengedrängt,
  • den steilen Berg hinan. Oben am Scheitel mischten sich mit den grünen
  • Wipfeln die roten Dächer der Gutsgebäude, die Giebel und Dachfirste der
  • dahinter versteckten Bauernhütten, das oberste Stockwerk des
  • Herrenhauses mit seinem geschnitzten Balkon und dem halbrunden Fenster
  • -- und hoch über dieser Masse nah beieinander liegender Häuser und Bäume
  • streckte eine altertümliche Kirche ihre fünf vergoldeten Türme in die
  • Luft, deren jeder ein Glockenspiel enthielt. Die Türme waren mit
  • goldenen durchbrochenen Kreuzen geschmückt, die mit ebensolchen Ketten
  • von gleichem Metall an den Kuppeln befestigt waren, so daß man aus der
  • Ferne den Eindruck hatte, als glühte und flimmerte die Luft von
  • glänzendem gemünztem Golde, das frei im blauen Äther schwebte, ohne an
  • etwas befestigt zu sein. Und diese ganze Masse von Bäumen, Dächern und
  • Kreuzen spiegelte sich wie auf den Kopf gestellt lieblich im Flusse
  • wieder, wo die hohen mißgestalteten Weidenstämme, die teils vereinzelt
  • am Ufersaume, teils tief im Wasser standen, ihre von grünem schleimigen
  • Flußschwamm und treibenden Wasserlilien umsponnenen Zweige und Blätter
  • in die Fluten hinabtauchten und in die Betrachtung dieses reizenden
  • Bildes versunken schienen.
  • Dieser Anblick war in der Tat sehr hübsch, aber der Blick aus der Höhe
  • ins Tal, von der Terrasse des Hauses in die weite Ferne war noch viel
  • schöner. Kein Gast, kein Besucher vermochte es gleichgültig auf dem
  • Balkon zu verweilen: der Atem stockte ihm in der Brust vor Staunen und
  • Entzücken, und er konnte bloß ausrufen: »Gott wie geräumig und frei ist
  • es hier!« Ein unendlicher grenzenloser Raum breitete sich vor ihm aus:
  • Hinter den Wiesen, die mit Buschwerk und mit Windmühlen übersät waren,
  • erhoben sich dunkle Wälder wie eine Reihe grün schimmernder Zonen;
  • hinter den Wäldern leuchteten gelbliche Sanddünen durch die sich mählich
  • verfinsternde Luft; auf diese folgten wiederum Wälder, die bläulich
  • schimmerten, wie ein sich weithin dehnendes Meer oder eine weite
  • Nebelfläche; dahinter lagen wieder Sanddünen, welche zwar nicht mehr so
  • hell, wie die ersten, aber doch noch deutlich sichtbar gelb glimmten und
  • leuchteten. Am fernen Horizont bemerkte man die Konturen eines
  • Bergrückens: das waren Kalkfelsen, die selbst bei schlechtestem Wetter
  • beständig in blendender Weiße erstrahlten, wie wenn eine ewige Sonne sie
  • beleuchtete. An ihrem Fuße, der zum Teil aus Gipsgestein bestand, hoben
  • sich hie und da nebelgrau flimmernde Flecken von dem blendenden Weiß des
  • Hintergrundes ab: das waren ferne Dörfer, die jedoch kein menschliches
  • Auge erkennen konnte -- nur die goldene Spitze einer Kirche, die hin und
  • wieder aufblitzte wie ein glühender Funke, ließ ahnen, das dies ein
  • großes, von Menschen bewohntes Dorf sei. Das Ganze aber war in eine
  • tiefe Stille getaucht, die nicht einmal von dem kaum bis ans Ohr
  • dringenden Lied der Sänger der Lüfte gestört wurde, welche sich in den
  • reinen Äther emporschwangen und bald im weiten Raume verloren. Mit einem
  • Wort, kein Gast noch Besucher konnte ruhig auf dem Balkon weilen, und
  • wenn er einige Stunden in die Betrachtung verloren dagestanden hatte,
  • brach er immer wieder in den schon bekannten Ruf aus: »Gott, wie
  • geräumig und frei es hier ist.«
  • Wer aber war der Bewohner und Besitzer dieses Landgutes, das gleich
  • einer uneinnehmbaren Festung dalag und zu dem von dieser Seite nicht
  • einmal ein Fahrweg hinführte. Man mußte schon von der andern Seite
  • heranzukommen suchen -- wo weit auseinanderstehende Eichen den
  • herannahenden Reisenden freundlich begrüßten, indem sie ihre breiten
  • Äste weit ausstreckten wie die Arme eines Freundes und ihn bis zu dem
  • Hause hingeleiteten, dessen Spitze wir schon von hinten gesehen haben,
  • und das jetzt ganz frei und offen dalag, zwischen einer langen Reihe von
  • Bauernhütten mit ihren geschnitzten Giebeln und Dachfirsten, und der
  • Kirche, die im Golde ihrer Kreuze und des durchbrochenen Schnitzwerkes
  • der in der Luft hängenden Ketten erstrahlte.
  • Es war der Gutsbesitzer des Tremalachanskschen Kreises Andrei
  • Iwanowitsch Tentennikow. Der Glückliche war ein junger Mann von
  • dreiunddreißig Jahren, der noch dazu unverheiratet war.
  • Was war nun dieser Gutsbesitzer Andrei Iwanowitsch Tentennikow für ein
  • Mensch? Wie war sein Wesen; was hatte er für Eigenschaften und für einen
  • Charakter? -- Darnach müssen wir uns natürlich bei den lieben Nachbarn
  • erkundigen, geneigte Leserinnen. Einer von ihnen, der zu jener Gattung
  • verabschiedeter Stabsoffiziere und Lebemänner gehörte, die jetzt schon
  • im Aussterben begriffen ist, pflegte sich folgendermaßen über ihn zu
  • äußern: »Ein ganz gewöhnlicher Schweinehund!« Ein General, der etwa zehn
  • Werst von ihm entfernt wohnte, sagte gewöhnlich: »Der junge Mann ist
  • nicht dumm, aber er hat sich gar zu viel in den Kopf gesetzt. Ich könnte
  • ihm nützlich sein, denn ich habe gewisse Verbindungen in Petersburg und
  • sogar beim ...« Der General beendigte seinen Satz niemals. Der
  • Kreisrichter kleidete seine Antwort in folgende Form: »Ich will mir mal
  • morgen die rückständigen Steuern von ihm abholen!« und ein Bauer hätte
  • auf die Frage, was sein Herr für ein Mensch sei, überhaupt nichts
  • geantwortet. Mit einem Wort, die Meinung, die die Nachbarn von ihm
  • hatten, war recht ungünstig. Vorurteilslos gesprochen aber war Andrei
  • Iwanowitsch eigentlich kein schlechter Mensch, sondern einfach einer von
  • denen, die unnütz auf der Erde herumlaufen. Es gibt ja doch ohnedies
  • genug Leute, welche unnütz auf der Erde herumlaufen, warum also sollte
  • gerade Tentennikow es nicht tun? Übrigens wollen wir hier gleich einen
  • kurzen Abriß seines Tagewerks geben, und da bei ihm ein Tag stets dem
  • andern glich, so mag der Leser darnach selbst urteilen, was er für einen
  • Charakter hatte, und inwieweit sein Leben den ihn umgebenden
  • Naturschönheiten entsprach.
  • Morgens pflegte er recht spät zu erwachen, dann richtete er sich im
  • Bette auf und rieb sich lange die Augen. Zu seinem Pech waren die Augen
  • sehr klein, und daher nahm diese Operation sehr viel Zeit in Anspruch.
  • Während der ganzen Dauer dieser Handlung stand ein Mann, namens
  • Michailo, mit einem Waschbecken und einem Handtuch an der Tür. Dieser
  • arme Michailo mußte immer stundenlang so dastehen; dann ging er in die
  • Küche und kam noch einmal wieder; aber sein Herr saß noch immer im Bett
  • und rieb sich die Augen. Endlich sprang er aber doch auf, wusch sich,
  • zog seinen Schlafrock an und trat in den Salon um ein Glas Tee, Kaffee,
  • Kakao oder sogar frische Milch zu trinken. Er trank immer in kurzen
  • Zügen, indem er die Brotkrumen rücksichtslos umherstreute und die
  • Tabakasche überall achtlos hinfallen ließ. So saß er wohl zwei Stunden
  • lang beim Frühstück, doch das genügte noch nicht. Dann nahm er noch eine
  • Tasse kalten Tee und ging langsam ans Fenster, das in den Hof führte.
  • Hier spielte sich jeden Tag folgende Szene ab.
  • Vor allem zankte sich der Hausdiener Grigorij in seiner Eigenschaft als
  • Aufwärter mit der Schließerin Perphiljewna, die er mit folgenden
  • Ausdrücken zu bedenken pflegte: »Ach du Jammerseele, du nichtsnutziges
  • Frauenzimmer du! Du solltest doch lieber den Mund halten, du gemeines
  • Geschöpf!«
  • »Du willst wohl _so_ etwas haben?« heulte die Jammerseele oder
  • Perphiljewna, indem sie ihm die geballte Faust hinhielt. Dieses
  • Frauenzimmer war nicht ungefährlich und hatte recht derbe und kräftige
  • Manieren, trotz ihrer starken Vorliebe für Rosinen, Marmelade und andere
  • Süßigkeiten, die sie in ihrem Schranke verschlossen hielt.
  • »Du liegst dir ja sogar mit dem Verwalter in den Haaren, du Staubkorn,
  • elendiges,« kreischte Grigorij.
  • »Der Verwalter ist doch gerad so'n Dieb wie du, du glaubst wohl der Herr
  • kennt euch nicht; er ist doch hier und hört alles.«
  • »Wo ist der Herr?«
  • »Da sitzt er am Fenster und sieht alles.«
  • Und in der Tat, der Herr saß am Fenster und sah alles.
  • Um dieses Sodom und Ghomorrha noch zu vervollständigen schrie ein Knabe
  • auf dem Hofe aus voller Kehle, der von der Mutter eine Ohrfeige bekommen
  • hatte, und ein Windspiel stimmte winselnd mit ein, indem es sich mit dem
  • Hinterteil auf die Erde setzte; der Koch hatte nämlich kochendes Wasser
  • aus dem Fenster gegossen und es verbrüht; mit einem Worte alles heulte
  • und plärrte unerträglich. Der Herr sah und hörte sich alles an, aber
  • erst als der Lärm so entsetzlich wurde, daß er Tentennikow in seinem
  • Nichtstun zu stören begann, schickte er in den Hof hinunter und ließ
  • sagen, die da unten möchten doch etwas _leiser lärmen_.
  • Zwei Stunden vor dem Mittagessen begab sich Andrei Iwanowitsch in sein
  • Zimmer, um an einem großen Werke zu arbeiten, das ganz Rußland von
  • sämtlichen nur möglichen Standpunkten: vom bürgerlichen, vom
  • politischen, vom philosophischen und religiösen umfassen und beleuchten
  • sollte; auch sollte es die schwierigen Aufgaben und Probleme lösen, die
  • die Zeit gestellt hatte und klar bestimmen, in welcher Richtung Rußlands
  • große Zukunft läge; mit einem Wort, es war ein Werk wie nur ein moderner
  • Mensch es planen konnte. Übrigens hatte es zunächst beim Nachdenken über
  • dieses grandiose Unternehmen sein Bewenden: man kaute an der Feder, warf
  • ein paar Zeichnungen aufs Papier, und schob dann alles wieder beiseite;
  • statt dessen wurde ein Buch zur Hand genommen, das man bis zum
  • Mittagessen nicht wieder fortlegte. In diesem Buche las man, während die
  • Suppe, die Sauce, der Braten und sogar die süße Speise verzehrt wurde,
  • ruhig weiter, und es kam mitunter vor, daß manche Speisen ganz kalt und
  • andre überhaupt nicht angerührt wurden. Dann trank man noch eine Tasse
  • Kaffee und rauchte ein Pfeifchen dazu und spielte noch eine Partie
  • Schach mit sich selbst. Was darauf noch weiter bis zum Abendessen getan
  • wurde -- ist tatsächlich schwer zu sagen. Ich glaube es wurde überhaupt
  • nichts mehr getan.
  • So verbrachte der junge dreiunddreißigjährige Mann, der immer im
  • Schlafrock und ohne Halsbinde dasaß ganz mutterseelenallein und von
  • aller Welt verlassen, seine Zeit. Das Spaziergehen und Herumlaufen
  • machte ihm keinen Spaß, er hatte nicht einmal Lust hinaufzugehen, oder
  • ein Fenster zu öffnen, um frische Luft in das Zimmer hineinzulassen, und
  • der herrliche Anblick des Dorfes, an dem sich Gäste und Besucher nicht
  • genug erfreuen konnten, schien für den Besitzer selbst überhaupt nicht
  • zu existieren. Aus alledem kann der Leser ersehen, daß Andrei
  • Iwanowitsch Tentennikow zu der großen Familie der Leute gehörte, die in
  • Rußland nicht alle werden und die man früher bei uns Schlafmützen,
  • Faulenzer, Bärenhäuter usw. zu nennen pflegte, und für die ich heute
  • wirklich keinen Namen zu finden wüßte. Ob solche Charaktere _geboren_
  • werden oder sich allmählich bilden, als ein Produkt trauriger
  • Lebensverhältnisse, in deren harte und strenge Umgebung der Mensch
  • hineingestellt ist, das ist eine Frage. Statt sie zu beantworten tut man
  • vielleicht besser, die Geschichte der Kindheit und der Lehrjahre Andrei
  • Iwanowitschs zu erzählen.
  • »Anfangs schien alles darauf abzuzielen, daß etwas Vernünftiges aus ihm
  • werden sollte. Mit zwölf Jahren kam der etwas kränkliche und
  • träumerische, aber begabte und scharfsinnige Knabe in eine Schule, deren
  • Direktor ein für jene Zeit wirklich ungewöhnlicher Mensch war. Der
  • Abgott der Jünglinge und das bewunderte Vorbild aller Lehrer und
  • Erzieher. Alexander Pawlowitsch war mit einem außerordentlichen
  • Feingefühl begabt. Wie gut kannte er den russischen Charakter! Wie
  • kannte er das kindliche Gemüt! Wie verstand er es, die Kinder zu leiten
  • und zu lenken! Es gab keinen Schelm oder Wildfang, der, wenn er etwas
  • angestellt hatte, nicht selbst zum Direktor kam, um ihm seine Streiche
  • und Untaten zu beichten. Aber das war noch nicht alles: er erhielt eine
  • harte Strafe, aber der kleine Schelm ließ darum keineswegs die Nase
  • hängen, sondern verließ das Zimmer aufrechter als vorher. Es lag etwas
  • wie frischer Mut in seinen Zügen, und eine innere Stimme schien zu ihm
  • zu sprechen: »Vorwärts! Erhebe dich schnell wieder und stelle dich ruhig
  • wieder auf beide Beine, trotzdem du gefallen bist.« Nie hielt der
  • Direktor seinen Zöglingen lange Reden über gutes Betragen. Er pflegte
  • nur zu sagen: »Ich verlange von meinen Schülern nur dies eine: daß sie
  • vernünftig und verständig sind, sonst nichts! Wer den Ehrgeiz hat, klug
  • zu werden, der hat nicht Zeit unartig zu sein; die Unarten müssen von
  • selbst verschwinden.« Und so war es in Wirklichkeit, die Unarten
  • verschwanden ganz von selbst. Ein Schüler, der kein ernstes Streben
  • hatte, lenkte nur die Verachtung seiner Kameraden auf sich. Die
  • erwachsenen Esel und Schafsköpfe mußten es sich gefallen lassen von den
  • Kleinsten mit den kränkendsten Spitznamen getauft zu werden, und durften
  • ihnen kein Härchen krümmen. »Das geht zu weit!« sagten viele, »diese
  • Knaben werden allzu gescheit, das muß sie hochmütig machen.« »Nein, das
  • geht durchaus nicht zu weit,« antwortete er, »die schwach Begabten
  • behalte ich nicht lange in der Schule; es genügt schon, wenn sie den
  • einen Lehrgang durchmachen; für die Begabteren habe ich noch einen
  • zweiten Kursus.«(1) Und in der Tat, die Begabten mußten noch einen
  • zweiten Kursus durchmachen. Manche Unarten und Streiche gestattete er
  • und machte gar nicht den Versuch sie zu unterdrücken; in diesem
  • Über-den-Strang-Schlagen der Kinder sah er den Beginn der Entwickelung
  • ihrer seelischen Regungen und er erklärte, er könne es nicht entbehren,
  • sondern brauche es vielmehr wie ein Arzt den Ausschlag, -- um mit
  • Sicherheit zu ermitteln, was in des Menschen Innerem eigentlich vorgehe.
  • Wie liebten ihn aber auch die Knaben! Nie trifft man eine solche
  • Anhänglichkeit und Liebe der Kinder zu ihren Eltern, nie gab es selbst
  • in dem unvernünftigen Lebensalter, wo man sich rücksichtslos sinnlosen
  • Leidenschaften in die Arme wirft, eine so gewaltige unauslöschliche
  • Neigung, wie die Liebe zu ihm. Bis zum Grabe, bis zu den letzten
  • Lebenstagen noch, erhoben die dankbaren Zöglinge am Geburtstage ihres
  • herrlichen Lehrers, der schon längst gestorben war, auf sein Andenken
  • ihren Pokal, schlossen die Augen und vergossen seinetwegen Tränen der
  • Rührung. Beim kleinsten Lob aus seinem Munde überlief den Schüler ein
  • freudiges Beben und ein ehrgeiziges Streben spornte ihn an, all seine
  • Kameraden zu übertreffen. Die Unbegabten hielt er nicht lange in der
  • Schule fest; sie brauchten nur einen kurzen Lehrgang durchzumachen; die
  • Begabten aber hatten einen doppelten Lehrgang zurückzulegen, und die
  • letzte Klasse, die nur aus ganz Auserwählten bestand, hatte gar keine
  • Ähnlichkeit mit der anderer Schulen. Erst hier verlangte er all das von
  • dem Zögling, was andre unvernünftigerweise schon von den Kindern
  • verlangen -- nämlich jenen entwickelteren Verstand, der selbst nicht
  • spottet, es aber versteht, jeden Spott ruhig zu ertragen, dem Dummen zu
  • verzeihen, sich nicht reizen zu lassen, die Geduld nicht zu verlieren,
  • niemals Rache zu üben und sich immer eine stolze Ruhe und
  • unerschütterliche Selbstbeherrschung zu bewahren; alles was geeignet
  • ist, aus einem Menschen einen starken Mann zu formen, kam hier beständig
  • zur Anwendung und er selbst stellte unaufhörlich Versuche und
  • Experimente mit seinen Schülern an. O, wie vorzüglich kannte er die
  • Wissenschaft des Lebens!
  • Die Zahl seiner Lehrer war nicht sehr groß. In den meisten Fächern
  • unterrichtete er selbst. Er verstand es, ohne Pedanterie und weitläufige
  • Terminologie, ohne großartige Theorien und geschwollene Phrasen das
  • eigentliche Wesen, die Seele einer jeden Wissenschaft darzustellen,
  • sodaß auch der ungereifte Geist es sofort begriff, wozu er dies Wissen
  • nötig hatte. Von allen Wissenschaften wählte er nur die, welche geeignet
  • sind, aus dem Menschen einen Bürger seines Vaterlandes heranzubilden.
  • Der größte Teil seiner Vorlesungen handelte davon, was den Jüngling in
  • der Zukunft erwarte und er verstand es so gut, den ganzen Horizont
  • seiner Laufbahn vor ihm aufzurollen, daß der Jüngling schon auf der
  • Schulbank mit allen Gedanken und Träumen seiner Seele in seinem
  • künftigen Berufe: im Staatsdienste lebte. Er verheimlichte nichts vor
  • ihnen: weder die Enttäuschungen noch die Hindernisse, die sich vor dem
  • Menschen auf seinem Lebenswege erheben, weder die Versuchungen noch die
  • Verführungen, die ihn erwarten, dies alles führte er ihnen in
  • ungeschminkter Nacktheit vor Augen, ohne ihnen das Geringste
  • vorzuenthalten. Nichts war ihm fremd, wie wenn er selbst alle Ämter und
  • Berufe kennen gelernt hatte. Und seltsam, sei es nun, daß der Ehrgeiz in
  • ihnen so stark angeregt war, sei es daß im Auge dieses außerordentlichen
  • Pädagogen etwas lag, was dem Jüngling ein beständiges »Vorwärts!«
  • zuzurufen schien -- dieses Wort, das der Russe so gut kennt und das bei
  • seiner feinfühligen Natur so große Wunder wirkt -- genug, die jungen
  • Leute fingen sogleich an selbst die Schwierigkeiten aufzusuchen und
  • dürsteten förmlich darnach, sich überall dort geschäftig und tätig zu
  • zeigen, wo es galt, eine Schwierigkeit oder ein Hindernis zu überwinden
  • und einen hohen Mut und Seelenstärke zu beweisen. Nur ganz wenigen
  • gelang es diesen Lehrgang zurückzulegen, aber dafür waren es auch lauter
  • starke kräftige Männer geworden, die gewissermaßen im Pulverdampfe
  • gestanden hatten. Im Dienste wußten sie sich an den exponiertesten
  • Stellen zu halten, während viele, die weit klüger waren als sie, es
  • nicht lange im Dienste aushielten, ihn wegen kleiner persönlicher
  • Unannehmlichkeiten quittierten oder bequem und träge(2) wie sie waren in
  • die Hände von Gaunern und Erpressern gerieten. Dagegen standen die
  • andern nicht nur fest und ohne zu wanken auf ihrem Posten, sondern
  • verstanden es sogar, gereift durch Menschen- und Seelenkenntnis auch auf
  • die schlechten und unehrlichen Leute noch einen starken sittlichen
  • Einfluß auszuüben.(3)
  • Das glühende Herz des ehrgeizigen Knaben pochte lange bei dem bloßen
  • Gedanken, daß er endlich auch in diese Klasse versetzt werden würde. Man
  • sollte meinen, für unseren Tentennikow hätte es gar nichts Besseres
  • geben können als einen solchen Erzieher. Das Unglück wollte es jedoch,
  • daß gerade in dem Augenblick, als er in diese Klasse der Auserwählten
  • versetzt worden war -- wonach er sich so lebhaft gesehnt hatte -- der
  • vortreffliche Lehrer einem unerwarteten Tode zum Opfer fiel. Das war ein
  • wahrhaft furchtbarer Schlag, ein schrecklicher unersetzlicher Verlust
  • für den jungen Mann. Nun wurde es in der Schule mit einem Male ganz
  • anders. An die Stelle des Alexander Petrowitsch trat jetzt ein gewisser
  • Fjodor Iwanowitsch. Er ging vor allem daran, allerlei äußere
  • Vorschriften und ein strenges Reglement einzuführen und verlangte von
  • den Kindern lauter Dinge, die man nur von Erwachsenen verlangen konnte.
  • In dem freien Sichgehenlassen sah er nichts wie Ungezogenheit und
  • Zügellosigkeit. Wie im bewußten Gegensatz zu seinem Vorgänger erklärte
  • er gleich am ersten Tage, er lege gar keinen Wert auf den Verstand und
  • die Fortschritte der Schüler in den Wissenschaften, sondern allein auf
  • das gute Betragen.(4) Aber seltsam! gerade dies, wonach er so eifrig
  • strebte, das gute Betragen konnte Fjodor Iwanowitsch seinen Schülern
  • nicht beibringen. Sie machten allerhand schlechte Streiche, suchten sie
  • aber geheim zu halten. Am Tage ging alles wie am Schnürchen, dafür gab
  • man sich in der Nacht wilden Orgien und Zechereien hin.
  • Auch mit den Wissenschaften ging es ganz seltsam. Fjodor Iwanowitsch
  • stellte neue Lehrer mit neuen Anschauungen und neuen Grundsätzen an. Sie
  • ließen ein wahres Hagelwetter von neuen Worten und Termini auf die
  • Schüler niedergehen; sie vernachlässigten in ihrer Darstellung
  • keineswegs die logischen Zusammenhänge, sie berücksichtigten die neueren
  • Fortschritte der Wissenschaft und Technik, es fehlte ihnen nicht an
  • Feuer und wahrhafter Begeisterung -- aber ach bei alledem fehlte es doch
  • ihrer Wissenschaft an dem rechten Leben! Ihre tote Wissenschaft erhielt
  • in ihrem Munde etwas Starres und noch Totenähnlicheres. Mit einem Wort,
  • es ging alles drunter und drüber. Die Achtung vor der Schulobrigkeit und
  • Autorität ging ganz verloren, man lachte und spottete über die Lehrer,
  • nannte den Direktor Fritze, Pauker und wie die schönen Namen sonst noch
  • heißen. Es schlichen sich Laster ein, die durchaus nicht mehr unschuldig
  • waren, ja die Schüler machten raffinierte Streiche, daß man sich
  • genötigt sah viele von ihnen ganz auszuschließen. In zwei Jahren war die
  • Schule kaum noch wiederzuerkennen.
  • Andrei Iwanowitsch hatte einen stillen und sanften Charakter. Er fand
  • kein Gefallen an den nächtlichen Orgien seiner Kameraden, die vor dem
  • Fenster der Wohnung ihres Direktors ganz ungeniert ein Dämchen
  • einquartiert hatten, auch machte er ihre schlechten Streiche und frechen
  • Reden über die Religion nicht mit, zu denen sie sich nur deshalb
  • verstiegen, weil sie zufällig einen recht dummen Popen zum Lehrer
  • hatten. Nein, seine Seele ahnte selbst durch den Traum hindurch ihren
  • göttlichen Ursprung. Es gelang ihnen nicht, ihn zu verführen, aber er
  • ließ sehr bald die Nase hängen. Sein Ehrgeiz war schon erwacht, aber es
  • gab leider kein Feld, auf dem er ihn hatte betätigen können. Es wäre
  • besser gewesen, wenn dieser Ehrgeiz überhaupt nicht geweckt worden wäre.
  • Andrei Iwanowitsch hörte wie sich die Professoren auf dem Katheder
  • ereiferten und mußte dabei stets an seinen früheren Lehrer denken, der,
  • auch ohne sich aufzuregen, immer klar und verständig blieb. Was hörte er
  • nicht alles für Gegenstände und Fächer! Philosophie, Medizin, sogar
  • Jurisprudenz, allgemeine Weltgeschichte und zwar in einem solchen
  • Umfange, daß der Professor in ganzen drei Jahren kaum über die
  • Einleitung und über die Entstehung gewisser deutscher Städte hinauskam
  • -- und Gott weiß was er nicht noch alles hörte, aber dies alles blieb in
  • seinem Kopfe wie ein Haufe von formlosen Stücken liegen -- dank seinem
  • angeborenen Verstande fühlte er nur, daß dies nicht die richtige
  • Unterrichtsmethode sein könne, worin aber nun die rechte bestand -- dies
  • wußte er selbst nicht. Und oft noch mußte er an Alexander Petrowitsch
  • denken, und dann wurde ihm so schwer ums Herz, daß er nicht wußte, wo er
  • sich vor Schmerz lassen sollte.
  • Aber das eben ist das Glück der Jugend, daß sie noch eine Zukunft hat.
  • Je näher die Zeit heranrückte, wo seine Lehrzeit ein Ende nehmen sollte,
  • um so lebhafter schlug das Herz in seiner Brust. Er sprach zu sich
  • selbst: »Das alles ist ja noch nicht das Leben, das wahre Leben fängt
  • erst mit dem Staatsdienst an, da beginnt die Zeit der großen Taten.« Und
  • ohne einen Blick auf den herrlichen Winkel zu werfen, der alle Gäste und
  • Besucher in Staunen und Entzücken versetzte, ohne dem Grabe seiner
  • Eltern einen Besuch abgestattet zu haben, eilte er wie alle ehrgeizigen
  • Menschen nach Petersburg, das Ziel aller feurigen jungen Leute, die aus
  • allen Gegenden Rußlands hierher zusammenströmen, um in den Staatsdienst
  • zu treten, um zu glänzen, Karriere zu machen oder auch nur ganz
  • oberflächlich von unserer eiskalten, farblosen, trügerischen
  • gesellschaftlichen Bildung zu nippen. Allein Andrei Iwanowitsch sah sich
  • in seinem ehrgeizigen Streben sehr bald gehemmt und abgekühlt durch
  • seinen Onkel den wirklichen Staatsrat Onufrij Iwanowitsch. Dieser
  • erklärte kategorisch, die Hauptsache, auf die alles ankomme, sei eine
  • gute Handschrift; alles Übrige sei unrichtig; ohne diese jedoch könne er
  • es unmöglich bis zum Minister oder einer höheren Staatsstellung bringen.
  • Nur mit großer Müh und durch die hohe Protektion seines Onkels gelang es
  • ihm endlich, sich eine kleine Stellung in einem untergeordneten
  • Departement zu verschaffen. Als er den prachtvollen hell erleuchteten
  • Saal mit dem glänzenden Parkett und all den lackierten Tischen betrat,
  • da hatte er den Eindruck, als säßen hier die ersten Würdenträger des
  • Reiches, die über das Schicksal des ganzen Landes zu entscheiden hätten,
  • und als er dann die Legionen schöner Herren erblickte, die den Kopf auf
  • die Schulter gebeugt, dasaßen und laut mit den Federn kritzelten, und
  • wie er nun aufgefordert wurde, hinter einem Tische Platz zu nehmen und
  • ein Aktenstück abzuschreiben (es hatte wie mit Absicht einen ganz
  • unbedeutenden Inhalt; handelte es sich doch um drei Rubel, wegen der
  • schon ein halbes Jahr lang hin- und hergeschrieben wurde) da überlief
  • den unerfahrenen Jüngling ein ganz merkwürdiges Gefühl. Die um ihn
  • herumsitzenden Herren erinnerten ihn lebhaft an kleine Schuljungen! Zur
  • Vervollständigung der Ähnlichkeit waren noch einige von ihnen in die
  • Lektüre eines dummen Romans, eine Übersetzung aus einer fremden Sprache
  • vertieft; sie hielten ihn zwischen den Blättern des Aktenstückes
  • versteckt, suchten sich den Anschein zu geben, als seien sie mit der
  • Durchsicht der Akten beschäftigt und fuhren jedesmal zusammen, wenn der
  • Vorgesetzte in der Türe erschien. Dies alles kam ihm so seltsam vor und
  • er konnte das Gefühl nicht los werden, daß seine frühere Tätigkeit
  • unendlich viel bedeutender und die Vorbereitung zum Staatsdienst weit
  • schöner gewesen war, als der Staatsdienst selbst. Er sehnte sich wieder
  • in seine Schulzeit zurück. Plötzlich stand Alexander Petrowitsch wie
  • lebendig vor seinem geistigen Blick -- und er konnte nur mit Mühe seine
  • Tränen unterdrücken.
  • Das ganze Zimmer begann sich zu drehen. Die Tische und die Beamten
  • wirbelten durcheinander und fast wäre er in dieser plötzlichen
  • Umnachtung zu Boden gesunken. »Nein,« sagte er, als er wieder zu sich
  • kam, leise zu sich selber, »ich will dennoch ans Werk gehen, so
  • kleinlich es mir auch erscheint.« Nachdem er sich so selbst ermutigt
  • hatte, beschloß er, seinen Dienst ruhig weiter zu versehen, wie alle
  • andern.
  • Wo ist die Welt ganz freudenleer? Auch Petersburg bietet trotz seines
  • rauhen, finstern Äußeren mancherlei Genüsse. Draußen herrscht eine
  • fürchterliche Kälte von dreiunddreißig Grad; wie ein entfesselter böser
  • Geist jagt heulend die Schneesturmhexe, dies Kind des Nordens, durch die
  • Luft, wütend fegt sie den Schnee über das Straßenpflaster, klebt den
  • Leuten die Augen zusammen, und bestreut die Pelz- und Mantelkragen, die
  • Schnurrbärte der Menschen und die Schnauzen der Tiere mit weißem Puder;
  • aber anheimelnd blinkt zwischen den durcheinanderwirbelnden
  • Schneeflocken hindurch irgendwo hoch oben im vierten Stock ein
  • freundlich erleuchtetes Fenster; in einem gemütlichen Zimmer beim Lichte
  • bescheidener Stearinkerzen und beim traulichen Gesumm der Teemaschine
  • werden hier Herz und Seele erwärmende Gedanken ausgetauscht, erklingt
  • manch herrliches, begeistertes Poetenwort, mit dem Gott sein liebes
  • Rußland so reichlich beschenkte, und in erhabener Glut erbebt manch
  • Jünglingsherz wie nirgends sonst, nicht einmal unter dem schwellenden
  • Himmel des Südens.
  • Tentennikow gewöhnte sich bald an den Dienst, aber die berufliche
  • Tätigkeit wurde ihm nicht zum eigentlichen Ziel und Selbstzweck, wie er
  • zuerst geglaubt hatte, sondern sie rückte gewissermaßen an die zweite
  • Stelle. Sie diente ihm dazu, seine Zeit besser einzuteilen, und lehrte
  • ihn die wenigen freien Augenblicke, die ihm übrig blieben, erst recht
  • schätzen. Sein Onkel der wirkliche Staatsrat fing schon an zu glauben,
  • daß aus dem Neffen noch etwas Rechtes werden könne, als dieser plötzlich
  • einen ganz dummen Streich machte. Hier müssen wir einflechten, daß sich
  • unter den vielen Freunden Andrei Iwanowitschs zwei junge Leute befanden,
  • die zur Klasse der sogenannten »verbitterten« Menschen gehörten. Das
  • waren zwei von jenen seltsamen und unruhigen Charakteren, die nicht nur
  • keine _Ungerechtigkeit_ geduldig zu ertragen vermögen, sondern nicht
  • einmal das, was ihnen wie eine Ungerechtigkeit erscheint. Von Natur
  • gutmütig, aber unklug und systemlos in ihren Handlungen, verlangen sie
  • von andern Leuten alle nur möglichen Rücksichten, während sie selbst
  • äußerst intolerant gegen andre Menschen sind. Ihre feurige Rede und die
  • äußerlich zur Schau getragene edle Entrüstung gegen die Gesellschaft
  • machten einen starken Eindruck auf Tentennikow. Im Umgang mit ihnen
  • schärften sich seine Nerven und erwachte in ihm eine gewisse
  • Empfindlichkeit und Reizbarkeit. Er lernte von ihnen, all jene
  • Kleinigkeiten zu bemerken, die er früher kaum beachtet hatte. Fjodor
  • Nikolajewitsch Lenitzyn, der Chef einer der Abteilungen, die sich in
  • jenem prachtvollen Saal befanden, erregte plötzlich sein Mißfallen. Es
  • schien ihm, daß sich Lenitzyn ganz und gar in ein Stück Zucker
  • verwandelte und sein Gesicht zu einem widerlich süßen Lächeln verzog,
  • wenn er mit Leuten sprach, die über ihm standen, dagegen sofort eine
  • essigsaure Miene machte, wenn er sich an seine Untergebenen wandte; daß
  • er sich nach Art aller kleinlichen Menschen alle die merkte, die an den
  • großen Festtagen nicht zu ihm kamen, um zu gratulieren und es denen
  • nicht vergessen konnte, deren Namen er nicht auf der beim Portier
  • ausliegenden Liste fand. Infolgedessen faßte er eine unüberwindliche,
  • beinahe physische Antipathie gegen ihn. Es war fast so, als stachele und
  • reize ihn beständig ein böser Geist, Fjodor Fjodorowitsch eine
  • Unannehmlichkeit zu bereiten. Mit einer geheimen Freude suchte er nach
  • einer passenden Gelegenheit und sie fand sich sehr bald. Einmal wurde er
  • so grob gegen ihn, daß ihm von der vorgesetzten Behörde bedeutet wurde,
  • -- er müsse den Chef um Verzeihung bitten oder um seinen Abschied
  • einkommen. Er nahm seinen Abschied. Sein Onkel, der wirkliche Staatsrat,
  • kam ganz erschrocken zu ihm gelaufen und flehte ihn an: »Um
  • Gotteswillen, Andrei Iwanowitsch! Ich bitte dich! Was machst du? Deine
  • ganze, so glücklich begonnene Karriere aufs Spiel zu setzen, bloß weil
  • du einen Vorgesetzten bekommen hast, der dir nicht gefällt! Was soll das
  • nur bedeuten? Wenn jeder es so machen wollte, dann bliebe doch überhaupt
  • keiner mehr im Amte. Komm zu dir, sei vernünftig ... Überwinde deinen
  • falschen Stolz und deine Eitelkeit, fahre zu ihm hin und sprich dich mit
  • ihm aus!«
  • »Es handelt sich hier doch gar nicht _darum_, lieber Onkel,« sagte der
  • Neffe. »Es wird mir ja garnicht schwer, ihn um Verzeihung zu bitten. Ich
  • bin wirklich schuld: er ist mein Vorgesetzter, und ich hätte nicht so
  • mit ihm reden dürfen. Aber die Sache ist die: für mich gibt es noch
  • einen andern Dienst und eine andre Aufgabe: ich habe dreihundert Bauern,
  • mein Gut liegt darnieder, und mein Verwalter ist ein Narr. Der Staat
  • wird nicht sehr viel verlieren, wenn ein anderer meinen Platz im Bureau
  • einnehmen und meine Akten abschreiben wird, aber er verliert sehr viel,
  • wenn dreihundert Bauern ihre Steuern nicht bezahlen können. Bedenken
  • Sie, ich bin doch Gutsbesitzer: das ist kein Beruf, bei dem man müßig
  • dasitzen könnte. Wenn ich für die Erhaltung, für die Hebung der Lage der
  • mir anvertrauten Menschen sorge und dem Staate dreihundert tüchtige,
  • nüchterne und fleißige Untertanen auf die Beine stelle, -- habe ich
  • damit etwa weniger getan, als irgend ein Departementschef Lenitzyn?«
  • Der wirkliche Staatsrat sperrte vor Verwunderung den Mund weit auf;
  • einen solchen Redeerguß hatte er nicht erwartet. Er dachte etwas nach
  • und begann dann etwa folgendermaßen: »Aber trotzdem ... nein, was denkst
  • du nur? Du kannst dich doch nicht auf dem Lande vergraben? Die Bauern
  • sind doch kein Umgang für dich! Hier ist's doch anders, da begegnet man
  • doch hin und wieder einmal einem General oder einem Fürsten. Und wenn du
  • Lust hast, kannst du auch an irgend einem schönen öffentlichen Gebäude
  • vorübergehen. Hier gibt es doch Gasbeleuchtung und europäische
  • Industrie, dagegen dort! da siehst du doch nichts wie Bauern und
  • Bauernweiber. Warum willst du dich unter so ungebildete Menschen
  • begeben?«
  • Aber diese so überzeugenden Einwände und Vorstellungen des Onkels
  • machten keinen rechten Eindruck auf den Neffen. Das Land erschien ihm
  • als ein Hort der Freiheit, als Nährmutter schöner Träume und Gedanken,
  • als das einzige Feld einer nützlichen Tätigkeit. Er hatte sich schon die
  • allerneuesten Werke über Landwirtschaft besorgt. Mit einem Wort, zwei
  • Wochen nach dieser Unterhaltung befand er sich schon in der Nähe jener
  • Plätze, wo er seine Jugend verlebt hatte, und jenes lieblichen Winkels,
  • der jeden Gast und Besucher so in Begeisterung versetzte. Ein ganz neues
  • Gefühl bemächtigte sich seiner. Alte längst verblaßte Eindrücke
  • erwachten in seiner Seele. Manche Plätze hatte er schon ganz vergessen,
  • und neugierig wie ein Neuling betrachtete er die herrlichen Gegenden, an
  • denen er vorüberkam. Und plötzlich begann sein Herz aus einem
  • unbekannten Grunde heftig zu schlagen. Doch als dann der Weg durch eine
  • enge Schlucht in das Dickicht eines gewaltigen Urwaldes führte und er
  • oben und unten, über und unter sich dreihundertjährige Eichenstämme, die
  • drei Menschen kaum zu umfassen vermochten, untermischt mit Tannen, Ulmen
  • und Schwarzpappeln erblickte, die noch höher waren als die gewöhnlichen
  • Pappeln und als er dann auf die Frage: »Wem gehört dieser Wald?« die
  • Antwort erhielt: »Tentennikow,« und wie dann der Weg den Wald verließ,
  • sich an Espenhainen, jungen und alten Weidenbäumen und Sträuchen, und an
  • den fernen Gebirgsketten vorüberzog und den Fluß zweimal auf Brücken
  • überschritt, ihn bald zur Rechten bald zur Linken lassend und als der
  • Reisende auf die Frage: »Wem gehören diese Wiesen und diese
  • überschwemmten Felder?« wiederum die Antwort erhielt: »Tentennikow,« und
  • als dann der Weg den Berg hinaufklomm und auf dem hohen Plateau weiter
  • fortlief, vorbei an Korngarben, Weizen, Roggen und Gerste und sich noch
  • einmal an all den Plätzen entlang zog, an denen man schon einmal
  • vorbeigekommen war und die nun plötzlich weit näher gerückt schienen,
  • und als der Weg immer dunkler wurde und in den Schatten breiter
  • weitverzweigter Bäume untertauchte, die dicht beieinander auf dem grünen
  • Rasenteppich standen, welcher sich bis zur Grenze des Dorfes hinzog; als
  • die mit Schnitzwerk verzierten Bauernhütten, die roten Dächer der
  • steinernen Gutsgebäude ihm freundlich entgegenschimmerten, als die
  • goldene Spitze des Kirchturms vor ihm aufblitzte und das feurig pochende
  • Herz ihm auch ohne zu fragen sagte, wo er sich jetzt befand, -- da
  • machten sich die immer höher schwellenden Gefühle in folgenden lauten
  • Worten Luft: »War ich nicht ein Narr bis auf den heutigen Tag. Das
  • Schicksal hatte mich zum Besitzer eines irdischen Paradieses ausersehen,
  • und ich verdammte mich selbst zu niederen Schreiberdiensten, machte mich
  • zum Knechte toter Buchstaben. Da habe ich nun viel gelernt, eine
  • sorgfältige Erziehung genossen, mich über die Dinge orientiert, mir
  • einen großen Schatz von Kenntnissen angeeignet, deren man zur Förderung
  • des Guten unter seinen Untergebenen, zur Hebung eines ganzen Gebietes,
  • zur gewissenhaften Erfüllung der zahlreichen Pflichten eines
  • Gutsbesitzers bedarf, der Verwalter, Richter und Ordnungswächter in
  • einer Person ist! Und da gehe ich hin und vertraue diesen Posten irgend
  • einem ungebildeten und unfähigen Inspektor an! Und wähle mir statt
  • dessen den Beruf eines Gerichtsschreibers und kümmere mich um die
  • Prozesse anderer Leute, die ich überhaupt noch nicht gesehen habe und
  • deren Wesen und Charakter ich nicht einmal kenne. Wie konnte ich nur
  • dies Papierregiment, diese phantastische Verwaltung von Provinzen, die
  • vielleicht tausend Werst von mir entfernt sind, die ich noch nie mit dem
  • Fuße betreten habe und wo ich einen ganzen Haufen von Dummheiten
  • anrichten kann -- der realen Verwaltung meiner eigenen Güter vorziehen?«
  • Unterdessen aber erwartete ihn ein andres Schauspiel. Die Bauern hatten
  • von der Ankunft ihres Herrn gehört und sich an der Freitreppe des
  • Herrenhauses versammelt. Bunte Tücher, Gürtel, Hauben, Bauernkittel und
  • die mächtigen malerischen Bärte dieses schönen Menschenschlages drängten
  • sich um ihn. Und als dann aus hundert Kehlen der Ruf ertönte:
  • »Väterchen! Hast du dich endlich unser erinnert!« und den alten Leuten,
  • die noch seinen Großvater und Urgroßvater gekannt hatten unwillkürlich
  • die Tränen in die Augen traten, da konnte auch er seine Rührung nicht
  • unterdrücken. Und er mußte sich insgeheim fragen: »So viel Liebe! Womit
  • habe ich sie nur verdient?« -- »Wohl damit, daß ich sie nie gesehen,
  • mich nie um sie gekümmert habe!« Und er schwur sich, von nun an alle
  • Mühe und Arbeit mit ihnen zu teilen.
  • Und Tentennikow machte sich ganz ernstlich an die Verwaltung und
  • Bewirtschaftung seines Gutes. Er setzte den Erbzins herab, verringerte
  • die Fronarbeit und ließ den Bauern mehr Zeit für ihre eigenen Arbeiten.
  • Den dummen Verwalter jagte er davon und kümmerte sich selbst um alles.
  • Er erschien selbst auf den Feldern, auf der Tenne, auf der
  • Getreidedarre, in den Mühlen und am Landungsplatz; und er war beim Laden
  • und bei der Abfertigung der Barken zugegen, sodaß die Trägen und Faulen
  • sich bereits hinter den Ohren am Kopf kratzten. Aber das dauerte nicht
  • lange.(5) Der Bauer ist nicht dumm, er begriff bald, daß der Herr zwar
  • flink und gewandt sei und wirklich Lust habe, was Tüchtiges zu leisten,
  • aber noch nicht recht wisse, wie er es anfangen solle; auch war seine
  • Ausdrucksweise gar zu kompliziert und zu gebildet. Schließlich kam es
  • soweit, daß sich Herr und Bauer -- es wäre zu viel gesagt -- garnicht
  • verstanden, aber doch nicht recht miteinander harmonierten und es nie
  • lernten, den gleichen Ton zu treffen.
  • Tentennikow bemerkte bald, daß auf dem herrschaftlichen Grund und Boden
  • alles bei weitem nicht so gut gedieh, wie auf dem des Bauern: das Korn
  • wurde früher ausgesät und ging später auf; und doch konnte man nicht
  • sagen, daß die Leute schlecht arbeiteten. Der Herr stand immer selbst
  • dabei und ließ den Bauern sogar einen Becher Branntwein reichen, wenn
  • sie sich besonders viel Mühe gaben. Trotzdem aber stand bei den Bauern
  • der Roggen schon längst in vollen Halmen, der Hafer reifte, die Hirse
  • schoß mächtig empor, bei ihm dagegen grünte das Korn noch kaum und die
  • Ähren waren kaum gefüllt. Mit einem Wort, der Herr merkte, daß ihn der
  • Bauer einfach hinterging trotz aller Erleichterungen und Wohltaten, die
  • er ihm angedeihen ließ. Er machte den Versuch, die Bauern zur Rede zu
  • stellen, da erhielt er aber folgende Antwort: »Wie können Sie nur
  • glauben, gnädiger Herr, daß wir nicht an den Nutzen und Vorteil der
  • Herrschaft denken. Sie haben doch selbst gesehen, wieviel Mühe wir uns
  • beim Pflügen und Säen gegeben haben! -- Sie haben uns doch sogar einen
  • Becher Branntwein geben lassen.« Was konnte er darauf antworten?
  • »Warum steht denn aber das Getreide so schlecht?« fragte der Herr
  • weiter.
  • »Gott weiß es! Der Wurm hat's wohl von unten angenagt! Und dann kommt
  • noch der schlechte Sommer dazu: es hat ja nicht ein einziges Mal
  • geregnet.«
  • Aber der Herr sah, daß der Wurm das Getreide der Bauern verschont hatte,
  • und es regnete auch so merkwürdig, sozusagen streifenweise, sodaß nur
  • der Bauer Vorteil davon hatte, während auch nicht ein Tropfen das
  • herrschaftliche Kornfeld traf.
  • Und noch schwerer wurde es ihm mit den Frauen auszukommen. In einem fort
  • bettelten sie um Befreiung von der Arbeit und klagten über die Lasten
  • des Frondienstes. Seltsam! Er verlangte überhaupt keine Lieferungen von
  • Leinwand, Beeren, Pilzen und Nüssen mehr von ihnen, erließ ihnen die
  • Hälfte aller andern Arbeiten, weil er glaubte, die Frauen würden die
  • freigewordene Zeit für ihre häuslichen Arbeiten verwenden, für die
  • Wäsche und Kleidung ihrer Männer sorgen und ihre Gemüsegärten
  • vergrößern. Welch ein Irrtum! Statt dessen griff der Müßiggang, das
  • Raufen, die Klatschsucht und allerhand Zänkereien derartig unter dem
  • schönen Geschlecht um sich, daß die Männer jeden Augenblick zum Herrn
  • gelaufen kamen und ihn baten: »Gnädiger Herr, bringen Sie diesen Satan
  • von einem Weibe zur Vernunft! Das ist ja der reinste Teufel. Mit der
  • kann kein Mensch auskommen!«
  • Mehrmals schon hatte er sich überwunden und seine Zuflucht zur Strenge
  • nehmen wollen. Aber wie konnte er es übers Herz bringen! Wie konnte er
  • streng sein, wenn so eine Frau daher kam und nach rechter Weiberart zu
  • heulen begann? Dazu sahen sie alle so krank und elend aus und waren in
  • so häßliche widerwärtige Tücher und Lappen gehüllt! (Woher sie sie bloß
  • nahmen -- das weiß Gott allein!) »Fort, geh mir aus den Augen, daß ich
  • dich nicht zu sehen brauche!« rief der arme Tentennikow und hatte gleich
  • darauf das Vergnügen zu sehen, wie das Weib aus dem Tore hinaustrat,
  • sich mit einer Nachbarin um irgend eine Rübe zu zanken begann und ihr
  • trotz ihrer Kränklichkeit so kräftig den Buckel volldrosch, wie es ein
  • gesunder Bauer nicht schöner fertiggebracht hätte.
  • Eine Zeitlang wollte er eine Schule für sie gründen, aber das gab eine
  • solch tolle Verwirrung, daß er ganz mutlos wurde, den Kopf hängen ließ,
  • und bedauerte überhaupt damit angefangen zu haben!
  • Bei seiner Tätigkeit als Schiedsrichter und Mittler merkte er
  • gleichfalls, daß sich mit all den juristischen Kniffen und Finessen
  • nicht viel anfangen ließ, auf die ihn seine philosophischen Professoren
  • gebracht hatten. Die eine Partei log, die andre schwindelte nicht
  • weniger und schließlich konnte nur der Teufel aus der Sache klug werden.
  • Und er erkannte, daß die schlichte Menschenkenntnis weit wertvoller war,
  • als alle juristischen Kniffe und philosophischen Bücher; -- er fühlte,
  • daß ihm noch etwas fehlte, was dies aber war, das wußte nur Gott allein.
  • Und es passierte etwas, was so oft zu passieren pflegt: weder verstand
  • der Herr den Bauern noch der Bauer den Herrn; und beide, sowohl der Herr
  • wie der Bauer schoben sich gegenseitig die Schuld zu. Dies kühlte den
  • Eifer des Gutsbesitzers erheblich ab. Wenn er jetzt hinging, um die
  • Arbeiten zu beaufsichtigen, dann ließ er es fast ganz an der früheren
  • Aufmerksamkeit fehlen. Während der Heuernte achtete er nicht mehr auf
  • den leisen Ton der Sensen, er sah nicht, wie die Heuschober errichtet,
  • wie das Heu verladen wurde und bemerkte nicht, daß um ihn herum die
  • Erntearbeiten in vollem Gange waren. -- Seine Augen blickten in die
  • Ferne; befand er sich abseits von den Arbeiten, so suchte das Auge
  • irgend einen Gegenstand in der Nähe oder er blickte nach der Seite, wo
  • der Fluß eine Wendung machte, und wo ein Kerl mit roten Beinen und rotem
  • Schnabel auf und ab spazierte -- ich meine natürlich einen Vogel und
  • keinen Menschen; neugierig beobachtete er, wie der Vogel am Ufer einen
  • Fisch fing und ihn eine Zeitlang im Schnabel hielt, tiefsinnig
  • überlegte, ob er ihn verschlucken solle oder nicht, und aufmerksam den
  • Fluß hinabblickte, wo in der Ferne ein anderer ähnlicher Vogel zu sehen
  • war, der noch keinen Fisch gefangen hatte, aber aufmerksam nach dem
  • Vogel mit dem Fisch im Schnabel ausschaute. Oder er schloß die Augen,
  • richtete den Kopf in die Höhe zu dem blauen Himmelsraume empor, und ließ
  • seine Nase den Geruch der Felder einsaugen und die Ohren den Gesang des
  • gefiederten luftigen Sängervolkes auffangen, wenn sie sich allenthalben
  • im Himmel und auf der Erde zu einem wundersamen Chore vereinen, in dem
  • kein Mißklang die schöne Harmonie stört: im Roggen schlägt die Wachtel,
  • der Wiesenknarrer pfeift im Grase, die Hänflinge fliegen zwitschernd
  • herüber und hinüber, eine Schnepfe blökt während sie sich in die Luft
  • schwingt, die Lerchen trillern, sich hoch im blauen Himmelsraum
  • verlierend, und wie ein Trompetenton erklingt der Schrei der Kraniche,
  • die hoch oben in den Lüften ihre dreieckigen Flugreihen formieren. Die
  • ganze Umgegend tönt und klingt und gibt jeden Laut wundersam zurück ...
  • O Gott! Wie herrlich ist doch Deine Welt noch in der Wildnis, in dem
  • kleinsten Dörfchen, fern von den abscheulichen großen Landstraßen und
  • Städten! Aber auch dieses wurde ihm mit der Zeit langweilig. Bald hörte
  • er ganz auf, aufs Feld zu gehen, von nun ab hockte er beständig im
  • Zimmer und wollte nicht einmal mehr den Verwalter empfangen, wenn dieser
  • kam, um ihm seinen Bericht zu erstatten.
  • Früher sprach noch von Zeit zu Zeit ein Nachbar bei ihm vor; irgend ein
  • Husarenleutnant a. D., ein leidenschaftlicher Raucher, der ganz mit
  • Tabakqualm gesättigt war, oder ein radikaler Student, der seine Studien
  • nicht vollendet hatte und seine Weisheit aus allerhand modernen
  • Broschüren und Zeitungen schöpfte. Aber auch dies begann ihn zu
  • langweilen. Die Unterhaltungen dieser Leute kamen ihm bald recht
  • oberflächlich vor; ihr europäisch-sicheres und gewandtes Auftreten, die
  • Ungeniertheit, mit der sie ihm aufs Knie klopften, ihre Schmeicheleien
  • und Familiaritäten erschienen ihm gar zu unverhüllt und offen. Er
  • beschloß daher, den Verkehr mit ihnen abzubrechen und entledigte sich
  • ihrer in sehr schroffer Weise. Als nämlich ein Repräsentant jener Sorte
  • von Obersten und Lebemännern, die heute bereits im Aussterben begriffen
  • sind, ein überaus angenehmer Gesellschafter und Freund oberflächlicher
  • Unterhaltungen und zugleich der Vordermann und Vertreter jener neuen bei
  • uns eben erst aufkommenden Denkart, Warwar Nikolajewitsch
  • Wischnepokromow ihn einmal besuchte, um sich so recht von Herzen über
  • Politik, Philosophie, Literatur, Moral und sogar über die Finanzlage
  • Englands mit ihm auszusprechen, da schickte er seinen Diener hinaus und
  • ließ ihm sagen, er sei nicht zu Hause, wobei er zugleich die
  • Unvorsichtigkeit hatte, sich am Fenster zu zeigen. Die Blicke des
  • Hausherrn und des Gastes begegneten sich. Der eine murmelte natürlich
  • »so ein Schweinehund!« durch die Zähne, worauf ihm der andere
  • gleichfalls so etwas wie einen Schweinehund nachsandte. Damit endete
  • ihre Bekanntschaft. Seitdem besuchte ihn niemand mehr.
  • Er war eigentlich recht froh darüber und gab sich ganz dem Nachdenken
  • über sein großes Werk über Rußland hin. In welcher Weise dieses geschah
  • -- hat der Leser bereits gesehen. In seinem Hause bürgerte sich von
  • selbst eine merkwürdige -- liederliche Ordnung ein. Trotzdem kann man
  • nicht sagen, daß es keine Augenblicke gab, wo er nicht sozusagen aus
  • seinem Schlafe erwachte. Wenn die Post neue Zeitungen und Journale ins
  • Haus brachte und er beim Lesen auf den Namen eines alten Kameraden
  • stieß, der sich im Staatsdienste zu einer bedeutenden Stellung
  • emporgeschwungen hatte, oder sein Teil zum Fortschritt der
  • Wissenschaften und der Sache der ganzen Menschheit beigetragen hatte,
  • dann schlich sich ein stiller leiser Schmerz in sein Herz und eine
  • sanfte, stumme aber bittere Klage über sein tatenloses Leben entrang
  • sich seiner Seele. Dann erschien ihm sein ganzes Dasein ekelhaft und
  • häßlich. Mit ungewöhnlicher Klarheit erstand vor ihm die längst hinter
  • ihm liegende Zeit seiner Schuljahre, und das Bild von Alexander
  • Petrowitsch wurde plötzlich vor ihm lebendig, und Tränenbäche stürzten
  • ihm aus den Augen .....
  • Was bedeuteten diese Tränen? Offenbarte sich etwa in ihnen die tief
  • erschütterte Seele, das schmerzliche Geheimnis ihrer Leiden, des
  • Schmerzes über den großen und edlen Menschen, der in seinem Innern
  • schlummerte und der mitten im Wachstum stecken geblieben war, noch ehe
  • er vermocht hatte sich zu entwickeln und zu erstarken? Noch nicht
  • erprobt im Kampf mit der Mißgunst des Schicksals, hatte er noch jene
  • hohe Reife nicht erreicht, die ihn lehrte, sein eigenes Wesen zu erhöhen
  • und zu kräftigen in dem Ansturm gegen Hemmungen und Hindernisse;
  • dahingeschmolzen wie glühendes Metall war ein reicher Schatz großer
  • herrlicher Gefühle, ohne die letzte Stählung und Härtung erhalten zu
  • haben; allzu früh für ihn war der herrliche Lehrer gestorben, und nun
  • gab es auf der ganzen Welt keinen Menschen mehr, der fähig gewesen wäre,
  • die durch fortwährende Erschütterungen geschwächten Kräfte und den
  • jeglicher Widerstandskraft beraubten machtlosen Willen zu heben und zu
  • wecken, -- der ihn mit lebendigem Worte ermuntert -- der Seele ein
  • belebendes »Vorwärts« zugerufen hätte, ein Ruf, nach dem ein jeder
  • Russe, überall in jeder Lebenslage, ob hoch oder niedrig, in jedem Rang,
  • Beruf und Stande so lebhaft dürstet.
  • Wo ist der, der unserer russischen Seele in ihrer eigenen teuren
  • Muttersprache dieses allgewaltige Wort »Vorwärts« zuzurufen vermöchte?
  • Wer kennt so gut alle Kräfte und Fähigkeiten, die ganze Tiefe unseres
  • Wesens, daß er uns mit einem Zauberwink zum höchsten Leben fortreißen
  • könnte? Mit welchen Tränen, mit welcher Liebe würde es ihm der Russe
  • danken! Aber Jahrhunderte auf Jahrhunderte verrinnen; in schmachvoller
  • Trägheit und sinnloser Geschäftigkeit unreifer Jünglinge versinkt unser
  • Geschlecht, und nicht will uns Gott den Mann senden, der es verstünde,
  • dieses allgewaltige Wort zu sprechen!
  • Und doch hätte ein Ereignis Tentennikow beinahe aus seinem Schlaf
  • geweckt und eine völlig Umwälzung in seinem Charakter hervorgebracht. Es
  • war eine Art Liebesgeschichte, aber auch sie hatte keine weiteren
  • Folgen. In Tentennikows Nachbarschaft, etwa zehn Werst von seinem Gute
  • entfernt lebte ein General, der wie wir schon wissen nicht allzu
  • freundlich von Tentennikow sprach. Dieser General lebte wie ein echter
  • General d. h. wie ein großer Herr, machte ein offenes Haus und liebte
  • es, daß seine Nachbarn ihn besuchten und ihm ihre Aufwartung machten; er
  • selbst erwiderte natürlich die Besuche nicht, hatte eine rauhe heisere
  • Stimme, las viele Bücher und besaß eine Tochter, ein ganz seltsames,
  • ungewöhnliches Wesen. Sie hatte etwas so Lebensvolles, wie das Leben
  • selbst.
  • Ihr Name war Ulenka, sie hatte eine merkwürdige Erziehung genossen. Eine
  • englische Gouvernante hatte sie erzogen, die kein Wort russisch
  • verstand. Ihre Mutter war schon sehr früh gestorben und der Vater hatte
  • keine Zeit sich viel um sie zu kümmern. Übrigens konnte es bei seiner
  • unsinnigen Liebe zu seiner Tochter gar nicht anders geschehen, als daß
  • er sie schrecklich verwöhnte. Bei ihr atmete alles Selbständigkeit und
  • Eigenart, wie bei einem Kinde, das in der Freiheit erzogen ward. Wenn
  • jemand gesehen hätte wie ein plötzlicher Zorn strenge Falten in die
  • herrliche Stirn grub, wie sie sich leidenschaftlich mit ihrem Vater
  • stritt dann hätte er wohl glauben können, sie sei das launischste
  • Geschöpf von der Welt. Aber sie wurde nur dann zornig, wenn sie von
  • einer Ungerechtigkeit oder Grausamkeit hörte, die einem andern
  • widerfahren war. Niemals zürnte oder stritt sie sich um ihrer selbst
  • willen und nie suchte sie sich zu rechtfertigen. Wie schnell aber
  • verschwand ihr Zorn, wenn sie den, dem sie zürnte, in Unglück und Elend
  • sah! Sie hätte jedem, der sie um ein Almosen bat, sofort ihren
  • Geldbeutel mit seinem ganzen Inhalt zugeworfen, ohne zu überlegen, ob
  • das auch vernünftig sei(6) oder nicht. Es war etwas Heftiges, Ungestümes
  • in ihr. Wenn sie sprach, dann schien alles dem Gedanken zu folgen, ja
  • ihm voranzueilen: der Ausdruck ihres Gesichtes, ihre Sprache, die
  • Bewegungen, ihre Hände; selbst die Falten ihres Kleides schienen
  • vorauszuflattern, und man konnte fast glauben, sie müsse selbst mit
  • ihren Worten davonfliegen. Sie hatte nichts Verschlossenes an sich, vor
  • keinem Menschen hätte sie sich gefürchtet, ihre geheimsten Gedanken zu
  • offenbaren, und keine Macht der Welt hätte sie zum Schweigen veranlassen
  • können, wenn sie reden wollte. Ihr entzückender Gang, ein Gang, wie nur
  • sie allein ihn hatte, war so frei und fest, daß jeder, der ihr
  • begegnete, unwillkürlich zur Seite trat und ihr den Weg freigab. In
  • ihrer Gegenwart überkam jeden bösen Menschen etwas wie Verlegenheit, und
  • er verstummte. Die Kecksten und Frechsten fanden keine Worte und
  • verloren ihre ganze Fassung und Sicherheit, während die Blöden sofort
  • ganz unbefangen mit ihr zu plaudern begannen wie mit keinem andern
  • Menschen auf der Welt und schon nach den ersten Worten schien es einem
  • solchen, als hätte er sie schon irgendwo und irgendwann kennen gelernt
  • und als hätte er diese selben Züge schon irgendwo gesehen: in seiner
  • frühesten Kindheit, an die er sich kaum noch erinnerte, im eigenen
  • Vaterhause, an einem glücklichen Abend, während fröhliche Kinderscharen
  • spielten und lärmten, und traurig erschien ihm noch lange nachher der
  • Ernst und die Reife des Mannesalters.
  • Tentennikow ging es mit ihr ganz ebenso wie allen andern Menschen. Ein
  • unerklärlich neues Gefühl bemächtigte sich seiner. Ein heller
  • Lichtstrahl erhellte einen Augenblick sein monotones und trauriges
  • Leben.
  • Der General nahm Tentennikow zuerst recht freundlich und herzlich auf,
  • eine rechte Harmonie aber wollte sich zwischen ihnen trotzdem nicht
  • herstellen. Jede Unterhaltung endigte mit einem Streit, der stets ein
  • unangenehmes Gefühl in beiden zurückließ; denn der General konnte keinen
  • Widerspruch und keine Gegenrede vertragen. Andererseits war auch
  • Tentennikow ein ziemlich empfindlicher junger Mann. Natürlich vergab er
  • dem Vater manches um seiner Tochter willen, und der Friede zwischen
  • beiden blieb so lange ungestört, bis eines schönen Tages zwei Verwandte
  • des Generals: eine Gräfin Boldyrew und eine Fürstin Jusjakow bei ihm zu
  • Besuch eintrafen: beide Hofdamen der alten Kaiserin, die aber doch noch
  • einige gute Verbindungen mit einflußreichen Personen in Petersburg
  • besaßen; der General bemühte sich lebhaft, ihre Zuneigung zu gewinnen.
  • Tentennikow kam es so vor, daß der General seit dem Tage ihrer Ankunft
  • etwas kälter gegen ihn wurde, ihn kaum noch beachtete und ihn wie eine
  • stumme Person behandelte. Er redete ihn oft von oben herab an; nannte
  • ihn »mein Bester« oder »Verehrtester« und sagte einmal sogar »du« zu
  • ihm. Andrei Iwanowitsch fuhr auf. Er biß die Zähne zusammen, wußte sich
  • aber unter ungeheurer Selbstüberwindung soviel Geistesgegenwart zu
  • bewahren, um ihm mit sehr sanfter und höflicher Stimme zu erwidern,
  • während alles in ihm kochte und rote Flecken auf seinem Gesichte
  • hervortraten: »Ich bin Ihnen für Ihre Güte großen Dank schuldig Herr
  • General. Mit diesem vertraulichen »du« bieten Sie mir ein enges
  • Freundschaftsbündnis an, und verpflichten mich, Sie gleichfalls »du« zu
  • nennen. Aber der Unterschied der Jahre macht einen so familiären Verkehr
  • zwischen uns vollkommen unmöglich!« Der General wurde verlegen. Er
  • suchte seine Gedanken zu sammeln und das rechte Wort zu finden;
  • schließlich erklärte er, das »du« sei von ihm durchaus nicht in dem
  • Sinne gemeint gewesen, in dem etwa alte Leute es sich erlauben, einen
  • jungen Menschen »du« anzureden. Von seinem Generalsrang sagte er kein
  • Wort.
  • Natürlich brachen beide nach diesem Vorfall jeglichen Verkehr
  • miteinander ab, und seine Liebe wurde im Keime erstickt. Das Licht
  • erlosch, das einen Moment vor ihm aufgeleuchtet war, und die nun
  • herabsinkende Dämmerung war noch finsterer und dunkler, als vordem. Sein
  • Leben kehrte wieder in die alten Bahnen zurück und nahm seine frühere
  • Gestalt an, die der Leser schon kennen gelernt hat. Und wiederum lag er
  • tagelang untätig da. Das Haus starrte vor Schmutz und Unordnung. Der
  • Besen steckte tagelang mitten im Zimmer in einem Haufen Schutt. Die
  • Unterhosen trieben sich sogar im Salon umher, auf dem eleganten Tisch
  • vor dem Sofa lagen ein Paar schmutzige Hosenträger, gleichsam als
  • Festgabe für den eintretenden Gast. Tentennikows ganzes Leben wurde so
  • armselig und schläfrig, daß nicht nur seine Diener aufhörten, ihn zu
  • achten, sondern selbst die Hühner ohne jeden Respekt nach ihm pickten.
  • Er konnte stundenlang mit der Feder in der Hand dasitzen und allerhand
  • Figuren auf ein vor ihm liegendes Blatt zeichnen: Brezel, Häuser,
  • Hütten, einen Bauernwagen, ein Dreigespann usw. Mitunter aber vergaß er
  • alles um sich her, und dann bewegte sich die Feder ganz von selbst über
  • das Papier ohne daß der Hausherr etwas davon wußte und formte ein
  • kleines Köpfchen mit feinen, scharfen Zügen, einem schnellen forschenden
  • Blick und einem leicht emporgekämmten Haarbüschel -- und staunend sah
  • der Zeichner, daß es das Abbild jenes Wesens war, dessen Porträt kein
  • Künstler hätte malen können. Und dann wurde ihm noch wehmütiger und
  • schmerzlicher ums Herz; er wollte nicht mehr glauben, daß es ein Glück
  • auf dieser Erde gibt, und darnach wurde er nur noch trauriger und
  • einsilbiger als vordem. So war die Stimmung Andrei Iwanowitsch
  • Tentennikows. Da bemerkte er plötzlich, als er sich eines Tages nach
  • seiner Gewohnheit ans Fenster setzte, um in den Hof hinabzusehen, und zu
  • seinem Erstaunen weder Grigorij noch Perfiljewna erblickte, daselbst
  • eine gewisse Unruhe und Bewegung.
  • Der junge Koch und die Aufwartefrau liefen hin um das Tor zu öffnen; es
  • tat sich auf, und ließ drei Pferde sehen, ganz wie man sie auf
  • Triumphbögen abgebildet findet: eine Schnauze rechts, eine links und
  • eine in der Mitte. Hoch über ihnen thronte ein Kutscher und ein
  • Bedienter in einem weiten Rock und mit einem Taschentuch um den Kopf.
  • Hinter diesen saß ein Herr in Mantel und Mütze, tief eingehüllt in ein
  • regenbogenfarbiges Plaid. Als die Equipage vor der Treppe hielt, zeigte
  • es sich, daß es nur eine leichte Kutsche auf Federn war. Der Herr, der
  • ein ungewöhnlich anständiges Äußeres hatte, sprang beinahe mit der
  • Schnelligkeit und Gewandtheit eines Militärs aus dem Wagen und eilte die
  • Treppe hinauf.
  • Andrei Iwanowitsch bekam Angst. Er hielt den Ankömmling für einen
  • Regierungsbeamten. Hier muß ich nachholen, daß er in seiner Jugend in
  • eine dumme Geschichte verwickelt gewesen war. Ein paar philosophierende
  • Husarenoffiziere, die eine Menge moderner Broschüren gelesen hatten, ein
  • Ästhet, der die Universität nicht beendigt hatte, und ein
  • heruntergekommener Spieler wollten eine Wohltätigkeitsgesellschaft
  • gründen unter der Oberleitung eines Freimaurers, eines alten Gauners,
  • der gleichfalls dem Kartenspiel ergeben, aber ein sehr redegewandter
  • Herr war. Die Gesellschaft hatte sich ein außerordentlich hohes Ziel
  • gesteckt: nämlich die ganze Menschheit von den Ufern der Themse bis
  • Kamtschatka, dauernd zu beglücken. Dazu bedurfte man jedoch einer
  • ungewöhnlich großen Kasse, und die Geldspenden, die den großmütigen
  • Mitgliedern abgenommen wurden, waren unerhört groß. Wo das Geld hinkam,
  • das wußte freilich niemand außer dem ersten Vorsitzenden, der die
  • Oberleitung in den Händen hatte. Tentennikow wurde durch zwei Freunde in
  • diese Gesellschaft eingeführt; das waren zwei von jenen verbitterten
  • Menschen, die von Natur gutmütig, sich durch die vielen Toaste auf die
  • Wissenschaft, die Aufklärung und ihre künftigen Heldentaten im Dienste
  • der Menschheit dem Trunk ergeben hatten und zu berufsmäßigen Säufern
  • geworden waren. Tentennikow besann sich noch zur rechten Zeit, und trat
  • aus dieser Gesellschaft aus. Aber die Gesellschaft hatte sich schon in
  • gewisse andre Operationen eingelassen, mit denen sich ein Edelmann
  • eigentlich nicht abgeben sollte, die aber bald darauf zu unangenehmen
  • Folgen und sogar zu Konflikten mit der Polizei führten ... Es ist daher
  • kein Wunder, daß Tentennikow auch nach seinem Austritt und nachdem er
  • alle Beziehungen zu diesen Leuten abgebrochen hatte, seine Ruhe nicht
  • ganz wiederfinden konnte: sein Gewissen war nicht vollkommen rein. Und
  • daher sah er jetzt nicht ohne Schrecken auf die Türe, die sich gleich
  • öffnen mußte.
  • Aber seine Angst verflog sofort, als der Gast mit einer schier
  • unglaublichen Gewandtheit seine Verbeugung machte, wobei er zum Zeichen
  • der Achtung seinen Kopf etwas zur Seite geneigt hielt. In kurzen aber
  • bestimmten Worten erklärte dieser, daß er schon seit längerer Zeit teils
  • in Geschäften, teils aus Wißbegierde Rußland bereise: unser Land sei
  • sehr reich an merkwürdigen Dingen, ganz abgesehen von dem Überfluß an
  • Erwerbsmöglichkeiten und den großen Unterschieden in der
  • Bodenbeschaffenheit; er sei entzückt von der reizenden Lage des Gutes,
  • hätte es aber trotz dieser entzückenden Lage doch niemals gewagt, den
  • Gutsherrn durch seinen ungelegenen Besuch zu belästigen, wenn nicht
  • seiner Kutsche infolge der Überschwemmungen dieses Frühjahrs und der
  • schlechten Wege plötzlich ein Unfall zugestoßen wäre; die Reparatur
  • werde nämlich die Meisterhand geübter Schmiedekünstler erfordern. Bei
  • alledem aber hätte er es sich, auch wenn mit seiner Kutsche gar nichts
  • passiert wäre, dennoch nicht versagen können, ihm persönlich seine
  • Aufwartung zu machen.
  • Als der Gast seine Rede beendigt hatte, machte er mit geradezu
  • bezaubernder Liebenswürdigkeit einen Kratzfuß und ließ dabei seine
  • eleganten Lackstiefel mit den reizenden Perlmutterknöpfen sehen, um
  • gleich darauf, trotz seiner Körperfülle, mit der Elastizität eines
  • Gummiballes ein paar Schritte zurückzuspringen.
  • Andrei Iwanowitsch hatte sich schon längst beruhigt; er nahm an, das
  • müsse irgend ein wißbegieriger Gelehrter oder Professor sein, der
  • Rußland bereist, um Pflanzen oder vielleicht sogar seltene Fossilien zu
  • sammeln. Er erklärte sogleich seine Bereitwilligkeit, ihm in allen
  • Dingen behilflich zu sein; bot ihm seine Wagenbauer und Schmiede für die
  • Reparatur der Kutsche an, bat ihn, sich's bei ihm so bequem zu machen,
  • wie in seinem eigenen Hause, ließ den Gast in einem großen Lehnsessel
  • _à la Voltaire_ Platz nehmen, und schickte sich an, seine
  • Erzählung anzuhören, die sicherlich von allerhand gelehrten
  • naturwissenschaftlichen Gegenständen handeln würde.
  • Allein der Gast brachte die Rede mehr auf einige Gegenstände des inneren
  • Lebens. Er verglich sein Leben mit einem Schiff, das auf hoher See von
  • heillosen Stürmen und Winden dahingetrieben werde; erwähnte wie oft er
  • schon Amt und Beruf habe wechseln müssen, wieviel er für die Wahrheit
  • gelitten habe und wie er infolge der Nachstellungen seiner Feinde schon
  • oft in Lebensgefahr geschwebt habe, und noch vielerlei andres, woraus
  • Tentennikow ersehen konnte, daß sein Gast eher ein Mann der Praxis sei.
  • Zum Schluß führte er sein weißes Batisttaschentuch an die Nase und
  • schneuzte sich so laut, wie Andrei Iwanowitsch es noch niemals gehört
  • hatte. Mitunter begegnet man wohl in einem Orchester einer solchen
  • vertrackten Trompete; wenn die einmal einen Ton von sich gibt, dann
  • scheint es einem, als habe es nicht im Orchester, sondern im eigenen
  • Ohre gekracht. Ein ähnlicher Laut erdröhnte jetzt durch die plötzlich
  • erwachten Gemächer des in ewigen Schlaf versunkenen Hauses, und gleich
  • darauf erfüllte die Luft ein intensiver Geruch nach Kölnischem Wasser,
  • der sich durch ein leichtes Schütteln des Batisttaschentuches unsichtbar
  • im Zimmer verbreitete.
  • Der Leser hat vielleicht schon erraten, daß der Gast kein andrer war,
  • als unser verehrter, von uns so lange vernachlässigter Pawel Iwanowitsch
  • Tschitschikow. Er war etwas älter geworden: diese Zeit war an ihm
  • offenbar nicht ohne Stürme und Sorgen vorübergegangen. Selbst der Frack,
  • in dem er stets zu erscheinen pflegte, schien etwas abgetragen zu sein;
  • auch Kutscher und Equipage, der Diener, die Pferde und das Geschirr
  • sahen ein wenig verbraucht und verschlissen aus. Auch seine Finanzlage
  • schien nicht allzu glänzend zu sein. Aber der Ausdruck seines Gesichts,
  • und der feine Anstand seines Auftretens waren noch ganz dieselben wie
  • früher. Ja sein Benehmen und seine Formen waren eher noch etwas
  • liebenswürdiger geworden, und er legte die Füße noch gewandter
  • übereinander, wenn er im Lehnstuhle Platz nahm. Seine Aussprache war
  • fast noch weicher, in seinen Worten und Redewendungen lag beinahe _noch_
  • mehr Vorsicht und Mäßigung, in seiner Haltung noch mehr Klugheit und
  • Sicherheit, und fast noch mehr Takt in seinem ganzen Betragen. Sein
  • Kragen und sein Vorhemd waren weißer und glänzender als Schnee, und
  • obwohl er auf Reisen war, klebte auch nicht ein Federchen an seinem
  • Frack: er hätte sofort eine Einladung zu einem Geburtstagsdiner annehmen
  • können. Kinn und Backen waren so glatt rasiert, daß nur ein Blinder über
  • die angenehme Fülle und Rundung nicht in Entzücken geraten konnte.
  • Im Hause ging sofort eine gewaltige Umwälzung vor sich, die eine Hälfte,
  • die bislang stets in Dunkel und Finsternis gelegen hatte, weil die Laden
  • geschlossen und zugenagelt waren, erstrahlte plötzlich in blendender
  • Helligkeit. In den schön erleuchteten Zimmern wurden die Möbel
  • umgestellt, und bald nahm alles folgendes Aussehen an: das Zimmer,
  • welches zum Schlafgemach ausersehen war, wurde mit allen zur
  • Nachttoilette nötigen Gegenständen ausgerüstet, die Stube die als
  • Arbeitszimmer dienen sollte ... doch halt, zuerst müssen wir wissen, daß
  • in diesem Zimmer drei Tische standen: ein Schreibtisch vor dem Sofa, ein
  • Spieltisch vor dem Spiegel zwischen den Fenstern und ein dritter
  • Ecktisch in einer Zimmerecke, zwischen der Schlafzimmertüre und der in
  • den unbewohnten anstoßenden Salon führenden Türe, in dem zerbrochene
  • Möbel standen. Dieser Saal diente bis jetzt als Vorzimmer und war etwa
  • ein Jahr lang von niemandem betreten worden. Auf diesem Ecktische fand
  • die Garderobe ihren Platz, die der Reisende in seinem Koffer mitgebracht
  • hatte und zwar: ein Paar zu dem bekannten Frack gehörige Beinkleider,
  • ein Paar _neue_ Beinkleider, ein Paar _graue_ Beinkleider, zwei
  • Sammetwesten, zwei Atlaswesten und ein Gehrock. Dies alles wurde
  • übereinander, in Form einer Pyramide aufgeschichtet, und ein seidenes
  • Taschentuch über das Ganze gebreitet. In der andern Ecke zwischen Tür
  • und Fenster wurden in langer Reihe die Stiefel aufgestellt: ein Paar
  • _nicht mehr ganz_ neue, ein Paar _ganz_ neue, ein Paar Lackschuhe und
  • ein Paar Morgenschuhe. Auch sie wurden ebenso schamhaft mit einem
  • seidenen Taschentuch zugedeckt -- ganz als ob sie überhaupt nicht
  • vorhanden wären. Auf dem Schreibtisch wurden sofort folgende Gegenstände
  • in schönster Ordnung gruppiert: die Schatulle, eine Flasche mit
  • Kölnischem Wasser, ein Kalender und zwei Romane, von beiden jedoch nur
  • der zweite Band. Die reine Wäsche wurde in der Kommode untergebracht,
  • die sich schon vorher im Schlafzimmer befand; die Wäsche hingegen, die
  • zur Wäscherin geschafft werden sollte, wurde zu einem Bündel
  • zusammengebunden und unter das Bett geschoben. Auch der Koffer wurde,
  • nachdem er ausgeräumt war, unters Bett gestellt. Der Säbel, der
  • unterwegs immer mitgenommen wurde, um den Räubern und Dieben Schrecken
  • einzujagen, wurde auch im Schlafzimmer untergebracht und an einem Nagel
  • in der Nähe des Bettes aufgehängt. Alles nahm das Aussehen höchster
  • Sauberkeit und einer ganz ungewöhnlichen Ordnungsliebe an. Nirgends war
  • ein Papierschnitzel, ein Federchen oder ein Stäubchen zu entdecken.
  • Selbst die Luft schien gleichsam feiner und besser geworden zu sein: in
  • ihr verbreitete sich der angenehme Geruch einer frischen gesunden
  • Mannsperson, die ihre Wäsche nicht zu lange trägt, regelmäßig baden geht
  • und sich Sonntags mit einem nassen Schwamm abwäscht. In dem Saal, der
  • als Vorzimmer diente, schien sich eine Zeitlang der Geruch des Dieners
  • Petruschka festsetzen zu wollen, aber Petruschka wurde bald ausquartiert
  • und, wie es sich gehörte, in der Küche untergebracht.
  • In den ersten Tagen fürchtete Andrei Iwanowitsch ein wenig für seine
  • Unabhängigkeit; er hatte einige Sorge, der Gast könne ihn belästigen,
  • unliebsame Änderungen in seiner Lebensweise einführen, und die von ihm
  • mit soviel Glück aufgestellte Tageseinteilung stören, allein seine
  • Besorgnisse waren unbegründet. Unser Freund Pawel Iwanowitsch legte eine
  • ganz außerordentliche Elastizität und Fähigkeit an den Tag, sich an
  • alles anzupassen. Er sprach sich beifällig über die philosophische
  • Langsamkeit seines Wirtes aus und erklärte, sie verheiße ein langes
  • Leben. Über sein Einsiedlertum äußerte er sich sehr treffend, es nähre
  • in dem Menschen die großen Gedanken. Er warf auch einen Blick auf die
  • Bibliothek, sprach sehr lobend über die Bücher im allgemeinen und
  • bemerkte, sie bewahrten den Menschen vor dem Müßiggang. Er ließ nur sehr
  • wenige Worte fallen, aber alles, was er sagte war ernst und bedeutend.
  • In allem, was er tat, aber erwies er sich fast noch liebenswürdiger und
  • taktvoller. Er kam und ging immer zur rechten Zeit, plagte den Wirt
  • nicht mit Fragen und Wünschen, wenn dieser einsilbig und nicht zur
  • Unterhaltung geneigt war; spielte mit Vergnügen eine Partie Schach mit
  • ihm, und schwieg gleichfalls mit Vergnügen. Während der eine den
  • Tabakrauch in krausen Wolken in die Luft blies, suchte sich der andre,
  • da er keine Pfeife rauchte, eine ähnliche Beschäftigung: so holte er zum
  • Beispiel seine Tabaksdose aus schwarzem Silber aus der Tasche, nahm sie
  • zwischen zwei Finger seiner linken Hand, und drehte sie mit einem Finger
  • der rechten rasch um den der linken, ganz so, wie die Erdkugel sich um
  • ihre eigene Achse dreht, oder er trommelte mit dem Finger auf dem Deckel
  • herum und pfiff eine Melodie dazu. Mit einem Wort, er störte seinen Wirt
  • nicht im mindesten. »Zum erstenmal im Leben sehe ich einen Menschen, mit
  • dem sich's leben läßt!« sagte Tentennikow zu sich selbst, »diese Kunst
  • ist bei uns im allgemeinen recht wenig verbreitet. Unter uns gibt es
  • mancherlei Leute: kluge, gebildete und auch wirklich gute Menschen, aber
  • Menschen von immer gleichmäßigem Charakter, Menschen, mit denen man ein
  • Jahrhundert lang zusammen leben könnte, ohne sich zu zanken -- solche
  • Menschen kenne ich nicht. Wieviel solche Leute gibt's denn bei uns
  • überhaupt? Dies ist der erste Mensch dieser Art, den ich kennen lerne.«
  • So urteilte Tentennikow über seinen Gast.
  • Tschitschikow war seinerseits gleichfalls sehr froh, daß er eine
  • Zeitlang bei einem so ruhigen und friedlichen Herrn wohnen durfte. Das
  • Zigeunerleben hatte er gründlich satt bekommen. Sich einmal einen Monat
  • lang ordentlich ausruhen, den Anblick des herrlichen Gutes, den Duft der
  • Felder und des beginnenden Frühlings so recht von Herzen genießen zu
  • können, das war sogar mit Rücksicht auf die Hämorrhoiden von großem
  • Nutzen und Vorteil.
  • Man hätte nicht leicht einen schöneren Winkel zu seiner Erholung finden
  • können. Der Frühling, dessen Sieg durch starke Fröste aufgehalten worden
  • war, entfaltete sich plötzlich in seiner ganzen Pracht, und überall
  • sproßte junges Leben. Wälder und Wiesen schimmerten bläulich, aus dem
  • frischen Smaragd des ersten Grünes leuchtete hell das Gelb der Kuhblume
  • hervor, und die rötlich-violette Anemone neigte sanft ihr zartes
  • Köpfchen. Schwärme von Mücken und Scharen von Insekten zeigten sich über
  • den Sümpfen, verfolgt von der langbeinigen Wasserspinne, und von allen
  • Seiten flüchteten die Vögel in das trockene, schützende Schilfrohr. Hier
  • strömte alles zusammen, um einander zu sehen und sich näher kennen zu
  • lernen. Plötzlich bevölkerte sich die Erde, die Wälder erwachten, in den
  • Wiesen wurde es lebendig und laut. In den Dörfern schlang sich der
  • Reigen. Wieviel Raum gab es hier, um sich im Freien zu ergehen. Wie hell
  • leuchtete das Grün! Wie frisch war die Luft! Wieviel Vogelsang in den
  • Gärten! Paradiesisches Jauchzen und Jubeln des Alls! Das Dorf tönte und
  • sang, wie bei einem Hochzeitsfest!
  • Tschitschikow ging viel spazieren. Zu Wanderungen und Spaziergängen bot
  • sich die reichste Gelegenheit. Bald erging er sich auf dem flachen
  • Hochplateau, wo sich die Aussicht auf die unten liegenden Täler, mit den
  • großen Seen auftat, welche die über die Ufer getretenen Flüsse
  • zurückgelassen hatten, und aus denen ganze Inseln von dunklen noch
  • unbelaubten Wäldern hervorragten; oder er schritt mitten durch das
  • Dickicht dunkler Wälder, und finsterer Gründe, wo die Bäume mit
  • Vogelnestern geschmückt, dicht beisammen standen und die Raben krächzend
  • durcheinander flogen, und gleich einer Wolke den Himmel verfinsterten.
  • Über trockeneres Erdreich konnte man bis zum Landungsplatz wandern, wo
  • die ersten Barken, mit Erbsen, Gerste und Weizen beladen in die See
  • stachen, und wo sich das Wasser mit ohrenbetäubendem Getöse auf das
  • Mühlrad stürzte, das sich langsam in Bewegung zu setzen begann. Oder er
  • ging hin, um sich die ersten Frühjahrsarbeiten anzusehen, und zu
  • beobachten, wie sich ein Stück frisch gepflügtes Ackerland mitten durch
  • das Grün der Felder zog und der Sämann mit der Hand auf das Sieb
  • trommelnd, welches ihm auf der Brust hing, gleichmäßig den Samen
  • ausstreute, ohne auch nur ein Körnchen auf der einen oder andern Seite
  • zu verschütten.
  • Tschitschikow besuchte jedes Fleckchen. Er unterhielt sich und besprach
  • alles mit dem Verwalter, mit den Bauern und dem Müller. Er erkundigte
  • sich nach allem, nach dem Wo und Wie und fragte wie es mit dem Haushalt
  • stehe, wieviel Getreide verkauft werde, was im Frühjahr und Herbst für
  • Korn gemahlen wird, wie jeder Bauer heißt, wer mit diesem und jenem
  • verwandt ist, wo er seine Kuh gekauft hat, womit er sein Schwein
  • füttert, mit einem Wort er vergaß nichts. Er ließ sich auch sagen,
  • wieviel Bauern gestorben wären, und erfuhr, daß es nur wenige seien. Als
  • kluger Mann erkannte er sofort, daß es nicht allzu glänzend um Andrei
  • Iwanowitsch' Haushalt stand. Überall entdeckte er Unterlassungssünden,
  • Nachlässigkeit, Diebstahl, auch die Trunksucht war recht verbreitet, und
  • er dachte sich: »Was der Tentennikow doch für ein Rindvieh ist! So ein
  • Gut! und es so zu vernachlässigen! Man könnte sicherlich ein Einkommen
  • von fünfzigtausend Rubeln daraus herauswirtschaften!«
  • Mehr als einmal kam ihm bei diesen Spaziergängen der Gedanke, selbst
  • einmal -- d. h. natürlich nicht jetzt, sondern später, wenn die
  • Hauptsache erledigt sein, und er Geld in Händen haben würde -- selbst
  • einmal so ein friedlicher Besitzer eines ähnlichen Gutes zu werden. Und
  • sofort tauchte natürlich das Bild eines jungen, frischen Weibchens mit
  • weißem Gesicht, aus dem Kaufmannsstande oder sonst einem reichen Kreise
  • vor ihm auf. Ja, er träumte sogar davon, daß sie musikalisch sei. Er
  • stellte sich auch die junge Generation seiner Nachkommen vor, deren
  • Bestimmung es war, die Familie Tschitschikow zu verewigen: einen
  • munteren Jungen und eine schöne Tochter, oder sogar zwei Jungen und
  • zwei, ja selbst drei Mädel, damit alle wissen sollten, daß er wirklich
  • gelebt, existiert, und nicht etwa bloß wie ein Gespenst oder Schatten
  • über die Erde gewandelt wäre -- und damit er sich vor dem Vaterlande
  • nicht zu schämen brauchte. Dann kam ihm wohl der Gedanke, daß es nicht
  • übel wäre, wenn er auch im Rang ein wenig aufrückte: Staatsrat zum
  • Beispiel. Das war immerhin ein recht anständiger und achtbarer Titel!
  • Was kommt einem nicht alles in den Sinn, wenn man spazieren geht: so
  • mancherlei, was den Menschen aus dieser langweiligen, traurigen
  • Gegenwart entführt, ihn neckt, reizt, seine Einbildungskraft bewegt und
  • ihr selbst dann noch schmeichelt, wenn er überzeugt ist, daß es nie
  • eintreffen wird.
  • Auch Tschitschikows Bedienten gefiel es recht gut auf dem Lande. Sie
  • gewöhnten sich schnell an das neue Leben. Petruschka schloß bald
  • Freundschaft mit dem Hausdiener Grigorij, obwohl beide zuerst sehr
  • wichtig taten und sich furchtbar aufbliesen. Petruschka suchte Grigorij
  • Sand in die Augen zu streuen und mit seiner Erfahrenheit und
  • Weltkenntnis zu imponieren; Grigorij aber übertrumpfte ihn sofort mit
  • Petersburg, wo Petruschka noch nicht gewesen war. Er machte zwar noch
  • einen Versuch zu opponieren und wollte die ganze Entfernung der Gegenden
  • geltend machen, die er besucht hatte, aber Grigorij nannte ihm einen
  • solchen Ort, den man nicht einmal auf der Karte hätte finden können, und
  • er sprach von mehr als dreißigtausend Werst, sodaß der Diener Pawel
  • Iwanowitschs ganz verdutzt sitzen blieb, den Mund weit aufriß und von
  • allen Knechten und Mägden ausgelacht wurde. Trotzdem nahm die Sache den
  • allerschönsten Ausgang; beide Diener schlossen eine enge Freundschaft.
  • Am Ende des Dorfes Lyssyer Pimen war eine Schenke, die einem gewissen
  • Akulka gehörte, den man den Bauernvater nannte. Hier in diesem Lokal
  • konnte man sie zu allen Tageszeiten sehen. Dort wurde die Freundschaft
  • besiegelt, damit wurden sie zu »Stammgästen« der Kneipe wie man sich im
  • Volke auszudrücken liebt.
  • Für Seliphan gab es andre Anziehungspunkte. Jeden Abend wurden im Dorfe
  • Lieder gesungen; die Dorfjugend versammelte sich, um den beginnenden
  • Frühling durch Gesänge und Tänze zu feiern; es schlang sich der Reigen
  • und löste sich wieder. Die schlanken rosigen Mädchen, von einem
  • Liebreiz, wie man ihn heute in den größeren Dörfern kaum noch findet,
  • machten einen gewaltigen Eindruck auf ihn, sodaß er stundenlang dastehen
  • und sie angaffen konnte. Es war schwer zu sagen, welche von ihnen die
  • Schönste war; sie hatten alle schneeweiße Busen und Hälse, große runde
  • und verschleierte Augen, den Gang eines Pfaus und einen Zopf der bis an
  • den Gürtel reichte. Wenn er sie bei ihren weißen Händen faßte, und sich
  • mit ihnen langsam im Reigen vorwärtsbewegte oder zusammen mit den andern
  • Burschen gleich einer Mauer gegen sie vorrückte, wenn die Mädchen laut
  • lachend auf sie zukamen und sangen: »Wo ist der Bräutigam, Bojaren?« und
  • wenn dann die Gegend ringsum allmählich in Nacht versank und weit hinter
  • dem Flusse das treue Echo der Melodie melancholisch zurücktönte, dann
  • wußte er kaum, wie ihm geschah. Und noch lange nachher: am Morgen und in
  • der Dämmerung, ob er schlief oder wachte -- immer wieder kam es ihm so
  • vor, als halte er ein Paar weiße Hände in seinen Händen und bewege sich
  • langsam mit ihnen im Reigen.
  • Auch Tschitschikows Pferde fühlten sich in ihrer neuen Wohnung sehr
  • wohl. Das Deichselpferd, der Assessor, und selbst der Schecke fanden den
  • Aufenthalt bei Tentennikow gar nicht langweilig, den Hafer vortrefflich
  • und die Lage der Ställe außerordentlich bequem. Ein jedes hatte seinen
  • Stand, der zwar von dem des andern durch einen Verschlag abgeteilt war,
  • über den man jedoch leicht hinweggucken konnte. Daher konnte man auch
  • die andern Pferde sehen, und wenn es einem unter ihnen, selbst dem das
  • in der äußersten Ecke stand, einfiel loszuwiehern, war es den andern
  • leicht möglich, dem Kameraden in der gleichen Weise zu antworten.
  • Mit einem Wort, alles fühlte sich bei Tentennikow bald wie zu Hause. Was
  • jedoch die Angelegenheit anbetraf, wegen der Pawel Iwanowitsch das weite
  • Rußland bereiste, nämlich die toten Seelen, so war er in dieser
  • Beziehung äußerst vorsichtig und taktvoll geworden, selbst dann wenn er
  • es mit kompletten Narren zu tun hatte. Tentennikow aber las doch
  • immerhin Bücher, philosophierte, suchte sich über die Ursachen und
  • Gründe aller Erscheinungen klar zu werden -- über ihr Warum und Weshalb
  • .... »Nein, vielleicht ist es besser, ich fange vom andern Ende an!« So
  • dachte Tschitschikow. Er plauderte oft mit den Knechten und Mägden, und
  • so erfuhr er unter anderem einmal, daß der Herr früher häufig zu einem
  • seiner Nachbarn -- einem General zu Gaste fuhr, daß der General eine
  • Tochter habe, daß der Herr für das Fräulein -- und auch das Fräulein für
  • den Herrn eine gewisse ... daß sie sich aber plötzlich entzweit und von
  • da ab für immer gemieden hätten. Er selbst hatte auch schon bemerkt, daß
  • Andrei Iwanowitsch beständig mit Bleistift und Feder allerhand Köpfe
  • zeichnete, die einander alle sehr ähnlich sahen.
  • Eines Tages nach dem Mittagessen, als er wieder einmal nach seiner
  • Gewohnheit die silberne Tabaksdose mit dem Zeigefinger um ihre Achse
  • drehte, sagte er zu Tentennikow: »Sie haben alles was das Herz begehrt,
  • Andrei Iwanowitsch; nur eins fehlt Ihnen noch.«
  • »Das wäre?« fragte jener, indem er eine krause Rauchwolke in die Luft
  • blies.
  • »Eine Lebensgefährtin,« versetzte Tschitschikow. Andrei Iwanowitsch
  • entgegnete nichts, und damit war das Gespräch für dies Mal zu Ende.
  • Tschitschikow ließ sich jedoch nicht einschüchtern, suchte sich einen
  • andern Zeitpunkt aus -- diesmal war es _vor_ dem Abendbrot -- und sagte
  • plötzlich mitten in der Unterhaltung: »Wirklich, Andrei Iwanowitsch, Sie
  • sollten heiraten!«
  • Aber Tentennikow entgegnete auch nicht ein Wort, gerad als ob ihm dieses
  • Thema unangenehm sei.
  • Allein Tschitschikow ließ sich nicht abschrecken. Das dritte Mal wählte
  • er wieder eine andre Zeit und zwar _nach_ dem Abendbrod, und sprach
  • folgendermaßen: »Nein wirklich, von welcher Seite ich mir Ihre
  • Lebensverhältnisse auch ansehe, ich komme immer wieder zur Überzeugung,
  • daß Sie heiraten müssen. Sie verfallen noch in Hypochondrie.«
  • Sei es daß Tschitschikows Worte diesmal besonders überzeugend waren,
  • oder daß Andrei Iwanowitsch heute besonders zur Aufrichtigkeit und
  • Offenherzigkeit geneigt war, er stieß einen Seufzer aus und sagte, indem
  • er wieder eine Rauchwolke aufsteigen ließ: »Bei allen Dingen muß man
  • Glück haben, man muß als Sonntagskind geboren werden, Pawel
  • Iwanowitsch.« Und er erzählte ihm alles, genau so wie es sich ereignet
  • hatte: die ganze Geschichte seiner Bekanntschaft mit dem General und
  • ihre Entzweiung.
  • Als Tschitschikow die bekannte Affäre Wort für Wort kennen gelernt
  • hatte, und hörte, daß wegen des einen kleinen Wörtchens »du« eine so
  • große Geschichte entstanden war, blieb er ganz verdutzt sitzen. Mehrere
  • Minuten lang sah er Tentennikow prüfend in die Augen, ohne entscheiden
  • zu können, ob er ein kompletter Narr oder bloß ein bißchen dumm sei.
  • »Andrei Iwanowitsch! ich bitte Sie!« sprach er endlich, indem er jenen
  • bei beiden Händen nahm: »Was ist denn das für eine Beleidigung? Was
  • finden Sie denn in dem Wörtchen »du« Beleidigendes?«
  • »Das Wort selbst enthält natürlich keine Beleidigung,« entgegnete
  • Tentennikow: »die Beleidigung lag in dem Sinn, in dem Ausdruck, mit dem
  • dieses Wort gesprochen wurde. >Du!< -- das soll heißen: >wisse, daß du
  • ein minderwertiges Subjekt bist; ich verkehre nur darum mit dir, weil
  • ich keinen besseren habe als dich; jetzt dagegen, wo die Fürstin
  • Jusjakin gekommen ist, bitte ich dich, dich daran zu erinnern, wo dein
  • eigentlicher Platz ist und dich an die Türe zu stellen.< _Das_ hat es zu
  • bedeuten!« Bei diesen Worten funkelten die Augen unseres sanften und
  • milden Andrei Iwanowitsch; in seiner Stimme zitterte die Erregung eines
  • aufs tiefste beleidigten Gefühls nach.
  • »Nun und wenn es sogar etwas Ähnliches zu bedeuten hätte? -- Was ist
  • denn dabei?« sagte Tschitschikow.
  • »Wie? Sie verlangen von mir, daß ich ihn nach diesem Benehmen noch
  • weiter besuche?«
  • »Ja, was ist denn das für ein Benehmen? Das kann man doch nicht einmal
  • ein Benehmen nennen,« sagte Tschitschikow kaltblütig.
  • »Wieso kein >Benehmen<,« fragte Tentennikow erstaunt.
  • »Das ist überhaupt kein Benehmen, Andrei Iwanowitsch. Das ist bloß so
  • eine Gewohnheit dieser Herren Generäle: sie duzen alle Leute. Und
  • schließlich, warum sollte man das einem so verdienten und geachteten
  • Mann nicht einmal gestatten?«
  • »Das ist ganz was andres,« versetzte Tentennikow, »wäre er nur ein alter
  • Herr oder ein armer Kerl, und nicht so eitel, stolz und empfindlich,
  • wäre er kein General, dann würde ich es ihm sehr gern erlauben, mich
  • _du_ zu nennen, und es sogar mit Respekt aufnehmen.«
  • »Tatsächlich, er ist ein Narr!« dachte Tschitschikow. »Einem zerlumpten
  • Kerl würde er es gestatten, einem General dagegen nicht!« Und nach
  • dieser Erwägung fuhr er laut fort: »Gut, meinetwegen, zugegeben, daß er
  • Sie beleidigt hat, aber Sie haben sich doch revanchiert: er hat Sie
  • beleidigt, und Sie haben ihm die Beleidigung zurückgegeben. Aber wie
  • kann man sich wegen einer solchen Bagatelle entzweien und eine Sache so
  • im Stiche lassen, die einem persönlich am Herzen liegt? Nein, da muß ich
  • schon um Entschuldigung bitten, das ist doch ... Wenn Sie sich einmal
  • ein Ziel gesteckt haben, dann müssen Sie auch drauf los gehen, komme was
  • da will. Wer achtet denn darauf, daß die Menschen einen anspeien. Alle
  • Menschen bespeien einander. Heute finden Sie keinen Menschen auf der
  • ganzen Welt, der nicht um sich schlägt und einen nicht anspuckt.«
  • Tentennikow war über diese Worte aufs höchste betroffen, er saß ganz
  • verblüfft da und dachte nur: »Ein zu seltsamer Mensch, dieser
  • Tschitschikow!«
  • »Ist das ein wunderlicher Kauz! dieser Tentennikow!« dachte
  • Tschitschikow, und er fuhr laut fort: »Andrei Iwanowitsch, lassen Sie
  • mich zu Ihnen sprechen, wie zu einem Bruder. Sie sind noch so
  • unerfahren. Erlauben Sie mir, daß ich die Sache ins Reine bringe. Ich
  • will zu Seiner Exzellenz hinfahren und ihm erklären, daß die Sache
  • Ihrerseits auf einem Mißverständnis beruht, und auf Ihre Jugend und Ihre
  • geringe Welt- und Menschenkenntnis zurückzuführen ist.«
  • »Ich habe nicht die Absicht, vor ihm zu kriechen!« sagte Tentennikow
  • gekränkt »und kann auch Sie nicht dazu zu ermächtigen!«
  • »Zum Kriechen bin ich nicht fähig,« versetzte Tschitschikow gleichfalls
  • gekränkt. »Ich bin nur ein Mensch. Ich kann mich irren und fehlen, aber
  • kriechen -- niemals! Entschuldigen Sie Andrei Iwanowitsch; ich meine es
  • zu gut mit Ihnen, als daß sie ein Recht hätten, meinen Worten einen so
  • beleidigenden Sinn unterzulegen.«
  • »Verzeihen Sie, Pawel Iwanowitsch, ich bin schuld!« sagte Tentennikow
  • gerührt und ergriff Tschitschikow dankbar bei beiden Händen. »Ich wollte
  • Sie wirklich nicht beleidigen. Ihre gütige Teilnahme ist mir sehr
  • wertvoll. Das schwöre ich Ihnen. Aber geben wir dies Gespräch auf, wir
  • wollen nie wieder über diese Sache reden!«
  • »Dann fahre ich eben, ohne einen besonderen Anlaß, zum General«, sprach
  • Tschitschikow.
  • »Wozu?« fragte Tentennikow, indem er Tschitschikow verwundert ansah.
  • »Ich will ihm meine Aufwartung machen!« versetzte Tschitschikow.
  • »Was für ein seltsamer Mensch ist doch dieser Tschitschikow!« dachte
  • Tentennikow.
  • »Was für ein seltsamer Mensch ist doch dieser Tentennikow!« dachte
  • Tschitschikow.
  • »Ich fahre morgen gegen zehn Uhr früh zu ihm, Andrei Iwanowitsch. Ich
  • glaube je eher man einem solchen Herrn seinen Achtungsbesuch macht, um
  • so besser. Leider ist bloß meine Kutsche noch nicht in der rechten
  • Verfassung, ich möchte Sie daher nur um die Erlaubnis bitten, Ihren
  • Wagen zu benutzen. Ich möchte schon morgen so gegen zehn Uhr zu ihm
  • hinfahren!«
  • »Aber natürlich. Welch eine Bitte! Sie haben nur zu befehlen. Nehmen Sie
  • jeden Wagen, welchen Sie wollen: es steht alles zu Ihrer Verfügung!«
  • Nach dieser Unterhaltung verabschiedeten sie sich und begaben sich ein
  • jeder auf sein Zimmer, um schlafen zu gehen und nicht ohne beiderseits
  • über die Eigenheiten des andern nachzudenken.
  • Und doch: war es nicht merkwürdig: als am andern Tage der Wagen vorfuhr
  • und Tschitschikow mit der Gewandtheit eines Militärs, in einem neuen
  • Frack, weißer Weste und weißer Halsbinde hineinsprang und davonfuhr, um
  • dem General seine Aufwartung zu machen: -- da geriet Tentennikow in eine
  • solche Aufregung, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. All seine
  • eingerosteten und schlummernden Gedanken kamen in Unruhe und Bewegung.
  • Eine nervöse Raserei bemächtigte sich plötzlich mit aller Gewalt dieses
  • schläfrigen und in Bequemlichkeit und Müßiggang versunkenen Träumers.
  • Bald setzte er sich auf das Sofa, bald trat er ans Fenster, bald nahm er
  • ein Buch zur Hand, bald wieder versuchte er es, über etwas nachzudenken.
  • Verlorene Liebesmüh! Er konnte keinen Gedanken fassen. Oder er versuchte
  • es, an gar nichts zu denken. Vergebliches Bemühen! Armselige Bruchstücke
  • eines Gedankens, allerhand Gedankenendchen und -fragmente drängten sich
  • in sein Hirn und bestürmten seinen Schädel. »Ein merkwürdiger Zustand!«
  • sagte er und setzte sich ans Fenster, um auf den Weg hinauszublicken,
  • der den dunklen Eichenwald durchschnitt, und an dessen Ende eine
  • Staubwolke sichtbar war, welche der davonrollende Wagen aufgewirbelt
  • hatte. Doch verlassen wir Tentennikow und folgen wir Tschitschikow.
  • Zweites Kapitel.
  • In einer knappen halben Stunde trugen die braven Rosse Tschitschikow
  • über die etwa zehn Werst lange Strecke hinweg -- erst ging es durch den
  • Eichwald, dann durch das Kornfeld, das zwischen langen Streifen frisch
  • gepflügten Ackerlandes lag und im ersten Grün des Frühlings prangte,
  • dann wieder den Rand des Gebirgs entlang, wo sich in einem fort
  • herrliche Fernblicke auftaten -- und endlich durch eine breite
  • Lindenallee, deren Laub sich eben zu entfalten begann, bis zu dem Gute
  • des Generals. Die Lindenallee ging bald in eine Allee schlanker Pappeln
  • über, die unten in geflochtene Körbe eingefaßt waren, und führte zuletzt
  • auf ein gußeisernes Torgitter, hinter dem man den prächtigen, mit
  • reichem krausem Schnitzwerk verzierten Giebel des Herrenhauses
  • erblickte, der von acht Säulen mit Korinthischen Kapitälen getragen
  • wurde. Überall roch es nach Ölfarbe, die allem einen neuen Anstrich gab,
  • und keinem Ding Zeit ließ, alt zu werden. Der Hof war so glatt und
  • sauber, daß man über Parkett zu wandeln glaubte. Als der Wagen vor dem
  • Hause Halt machte, sprang Tschitschikow respektvoll heraus und betrat
  • die Treppe. Er ließ sich gleich beim General anmelden, und wurde direkt
  • in dessen Arbeitszimmer geführt. Die majestätische Gestalt des Generals
  • machte einen tiefen Eindruck auf unseren Helden. Er hatte einen
  • zugeknöpften Sammetschlafrock von himbeerroter Farbe an, sein Blick war
  • offen, sein Gesicht männlich, er trug einen großen Schnurrbart und einen
  • stattlichen graumelierten Backenbart und Haare, die im Nacken ganz kurz
  • geschnitten waren; sein Hals war breit und dick oder »dreistöckig«, wie
  • man bei uns zu sagen pflegt, d. h., er wies drei Längsfalten und eine
  • Querfalte auf: mit einem Wort, es war einer von jenen prächtigen
  • Generalstypen, an denen das Jahr 1812 so reich war. General
  • Betrischtschew war, wie wir alle, mit einem ganzen Haufen von Vorzügen
  • und Mängeln gesegnet. Diese wie jene waren jedoch, wie das bei uns
  • Russen oft zu geschehen pflegt, recht bunt durcheinandergewürfelt:
  • Großmut und Aufopferungsfähigkeit, in entscheidenden Momenten auch
  • Tapferkeit, Verstand und bei alledem eine genügende Dosis Eitelkeit,
  • Ehrgeiz, Eigensinn und kleinliche Empfindlichkeit, ohne die der Russe
  • nun einmal nicht auskommen kann, wenn er nichts zu tun hat und nichts
  • ihn zum Handeln bestimmt. Er hatte eine starke Abneigung gegen alle die,
  • welche ihm den Rang abgelaufen hatten und äußerte sich in sarkastischer
  • Weise über sie. Am meisten aber hatte einer seiner früheren Kollegen von
  • ihm zu leiden, denn der General war fest davon überzeugt, daß er in
  • bezug auf Verstand und Fähigkeiten hoch über jenem stand, und doch hatte
  • ihn der andere überholt und war bereits Generalgouverneur zweier
  • Provinzen. Unglücklicherweise befand sich auch noch eins von den Gütern
  • des Generals in einer dieser Provinzen, sodaß dieser gewissermaßen von
  • seinem Kollegen abhängig war. Der General rächte sich reichlich; er
  • sprach bei jeder Gelegenheit von seinem Nebenbuhler, kritisierte eine
  • jede seiner Verordnungen und erklärte jede seiner Maßnahmen und
  • Handlungen für den Gipfelpunkt des Unverstandes und der Torheit. Alles
  • an ihm hatte einen gewissen merkwürdigen Anstrich, vor allem auch seine
  • Bildung. Er war nämlich ein großer Freund und Vorkämpfer der Aufklärung;
  • auch wollte er immer mehr und alles besser wissen, als andre Leute und
  • daher hatte er die Menschen nicht gern, die etwas wußten, was ihm
  • unbekannt war. Mit einem Wort, er liebte es durch seinen Verstand zu
  • glänzen. Einen großen Teil seiner Erziehung hatte er im Auslande
  • genossen, trotzdem aber wollte er den russischen Aristokraten spielen.
  • Bei einem Charakter, der soviel Härten und soviel starke hervorstechende
  • Gegensätze aufwies, war es nur natürlich, daß er im Dienst beständig mit
  • Unannehmlichkeiten zu kämpfen hatte, was ihn schließlich auch
  • veranlaßte, seinen Abschied zu nehmen. Die Schuld, daß es so gekommen
  • war, schob er auf eine gewisse feindliche Partei, denn er hatte nicht
  • den Mut, sich selbst für etwas verantwortlich zu machen. Auch nach
  • seinem Abschied behielt er seine vornehme und majestätische Haltung. Ob
  • er nun einen Frack, einen Gehrock oder einen Schlafrock anhatte -- er
  • blieb sich immer gleich. Von seiner Stimme bis zur letzten Geste und
  • Bewegung war alles an ihm gebieterisch und majestätisch, und flößte
  • jedem unter ihm Stehenden wenn auch nicht Achtung, so doch wenigstens
  • Furcht oder Scheu ein.
  • Tschitschikow fühlte beides: Ehrfurcht _und_ Scheu. Er neigte den Kopf
  • ehrerbietig zur Seite, streckte die Hände aus, wie wenn sie ein Tablett
  • mit Teetassen ergreifen wollten, verbeugte sich mit bewundernswürdiger
  • Gewandtheit fast bis zur Erde und sagte: »Ich habe es für meine Pflicht
  • gehalten, Exzellenz meine Aufwartung zu machen. Die hohe Achtung vor den
  • Tugenden der Männer, die das Vaterland auf den Schlachtfeldern
  • verteidigten, veranlaßte mich, mich Eurer Exzellenz persönlich
  • vorzustellen.«
  • Dem General schien diese Introduktion nicht zu mißfallen. Er machte eine
  • sehr gnädige Kopfbewegung und sagte: »Ich freue mich sehr, Ihre
  • Bekanntschaft zu machen. Bitte nehmen Sie Platz! Wo haben Sie gedient?«
  • »Das Feld meiner Tätigkeit,« sprach Tschitschikow, indem er sich im
  • Lehnstuhl niederließ -- aber nicht in der Mitte, sondern ein wenig
  • seitwärts auf der Kante -- und mit der Hand die Stuhllehne festhielt,
  • »das Feld meiner Tätigkeit begann im Kameralhof, Exzellenz, um seinen
  • weiteren Verlauf an verschiedenen Stellen zu nehmen; ich habe im
  • Hofgericht, in einer Baukommission und im Zollamt gedient. Mein Leben
  • läßt sich mit einem Schiff inmitten stürmischer Wogen vergleichen,
  • Exzellenz. Ich kann wohl sagen, ich bin mit Geduld aufgesäugt und
  • großgepäppelt, ich selbst bin sozusagen die personifizierte Geduld.
  • Wieviel ich allein von meinen Feinden zu erdulden hatte, das vermag
  • weder ein Wort noch der Pinsel eines Künstlers zu schildern. Erst jetzt
  • an meinem Lebensabend suche ich mir einen Winkel, wo ich den Rest meiner
  • Tage verbringen kann. Einstweilen habe ich mich bei einem der nächsten
  • Nachbarn Eurer Exzellenz niedergelassen ...«
  • »Bei wem, wenn ich fragen darf?«
  • »Bei Tentennikow, Exzellenz.«
  • Der General runzelte die Stirn.
  • »Er bereut es schwer, Exzellenz, daß er Eurer Exzellenz nicht die
  • schuldige Achtung erwiesen hat.«
  • »Achtung! Wovor?«
  • »Vor den Verdiensten Eurer Exzellenz,« sagte Tschitschikow. »Er kann
  • bloß das rechte Wort nicht finden ... Er sagt: >Wenn ich Seiner
  • Exzellenz nur irgendwie ... denn ich weiß doch die Männer zu schätzen,
  • die das Vaterland gerettet haben,< sagt er.«
  • »Ja, was will er denn? ... Ich bin ihm doch garnicht böse!« versetzte
  • der General, der schon weit milder gestimmt war. »Ich habe ihn herzlich
  • lieb gewonnen und bin überzeugt, daß er mit der Zeit noch ein sehr
  • nützlicher Mensch werden kann.«
  • »Sehr richtig bemerkt, Exzellenz,« fiel Tschitschikow ein. »Ein sehr
  • nützlicher Mensch; er ist so sprachgewandt und schreibt auch sehr
  • schön.«
  • »Aber ich glaube er schreibt allerhand Dummheiten. Ich glaube er macht
  • Verse oder so etwas.«
  • »Oh nein, Exzellenz, durchaus keine Dummheiten. Er schreibt an einem
  • sehr ernsten und bedeutenden Werke. Er schreibt .... eine Geschichte,
  • Exzellenz ....«
  • »Eine Geschichte? ... Was für eine Geschichte?«
  • »Eine Geschichte« ... hier hielt Tschitschikow ein wenig inne, war es
  • nun, weil ein General vor ihm saß, oder wollte er der Sache bloß eine
  • größere Bedeutung beilegen, genug er fügte hinzu: »eine Geschichte der
  • Generäle, Exzellenz!«
  • »Wie? der Generäle? Welcher Generäle?«
  • »Der Generäle im allgemeinen, Exzellenz, überhaupt aller Generäle ...
  • das heißt, ich wollte eigentlich sagen, der _vaterländischen_ Generäle.«
  • Tschitschikow fühlte, daß er sich gar zu weit verrannt hatte, und war
  • daher sehr verlegen. Er hätte vor Ärger ausspucken mögen und sagte zu
  • sich selbst: Herrgott, was rede ich da für einen Blödsinn.
  • »Entschuldigen Sie, ich verstehe noch nicht ganz ... wie ist denn das?
  • Soll es die Geschichte einer bestimmten Epoche, oder sollen es einzelne
  • Biographieen werden. Und dann: handelt es sich um sämtliche Generäle die
  • existiert, oder nur um die, die am Feldzug des Jahres 1812 teilgenommen
  • haben?«
  • »Seht richtig, Exzellenz, nur um die letzteren!« Und er dachte sich:
  • »Schlagt mich tot, ich verstehe kein Wort!«
  • »Ja, warum kommt er denn dann nicht zu mir! Ich könnte ihm äußerst
  • interessantes Material geben!«
  • »Er hat nicht den Mut, Exzellenz!«
  • »Was für ein Unsinn! Wegen irgend eines dummen Wortes, das unter uns
  • gefallen ist ... Ich bin doch gar nicht so ein Mensch. Ich will
  • meinetwegen selbst zu ihm hinfahren.«
  • »Das würde er nie zugeben, er wird selbst kommen,« sagte Tschitschikow,
  • er hatte sich schon ganz wieder erholt und dachte sich dabei: »Hm! die
  • Generäle kommen mir aber gerade zupaß; und dabei hat meine Zunge doch
  • ganz frech darauflos geschwätzt!«
  • In dem Arbeitszimmer des Generals hörte man ein Geräusch. Die Nußholztür
  • eines geschnitzten Schrankes öffnete sich von selbst. Auf der Rückseite
  • der Tür erschien das lebende Bild eines Mädchens, welches die Türklinke
  • in der Hand hielt. Wenn auf dem dunkelen Hintergrunde des Zimmers
  • plötzlich ein hell von Lampen erleuchtetes Lichtbild erschienen wäre, es
  • hätte durch sein plötzliches Erscheinen keinen so gewaltigen Eindruck
  • hervorbringen können, wie diese liebliche Gestalt. Sie war offenbar
  • hereingekommen, um etwas zu sagen, aber als sie einen unbekannten
  • Menschen im Zimmer sah --. Mit ihr zugleich schien ein Sonnenstrahl in
  • die Stube gedrungen zu sein, und das ganze finstere Gemach des Generals
  • schien zu leuchten und zu lächeln. Tschitschikow konnte sich im ersten
  • Moment keine Rechenschaft ablegen, was für ein Wesen eigentlich vor ihm
  • stand. Es war schwer zu sagen, in welchem Lande sie geboren war, denn
  • man hätte nicht so leicht ein so reines und vornehmes Profil finden
  • können, es sei denn auf antiken Kameen. Schlank und leicht wie ein Pfeil
  • schien ihre edle Gestalt alles zu überragen. Aber das war nur eine
  • schöne Täuschung. Sie war keineswegs sehr groß. Dieser Schein rührte
  • bloß von der wunderbaren Harmonie her, in der all ihre Glieder standen.
  • Das Kleid, das sie anhatte, schmiegte sich ihrer Gestalt so wohltuend
  • an, daß man hätte glauben können, die berühmtesten Schneiderinnen wären
  • zusammengekommen, um zu beratschlagen, was ihr am besten stehen möchte.
  • Aber auch das war nur eine Täuschung. Sie dachte nicht lange über ihre
  • Toilette nach, alles ergab sich wie von selbst: an zwei, drei Stellen
  • hatte die Nadel ein kaum zugeschnittenes Stück des einfarbigen Stoffes
  • berührt und dieses hatte sich selbst in edlen Falten um ihren Leib
  • gelegt; hätte man dieses Gewand samt ihrer Trägerin im Bilde
  • festgehalten, so hätten alle modischen Damen und Fräuleins ausgesehen,
  • wie bunte Kühe oder irgend eine Schöne vom Trödelmarkt. Und hätte man
  • sie mit diesen Falten und in diesem sie umhüllenden Gewande in Marmor
  • gehauen, so hätte man dieses Bildnis das Werk eines genialen Künstlers
  • genannt. Nur einen Mangel hatte sie: sie war fast zu zart und
  • schmächtig.
  • »Darf ich Ihnen mein Nesthäkchen vorstellen!« sagte der General, indem
  • er sich an Tschitschikow wandte. »Übrigens verzeihen Sie, ich kenne
  • Ihren Vor- und Vaternamen noch nicht ...«
  • »Muß man denn den Vor- und Vaternamen eines Mannes kennen, der sich noch
  • durch keinerlei Vorzüge und Tugenden ausgezeichnet hat,« entgegnete
  • Tschitschikow, während er seinen Kopf bescheiden auf die Seite neigte.
  • »Immerhin ... So etwas muß man doch wissen!«
  • »Pawel, Iwanowitsch, Exzellenz!« sagte Tschitschikow, indem er sich
  • beinahe mit der Gewandtheit eines Militärs verbeugte und mit der
  • Elastizität eines Gummiballs zurücksprang.
  • »Ulinka!« fuhr der General fort. »Pawel Iwanowitsch hat mir soeben eine
  • äußerst interessante Neuigkeit mitgeteilt. Unser Nachbar Tentennikow ist
  • gar kein so dummer Mensch, wie wir angenommen haben. Er arbeitet an
  • einem großen Werk: an einer Geschichte der Generäle des Jahres 1812.«
  • »Ja, wer hat denn gesagt, daß er dumm ist,« sagte sie schnell. »Das
  • konnte doch höchstens dieser Wischnepokromow glauben, dem du so
  • vertraust, Papa, und der bloß ein hohler und gemeiner Mensch ist.«
  • »Warum denn gemein? Er ist etwas oberflächlich, das ist wahr!« sagte der
  • General.
  • »Er ist auch etwas gemein und etwas schlecht und nicht nur
  • oberflächlich. Wer seine Brüder so behandelt, und seine eigene Schwester
  • aus dem Hause jagen konnte, das ist ein abscheulicher, häßlicher
  • Mensch.«
  • »Aber das erzählt man doch bloß von ihm.«
  • »Solche Dinge erzählt man nicht umsonst. Ich kann dich nicht verstehen,
  • Papa. Du hast ein selten gutes Herz und doch kannst du mit einem
  • Menschen verkehren, der tief unter dir steht und von dem du weißt, daß
  • er schlecht ist.«
  • »Sehen Sie,« sagte der General lächelnd zu Tschitschikow. »So liegen wir
  • uns stets in den Haaren!« Dann wandte er sich wieder zu Ulinka und fuhr
  • fort: »Liebes Herzchen! Ich kann ihn doch nicht davonjagen!« sagte der
  • General.
  • »Warum denn davonjagen? Aber man braucht ihn doch nicht mit soviel
  • Achtung zu behandeln und ihn gleich in sein Herz zu schließen!«(7)
  • Hier hielt es Tschitschikow für seine Pflicht, gleichfalls ein Wörtchen
  • zu sagen.
  • »Jedes Wesen verlangt nach Liebe,« sprach Tschitschikow. »Was soll man
  • machen? Auch das Tier liebt, daß man es streichelt, es steckt seine
  • Schnauze aus dem Stall heraus, als ob es sagen wollte: komm, streichele
  • mich.«
  • Der General fing an zu lachen. »Ganz recht: so ist es. Es steckt seine
  • Schnauze hervor und bittet: da streichele mich! Ha, ha, ha! Nicht bloß
  • die Schnauze, der ganze Mensch steckt tief im Dreck, und doch verlangt
  • er, daß man ihm sozusagen Teilnahme erweise .... Ha, ha, ha!« Der
  • General schüttelte sich vor Lachen. Seine Schultern, welche einstmals
  • dicke Achselklappen getragen hatten, bebten, als ob sie auch heute noch
  • mit dicken Achselklappen geschmückt wären.
  • Auch Tschitschikow lachte kurz auf, stimmte jedoch sein Gelächter aus
  • Achtung vor dem General mehr auf den Buchstaben e ab: he, he, he, he,
  • he, he! Auch er schüttelte sich vor Lachen, nur bewegten sich seine
  • Schultern nicht, denn sie trugen keine dicke Achselklappen.
  • »So ein Kerl beschwindelt und bestiehlt erst den Staat und verlangt dann
  • noch, daß man ihn dafür belohnen soll! Wer wird sich denn mühen und
  • abquälen, ohne Ansporn und Aussicht auf eine Belohnung!« sagte er. »Ha,
  • ha, ha, ha!«
  • Ein schmerzliches Gefühl verdüsterte das edle, liebliche Gesicht des
  • Mädchens: »Papa! Ich verstehe nicht, wie du bloß lachen kannst! Mich
  • stimmen solche Schlechtigkeiten und solche gemeine Handlungen bloß
  • traurig. Wenn ich sehe, wie irgend ein Mensch ganz öffentlich und vor
  • allen Leuten einen Betrug verübt, und ihn nicht die Strafe der
  • allgemeinen Verachtung trifft, so weiß ich kaum noch, was in mir
  • vorgeht, dann werde ich selbst böse und schlecht; ich denke und denke
  • und ....« Sie war nahe daran, in Tränen auszubrechen.
  • »Bitte, sei uns nur nicht böse,« sagte der General. »Wir sind doch ganz
  • unschuldig an der Sache. Nicht wahr?« fuhr er fort, indem er sich an
  • Tschitschikow wandte. »So, nun gib mir einen Kuß und geh auf dein
  • Zimmer, ich muß mich gleich umkleiden, denn es ist bald Zeit zum
  • Mittagessen.«
  • »Du ißt doch bei mir?« sagte der General und warf Tschitschikow einen
  • Blick zu.
  • »Wenn Eure Exzellenz bloß ...«
  • »Bitte ohne Umstände. Es wird wohl noch für dich reichen. Gott sei Dank!
  • Wir haben heute Kohlsuppe.«
  • Tschitschikow streckte seine beiden Hände aus und ließ den Kopf
  • ehrfurchtsvoll herabsinken, sodaß er alle Gegenstände im Zimmer einen
  • Augenblick aus den Augen verlor und nur noch die Spitzen seiner Schuhe
  • sehen konnte. Nachdem er eine Weile in dieser respektvollen Stellung
  • verharrt war, und hierauf den Kopf wieder erhob, sah er Ulinka schon
  • nicht mehr. Sie war verschwunden. An ihrer Stelle stand ein Riese von
  • einem Kammerdiener mit einem buschigen Schnauzbart und wohlgepflegtem
  • Backenbart, der, eine silberne Schüssel und ein Waschbecken in den
  • Händen hielt.
  • »Du erlaubst wohl, daß ich mich in deiner Gegenwart umkleide!«
  • »Sie dürfen sich nicht bloß in meiner Gegenwart umkleiden, vielmehr
  • steht es Ihnen frei, in meiner Gegenwart alles zu tun, was Ihnen
  • beliebt, Exzellenz.«
  • Der General zog die eine Hand aus dem Schlafrock und streifte sich die
  • Hemdärmel an den athletischen Armen in die Höhe. Hierauf begann er sich
  • zu waschen, wobei er um sich spritzte und prustete wie eine Ente. Das
  • Seifenwasser stob nur so durch das Zimmer.
  • »Ja, ja, sie wollen alle einen Ansporn und eine Belohnung haben,« sagte
  • er indem er sich seinen dicken Hals rings herum sorgfältig abtrocknete
  • ... »Streichele ihn, streichele ihn nur. Ohne Belohnung hört er nun
  • einmal nicht auf zu stehlen!«
  • Tschitschikow befand sich in selten guter Laune. Eine Art Begeisterung
  • war plötzlich über ihn gekommen. »Der General ist ein lustiger und
  • gutmütiger alter Herr! Man könnte es am Ende versuchen!« dachte er und
  • als er sah, daß der Kammerdiener mit dem Waschbecken hinausgegangen war,
  • rief er aus: »Exzellenz! Sie sind so gütig und aufmerksam gegen
  • jedermann! Ich habe eine große Bitte an Sie zu richten.«
  • »Was für eine Bitte?« -- Tschitschikow sah sich vorsichtig um.
  • »Ich habe einen Onkel, einen alten sehr gebrechlichen Herrn. Er hat
  • dreihundert Seelen und zweitausend ... und ich bin sein einziger Erbe.
  • Er kann sein Gut nicht mehr allein verwalten, weil er schon zu alt und
  • zu schwach dazu ist, mir aber will er es auch nicht überlassen. Er gibt
  • einen höchst seltsamen Grund dafür an: >Ich kenne meinen Neffen nicht,<
  • sagt er, >vielleicht ist er ein Verschwender und Tunichtgut. Er soll mir
  • erst beweisen, daß er ein zuverlässiger Mensch ist, und sich selbst erst
  • einmal dreihundert Seelen erwerben, dann will ich ihm meine dreihundert
  • dazugeben.<«
  • »Erlauben Sie mal! Ist der Mann denn ganz närrisch?« fragte der General.
  • »Das wäre noch nicht das Schlimmste, wenn er bloß ein Narr wäre. Das
  • wäre sein eigener Schade. Aber versetzen Sie sich auch in meine Lage,
  • Exzellenz ... Denken Sie, er hat eine Schließerin die bei ihm wohnt, und
  • diese Schließerin hat Kinder. Da muß man sich doch in acht nehmen, daß
  • er ihr nicht noch sein ganzes Vermögen vermacht.«
  • »Der alte Narr hat seinen Verstand verloren, das ist das Ganze,« sagte
  • der General. »Ich sehe nur keine Möglichkeit, wie ich Ihnen hier helfen
  • könnte!« fuhr er fort, indem er Tschitschikow erstaunt ansah.
  • »Ich habe eine Idee, Exzellenz. Wenn Sie mir alle toten Seelen, die Sie
  • besitzen, überlassen wollten, Exzellenz, ich meine auf Grund eines
  • Kaufvertrages, ganz so als ob sie noch am Leben wären, dann könnte ich
  • dem Alten diesen Vertrag zeigen, und er müßte mir die Erbschaft
  • aushändigen.«
  • Jetzt aber lachte der General so laut auf, wie wohl noch nie ein Mensch
  • gelacht hat: So lang er war, sank er in den Lehnstuhl, warf den Kopf
  • über die Rücklehne und wäre beinahe erstickt. Das ganze Haus kam in
  • Bewegung. Der Kammerdiener erschien in der Türe, und die Tochter kam
  • ganz erschrocken herbeigelaufen.
  • »Papa, was ist geschehen?« rief sie entsetzt und sah ihn bestürzt an.
  • Aber der General vermochte lange Zeit hindurch keinen Laut von sich zu
  • geben. »Sei ruhig, es ist nichts, liebes Kind. Ha, ha, ha. Geh nur auf
  • dein Zimmer. Wir kommen gleich zum Mittagessen. Beunruhige dich nicht.
  • Ha, ha, ha.«
  • Und nachdem der General ein paarmal nach Luft geschnappt hatte, fing er
  • mit erneuter Kraft an zu lachen; laut hallte es durch das ganze Haus,
  • vom Vorzimmer bis zur letzten Stube.
  • Tschitschikow wurde ein wenig unruhig.
  • »Der arme Onkel! Wie der zum Narren gehalten werden soll! Ha, ha, ha.
  • Wie der dasitzen wird, wenn er statt der lebenden Bauern lauter tote
  • kriegt. Ha, ha!«
  • »Es geht schon wieder los!« dachte Tschitschikow. »Ist der kitzlich! Er
  • wird noch platzen!«
  • »Ha, ha, ha!« fuhr der General fort. »So ein Esel! Wie einem nur so
  • etwas einfallen kann: Geh, erwirb dir mal erst selbst dreihundert
  • Seelen, dann sollst du noch weitere dreihundert dazu haben! Er ist
  • wahrhaftig ein Esel!«
  • »Ganz recht, Exzellenz, er ist wirklich ein Esel!«
  • »Na, aber dein Scherz ist auch nicht ohne! Den Alten mit toten Bauern
  • abzuspeisen! Ha, ha, ha! Bei Gott, ich würde viel drum geben, könnte ich
  • nur dabei sein, wenn du ihm den Kaufvertrag überreichst! Was ist er
  • eigentlich für ein Mensch? Wie sieht er aus? Ist er sehr alt?«
  • »Gegen achtzig Jahre!«
  • »Und ist er noch rüstig? Kann er noch gut gehen? Er muß doch noch recht
  • kräftig sein, wenn er mit der Schließerin zusammenlebt?«
  • »Keine Spur! Exzellenz. Er ist so hilflos wie ein Kind!«
  • »So ein Narr! Nicht wahr? Er ist doch ein Narr!«
  • »Sehr richtig, Exzellenz! Ein vollkommener Narr!«
  • »Und fährt er noch spazieren? Macht er Besuche? Ist er noch gut auf den
  • Beinen?«
  • »Ja, aber es wird ihm doch schon recht schwer.«
  • »So ein Narr! Aber er ist doch noch ganz rüstig? Wie? Hat er noch
  • Zähne?«
  • »Nur noch zwei, Eure Exzellenz!«
  • »So ein Esel! Sei mir nicht böse, Verehrtester. -- Er ist zwar dein
  • Onkel, aber ist _doch_ ein Esel.«
  • »Freilich ist er ein Esel, Exzellenz. Trotzdem er mein Verwandter ist
  • und es mir schwer wird, es einzugestehen, daß Sie recht haben, aber was
  • soll ich machen?«
  • Der gute Tschitschikow schwindelte. Es wurde ihm durchaus nicht schwer,
  • dies einzugestehen, um so weniger, als er schwerlich je solch einen
  • Onkel besessen hatte.
  • »Eure Exzellenz wollen also die Freundlichkeit haben ...«
  • »Dir die toten Seelen abzukaufen? Für diesen großartigen Gedanken sollst
  • du sie mitsamt dem Grund und Boden und ihrer jetzigen Wohnung haben. Du
  • darfst dir meinetwegen den ganzen Friedhof mitnehmen. Ha, ha, ha, ha.
  • Nein dieser Alte! Wird dem ein Streich gespielt! Ha, ha, ha, ha.«
  • Und das Gelächter des Generals hallte aufs neue durch alle Zimmer.[1]
  • [Fußnote 1: Hier fehlt ein größeres Stück, das den Übergang vom zweiten
  • zum dritten Kapitel bilden sollte.
  • Anm. d. Herausg.
  • ]
  • Drittes Kapitel.
  • Wenn der Oberst Koschkarjow wirklich verrückt ist, so wäre das garnicht
  • übel, sagte Tschitschikow, als er sich wieder unter offenem Himmel auf
  • freiem Felde befand. Alle menschlichen Behausungen lagen weit hinter
  • ihm; und er sah jetzt nichts mehr als das freie Himmelsgewölbe und zwei
  • kleine Wolken in der Ferne.
  • »Hast du dich auch ordentlich nach dem Wege zum Obersten Koschkarjow
  • erkundigt, Seliphan?«
  • »Sie wissen doch, Pawel Iwanowitsch, ich hatte soviel mit dem Wagen zu
  • tun, und da fand ich keine Zeit dazu. Aber Petruschka hat den Kutscher
  • nach dem Wege gefragt.«
  • »So ein Esel! Ich habe dir doch gesagt, daß du dich nicht auf Petruschka
  • verlassen sollst; Petruschka ist sicher wieder besoffen.«
  • »Das ist doch keine große Weisheit,« sagte Petruschka, indem er sich ein
  • wenig auf seinem Sitze umdrehte und nach Tschitschikow hinschielte. »Wir
  • müssen bloß den Berg hinabfahren, und dann geht's längs der Wiese
  • weiter, das ist das Ganze!«
  • »Und du hast wohl nichts außer Fusel in den Mund genommen! Das ist das
  • Ganze! Du bist mir der Rechte! Von dir kann man wohl auch sagen: der
  • Kerl setzt Europa durch seine Schönheit in Erstaunen.« Nach diesen
  • Worten strich sich Tschitschikow über sein Kinn und dachte: »Es ist doch
  • ein großer Unterschied zwischen einem gebildeten Mann der besseren
  • Stände und so einer groben Lakaienphysiognomie.«
  • Unterdessen rollte der Wagen schon den Berg hinab. Und wiederum sah man
  • nichts als Wiesen und weite mit Espen-Waldungen bepflanzte Flächen.
  • Leicht federnd glitt das bequeme Gefährt vorsichtig die kaum merkliche
  • Neigung des Berghanges hinab; dann ging es weiter an Wiesen, Feldern und
  • Windmühlen vorbei; donnernd rollte der Wagen über die Brücken und tanzte
  • mit Schwanken über das weiche, holprige Erdreich. Doch auch nicht _ein_
  • Hügel, noch eine einzige Unebenheit der Straße beunruhigten die weichen
  • Partieen unseres Reisenden auch nur im geringsten. Das war die reinste
  • Wonne und keine Equipage.
  • Weidenbüsche, dünne Erlen und Silberpappeln flogen rasch an ihnen vorbei
  • und streiften die beiden auf dem Bocke sitzenden Leibeigenen Seliphan
  • und Petruschka beständig mit ihren Zweigen. Dem letzteren rissen sie
  • sogar mehrmals die Mütze vom Kopf. Der gestrenge Lakai sprang in einem
  • fort vom Bock herab, schalt auf die dummen Bäume und auf den, der sie
  • gepflanzt hatte, aber er konnte sich trotzdem nicht entschließen, seine
  • Mütze anzubinden, oder sie mit der Hand festzuhalten, denn er hoffte,
  • dies sei das letzte Mal gewesen und es werde ihm nun nicht wieder
  • passieren. Bald gesellten sich noch Birken und hie und da eine Tanne zu
  • den Bäumen. Die Wurzeln waren dicht mit Gras bedeckt, auf dem blaue
  • Schwertlilien und gelbe Waldtulpen wuchsen. Der Wald wurde immer
  • dunkeler und drohte die Reisenden in undurchdringliche Nacht
  • einzuhüllen. Da blitzte plötzlich von allen Seiten zwischen Ästen und
  • Baumstämmen ein heller Lichtschimmer, gleich einem leuchtenden
  • Spiegelreflexe auf. Die Bäume traten auseinander, die glänzende Fläche
  • wurde immer größer ... vor ihnen lag ein See -- ein mächtiger
  • Wasserspiegel von etwa vier Werst in die Breite. Auf dem
  • gegenüberliegenden Ufer tauchten mehrere kleine Blockhütten auf. Dies
  • war das Dorf. Aus den Fluten drangen laute Schreie und Rufe hervor. Etwa
  • zwanzig Mann bis an den Gürtel, bis zu den Schultern oder bis zum Halse
  • im Wasser stehend, waren damit beschäftigt, ein Netz ans Ufer zu ziehen.
  • Dabei war ihnen ein Unfall passiert. Zugleich mit den Fischen war ihnen
  • ein wohlbeleibter Mann ins Netz geraten, der ungefähr ebenso breit als
  • lang war, und aussah wie eine Wassermelone oder wie ein Faß. Seine Lage
  • war eine verzweifelte und er schrie aus voller Kehle: »Dionys, du Klotz!
  • gib es doch dem Kosma! Kosma nimm doch dem Dionys das Tauende aus der
  • Hand. Stoß doch nicht so, du großer Thomas, komm stell dich hierher, wo
  • der kleine Thomas steht. Teufel! Ich sag's euch, ihr werdet noch das
  • Netz zerreißen.« Offenbar fürchtete sich die Wassermelone nicht für ihre
  • Person: ertrinken konnte sie nicht, dazu war sie zu dick, sie mochte die
  • tollsten Purzelbäume schlagen, um unterzutauchen, das Wasser trug sie
  • immer wieder empor; ja es hätten sich ihr ruhig noch zwei Personen auf
  • den Rücken setzen können, sie hätte sie dennoch über Wasser gehalten wie
  • eine eigensinnige Schweinsblase und höchstens ein wenig gestöhnt und mit
  • der Nase Blasen ausgepustet. Aber der Mann hatte große Angst, das Netz
  • könne reißen und die Fische könnten entschlüpfen, und daher mußten ihn
  • mehrere Menschen zugleich mit dem Netz an Stricken ans Ufer ziehen.
  • »Das ist wohl der Gutsherr, der Oberst Koschkarjow,« sagte Seliphan.
  • »Warum?«
  • »Sehen Sie doch bloß, was er für einen Körper hat. Der ist viel weißer
  • als bei den andern, und auch sein Umfang ist beträchtlich, wie sich's
  • für einen vornehmen Herrn schickt.«
  • Unterdessen hatte man den im Netz gefangenen Gutsherrn schon bedeutend
  • näher ans Ufer herangezogen. Als er wieder Boden unter seinen Füßen
  • fühlte, richtete er sich auf, und bemerkte in demselben Augenblick die
  • den Fahrdamm herabrollende Equipage nebst ihrem Insassen Tschitschikow.
  • »Haben Sie schon zu Mittag gegessen?« rief der Herr ihm entgegen, indem
  • er mit den gefangenen Fischen in der Hand ans Ufer trat. Er steckte noch
  • ganz im Netze drin, etwa wie zur Sommerzeit ein Damenhändchen in einem
  • durchbrochenen Handschuh, hielt die eine Hand wie einen Schirm über die
  • Augen, um sich gegen die Sonne zu schützen und die andre etwas tiefer
  • unten, ungefähr in der Stellung der Mediceischen Venus, die eben dem
  • Bade entsteigt.
  • »Nein,« versetzte Tschitschikow, nahm die Mütze ab und grüßte
  • verbindlichst aus der Kutsche.
  • »Nun dann danken Sie ihrem Schöpfer!«
  • »Wieso?« fragte Tschitschikow neugierig, die Mütze über dem Kopfe
  • haltend.
  • »Sie werden gleich sehen! He, kleiner Thomas! Laß das Netz los, und nimm
  • den Stör aus dem Behälter heraus. Kosma, du Klotz, geh, hilf ihm!«
  • Die zwei Fischer zogen den Kopf eines Ungeheuers aus dem Behälter hervor
  • -- »Seht mal, was für ein Fürst! Der hat sich aus dem Flusse hierher
  • verirrt!« rief der kugelrunde Herr. »Fahren Sie nur in den Hof hinein!
  • Kutscher nimm den unterm Weg durch den Gemüsegarten! Lauf doch großer
  • Thomas, du Holzklotz, mach das Gartentor auf! Er wird Sie begleiten, ich
  • komme gleich nach ...«
  • Der langbeinige und barfüßige große Thomas lief, ganz so wie er war, im
  • bloßen Hemde vor dem Wagen her durch das ganze Dorf. Vor jeder Hütte
  • hingen allerhand Fischereigerätschaften, Netze, Reusen usw.; alle Bauern
  • waren Fischer; dann öffnete Thomas das Gitter des Gartens, und der Wagen
  • fuhr zwischen Gemüsebeeten hindurch nach einem offenen Platz in der Nähe
  • der Dorfkirche. Etwas weiter hinter der Kirche sah man die Dächer der
  • Gutsgebäude.
  • »Dieser Koschkarjow ist etwas spleenig!« dachte Tschitschikow.
  • »So, da bin ich!« erscholl eine Stimme von der Seite! Tschitschikow sah
  • sich um. Der Gutsherr fuhr in einem grasgrünen Nankingrock, gelben
  • Beinkleidern und ohne Halsbinde wie ein Kupido neben ihm her. Er saß
  • seitwärts in der Droschke und nahm den ganzen Sitz ein. Tschitschikow
  • wollte ihm etwas sagen, aber der Dicke war bereits wieder verschwunden.
  • Gleich darauf erschien sein Wagen wieder an der Stelle, wo das Netz mit
  • den Fischen herausgezogen worden war, und wieder hörte man die Stimmen
  • rufen: >Großer Thomas, kleiner Thomas! Kosma und Denys!< Als aber
  • Tschitschikow bei dem Portale des Herrenhauses vorfuhr, sah er den
  • dicken Gutsbesitzer zu seinem größten Erstaunen schon auf der Treppe
  • stehen, wo er den Ankömmling in Empfang nahm und freundschaftlichst in
  • seine Arme schloß. Wie er so schnell hierhergeflogen war -- dies blieb
  • ein Rätsel. Man küßte sich dreimal kreuzweise nach alter russischer
  • Sitte: der Gutsherr war ein Mann alten Schlages.
  • »Ich habe Ihnen Grüße von Seiner Exzellenz zu überbringen,« sagte
  • Tschitschikow.
  • »Von welcher Exzellenz?«
  • »Von Ihrem Verwandten, dem General Alexander Dimitriewitsch.«
  • »Wer ist dieser Alexander Dimitriewitsch?«
  • »General Betrischtschew,« versetzte Tschitschikow ein wenig betroffen.
  • »Ich kenne ihn nicht,« entgegnete jener erstaunt.
  • Tschitschikows Verwunderung wurde mit jedem Augenblick größer.
  • »Ja, wie denn nur ...? Ich habe doch hoffentlich das Vergnügen, mit dem
  • Herrn Oberst Koschkarjow zu sprechen?«
  • »Nein hoffen Sie lieber nicht! Sie befinden sich nicht bei ihm, sondern
  • bei mir. Peter Petrowitsch Petuch! Petuch![2] Peter Petrowitsch!«
  • versetzte der Hausherr.
  • Tschitschikow war starr vor Staunen. »Nicht möglich?« sagte er, indem er
  • sich an Seliphan und Petruschka wandte, die gleichfalls mit offenem
  • Munde dastanden, und die Augen weit aufsperrten. Der eine saß auf dem
  • Bock, der andere stand an der Wagentüre. »Was habt ihr bloß gemacht, ihr
  • Esel? Ich hab euch doch gesagt, ihr sollt zum Obersten Koschkarjow
  • fahren ... Das ist doch Peter Petrowitsch Petuch ...«
  • [Fußnote 2: Petuch = deutscher Hahn.]
  • »Das habt ihr fein gemacht, Jungens! Geht in die Küche, laßt euch ein
  • Glas Schnaps geben ...« rief Peter Petrowitsch Petuch. »Spannt die
  • Pferde aus und geht gleich ins Speisezimmer!«
  • »Ich schäme mich wirklich! So ein Irrtum! So plötzlich! ...« stammelte
  • Tschitschikow.
  • »Durchaus kein Irrtum. Warten Sie mal erst ab, wie Ihnen das Mittagessen
  • schmecken wird und dann sagen Sie, ob es ein Irrtum war. Ich bitte
  • schön,« sagte Petuch, indem er Tschitschikow am Arme nahm und ihn ins
  • Innere des Hauses führte. Hier kamen ihnen zwei Jünglinge in
  • Sommeranzügen entgegen; beide so dünn wie ein Paar Weidenruten und wohl
  • eine Arschin[3] länger als ihr Vater.
  • »Meine Söhne! Sie besuchen das Gymnasium und sind nur während der Ferien
  • hier ... Nikolascha bleib hier und unterhalte den Gast; und du,
  • Alexascha, komm mit mir.« Mit diesen Worten verschwand der Hausherr.
  • Tschitschikow blieb mit Nikolascha zurück und versuchte eine
  • Unterhaltung mit ihm anzuknüpfen. Nikolascha schien sich zu einem
  • lieblichen Früchtchen entwickeln zu wollen. Er erzählte Tschitschikow
  • sofort, es habe gar keinen Zweck, ein Provinzgymnasium zu besuchen, er
  • und sein Bruder haben die Absicht, nach Petersburg zu fahren, weil es
  • sich ja doch nicht lohne, in der Provinz zu leben ...
  • [Fußnote 3: Arschin = 2/3 Meter.]
  • »Ich verstehe schon,« dachte Tschitschikow, »euch locken die Boulevards
  • und Cafés ...« Dann aber fragte er ihn laut: »Sagen Sie, wie steht es
  • mit dem Gute Ihres Vaters?«
  • »Ich habe Hypotheken darauf!« fiel hier der Vater selbst ein, der
  • plötzlich wieder im Salon auftauchte: »Mehrere Hypotheken.«
  • »Schlimm, sehr schlimm!« dachte Tschitschikow: »Bald wird es kein Gut
  • mehr geben, auf dem keine Hypotheken lasten. Man muß sich beeilen ...«
  • »Sie hätten sich doch etwas Zeit lassen sollen mit den Hypotheken,«
  • sagte er mit teilnehmender Miene.
  • »O nein. Das macht nichts!« versetzte Petuch. »Man sagt, es sei sogar
  • vorteilhaft. Heutzutage nimmt alles Hypotheken auf, man will doch nicht
  • hinter den andern zurückbleiben? Und dann, ich habe mein ganzes Leben
  • lang hier gelebt; nun will ich es einmal mit Moskau versuchen. Meine
  • Söhne reden mir auch immer zu, sie wollen durchaus eine großstädtische
  • Bildung haben.«
  • »So ein Narr!« dachte Tschitschikow: »er wird alles durchbringen und
  • auch seine Söhne zu Verschwendern erziehen. Und dabei hat er ein so
  • schönes Gut. Wo man hinschaut, spricht alles von Wohlstand. Die Bauern
  • haben es gut, und auch der Herr leidet keinen Mangel. Wenn sie aber erst
  • ihre Bildung aus den Restaurants und Theatern beziehen, dann wird alles
  • zum Teufel gehen. Er sollte lieber ruhig auf dem Lande bleiben, der
  • Windbeutel.«
  • »Ich weiß, was Sie jetzt denken!« sagte Petuch.
  • »Wie?« sagte Tschitschikow etwas verlegen.
  • »Sie denken: >Dieser Petuch ist doch ein Narr: erst lädt er einen zum
  • Mittagessen ein, und läßt einen warten. Das Essen ist immer noch nicht
  • aufgetragen.< Es kommt, es kommt schon, Verehrtester. Passen Sie auf,
  • ein geschorenes Mädel kann sich nicht schneller den Zopf flechten, als
  • das Essen auf dem Tisch stehen wird.«
  • »Himmel! Da kommt Platon Michailowitsch angeritten!« sagte Alexascha,
  • der am Fenster stand und hinausblickte.
  • »Er reitet auf seinem Fuchs!« fiel Nikolascha ein, indem er sich aus dem
  • Fenster beugte.
  • »Wo? Wo?« schrie Petuch und lief gleichfalls ans Fenster.
  • »Wer ist das, Platon Michailowitsch?« fragte Tschitschikow Alexascha.
  • »Unser Nachbar, Platon Michailowitsch Platonow, ein _vortrefflicher_
  • Mensch, ein ganz _ausgezeichneter_ Mensch,« antwortete der Hausherr
  • selbst.
  • In diesem Augenblick trat Platonow ins Zimmer. Er war ein schöner
  • schlanker Mann mit hellblondem lockigem Haar. Ein Ungetüm von einem
  • Hunde namens Jarb folgte ihm, laut mit dem Halsband klirrend, auf dem
  • Fuße.
  • »Haben Sie schon gegessen?«
  • »Ja danke!«
  • »Sie kommen wohl, um sich über mich lustig zu machen. Was soll ich mit
  • Ihnen anfangen, wenn Sie schon gespeist haben?«
  • Der Gast lächelte und sagte: »Ich kann Sie beruhigen, ich habe so gut
  • wie garnichts gegessen: ich hatte keinen Appetit.«
  • »Wenn Sie nur gesehen hätten, was wir heute für einen Fang gemacht
  • haben! Was für ein Stör uns ins Netz gegangen ist! Und was für
  • Karauschen und Karpfen dazu!«
  • »Man ärgert sich beinahe, wenn man Sie sprechen hört. Warum sind Sie
  • immer so guter Laune?«
  • »Warum sollte ich denn Trübsal blasen? Ich bitte Sie!« sagte der
  • Hausherr.
  • »Wie? Warum? -- Weil es traurig und langweilig auf der Welt ist.«
  • »Sie essen nicht genug, das ist alles. Suchen Sie sich einmal ordentlich
  • satt zu essen. Das ist auch so eine moderne Erfindung dieser Trübsinn
  • und diese Melancholie. Früher war man nie melancholisch.«
  • »Niemals! Ich weiß auch gar nicht, wo ich die Zeit dazu hernehmen soll.
  • Am Morgen -- da schläft man, kaum hat man die Augen aufgemacht, so steht
  • schon der Koch vor einem, und man muß das Menu für das Mittagessen
  • zusammenstellen, dann trinkt man Tee, fertigt den Verwalter ab, geht
  • fischen und eh man sich's versieht, ist es schon Zeit zum Mittagessen.
  • Nach dem Mittagessen kommt man kaum dazu ein Schläfchen zu tun, denn
  • schon wieder ist der Koch da, und man muß das Abendbrot bestellen, nach
  • dem Abendbrot kommt wieder der Koch, und man muß wieder ans Mittagessen
  • für _morgen_ denken. Wo hat man da Zeit zum Trübsinn?«
  • Während beide sich unterhielten, betrachtete Tschitschikow den neuen
  • Ankömmling, der ihn durch seine außergewöhnliche Schönheit, seine
  • schlanke, wohlgebaute Gestalt, die Frische einer noch unverbrauchten
  • Jugendkraft und die jungfräuliche Reinheit seines von keinem Pickel
  • verunzierten Teints in Erstaunen setzte. Weder Leidenschaft noch
  • Schmerz, noch selbst etwas, was auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit
  • einer Gemütsbewegung oder Unruhe hatte, hatten je sein jugendlich reines
  • Antlitz berührt oder eine Falte in die ruhige Fläche eingegraben, aber
  • freilich hätten sie sie auch nicht beleben können. Sein Gesicht behielt
  • stets etwas Schläfriges, trotz des ironischen Lächelns, das es bisweilen
  • erheiterte.
  • »Auch ich kann, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, nicht recht
  • verstehen, wie man mit einem solchen Gesicht, wie das Ihrige traurig
  • sein kann!« sagte Tschitschikow. »Wenn man natürlich an Geldmangel
  • leidet, oder Feinde hat, ... es gibt ja immer Menschen, die einem
  • nachstellen und sogar nach dem Leben trachten ...«
  • »Glauben Sie mir,« unterbrach ihn der schöne Gast, »glauben Sie mir, daß
  • ich mich der Abwechselung halber mitunter sogar nach irgend einer
  • kleinen Aufregung _sehne_? Wenn mich doch jemand ein bißchen ärgern
  • wollte, oder etwas derartiges -- aber nicht einmal _das_ passiert einem.
  • Das Leben ist bloß langweilig -- das ist alles.«
  • »Dann haben Sie wohl nicht genug Land oder vielleicht zu wenig Bauern.«
  • »Durchaus nicht. Mein Bruder und ich haben zusammen etwa zehntausend
  • Acker und über tausend Seelen.«
  • »Merkwürdig. Dann kann ich es nicht verstehen. Aber vielleicht hatten
  • Sie unter Mißernten und Epidemieen zu leiden? Haben Sie vielleicht viele
  • Bauern verloren?«
  • »Im Gegenteil, alles befindet sich in der schönsten Verfassung, mein
  • Bruder ist ein vorzüglicher Landwirt.«
  • »Und bei alledem sind Sie traurig und verstimmt! Das verstehe ich
  • nicht,« sprach Tschitschikow achselzuckend.
  • »Passen Sie auf, den Trübsinn wollen wir gleich verjagen,« sagte der
  • Hauswirt, »Alexascha, lauf mal rasch nach der Küche und sag dem Koch, er
  • soll uns die Fischpastetchen hereinbringen. Wo ist nur der Faulpelz
  • Emeljan! Der hält wohl wieder Maulaffen feil. Und dieser Dieb, der
  • Antoschka? Warum tragen sie die kalte Platte nicht auf?«
  • Jetzt aber öffnete sich die Türe. Der Faulpelz Emeljan und der Dieb
  • Antoschka erschienen mit einer Serviette unter dem Arm, deckten den
  • Tisch, und stellten einen Untersatz mit sechs Karaffen voll Likören von
  • verschiedener Farbe darauf. Um diese gruppierte sich bald eine ganze
  • Kette von Tellern, mit allerhand appetitreizenden Speisen. Die Diener
  • bewegten sich flink hin und her und trugen immer neue zugedeckte
  • Schüsseln herein, in denen man die Butter lustig schmoren hörte. Der
  • Faulpelz Emeljan und der Dieb Antoschka machten ihre Sache ganz
  • vortrefflich. Sie hatten ihre Spitznamen gewissermaßen bloß zum Ansporn
  • und zur Ermunterung erhalten. Der Hausherr war durchaus kein Freund vom
  • Schimpfen, dazu war er viel zu gutmütig; aber ein Russe kann halt ohne
  • ein gepfeffertes Wort nicht auskommen. Er braucht es ebenso wie sein
  • Gläschen Schnaps zur Beförderung der Verdauung. Was ist zu machen! Das
  • ist nun einmal seine Natur, daß er die reizlose Kost nicht leiden mag!
  • Auf die kalte Platte folgte das eigentliche Mittagessen. Hier
  • verwandelte sich unser gutmütiger Hausherr in einen wahren Tyrannen.
  • Kaum bemerkte er, daß einer der Gäste nur noch ein Stück auf dem Teller
  • hatte, so legte er ihm sofort ein zweites auf, indem er hinzufügte: »In
  • der Welt _paart_ sich alles, Mensch, Tier und Vogel!« Hatte einer _zwei_
  • Stück auf seinem Teller, so legte er ihm noch ein _drittes_ auf, indem
  • er bemerkte: »Das ist doch keine Zahl: zwei! Aller guten Dinge sind
  • drei.« Hatte der Gast _drei_ Stücke gegessen, so rief er schon: »Haben
  • Sie etwa schon einen dreirädrigen Wagen oder eine dreieckige Hütte
  • gesehen?« Auch auf die Zahl _vier_, auf die fünf usw. hatte er ein
  • Sprichwort bereit. Tschitschikow hatte sicherlich schon seine zwölf
  • Stücke verschlungen und dachte: »Na, jetzt wird dem Hausherrn doch wohl
  • nichts mehr einfallen!« Aber er irrte sich: ohne ein Wort zu sagen,
  • legte ihm dieser den ganzen Rückenteil eines am Spieß gebratenen Kalbes
  • samt den Nieren auf den Teller. Und was für eines Kalbes!
  • »Es hat zwei Jahre lang nichts wie Milch bekommen,« sagte der Hausherr.
  • »Ich hab's gepflegt wie mein eigenes Kind.«
  • »Ich kann nicht mehr!« stöhnte Tschitschikow.
  • »Kosten Sie mal erst, und dann sagen Sie: ich kann nicht mehr!«
  • »Es geht nicht mehr rein! Ich hab' keinen Platz mehr im Magen.«
  • »In der Kirche war auch kein Platz mehr, da kam der Polizeimeister und
  • sieh da, es fand sich doch noch ein Plätzchen. Dabei war ein solches
  • Gedränge, daß kein Apfel zu Boden fallen konnte. Kosten Sie nur: dieses
  • Stückchen -- das ist auch ein Polizeimeister.«
  • Tschitschikow kostete, und in der Tat -- das Stück hatte große
  • Ähnlichkeit mit dem Polizeimeister, es fand sich richtig noch ein Platz,
  • und doch schien sein Magen schon bis oben voll zu sein.
  • »So ein Mensch darf nicht nach Petersburg oder Moskau fahren. Bei seiner
  • Freigiebigkeit hat er in drei Jahren keinen Heller mehr!« Er wußte noch
  • nicht, daß man heute darin schon viel weiter ist: auch ohne allzu
  • gastfrei zu sein, kann man dort sein Vermögen in drei Jahren -- was sage
  • ich in drei Jahren! -- in drei Monaten durchbringen.
  • Unterdessen füllte der Hausherr die Gläser unentwegt nach; was die Gäste
  • stehen ließen, das durften Alexascha und Nikolascha austrinken, die ein
  • Glas nach dem andern hinter die Binde gossen; man konnte schon hier
  • sehen, welches Gebiet menschlichen Wissens sie bei ihrer Ankunft in der
  • Hauptstadt besonders pflegen würden. Die Gäste wußten kaum, wie ihnen
  • geschah; sie schleppten sich nur mit Mühe auf den Balkon hinaus, um hier
  • sogleich in einem Lehnstuhl zu sinken. Der Hausherr aber hatte kaum in
  • dem seinen Platz genommen, als er sofort zurücksank und einschlief. Sein
  • wohlbeleibtes Ich verwandelte sich in einen großen Blasebalg und ließ
  • dem offenen Mund und den Nasenlöchern solche Töne entströmen, wie sie
  • selbst unseren modernen Komponisten selten einzufallen pflegen: hier
  • mischten sich Trommelwirbel mit Flötenklängen und kurzen abgebrochenen
  • Lauten, die am meisten Ähnlichkeit mit Hundegebell hatten.
  • »Hören Sie, wie der pfeift?« sagte Platonow.
  • Tschitschikow mußte lachen.
  • »Freilich; wenn man so ein Mittagessen hinter sich hat, woher soll da
  • die Langeweile kommen? Da übermannt einen der Schlaf -- nicht wahr? Ja.
  • Sie entschuldigen doch, aber ich kann wirklich nicht verstehen, wie man
  • schlechter Laune sein kann: dagegen gibt es doch so viele Mittel.«
  • »Und die wären?«
  • »Was kann ein junger Mann nicht alles anfangen? Tanzen, musizieren ...
  • irgend ein Instrument spielen ... oder ... warum sollte er zum Beispiel
  • nicht heiraten?«
  • »Wen nur?«
  • »Als ob es in der Umgegend keine hübschen reichen Mädchen gäbe!«
  • »Es gibt keine!«
  • »Nun, dann sieht man sich eben wo anders um. Man macht eine Reise« ...
  • Plötzlich fiel Tschitschikow eine großartige Idee ein. »Da haben Sie das
  • beste Mittel gegen Trübsinn und Langeweile!« sagte er, indem er Platonow
  • in die Augen blickte.
  • »Was für eins?«
  • »Reisen.«
  • »Wohin soll man denn reisen?«
  • »Wenn Sie Zeit haben, dann kommen Sie doch mit mir,« sagte Tschitschikow
  • und dachte sich, während er Platonow betrachtete: »Das wäre fein. Er
  • könnte die Hälfte der Ausgaben tragen, und die Wagenreparatur könnte er
  • eigentlich _allein_ übernehmen.«
  • »Und wohin fahren Sie?«
  • »Augenblicklich reise ich nicht so sehr in eigenen Angelegenheiten als
  • im Interesse eines andern. General Betrischtschew ein naher Freund von
  • mir, und ich darf wohl sagen mein Wohltäter hat mich gebeten, einige von
  • seinen Verwandten zu besuchen ... Das mit den Verwandten ist natürlich
  • sehr wichtig, aber eigentlich reise ich doch auch sozusagen zu meinem
  • eigenen Vergnügen: denn die Welt kennen lernen, sich in den großen
  • Strudel und Wirbel des Menschenvolks zu stürzen -- man mag sagen was man
  • will, das ist gewissermaßen ein lebendes Buch und auch eine Art
  • Wissenschaft.« Und während er dies sagte, dachte er sich: »Wirklich, es
  • wäre fein. Er könnte sogar die _ganzen_ Kosten tragen, am Ende könnten
  • wir auch seine Pferde benutzen, unterdessen würden sich die meinigen auf
  • seinem Gute ausruhen und ordentlich pflegen.«
  • »Warum sollte ich nicht eine kleine Reise wagen?« dachte unterdessen
  • Platonow. -- »Zu Hause habe ich ohnedies nichts zu tun, für die
  • Wirtschaft sorgt mein Bruder auch ohne mich; sie würde also nicht im
  • mindesten unter meiner Abwesenheit leiden. Warum sollte ich also nicht
  • mitreisen?« -- »Wären Sie unter Umständen bereit, etwa zwei Tage bei
  • meinem Bruder zu Gaste zu bleiben?« sagte er laut. »Sonst läßt mich mein
  • Bruder nicht fort.«
  • »Aber mit dem größten Vergnügen. Meinetwegen sogar drei Tage.«
  • »Nun denn, also abgemacht. Wir fahren!« sagte Platonow lebhaft.
  • Tschitschikow schlug ein. »Bravo. Wir fahren!«
  • »Wohin? Wohin?« rief der Hausherr, der eben aus dem Schlafe erwacht war,
  • und sie erstaunt anstarrte. -- »Nein, liebe Herren, ich habe die Räder
  • von Ihrem Wagen abnehmen lassen und Ihren Hengst haben wir fortgejagt,
  • Platon Michailowitsch, der ist fünfzehn Werst weit von hier. Nein, heute
  • müssen Sie schon die Nacht bei mir bleiben, morgen essen wir etwas
  • früher zu Mittag, und dann mögt Ihr meinetwegen reisen.«
  • Was sollte man da machen? Man mußte sich schon zum Bleiben entschließen.
  • Dafür wurden sie durch einen wundervollen Frühlingsabend schadlos
  • gehalten. Der Hausherr gab ein Fest auf dem Flusse. Zwölf Ruderer mit
  • vierundzwanzig Rudern führten sie unter frohen Gesängen über den
  • spiegelglatten Rücken des Sees. Aus dem See gelangten sie in den Fluß,
  • der sich in unabsehbare Ferne vor ihnen ausdehnte und überall von
  • flachen Ufern begrenzt war. Sie mußten immerfort über Taue hinwegfahren,
  • die quer durch den Fluß gezogen, und an denen Netze befestigt waren.
  • Auch nicht eine Welle kräuselte die glatte Wasserfläche; ganz still und
  • lautlos glitten die herrlichen Landschaftsbilder an ihnen vorüber, und
  • dunkele Gehölze und Haine entzückten ihren Blick durch die mannigfache
  • Anordnung und Gruppierung ihrer Bäume. In gleichmäßigem Takt legten sich
  • die Bootsknechte in die Ruder; sie erhoben sie alle vierundzwanzig
  • plötzlich wie ein Mann in die Höhe -- und wie von selbst, einem leichten
  • Vogel gleich, glitt der Kahn über den unbeweglichen Wasserspiegel dahin.
  • Ein junger Bursche, ein starker breitschultriger Kerl, der dritte Mann
  • vom Steuer, machte den Vorsänger und stimmte mit seiner reinen hellen
  • Stimme, die aus einer Nachtigallenkehle zu kommen schien, ein Lied an,
  • dann fielen fünf andre ein, sechs weitere lösten sie ab, und laut
  • schwoll an und ergoß sich der Gesang: unendlich und grenzenlos, wie
  • Rußland selbst. Sogar Petuch ließ sich manchmal fortreißen und
  • unterstützte den Chor, wenn es ihm an Kraft fehlte, mit einem Ton, der
  • eine gewisse Ähnlichkeit mit Hühnergegacker hatte; ja sogar
  • Tschitschikow hatte an diesem Abend das lebhafte Gefühl, daß er ein
  • Russe sei. Nur Platonow dachte: »Was ist eigentlich schönes an diesem
  • melancholischen Lied? Es stimmt einen nur noch trauriger, als man schon
  • ist.«
  • Es fing schon an zu dämmern, als man zurückkehrte. Es wurde finster; die
  • Ruder schlugen jetzt das Wasser, in dem sich der Himmel schon nicht mehr
  • spiegelte. Als man am Ufer landete, war es bereits völlig dunkel.
  • Überall waren Holzstöße angezündet, die Fischer kochten auf Dreifüßen
  • eine Suppe aus lebendigen noch zappelnden Bärschen. Alles war schon zu
  • Hause. Das Vieh und das Geflügel war schon lange in den Ställen, der
  • Staub, den sie aufwirbelten, hatte sich gelegt, die Hirten standen an
  • den Toren und warteten auf die Milchtöpfe und auf eine Einladung zur
  • Fischsuppe. Das leise Gesumme der menschlichen Stimmen klang durch die
  • Nacht, und fernes Hundegebell hallte aus einem Nachbardorf herüber. Der
  • Mond ging eben auf und begann die dunkele Umgegend in sein Licht zu
  • hüllen; bald lag alles hell erleuchtet da. Welch herrliches Bild! Aber
  • es gab niemand, der sich daran erfreuen konnte. Statt sich auf ein paar
  • feurige Hengste zu schwingen und im tollen Galopp um die Wette durch die
  • Nacht zu jagen, saßen Nikolascha und Alexascha stumm da und dachten an
  • Moskau, an die Café's und Theater, von denen ihnen ein Kadett, der aus
  • der Hauptstadt zu Besuch gekommen war, soviel vorerzählt hatte; ihr
  • Vater dachte daran, wie er seine Gäste recht schön abfüttern könnte, und
  • Platonow gähnte. Am lebhaftesten war noch Tschitschikow: »nein wirklich,
  • ich muß mir auch einmal ein Gut kaufen!« Und er sah sich schon im Geiste
  • an der Seite eines strammen Weibchens, umringt von einer ganzen Schaar
  • kleiner Tschitschikows.
  • Beim Abendessen aß man wieder sehr reichlich. Als Tschitschikow das ihm
  • zum Schlafen angewiesene Zimmer betrat und sich zu Bett legte, da
  • befühlte er seinen Bauch und sagte: »Die reinste Trommel! Da geht kein
  • Polizeimeister mehr hinein!« Die Umstände fügten es so merkwürdig, daß
  • sich dicht neben dem Schlafzimmer die Stube des Hausherrn befand. Die
  • Zwischenwand war sehr dünn, und daher konnte man alles hören, was
  • nebenan gesprochen wurde. Der Hausherr bestellte gerade beim Koch unter
  • dem Namen eines frühen Dejeuners ein regelrechtes Mittagsessen für den
  • morgigen Tag. Und wie gründlich er das besorgte! Bei einem Toten wäre
  • noch der Appetit erwacht!
  • »Dann backst du mir eine viereckige Fischpastete,« sagte er, indem er
  • mit der Zunge schnalzte und die Luft heftig einsog. »Ein Viertel füllst
  • du mit den Bocken des Störs und mit Mark, das andere mit Buchweizenbrei,
  • Schwämmen, Zwiebeln, süßer Fischmilch, Hirn und noch so was Ähnlichem,
  • na du weißt schon ... Auf der einen Seite mußt du sie recht braun
  • backen, auf der anderen braucht sie nicht so durchgebacken zu sein. Vor
  • allem achte auf die Füllung -- die muß gründlich geschmort werden, daß
  • sie sich auch ordentlich verbindet, weißt du, und ja nicht
  • auseinanderfällt, sondern einem im Munde zergeht, wie Schnee; man darf
  • es selbst kaum merken.« Während er dies sagte, schnalzte Petuch wieder
  • mit der Zunge und gab einen schmatzenden Laut von sich.
  • »Hol's der Teufel! Der läßt einen nicht schlafen,« dachte Tschitschikow
  • und zog sich die Decke über den Kopf, um nur nichts mehr zu hören. Aber
  • das half ihm nichts, auch unter der Decke hörte er Petuch noch.
  • »Und garniere mir den Stör auch recht fein mit Sternchen aus roten
  • Rüben, mit Stinten und Pfifferlingen; nimm auch noch Rüben, Möhren,
  • Bohnen und noch dies und jenes dazu, du weißt schon; also recht viel
  • Garnitur, hörst du! Den Schweinemagen mußt du mit Eis füllen, damit er
  • auch ordentlich aufgeht!«
  • Noch mancherlei andere Leckerbissen bestellte Petuch. Immer wieder hörte
  • man ihn sagen: »Brat ihn mir, und back ihn mir auch recht durch, und
  • dämpfe sie mir gründlich!« Als er endlich bei einem Truthahn angelangt
  • war, schlief Tschitschikow ein.
  • Am nächsten Tage aßen sich die Gäste derartig voll, daß Platonow nicht
  • mehr auf seinem Pferde sitzen konnte. Petuch's Reitknecht mußte den
  • Hengst nach Hause bringen. Dann bestieg man die Equipage. Der
  • großschnauzige Hund lief träge hinter dem Wagen her: er hatte sich
  • gleichfalls vollgefressen.
  • »Nein, das geht zu weit!« sagte Tschitschikow, als sie den Hof verlassen
  • hatten.
  • »Der Mensch ist immer guter Laune! Das ist das ärgerlichste.«
  • »Wenn ich deine siebzigtausend Rubel Rente hätte, dann dürfte mir der
  • Trübsinn nicht einmal zur Türe herein!« dachte Tschitschikow. »Da ist
  • der Branntweinpächter Murasow -- der hat zehn Millionen. Leicht gesagt,
  • zehn Millionen -- das nenne ich ein Sümmchen!«
  • »Haben Sie nichts dagegen, wenn wir unterwegs einen kleinen Abstecher
  • machen? Ich möchte mich gern noch von meiner Schwester und von meinem
  • Schwager verabschieden.«
  • »Aber mit dem größten Vergnügen!« sagte Tschitschikow.
  • »Er ist ein ganz hervorragender Landwirt. Der erste hier in der Gegend.
  • Er bezieht Einkünfte im Werte von zweimal hunderttausend Rubel von einem
  • Gut, das vor acht Jahren noch keine zwanzigtausend abwarf.«
  • »Aber das muß ja ein äußerst interessanter und hochachtbarer Mensch
  • sein! Ich bin sehr begierig, einen solchen Mann kennen zu lernen. Ich
  • bitte Sie ... Denken Sie doch nur ... Und wie heißt er?«
  • »Kostanshoglo.«
  • »Und sein Vor- und Vatername, wenn ich bitten darf?«
  • »Konstantin Fjodorowitsch.«
  • »Konstantin Fjodorowitsch Kostanshoglo. Ich bin wirklich begierig auf
  • seine Bekanntschaft! Von einem solchen Mann kann man viel lernen.«
  • Platonow übernahm die schwere Aufgabe, Seliphan zu instruieren, was sehr
  • notwendig war, da dieser sich kaum auf dem Bocke zu halten vermochte.
  • Petruschka war bereits zweimal kopfüber aus dem Wagen gefallen, und es
  • war daher nötig, ihn mit einem Strick an dem Kutschbock festzubinden.
  • »So ein Schwein!« Das war alles, was Tschitschikow sagen konnte.
  • »Sehen Sie! da fangen seine Güter an!« sagte Platonow. »Das sieht doch
  • gleich ganz anders aus!«
  • Und in der Tat: vor ihnen lag eine mit jungem Walde bewachsene Schonung,
  • -- jedes Bäumchen war schlank und gerade wie ein Pfeil, dahinter sah man
  • ein zweites gleichfalls noch junges Wäldchen, und hinter diesem erhob
  • sich ein alter Forst voll prächtiger Tannen, eine immer höher als die
  • andre. Dazwischen kam wieder eine Schonung, ein Streifen _junger_ und
  • dahinter ein Streifen alter Wald. Dreimal nacheinander fuhren sie durch
  • den Wald, wie durch ein Tor in einer Mauer: »Dieser ganze Wald ist kaum
  • acht bis zehn Jahre alt, ein andrer kann zwanzig Jahre warten, und
  • selbst dann ist er noch nicht so hoch.«
  • »Wie hat er es aber nur gemacht!«
  • »Fragen Sie ihn selbst. Das ist ein so vortrefflicher Kenner des Grund
  • und Bodens -- bei dem geht nichts verloren. Er kennt nicht nur den Boden
  • ganz genau, er weiß auch, in welcher Nachbarschaft jedes Bäumchen und
  • jede Pflanze am besten gedeiht, was für Bäume er neben dem Getreide
  • pflanzen muß usw. Jedes Ding erfüllt bei ihm immer gleichzeitig drei bis
  • vier Funktionen. Der Wald ist nicht nur des Holzes wegen da, sondern
  • auch deswegen, weil die Felder an der und der Stelle so und so viel
  • Feuchtigkeit brauchen und so und so viel Schatten spenden, und die
  • trockenen Blätter benutzt er zum Düngen des Bodens ... Wenn überall
  • rings umher Dürre herrscht, so ist bei ihm alles in schönster Ordnung;
  • alle Nachbarn klagen über Mißernte, er allein braucht sich nicht zu
  • beklagen. Schade, daß ich selbst so wenig von diesen Dingen verstehe und
  • nicht zu erzählen weiß ... Wer kennt bloß all seine Kniffe und
  • Kunststücke! ... Man nennt ihn hier allgemein einen Zauberer. Was der
  • nicht alles hat! ... Und doch! Trotzalledem ist es langweilig!«
  • »Das muß in der Tat ein erstaunlicher Mensch sein!« dachte
  • Tschitschikow. »Es ist sehr bedauerlich, daß der junge Mann so
  • oberflächlich ist und einem nichts erzählen kann.«
  • Endlich tauchte auch das Gut auf. Die zahlreichen auf drei Anhöhen
  • gelegenen Hütten nahmen sich von Ferne wie eine Stadt aus. Jeder der
  • drei Hügel war von einer Kirche gekrönt, überall sah man mächtige
  • Getreide- und Heuschober stehen. »Hm!« dachte Tschitschikow, »man merkt
  • gleich, daß hier ein königlicher Gutsbesitzer wohnt!« Die Hütten waren
  • alle fest und dauerhaft gebaut; hie und da sah man einen Bauernwagen
  • stehn -- und auch der Wagen war stark und neu; die Bauern, denen man
  • begegnete, hatten alle kluge und gescheidte Gesichter; auch das Hornvieh
  • war von der besten Sorte, und selbst die Schweine der Bauern sahen aus
  • wie Aristokraten. Man hatte den Eindruck, dies sei der Ort, wo die
  • Bauern wohnen, welche das Silber, wie es im Liede heißt: mit Schaufeln
  • nach Hause tragen. Hier gab es keine englischen Parks, noch Rasenplätze,
  • noch andre kunstvolle Anlagen, statt dessen zog sich nach alter Sitte
  • eine lange Reihe von Kornspeichern und Arbeiterhäusern bis dicht ans
  • Herrenhaus, damit der Gutsherr auch alles kontrollieren könne, was rund
  • um ihn her vor sich geht; auf dem hohen Dache des Herrenhauses erhob
  • sich eine Art Leuchtturm; das war kein architektonischer Schmuck; er war
  • nicht dazu da, damit der Hausherr und seine Gäste sich an der schönen
  • Aussicht ergötzen könnten, sondern um die Arbeiter auch auf den
  • entferntesten Feldern ständig zu beaufsichtigen. Die Reisenden wurden an
  • der Haustreppe von flinken Dienern empfangen, die gar keine Ähnlichkeit
  • mit dem ewig betrunkenen Petruschka hatten; auch hatten sie keine
  • Fräcke, sondern Jacken aus gewöhnlichen selbstgewebtem blauen Tuch an,
  • wie sie die Kosacken zu tragen pflegen.
  • Die Frau des Hauses kam auf die Treppe hinausgelaufen. Sie hatte eine
  • frische Gesichtsfarbe wie Milch und Blut, und war schön wie Gottes
  • heller Tag, sie glich Platonow wie ein Ei dem andern, nur mit dem
  • Unterschiede, daß sie nicht so matt und schlaff, wie er, sondern immer
  • heiter und gesprächig war.
  • »Guten Tag, Bruder! Bin ich aber froh, daß du gekommen bist. Konstantin
  • ist leider nicht zuhause, aber er muß bald kommen.«
  • »Wo ist er denn?«
  • »Er hat mit ein paar Händlern im Dorfe zu tun,« sagte sie, während sie
  • die Gäste ins Zimmer geleitete.
  • Tschitschikow sah sich neugierig in der Wohnung dieses merkwürdigen
  • Menschen um, der ein Einkommen von zweimal hunderttausend Rubeln hatte,
  • denn er glaubte, er werde aus _dieser_ den Charakter und das Wesen des
  • Besitzers erkennen können, wie man etwa von einer Muschel auf die Auster
  • oder von dem leeren Schneckengehäuse auf die Schnecke schließt, die es
  • einstmals bewohnte und ihren Abdruck darin hinterlassen hat. Aber das
  • Wohnhaus erlaubte es nicht, irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Die Zimmer
  • waren alle schlicht und einfach ausgestattet und beinahe leer; da gab es
  • weder Fresken, noch Bronzen, noch Blumen, noch Etageren mit kostbarem
  • Porzellan, ja nicht einmal Bücher. Mit einem Wort, alles deutete darauf
  • hin, daß das Wesen, das hier hauste, sich den größten Teil seines Lebens
  • garnicht innerhalb der vier Zimmerwände, sondern draußen im Felde
  • aufhielt und daß es seine Pläne nicht vorsorglich und sybaritisch im
  • weichen Lehnstuhl am Kaminfeuer überlegte und dort seinen Gedanken
  • nachhing, sondern daß sie ihm an Ort und Stelle, mitten in der Tätigkeit
  • einfielen und auch _dort_ ins Werk gesetzt wurden. In den Zimmern konnte
  • Tschitschikow nur die Spuren eines echt weiblichen häuslichen Sinnes
  • entdecken: auf den Tischen und Stühlen lagen Bretter von Lindenholz, auf
  • denen offenbar zum Trocknen bestimmte Blumenblätter ausgeschüttet waren.
  • »Was ist das für ein Plunder, der hier herumliegt, Schwester?« sagte
  • Platonow.
  • »Das ist doch kein Plunder!« versetzte die Hausfrau. »Das ist das beste
  • Mittel gegen Fieber. Voriges Jahr haben wir alle unsere Bauern damit
  • kuriert. Hieraus machen wir Likör, und jenes dort soll eingemacht
  • werden. Ihr lacht uns immer mit unseren Marmeladen und unserem
  • eingelegten Gemüse aus; nachher aber lobt Ihr es selbst, wenn Ihr es
  • eßt.«
  • Platonow ging ans Klavier und betrachtete die aufgeschlagenen Noten.
  • »Herrgott, das alte Zeug!« sagte er, »Schämst du dich gar nicht,
  • Schwester?«
  • »Nimm mir's nicht übel, Bruder, ich habe nicht Zeit, mich auch noch mit
  • Musik abzugeben. Ich habe nicht Zeit, mich auch noch mit Musik
  • abzugeben. Ich habe eine achtjährige Tochter, die ich unterrichten muß.
  • Soll ich sie etwa einer ausländischen Gouvernante überlassen, bloß damit
  • ich genug freie Zeit habe, um mich mit Musik zu beschäftigen? -- Nein
  • entschuldige, das tue ich denn doch nicht!«
  • »Bist du langweilig geworden, Schwester!« sagte der Bruder und trat ans
  • Fenster: »Ah, da ist er ja schon, er kommt, eben kommt er!« rief
  • Platonow.
  • Tschitschikow lief gleichfalls ans Fenster. Ein Mann von etwa vierzig
  • Jahren, mit braunem lebhaftem Gesicht, in einer Jacke von Kamelhaaren
  • kam auf das Haus zugeschritten. Auf sein Kostüm pflegte er nicht zu
  • achten. Er trug eine Sammtmütze. Ihm zur Seite gingen zwei Männer
  • niederen Standes, mit respektvoll entblößtem Haupte, in einer lebhaften
  • Unterhaltung begriffen; der eine war ein einfacher Bauer, der andre ein
  • durchreisender Händler, ein durchtriebener Kerl in einem Rock mit langen
  • Schößen. Da sie alle drei an der Treppe stehen blieben, konnte man ihr
  • Gespräch deutlich im Zimmer hören.
  • »Das beste was ihr tun könnt, ist folgendes: kauft euch bei eurem Herrn
  • los. Ich will euch die Summe meinetwegen vorschießen; ihr könnt sie ja
  • allmählich bei mir abarbeiten!«
  • »Nein, Konstantin Fjodorowitsch, wozu sollen wir uns loskaufen? Nehmen
  • Sie uns lieber ganz zu sich. Bei Ihnen können wir nur Gutes lernen.
  • Einen so klugen Mann wie Sie, gibt es nicht wieder auf der ganzen Welt.
  • Heutzutage hat man seine Not, man kann sich nicht genug in acht nehmen.
  • Die Kneipwirte haben euch solche Schnäpse erfunden, das brennt einem im
  • Magen, daß man danach gleich einen ganzen Eimer Wasser austrinken
  • möchte: eh man sich's versieht, ist die letzte Kopeke ausgegeben. Die
  • Versuchung ist auch allzugroß. Ich glaube der Böse regiert die Welt, bei
  • Gott! Was erfinden sie nicht alles, um den Bauern ganz toll zu machen!
  • Tabak und all diese Finessen. Was soll man anfangen, Konstantin
  • Fjodorowitsch? Man ist auch nur ein Mensch -- man läßt sich halt leicht
  • verführen.«
  • »Hör mal: hier handelt es sich doch um folgendes. Wenn ihr zu mir kommt,
  • dann seid ihr doch auch nicht frei. Es ist wahr, ihr bekommt alles, was
  • ihr braucht: eine Kuh und ein Pferd; aber ich verlange auch was von
  • meinen Bauern, wie kein anderer Gutsbesitzer. Bei mir müssen sie vor
  • allem _arbeiten_ -- das ist das erste; ob nun für mich oder für sich
  • selbst, das ist ganz gleich, gefaulenzt wird bei mir nicht. Ich arbeite
  • ja auch wie ein Stier, ebensoviel wie meine Bauern, weil ich es an mir
  • selbst erfahren habe: all diese Schrullen kommen einem bloß in den Kopf,
  • weil man nicht arbeitet. Also denkt mal über die Sache nach und überlegt
  • sie euch ordentlich, wenn ihr zusammenkommt.«
  • »Wir haben ja schon so viel überlegt, Konstantin Fjodorowitsch. Selbst
  • die alten Leute bei uns sagen schon: >bei Ihnen sind die Bauern alle
  • reich, das ist doch kein Zufall; auch Ihre Priester sind so mitleidig
  • und so gütig. Die unsrigen hat man uns doch weggenommen, und jetzt haben
  • wir niemanden, der einen rechtschaffen beerdigen könnte.<«
  • »Es ist doch besser, du sprichst noch einmal darüber mit der Gemeinde.«
  • »Wie Sie befehlen!«
  • »Nicht wahr, Konstantin Fjodorowitsch, Sie sind schon so gut und gehen
  • etwas mit dem Preise herunter,« sagte der durchreisende Kaufmann im
  • langen blauen Rock, der an der andern Seite von Kostanshoglo schritt.
  • »Ich habe dir's schon gesagt, ich lasse nicht mit mir handeln. Ich bin
  • nicht so wie andre Gutsbesitzer, bei denen du immer gerade dann
  • erscheinst, wenn sie ihre fälligen Schulden bezahlen müssen. Ich kenne
  • euch viel zu gut; ihr führt eine Liste über alle, welche Zahlungen zu
  • machen haben. Das ist doch sehr einfach. So ein Mann ist in einer
  • verzweifelten Lage, da gibt er euch natürlich alles um den halben Preis
  • her. Bei mir ist das anders. Was soll ich mit deinem Gelde anfangen? Bei
  • mir können die Sachen ruhig drei Jahre lang liegen bleiben; ich habe
  • keine Hypothekengelder zu bezahlen!«
  • »Sie haben ganz recht, Konstantin Fjodorowitsch. Ich sage das ja auch
  • nur, um auch ferner mit Ihnen in Verbindung zu bleiben, und nicht aus
  • Habsucht und Eigennutz. Bitte, hier sind dreitausend Rubel Handgeld!«
  • Bei diesen Worten zog der Kaufmann ein Päckchen schmutziger Banknoten
  • aus der Brusttasche. Kostanshoglo nahm sie sehr kaltblütig, ohne sie
  • nachzuzählen in Empfang, und steckte sie in die Rocktasche.
  • »Hm,« dachte Tschitschikow, »wie wenn das sein Taschentuch wäre!« Doch
  • jetzt erschien Kostanshoglo in der Türe des Salons. Er machte einen
  • tiefen Eindruck auf Tschitschikow durch sein verbranntes Gesicht, die
  • struppigen schwarzen Haare, welche stellenweise schon einen leichten
  • Anflug von Grau erkennen ließen, den lebhaften Ausdruck der Augen und
  • seine etwas gallige Art, die auf seine südliche Herkunft hindeutete. Er
  • war kein echter Russe. Wußte er doch selbst nicht genau, woher seine
  • Vorfahren stammten. Er kümmerte sich jedoch nicht um seinen Stammbaum;
  • das paßte nicht in sein System, und er fand, daß sich in der Wirtschaft
  • damit nicht viel anfangen ließe. Er selbst hielt sich für einen Russen,
  • und kannte auch keine andere Sprache außer der russischen.
  • Platonow stellte Tschitschikow vor. Beide küßten sich.
  • »Weißt du Konstantin, ich habe mich entschlossen, eine kleine Reise zu
  • machen, und mir einige unserer Gouvernements anzusehen. Ich will meine
  • Langeweile los werden,« sagte Platonow, »Pawel Iwanowitsch hat mir
  • vorgeschlagen, mit ihm zu reisen.«
  • »Das ist ja vortrefflich!« sagte Konstanshoglo. »Und welche Gegend
  • gedenken Sie zu besuchen?« fuhr er fort, indem er sich liebenswürdig an
  • Tschitschikow wandte.
  • »Ich muß gestehen,« sagte Tschitschikow, indem er den Kopf höflich auf
  • die Seite neigte und mit der Hand über die Stullehne strich, »ich muß
  • gestehen, daß ich eigentlich nicht in meinem eigenen, sondern im
  • Interesse eines andern reise: ein naher Freund von mir, ich darf wohl
  • sagen mein Wohltäter, General Betrischtschew hat mich gebeten, einige
  • von seinen Verwandten aufzusuchen. Das mit den Verwandten ist natürlich
  • sehr wichtig, aber andererseits reise ich doch auch sozusagen zu meinem
  • eigenen Vergnügen, denn ganz abgesehen von dem Nutzen den das Reisen für
  • die Hämorrhoiden hat; die Welt kennen zu lernen, sich in den Wirbel und
  • Strudel des Menschenvolkes zu stürzen -- das ist sozusagen ein lebendes
  • Buch und auch eine Art Wissenschaft.«
  • »Sehr richtig! Es ist ganz gut, wenn man sich in der Welt umsieht.«
  • »Sehr fein bemerkt! Das ist tatsächlich wahr, es ist wirklich gut. Man
  • sieht allerhand Dinge, die man sonst nie gesehen hätte, und trifft mit
  • Menschen zusammen, denen man vielleicht niemals begegnet wäre. Manche
  • Unterhaltung ist Goldes wert, wie zum Beispiel gleich hier, wo sich mir
  • eine so glückliche Gelegenheit bietet ... Ich wende mich an Sie,
  • verehrtester Konstantin Fjodorowitsch. Helfen Sie mir, belehren Sie
  • mich, stillen Sie meinen Durst und weisen Sie mir den Weg zur Wahrheit.
  • Ich lechze nach Ihren Worten, wie nach himmlischem Manna.«
  • »Ja, was denn nur? ... Was soll ich Sie denn lehren?« sprach
  • Kostanshoglo verlegen. »Ich habe doch selbst nur ein paar Groschen
  • Lehrgeld bezahlt.«
  • »Die Weisheit, verehrter Mann, lehren Sie mir die Weisheit und die
  • Kunst, das schwere Steuer der Landwirtschaft zu regieren, einen sicheren
  • Gewinn zu erzielen, Reichtum und Wohlstand zu erwerben und zwar keinen
  • eingebildeten, sondern einen wirklichen Wohlstand, denn das ist doch die
  • Pflicht eines jeden Bürgers und damit verdient man sich die Achtung
  • seiner Mitmenschen.«
  • »Wissen Sie was?« sagte Kostanshoglo und sah ihn nachdenklich an,
  • »bleiben Sie einen Tag bei mir. Ich will Ihnen die ganze Einrichtung
  • zeigen und Ihnen alles erzählen. Eine große Weisheit werden Sie hier
  • nicht finden.«
  • »Aber natürlich! Bleiben Sie doch!« fiel die Hausfrau ein; dann wandte
  • sie sich an ihren Bruder und fuhr fort: »Bleib doch, Bruder, du hast
  • doch keine Eile.«
  • »Mir ist es einerlei. Wenn Pawel Iwanowitsch nichts dagegen hat?«
  • »Nicht das Geringste, mit dem größten Vergnügen ... Da ist nur noch ein
  • Umstand: ein Verwandter des General Betrischtschew, der Oberst
  • Koschkarow ...«
  • »Der ist aber doch verrückt!«
  • »Natürlich ist er verrückt! Ich hätte ihn ja auch gar nicht besucht,
  • aber General Betrischtschew, wissen Sie, ein guter Freund von mir, und
  • sozusagen mein Wohltäter ...«
  • »Wissen Sie was? Dann machen Sie es doch so,« sagte Kostanshoglo:
  • »fahren Sie doch gleich zu ihm, er wohnt keine zehn Werst von hier. Mein
  • Wagen ist angespannt -- setzen Sie sich hinein und fahren Sie hin. Zum
  • Tee können Sie schon wieder zurück sein.«
  • »Eine großartige Idee!« rief Tschitschikow aus und griff nach dem Hut.
  • Der Wagen fuhr vor, und brachte ihn in einer halben Stunde zum Obersten.
  • Im Dorfe ging es drunter und drüber: hier wurde gebaut, dort eine
  • Reparatur vorgenommen, überall lagen Haufen von Kalk, Ziegelsteinen und
  • Balken herum. Daneben sah man ein paar Häuser, die wie Gerichtsgebäude
  • aussahen. Auf dem einen befand sich eine Inschrift in goldenen Lettern:
  • »Depot für landwirtschaftliche Werkzeuge«, auf einem andern las man:
  • »Hauptrechnungskammer«, »Komitee für Gemeindeangelegenheiten«,
  • »Normalschule für Landleute«. Mit einem Wort, weiß der Teufel, was es da
  • nicht alles gab!
  • Er traf den Obersten vor einem Stehpult mit der Feder in den Zähnen. Der
  • Oberst empfing Tschitschikow außerordentlich freundlich. Er machte den
  • Eindruck eines äußerst gutmütigen und höflichen Menschen; sofort fing er
  • an davon zu erzählen, wieviel Mühe es ihn gekostet habe, sein Gut auf
  • die Höhe zu bringen, auf der es sich jetzt befindet; er beklagte sich
  • schmerzlich darüber, wie schwer es sei, den Bauern begreiflich zu
  • machen, was die »höheren Antriebe« sind, die der Mensch nur aus einem
  • vernunftgemäßen Luxus, aus der Beschäftigung mit Wissenschaften und
  • Künsten gewinnt; daß es ihm noch immer nicht gelungen sei, die
  • Bäuerinnen zu veranlassen, doch ein Korsett anzulegen, während er in
  • Deutschland, wo er 1814 mit seinem Regiment gestanden, die Tochter eines
  • einfachen Bauern kennen gelernt habe, die Klavier spielen konnte;
  • dennoch aber werde er den Trotz der Unwissenheit und Unbildung brechen,
  • und es bestimmt erreichen, daß seine Bauern Bücher lesen, während sie
  • hinter dem Pfluge hergehen und sich auf diese Weise über den
  • Franklinschen Blitzableiter, die Georgien Virgils und die chemische
  • Analyse des Bodens unterrichten.
  • »Daß du dich nur nicht täuschst!« dachte Tschitschikow. »Denken Sie
  • bloß, ich habe die »Gräfin Laveillère« bis heute noch nicht gelesen. Ich
  • kann immer keine Zeit dazu finden.«
  • Der Oberst sprach noch lange darüber, wie man die Menschen wohlhabend
  • und glücklich machen könne. Eine besondere große Bedeutung legte er der
  • Kleidung bei: er setzte seinen Kopf dafür ein, daß, wenn nur die Hälfte
  • aller russischen Bauern Hosen nach deutschem Schnitt anziehen wollte,
  • die Wissenschaften emporblühen, der Handel sich heben und das goldene
  • Zeitalter für Rußland anbrechen würde.
  • Tschitschikow sah ihm aufmerksam ins Gesicht, hörte ihn ruhig an und
  • sagte schließlich zu sich selbst: »Ich glaube, mit dem brauche ich mich
  • nicht zu genieren;« und er erklärte sofort, er habe tote Seelen nötig,
  • zuvor aber müsse ein Kaufvertrag abgeschlossen werden und dazu bedürfe
  • es _der_ und _der_ Formalitäten.
  • »Soweit ich aus Ihren Worten ersehen kann,« sagte der Oberst, ohne auch
  • nur im geringsten in Verlegenheit zu geraten, »ist das ein _Gesuch_, das
  • Sie an mich richten! Nicht wahr?«
  • »Sehr richtig.«
  • »Dann haben Sie wohl die Güte, es schriftlich zu formulieren. Das Gesuch
  • muß nämlich erst ins »Bureau für Berichte und Anzeigen«, dort wird es
  • signiert, und erst dann kommt es in meine Hände; ich gebe es hierauf an
  • das Komitee für Gemeindeangelegenheiten weiter, von dort geht es an den
  • Verwalter, der Erhebungen anstellen wird, und der Verwalter läßt es
  • endlich zusammen mit dem Sekretär ...«
  • »Ich bitte Sie!« sprach Tschitschikow, »auf diese Weise wird sich ja die
  • Sache furchtbar in die Länge ziehen. Ein solcher Gegenstand läßt sich
  • doch nicht schriftlich behandeln. Das ist ja so eine delikate ...
  • Angelegenheit, die ... Die Seelen sind doch gewissermaßen ... schon tot
  • ...«
  • »Sehr gut. Dann schreiben Sie doch einfach, daß die Seelen gewissermaßen
  • schon tot sind.«
  • »Nein bitte, wie kann ich das? So etwas kann man doch nicht
  • niederschreiben. Wenn sie auch wirklich tot sind, so soll es doch den
  • Anschein haben, als ob sie noch leben ...«
  • »Gut, dann schreiben Sie eben: _es ist nötig, oder es ist erwünscht,
  • oder man legt Wert darauf, daß es den Anschein habe, als ob sie noch
  • leben_. Ohne schriftliche Fixierung geht das doch gar nicht. Denken Sie
  • bloß an England oder sogar an Napoleon. Ich will Ihnen einen Mann
  • mitgeben, der Sie überallhin begleiten wird.«
  • Er schellte. Ein Mann erschien in der Türe.
  • »Herr Sekretär! Rufen Sie den Kommissar.« Gleich darauf trat auch der
  • Kommissar herein, ein Mann, dem man es nicht recht ansehen konnte, was
  • er war, ein Bauer oder ein Beamter. »Er wird Sie überall hinführen.«
  • Was war da zu machen? Tschitschikow entschloß sich aus Neugierde, dem
  • Kommissar zu folgen und diese so überaus wichtigen Instanzen kennen zu
  • lernen. Das »Bureau für Berichte und Anzeigen« stand nur auf dem
  • Aushängeschild, die Tür war dagegen verschlossen. Der Chef des Bureaus
  • Chryljow war in das soeben gegründete Komitee für Gemeindebauten
  • versetzt. Seine Stelle versah der Kammerdiener Berjosowski; aber auch
  • der war von der Baukommission irgendwohin geschickt worden. Sie gingen
  • daher in das Departement für Gemeindeangelegenheiten -- da wurden jedoch
  • gerade Reparaturen vorgenommen, hier weckten sie einen Mann, der
  • betrunken dasaß und schlief, aber aus dem ließ sich auch nichts
  • herausbringen. »Bei uns herrscht eine große Unordnung!« sagte
  • schließlich der Kommissar zu Tschitschikow. »Die Leute tanzen unserem
  • Herrn alle auf der Nase. Bei uns hängt alles von der Baukommission ab;
  • sie holt die Leute von ihrer Arbeit weg und schickt sie überallhin,
  • wohin es ihr beliebt. Nur bei der Baukommission kommt man auf seinen
  • Vorteil.« Er war offenbar sehr unzufrieden mit der Baukommission.
  • Tschitschikow wollte nicht mehr sehn. Als sie zum Obersten
  • zurückkehrten, erklärte er diesem, bei ihm herrsche ein großer Wirrwar,
  • man könne sich da unmöglich zurechtfinden, und ein Bureau für Berichte
  • und Anzeigen gäbe es überhaupt nicht.
  • Der Oberst schäumte auf in edlem Zorn und drückte Tschitschikow dankbar
  • die Hand. Er griff sofort zur Feder und verfaßte acht in strengstem Tone
  • gehaltene Anfragen: mit welchem Rechte die Baukommission eigenmächtig
  • über Beamte verfügt habe, die garnicht zu ihrem Ressort gehörten? wie
  • der Oberverwalter es habe zulassen können, daß der Vorsitzende sich
  • entfernte, um an einer Untersuchung teilzunehmen, ohne seinen Posten
  • zuvor einem andern übergeben zu haben? und wie das Komitee für
  • Gemeindeangelegenheiten ruhig darüber hinweggehen konnte, daß es
  • überhaupt kein Bureau für Anzeigen und Berichte gebe?
  • »Das gibt wieder eine tolle Verwirrung!« dachte Tschitschikow und wollte
  • schon wegfahren, da aber sagte Koschkarjow:
  • »Nein, ich lasse Sie nicht fort. Hier handelt es sich um meine Ehre. Ich
  • will Ihnen beweisen, was das ist: eine geregelte, organisierte
  • Wirtschaft. Ich will Ihre Sache einem Mann übergeben, der allein soviel
  • wert ist, wie alle anderen zusammen: er hat die Universität beendigt.
  • Sehen Sie, solche Leibeigene habe ich! Um Ihre kostbare Zeit nicht
  • allzulange in Anspruch zu nehmen, bitte ich Sie höflichst, sich
  • einstweilen in meine Bibliothek verfügen zu wollen,« fuhr der Oberst
  • fort, indem er eine Seitentür öffnete: »Hier finden Sie Bücher, Papier,
  • Federn, Bleistifte -- mit einem Wort, alles, was Sie wünschen. Bitte!
  • alles steht zu Ihrer Verfügung. Tuen Sie, als ob Sie zu Hause wären. Die
  • Aufklärung und Wissenschaft sollte allen offen stehen.«
  • So sprach Koschkarjow, während er Tschitschikow in die Bibliothek
  • geleitete. Diese war ein mächtiger Saal der von unten bis oben mit
  • Büchern vollgepfropft war. Auch ein paar ausgestopfte Tiere befanden
  • sich darin. Alle Wissenszweige waren vertreten: da gab es Bücher über
  • Forstwissenschaft, Viehzucht, Schweinezucht, Gartenbau,
  • Spezialzeitschriften über alle Wissensgebiete, wie sie einen zugeschickt
  • werden, bloß damit man auf sie abonniert, die aber kein Mensch liest.
  • Als Tschitschikow sich überzeugt hatte, daß dies alles Bücher waren, die
  • sich kaum dazu eigneten, einem in angenehmer Weise die Zeit zu
  • vertreiben, ging er an den nächsten Schrank, aber o weh! er geriet aus
  • dem Regen in die Traufe: dieser enthielt wiederum nichts als
  • _philosophische_ Bücher. Das erste, was ihm ins Auge fiel, waren sechs
  • gewaltige Bände mit der Ueberschrift: »Einführung in die Lehre vom
  • Denken, Theorie der Abstraktion, der Allheit, und Wesenheit in ihrer
  • Anwendung auf die Erkenntnis der organischen Prinzipien der Polarität in
  • der gesellschaftlichen Produktivität.« Was für ein Buch Tschitschikow
  • auch aufschlagen mochte, auf jeder Seite las er immer nur von:
  • _Erscheinung_, _Entwickelung_, _Abstraktion_, _Geschlossenheit_, _An und
  • Für sich sein_, mit einem Wort, weiß der Teufel, was nicht alles in so
  • einem Buche stand! »Das ist nichts für mich,« sagte Tschitschikow, und
  • ging an einen dritten Schrank, der wieder lauter _kunstgeschichtliche_
  • Bücher enthielt. Er zog einen mächtigen Folianten mit Bildern aus der
  • antiken Mythologie hervor, die sich nicht gerade durch übermäßige
  • Sittsamkeit auszeichneten und begann darin zu blättern. Solche Bilder
  • gefallen besonders Junggesellen in mittleren Jahren, mitunter aber auch
  • alten Herren, die ihre Einbildungskraft durch Ballette und ähnliche
  • gepfefferte Dinge anzuregen lieben. Nachdem Tschitschikow mit dem einen
  • Buche fertig war, wollte er schon zu einem zweiten ähnlichen übergehen,
  • als Oberst Koschkarjow mit strahlender Miene und einem Bogen Papier in
  • der Tür erschien.
  • »Es ist alles erledigt; zur schönsten Zufriedenheit erledigt! Der
  • Mensch, von dem ich Ihnen erzählt habe, ist tatsächlich ein Genie. Dafür
  • will ich ihn aber auch über alle anderen erheben und ein eigenes
  • Departement für ihn einrichten. Sehen Sie doch bloß, was das für ein
  • heller Kopf ist, und wie er in ein paar Minuten mit allem fertig
  • geworden ist.«
  • »Na, Gott sei Dank!« dachte Tschitschikow und schickte sich an, zu
  • hören. Der Oberst begann mit der Vorlesung:
  • »Indem ich an die Untersuchung des mir von Ew. Hochwohlgeboren erteilten
  • Auftrages gehe, habe ich die Ehre, folgendes zu Ew. Hochwohlgeboren
  • Kenntnis zu bringen:
  • Erstens ist schon in dem Gesuch des Herrn Ritters und Kollegienrates
  • Pawel Iwanowitsch Tschitschikow ein grundlegendes Mißverständnis
  • enthalten, denn die in den Revisionslisten verzeichneten Seelen werden
  • unvorsichtiger Weise _tot_ genannt. Dahingegen wird er wahrscheinlich
  • Seelen gemeint haben, die dem Tode nahe sind, keineswegs aber absolut
  • tote Seelen. Zudem verrät auch schon diese Bezeichnung eine
  • Bildungsstufe, die lediglich aus dem Studium der bloß empirischen
  • Wissenschaften geschöpft zu sein scheint, und etwa dem Niveau einer
  • Gemeindeschule entspricht, denn die Seele ist _unsterblich_.«
  • »So ein Schelm!« sagte Koschkarjow und hielt ein wenig inne. »Hier will
  • er Ihnen eines auswischen. Aber nicht wahr? welch eine gewandte,
  • schneidige Feder er führt!«
  • »Zweitens sind überhaupt keine Seelen vorhanden, weder solche, die dem
  • Tode nahe sind, noch irgendwelche andre, die nicht schon hypothekarisch
  • belastet wären, denn sie sind nicht nur alle ohne Ausnahmen mit
  • einfachen, sondern sogar mit doppelten Hypotheken belastet, sodaß noch
  • außerdem hundertfünfzig Rubel pro Kopf auf jede Seele kommen,
  • ausgenommen das kleine Dorf Gurmailowka, welches infolge eines Prozesses
  • mit dem Gutsbesitzer Perdrschtschew mit Beschlag belegt ist, wie dies in
  • Nummer 42 der »Moskauer Nachrichten« zu lesen steht.«
  • »Warum haben Sie mir dies denn nicht gleich gesagt? Wozu haben Sie mich
  • unnütz aufgehalten?« sagte Tschitschikow ärgerlich.
  • »Ich bitte Sie, das mußte sich doch alles erst auf dem richtigen
  • Instanzweg ergeben. Das ist doch kein Spaß. Unbewußt und sozusagen
  • instinktiv kann jeder Narr sowas rauskriegen, es muß aber mit Bewußtsein
  • geschehen.«
  • Tschitschikow griff wütend nach seiner Mütze, und lief eilig zum Hause
  • hinaus, ohne auch nur die gewöhnlichsten Pflichten des Anstandes zu
  • wahren: er war sehr böse. Der Kutscher wartete schon mit dem Wagen vor
  • der Tür, er wußte, daß es keinen Zweck hatte, die Pferde auszuspannen,
  • denn um Futter für die Tiere zu erhalten, hätte er erst ein
  • schriftliches Gesuch einreichen müssen, und der Beschluß, den Pferden
  • ihren Hafer auszufolgen, wäre erst am folgenden Tage erschienen. Der
  • Oberst lief Tschitschikow jedoch nach; er drückte ihm krampfhaft die
  • Hand, preßte sie ans Herz und dankte ihm, daß er ihm Gelegenheit gegeben
  • habe, den ganzen Betrieb in der Praxis funktionieren zu sehen. Man müsse
  • den Leuten schon hin und wieder einen kleinen Puff versetzen. Sonst
  • könne alles leicht einschlafen und der Verwaltungsmechanismus träge
  • werden und einrosten. Dieser Vorfall habe ihm einen glücklichen Gedanken
  • eingegeben, nämlich den, eine neue Kommission zu gründen, die den Namen
  • tragen soll: »Kommission zur Aufsicht über die Baukommission«. Dann
  • würde es niemand mehr wagen zu stehlen.
  • Unzufrieden und ärgerlich kam Tschitschikow zu später Stunde bei
  • Kostanshoglo an. Man hatte schon längst Licht angezündet.
  • »Warum kommen Sie so spät?« sagte Kostanshoglo, als Tschitschikow in der
  • Türe erschien.
  • »Worüber haben Sie so lange mit ihm gesprochen?« fragte Platonow.
  • »Einen solchen Narren habe ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen!«
  • rief Tschitschikow aus.
  • »Das ist noch gar nichts!« meinte Kostanshoglo. »Koschkarjow ist
  • trotzdem eine tröstliche Erscheinung. Man braucht solche Leute, weil
  • sich in ihnen die Torheiten unserer »weisen Männer« gewissermaßen
  • karrikiert und recht drastisch offenbaren. -- All jene Neunmalklugen,
  • die, noch ehe sie sich zu Hause ordentlich umgesehen haben, sich in der
  • Fremde allerhand Flausen in den Kopf setzen. Sehen Sie doch mal, was wir
  • jetzt für Gutsbesitzer bekommen haben: Was die nicht alles für
  • Neuerungen einführen: Komptoirs, Manufakturen, Schulen und Kommissionen,
  • und weiß der Teufel, was noch alles! So sind aber die gescheidten Leute!
  • Kaum daß man sich von der französischen Invasion und dem Jahr 1812
  • erholt hat, da fangen sie schon wieder an, Unordnung zu stiften und
  • alles einzureißen. Wahrhaftig, die haben schlimmer gehaust als der
  • Franzose. Wir werden bald so weit kommen, daß irgend ein Peter
  • Petrowitsch Petuch noch einer der tüchtigsten Gutsbesitzer sein wird.«
  • »Aber er hat doch schon Hypotheken aufgenommen?« sagte Tschitschikow.
  • »Na, natürlich! Alles wandert ins Bankhaus, alles, alles!« Kostanshoglo
  • redete sich allmählig immer mehr in Zorn. »Da haben Sie zum Beispiel
  • eine Hut- und eine Kerzenfabrik -- natürlich müssen die Werkmeister aus
  • London verschrieben werden. Man wird ja zum reinsten Krämer! Der
  • Gutsbesitzer -- ein so hochachtbarer Beruf -- wird Fabrikant und
  • Manufakturist! Webstühle um Tüllkleider für die »Dämchen« aus der Stadt
  • zu fabrizieren, und diese Frauenzimmer ...«
  • »Aber du selbst hast doch auch Fabriken,« bemerkte Platonow.
  • »Wer hat denn die gebaut?«
  • »Das kam ganz von selbst. Es war halt so viel Wolle da, daß ich sie
  • nicht absetzen konnte. -- Da fing ich eben an, Stoffe zu weben, lauter
  • _dickes_, einfaches Zeug -- das verkaufe ich gleich hier bei mir auf dem
  • Markt. Das sind doch bloß Dinge, die die Bauern brauchen, meine eigenen
  • Bauern. Oder ein anderes Beispiel: die Fischer haben sechs Jahre lang
  • ihre Fischschuppen hier am Ufer hingeworfen. Wo sollte ich bloß hin mit
  • ihnen. Ich habe halt angefangen, Leim aus ihnen zu sieden. Das hat mir
  • vierzig Tausend eingebracht. So kommt bei mir alles von selbst.«
  • »Teufel!« dachte Tschitschikow, indem er ihn bewundernd anblickte.
  • »Verstehst du dich aber aufs Geldverdienen!«
  • »Das habe ich auch nur gemacht, weil so viele Arbeitslose zu mir
  • gelaufen kamen, die ohnedies vor Hunger gestorben wären. Wir hatten ja
  • Hungersnot. Alles dank den Herren Fabrikanten, welche das Säen vergessen
  • hatten. Solche Fabriken gibt's bei mir in Hülle und Fülle, mein Bester,
  • jedes Jahr 'ne andre. Je nachdem, was ich gerade für Abfälle zu
  • verwerten habe. Sieh' nur ordentlich bei dir zu Hause nach! Mit jedem
  • Plunder kannst du noch was verdienen, sodaß du ihn schließlich
  • fortwirfst und sagst: ich will nicht mehr. Ich baue mir ja auch keine
  • Häuser mit Säulengängen und Giebeln.«
  • »Wirklich erstaunlich ... Das merkwürdigste aber ist, daß man mit jedem
  • Plunder was verdienen kann!« sagte Tschitschikow.
  • »Aber ich bitte Sie, wenn die Menschen die Dinge doch ganz einfach so
  • nehmen wollten, wie sie sind. Aber da will gleich jeder Kunstschlosser
  • und Mechaniker sein und holt gleich ein Instrument herbei, um das
  • Kästchen zu öffnen, während es doch ganz einfach aufgeht. Und dazu muß
  • er erst extra nach England fahren! Das ist es! Solche Narren!« Bei
  • diesen Worten spuckte Konstanshoglo aus. »Und dabei kommt er tausendmal
  • dümmer zurück, als wie er ins Ausland fuhr.«
  • »Aber Konstantin, du regst dich schon wieder auf!« sagte die Frau
  • besorgt, »du weißt doch, daß dir das schadet.«
  • »Ja, wie soll man sich denn da nicht aufregen! Wenn es sich hierbei noch
  • um etwas handelte, was einen nichts angeht. Aber das sind doch alles
  • Dinge, die einem am Herzen liegen. Es schmerzt einen doch, wenn man
  • sieht, wie der russische Charakter verdorben wird. Es ist jetzt eine Don
  • Quixoterie bei uns aufgekommen, die wir früher garnicht gekannt haben!
  • Wenn einem die Aufklärung zu Kopfe gestiegen ist, dann wird er gleich
  • ein Don Quixote. Gründet allerhand Schulen, von denen sich nicht mal ein
  • Narr was träumen läßt. Diese Schulen bilden nur Menschen heran, die zu
  • nichts nütze sind, weder auf dem Lande, noch in der Stadt. Höchstens
  • lauter Trinker, die einen sehr hohen Begriff von ihrer Würde haben. Oder
  • so einer will in Humanität machen -- dann wird er ein Don Quixote der
  • Humanität: baut allerhand alberne Krankenhäuser und Asyle mit
  • Säulenhallen für 'ne Million, richtet sich selbst zugrunde und bringt
  • andere Leute an den Bettelstab. Da habt ihr dann die Humanität!«
  • Aber Tschitschikow war es keineswegs um die Aufklärung zu tun. Er wollte
  • durchaus näheres darüber erfahren, wie man mit jedem Plunder was
  • verdienen könne; jedoch Kostanshoglo ließ ihn nicht zu Worte kommen;
  • immer neue, heftige Reden entströmten seinem Munde, er war jetzt schon
  • nicht mehr imstande, sie zu unterdrücken.
  • »Und dann grübeln sie darüber nach, wie sie den Bauern aufklären sollen
  • ... sorgt mal erst dafür, daß er reich und ein tüchtiger Landwirt wird,
  • dann wird er schon selbst für seine Bildung sorgen. Sie können sich
  • garnicht vorstellen, wie dumm heutzutage alle Leute geworden sind. Was
  • diese Federfuchser nicht alles schreiben! Wenn einer ein Buch in die
  • Welt setzt, dann stürzen sich gleich alle darauf ... Hören Sie doch, was
  • sie jetzt für eine neue Weisheit verkündigen: >Der Bauer führt ein zu
  • primitives Leben; er muß auch den Luxus kennen lernen, man muß ihm
  • höhere Bedürfnisse beibringen ...< Weil sie selbst dank diesem Luxus zu
  • Waschlappen geworden sind und weil es keinen achtzehnjährigen Burschen
  • mehr gibt, der nicht schon von allem gekostet, bald keine Zähne mehr im
  • Munde, und eine Glatze hat, wie eine Schweinsblase -- darum wollen Sie
  • andere Leute gleichfalls anstecken. Wir sollten Gott danken, daß wir
  • doch wenigstens noch _einen_ gesunden Stand haben, der noch nichts von
  • diesen Launen und Einfällen weiß! Dafür müßten wir Gott unendlich
  • dankbar sein. Jawohl -- der Landmann verdient unsere allergrößte Achtung
  • -- wozu rührt ihr ihn also an? Gott gebe, daß alle Leute so wären wie
  • er.«
  • »Sie glauben also, es sei noch das Einträglichste sich mit der
  • Landwirtschaft zu beschäftigen?« fragte Tschitschikow.
  • »Das Sittlichste, wenn auch nicht gerade das Einträglichste. >Im
  • Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen<, heißt es in der
  • Bibel. Daran ist nicht zu rütteln und zu deuteln. Es ist durch eine
  • hundertjährige Erfahrung erwiesen, daß die Beschäftigung mit dem
  • Ackerbau den Menschen reiner, edler, besser und sittlicher macht. Ich
  • sage nicht -- daß man nichts andres tun dürfe -- aber der Grund zu allem
  • muß in der Landwirtschaft liegen ... das ist's. Die Fabriken werden
  • schon ganz von selbst kommen; richtige, vernünftige Fabriken -- in denen
  • Dinge hergestellt werden, die der Mensch hier, an Ort und Stelle
  • braucht, und nicht all diese Luxusgegenstände, die nur zur Befriedigung
  • eingebildeter Bedürfnisse dienen und die heute unsere Menschen nur
  • verweichlichen. Nicht solche Fabriken, die um ihrer Existenz willen und
  • um nur einen recht großen Absatz zu haben, zu den schändlichsten Mitteln
  • ihre Zuflucht nehmen, und das unglückliche Volk verderben und verführen.
  • Ich für meinen Teil, werde nie ein solches Unternehmen gründen, und wenn
  • die Leute mir noch so viel von seinem Nutzen vorreden, ich werde mich
  • nie dazu hergeben, jene sogenannten höheren Bedürfnisse zu erzeugen und
  • Tabak, Zucker usw. zu produzieren, und wenn ich eine Million deswegen
  • verlieren müßte. Wenn schon das Laster durchaus in die Welt kommen soll,
  • dann will _ich_ wenigstens meine Hände nicht mit im Spiele haben! Ich
  • will rein dastehen vor Gott ... Zwanzig Jahre lang lebe ich _in_ und
  • _mit_ dem Volke; ich weiß, was das für Folgen hat.«
  • »Was mich am meisten wundert, ist dies, daß man die Reste und Abfälle so
  • gut verwerten und mit jedem Plunder Geld verdienen kann, vorausgesetzt
  • natürlich, daß man sparsam und weise zu wirtschaften versteht.«
  • »Hm! Und unsere Volkswirtschaftler!« fuhr Kostanshoglo fort, ohne auf
  • ihn zu hören, und sein Gesicht nahm einen boshaften und sarkastischen
  • Ausdruck an. »Tüchtige Leute diese Herren Ökonomen! Ein Narr sitzt auf
  • dem andern. Die Kerls sehen nicht weiter als ihre dumme Nase reicht! Und
  • so ein Esel steigt noch aufs Katheder, setzt die Brille auf und ...
  • Narren!« Und wieder spuckte er ärgerlich aus.
  • »Das ist alles sehr schön und richtig, ärgere dich aber doch bitte nicht
  • so,« sagte die Frau, »als ob es nicht möglich ist, über diese Dinge zu
  • reden, ohne gleich außer sich zu geraten.«(8)
  • »Wenn man Ihnen zuhört, verehrter Konstantin Fjodorowitsch, dann beginnt
  • man gewissermaßen den Sinn des Lebens zu verstehen, man erfaßt sozusagen
  • den Kern der Sache. Aber gestatten Sie mir, einen Augenblick diese
  • allgemeinmenschlichen Dinge beiseite zu lassen, und Ihre Aufmerksamkeit
  • auf eine Privatangelegenheit zu richten. Nehmen wir einmal an, ich wäre
  • Gutsbesitzer geworden, und hätte die Absicht, in kürzester Zeit zu
  • Reichtum und Wohlstand zu gelangen, um damit sozusagen eine ernste
  • Bürgerpflicht zu erfüllen, -- wie sollte ich das wohl anfangen?«
  • »Wie man es anfangen soll, um reich zu werden?« fiel Kostanshoglo ein:
  • »Ganz einfach: ...«
  • »Das Abendessen ist fertig,« sagte die Hausfrau, indem sie sich vom Sofa
  • erhob; sie ging in die Mitte des Zimmers und hüllte ihren jungen Körper
  • zitternd in ihr Tuch.
  • Tschitschikow sprang beinahe mit der Gewandtheit eines Militärs vom
  • Stuhle auf, hielt ihr höflich den Arm hin und führte sie feierlich durch
  • zwei Zimmer hindurch bis in den Speisesaal, wo schon die offene
  • Suppenterrine auf dem Tische stand und einen angenehmen würzigen Duft
  • von frischen Wurzeln und Frühlingskräutern verbreitete. Alle Anwesenden
  • nahmen Platz. Die Bedienten setzten die Speisen in zugedeckten Schüsseln
  • nebst allem Zubehör rasch und sicher auf den Tisch nieder und entfernten
  • sich. Kostanshoglo liebte es nicht, daß die Dienstboten mit anhörten,
  • was bei Tische gesprochen wurde, oder daß sie ihm in den Mund sahen,
  • während er aß.
  • Nachdem Tschitschikow mit der Suppe fertig war und ein Gläschen von
  • einem ganz vorzüglichen Getränk, das wie Ungarwein schmeckte, geleert
  • hatte, wandte er sich abermals an den Hausherrn: »darf ich noch einmal
  • auf den Gegenstand unseres soeben unterbrochenen Gesprächs zurückkommen,
  • Verehrtester. Ich wollte Sie fragen, wie man es anfangen, was man tun
  • muß, wie man sich verhalten soll ...«[4]
  • * * * * *
  • .... »Selbst wenn er vierzigtausend für sein Gut verlangen sollte, würde
  • ich sie ihm an Ihrer Stelle sofort auf den Tisch legen.«
  • »Hm!« Tschitschikow wurde nachdenklich. »Und warum kaufen Sie es denn
  • nicht selber?« sagte er dann mit einer gewissen Schüchternheit.
  • »Alles hat seine Grenze. Ich habe schon mit _meinen_ Gütern genug zu
  • tun. Und dann schreien unsere Adeligen ohnedies schon, daß ich mir ihre
  • verzweifelte Lage zunutze mache und ihre Ländereien für einen Spottpreis
  • aufkaufe. Das habe ich bald satt.«
  • [Fußnote 4: Hier fehlen zwei Seiten im Manuskript. Dazu hat Schewyrew in
  • der ersten Auflage folgende Bemerkung gemacht: Das Gespräch zwischen
  • Tschitschikow und Kostanshoglo weist hier eine größere Lücke auf. Man
  • muß annehmen, daß Kostanshoglo Tschitschikow den Vorschlag macht, das
  • Gut seines Nachbars Chlobujew zu erwerben.
  • Anm. des Herausgebers.
  • ]
  • »Daß doch die Menschen immer schlecht von einem reden müssen!« sagte
  • Tschitschikow.
  • »Und erst in unserer Provinz! Das können Sie sich garnicht vorstellen:
  • man nennt mich hier garnicht anders als einen Filz und Geizhals. Sich
  • selbst verzeihen sie alles. Da heißt es immer: >Ich habe freilich alles
  • durchgebracht; aber das kommt daher, weil ich eben höhere Bedürfnisse
  • hatte, weil ich die Handelsleute und Industriellen (er sollte lieber
  • sagen, die Lumpen und Gauner!) unterstützte; freilich wenn man wie ein
  • Schwein lebt, so wie dieser Kostanshoglo< ...«
  • »Ich wollte, ich wäre selbst ein solches Schwein!« sagte Tschitschikow.
  • »Alles Unsinn! Was sind das für höhere Bedürfnisse! Wem wollen sie denn
  • was weismachen? Wenn sie sich auch ein paar Bücher anschaffen, -- sie
  • lesen sie ja doch nicht. Na, und was übrig bleibt, das sind schließlich
  • die Kosten und der ... Und das alles kommt bloß daher, weil ich keine
  • Diners gebe und ihnen kein Geld leihen will. Diners gebe ich nun einmal
  • nicht, weil mir das unbequem ist: das bin ich halt nicht gewöhnt. Will
  • einer zu mir kommen und an meiner Tafel mitessen -- mit dem größten
  • Vergnügen. Und daß ich kein Geld leihe -- das ist ganz einfach nicht
  • wahr. Wenn jemand zu mir kommt, der wirklich Not leidet und mir genau
  • Rechenschaft gibt, was er mit meinem Gelde anzufangen gedenkt: wenn ich
  • aus seinen Worten entnehme, daß er einen vernünftigen Gebrauch davon
  • machen und daß ihm das Geld einen wirklichen Gewinn eintragen wird, dann
  • werde ich es ihm nicht abschlagen und nicht einmal Zinsen dafür
  • verlangen.«
  • »Das muß ich mir merken,« dachte Tschitschikow.
  • »So einem werde ich es nie abschlagen,« fuhr Kostanshoglo fort. »Aber
  • mein Geld aus dem Fenster zu schmeißen, fällt mir auch nicht ein. Nein,
  • da muß man mich schon entschuldigen. Hol's der Teufel! Da kriegt einer
  • den Einfall, seiner Maitresse ein Diner zu geben, oder er will sein Haus
  • luxuriös ausstatten; will wie ein Verrückter, mit irgend einem
  • Frauenzimmer auf den Maskenball gehen, oder ein Jubiläum feiern, weil er
  • so und soviel Jahre lang müßig auf der Welt herumläuft -- und dazu soll
  • ich ihm noch Geld leihen!«
  • Hier spuckte Kostanshoglo ärgerlich aus und hätte in Gegenwart seiner
  • Frau beinah ein paar unanständige Schimpfworte fallen lassen. Der
  • dunkele Schatten einer finsteren Hypochondrie verdüsterte sein Gesicht.
  • Zahlreiche Quer- und Längsfalten bedeckten seine Stirn, ein deutliches
  • Zeichen dafür, wie heftig sich in ihm die Galle regte.
  • »Gestatten Sie mir, hochverehrter Herr, Ihre Aufmerksamkeit noch einmal
  • auf den Gegenstand unseres soeben unterbrochenen Gesprächs
  • zurückzulenken,« sagte Tschitschikow und stürzte noch ein Gläschen
  • Himbeerlikör herunter, der wirklich ganz vorzüglich war. »Nehmen wir
  • einmal an, ich kaufte jenes Gut, das Sie zu erwähnen geruhten, was
  • denken Sie wohl? wie schnell und in wie langer Zeit könnte man wohl so
  • reich werden, daß ...«
  • »Wenn Sie durchaus _schnell_ reich werden wollen,« unterbrach ihn
  • Kostanshoglo kurz und streng, »dann werden Sie niemals reich werden;
  • wenn Sie dagegen die feste Absicht haben, reich zu werden, und nicht
  • nach der Zeit fragen, dann werden Sie sehr schnell zu Ihrem Ziele
  • kommen.«
  • »Wirklich?« sagte Tschitschikow.
  • »Ja,« versetzte Kostanshoglo kurz, es schien fast, daß er sich über
  • Tschitschikow ärgerte, »man muß die Arbeit lieb haben, ohne das kann man
  • nichts erreichen. Man muß an der Landwirtschaft Freude haben! -- Jawohl!
  • Und glauben Sie mir -- sie ist gar nicht langweilig. Das ist auch so ein
  • neuer Einfall, daß es auf dem Lande langweilig ist ... ich für meinen
  • Teil käme vor Langerweile um, wenn ich auch nur einen Tag in der Stadt
  • verbringen müßte, so wie diese Herrschaften ihre Zeit totschlagen: in
  • ihren Klubs, und Restaurants und Theatern. Narren! Nichts als Narren.
  • Eine ganze Generation von lauter Eseln! Ein Landwirt hat keine Zeit zur
  • Langenweile. In seinem Leben gibt es keine leeren Zwischenräume -- jeder
  • Augenblick ist ausgefüllt. Schon diese Mannigfaltigkeit seiner
  • Beschäftigung, seiner Tätigkeit! -- und welch einer Tätigkeit! -- diese
  • Tätigkeit hat etwas wahrhaft Erhebendes für Herz und Geist! Sagt was ihr
  • wollt, der Mensch geht hier doch gewissermaßen Hand in Hand mit der
  • Natur, wird zum Mitwisser und Mitarbeiter an der ganzen Schöpfung, an
  • allem, was rund herum um ihn vorgeht. Sehen Sie doch nur hin, was das
  • ganze Jahr über alles geschafft werden muß: wie noch vor Anbruch des
  • Frühlings alles auf dem Posten ist und auf seine Ankunft wartet: da muß
  • die Aussaat vorbereitet, das Korn in den Scheunen noch einmal
  • durchgesehen, gemessen und getrocknet, da muß nachgerechnet werden,
  • wieviel Arbeit zu allem erforderlich sein wird. Alles wird im voraus
  • überlegt und dann ein Überschlag gemacht. Und wenn dann das Eis bricht
  • und die Flüsse frei werden, wenn dann alles trocken ist und die Erde
  • sich lockert -- dann arbeitet in den Gärten und Gemüsebeeten der Spaten,
  • und Pflug und Egge im Felde: man pflanzt, man setzt, man sät. Verstehen
  • Sie, was das heißt? Das ist wohl eine Kleinigkeit? Es ist die künftige
  • Ernte, die hier vorbereitet wird! Der Segen des ganzen Landes wird hier
  • ausgesät. Die Nahrung für Millionen! ... Dann kommt der Sommer ... Nun
  • beginnt die Heuernte, man mäht und mäht ... Doch jetzt kommt die
  • Erntezeit; erst der Roggen, dann der Weizen, dann Gerste und Hafer.
  • Alles ist in fieberhafter Tätigkeit; da heißt's keinen Augenblick
  • verlieren, man möchte zwanzig Augen haben, und doch hätte keines Zeit
  • zum Ruhen. Und wenn dann alles fertig ist und auf die Tenne gebracht und
  • zu Garben zusammengebunden ist -- dann muß man schon wieder weiter
  • denken; der Acker muß für die Wintersaat gepflügt, die Scheunen, die
  • Darren, die Viehställe müssen geputzt werden, dazu kommt noch die ganze
  • Frauenarbeit -- wenn man dann die Summe zieht, so sieht man erst, was
  • man geleistet hat; aber da ist ja ... Und erst der Winter! Da wird auf
  • allen Tennen gedroschen und dann das gedroschene Korn von den Darren in
  • die Scheunen gebracht. Man geht in die Mühlen und in die Fabriken,
  • besucht die Arbeitswerkstätten und die Bauern und sieht, was sie tun und
  • treiben. Ach, ich kann Ihnen sagen, wenn ein Zimmermann mit der Axt
  • umzugehen weiß, dann kann ich zwei Stunden lang dastehen und ihm
  • zuschauen, so ein Vergnügen macht mir's, ihn arbeiten zu sehen. Und wenn
  • man fühlt, daß diese ganze Tätigkeit einen Sinn und ein Ziel hat, wie um
  • uns her alles wächst und sich mehrt und Frucht und Gewinn bringt -- ich
  • kann Ihnen garnicht sagen, was dann in einem vorgeht. Nicht deshalb,
  • weil sich das Geld vermehrt -- Geld ist natürlich auch eine schöne Sache
  • -- aber weil das alles das Werk deiner Hände ist; weil du siehst, daß du
  • selbst die Ursache, der Schöpfer von alledem bist, und daß du wie irgend
  • ein Magier oder Zauberer nichts wie Wohlstand, Glück und Überfluß über
  • alles ausschüttest. Nun, sagen Sie, können Sie sich einen höheren Genuß
  • vorstellen?« fuhr Kostanshoglo fort und blickte empor; die Falten waren
  • verschwunden. Wie ein König am Tage seiner feierlichen Krönung, so
  • strahlte er in heller Freude, und sein Gesicht schien zu leuchten.
  • »Nein, Sie werden auf der ganzen Welt keinen ähnlichen Genuß finden!
  • Denn hierin ahmt der Mensch den Schöpfer nach: Gott hat sich das
  • Schaffen als den höchsten aller Genüsse vorbehalten, und er verlangt vom
  • Menschen, daß auch er gleich Ihm um ihn herum Glück und Wohlergehen
  • schaffe. Und das nennt man eine langweilige Beschäftigung!«
  • Wie der Gesang eines Paradiesvogels erschienen Tschitschikow die
  • süßtönenden Reden des Hausherrn, an denen er sich garnicht satt hören
  • konnte. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Seine Augen strahlten
  • einen fettigen Glanz aus und nahmen einen zuckersüßen Ausdruck an; er
  • hätte immer weiter zuhören mögen.
  • »Konstantin, ich glaube, es ist Zeit, daß wir uns erheben,« sagte die
  • Hausfrau und stand auf. Alle folgten ihr. Tschitschikow bot der Wirtin
  • den Arm und führte sie in den Salon zurück, aber diesmal fehlte es
  • seinen Bewegungen an der gewohnten Leichtigkeit und Gewandheit, denn
  • seine Gedanken wurden von anderen weit wichtigeren Fragen bewegt.
  • »Du magst sagen, was du willst, es ist trotz alledem trostlos und
  • langweilig,« erklärte Platonow, der hinter ihnen herging.
  • »Der Gast ist kein dummer Kerl,« dachte der Hausherr; »er ist
  • aufmerksam, sehr gesetzt und würdig in seinen Reden und vor allem kein
  • Schwätzer.« Bei diesem Gedanken wurde er noch fröhlicher; die
  • Unterhaltung schien ihn warm gemacht zu haben, und er freute sich, daß
  • er einen Menschen gefunden hatte, der es verstand, seine weisen
  • Ratschläge mit Verstand entgegenzunehmen.
  • Und als man dann in dem gemütlichen Zimmer, in dem einige Kerzen ein
  • angenehmes Licht verbreiteten, dem Balkon gegenüber Platz nahm, als die
  • Sterne hoch über den Baumwipfeln des schlafenden Gartens freundlich zu
  • ihnen durch die Glastür hereinblinkten, da wurde es Tschitschikow so
  • wohlig zu mute, wie schon lange nicht mehr: wie wenn er sich endlich
  • nach langen Irrfahrten unter dem trauten Dach des Vaterhauses befände,
  • wie wenn er schon alles sein eigen nannte, wonach sein Herz begehrte,
  • und mit dem Worte »Genug« seinen Pilgerstab in die Ecke gestellt hätte.
  • Diese beglückende Stimmung verdankte er den klugen Reden des gastfreien
  • Hausherrn. Für jeden Menschen gibt es gewisse Worte, die ihm lieber und
  • vertrauter sind, als alle andern Worte. Und oft geschieht es, daß man
  • irgendwo in einem entlegenen Nest, unter lauter Larven einen Menschen
  • findet, dessen erwärmende Unterhaltung einen den unwegsamen Weg, die
  • Unbequemlichkeiten des Nachtlagers, den Mißton des heutigen Treibens und
  • den Trug vergessen läßt, der den Menschen umgarnt. Mit unbegreiflicher
  • Lebhaftigkeit prägt sich ein so verbrachter Abend für alle Zeiten
  • unserer Erinnerung ein, mit rührender Treue bewahrt sie uns jede noch so
  • kleine Einzelheit auf: wer zugegen war, wo ein jeder saß, was er in der
  • Hand hielt: die Wände, die Zimmerecken und jede unbedeutende
  • Kleinigkeit.
  • Ganz so erging es Tschitschikow an jenem Abend, alles prägte sich seinem
  • Gedächtnis tief ein: das freundliche schlicht möblierte Zimmer, der
  • gutmütige Ausdruck im Gesicht des klugen Hausherrn, ja selbst das
  • Tapetenmuster, die Pfeife mit dem Bernsteinmundstück, die Platonow
  • gereicht wurde, der Rauch, den er Jarb in seine dicke Schnauze blies,
  • Jarbs ärgerliches Schnauben, das Lachen der lieblichen Hausfrau, ihre
  • vorwurfsvollen Worte: »Laß ihn doch, quäl doch das Tier nicht so.« Die
  • lustig flackerndern Kerzen, das zirpende Heimchen in der Zimmerecke, die
  • Glastür, die Frühlingsnacht, die über die hohen Baumwipfel schwebend zu
  • ihnen hineinblickte, der schwarze mit funkelnden Sternen übersäte
  • Himmel, und der helle Gesang der Nachtigallen, die ihr Lied aus der
  • Tiefe grünblättriger Haine laut hinausschmetterten in die herrliche
  • Nacht ...
  • »Wie Ihre Reden mein Herz laben! hochverehrter Konstantin
  • Fjodorowitsch!« sagte Tschitschikow. »Ich kann wohl sagen, ich habe in
  • ganz Rußland keinen Menschen getroffen, der Ihnen an Verstand
  • gleichkäme.«
  • Der andere lächelte, fühlte er doch selbst, daß Tschitschikow unrecht
  • hatte. »Nein, nein, wenn Sie einen wirklich klugen Menschen kennen
  • lernen wollen, -- hier ist einer, von dem man tatsächlich sagen kann: --
  • das ist ein kluger Mensch; ich bin nicht wert, ihm die Schuhriemen
  • aufzubinden.«
  • »Wer ist denn das?« fragte Tschitschikow erstaunt.
  • »Das ist unser Branntweinpächter Murasow.«
  • »Ich höre schon zum zweiten Mal von ihm!« rief Tschitschikow aus.
  • »Das ist ein Mensch! Der könnte nicht bloß ein Gut, der könnte einen
  • ganzen Staat verwalten. Hätte ich ein Königreich, ich würde ihn sofort
  • zu meinem Finanzminister ernennen.«
  • »Man sagt, er sei ein Mann, der jeden Maßstab der Wahrscheinlichkeit
  • übersteigt: er soll sich zehn Millionen erworben haben.«
  • »Ach was zehn! Die vierzig sind schon überschritten. Bald wird halb
  • Rußland ihm gehören!«
  • »Was sagen Sie!« rief Tschitschikow, indem er den Mund öffnete und sein
  • Gegenüber erstaunt anstarrte.
  • »Unbedingt! Das ist ganz klar. Wer nur ein paar Hunderttausende besitzt,
  • der wird langsam reich, wer dagegen Millionen hat, der hat sozusagen
  • einen gewaltigen Wirkungsradius: was er ergreift, das verdoppelt und
  • verdreifacht sich in seiner Hand: er hat ein zu weites Feld, einen zu
  • großen Spielraum. Da gibt's keine Nebenbuhler. Mit ihm kann sich keiner
  • messen. Er kann die Preise ansetzen, sie können nicht sinken, denn es
  • ist ja niemand da, der ihn unterbieten könnte.«
  • »Herrgott, Herrgott!« sagte Tschitschikow und schlug ein Kreuz.
  • Tschitschikow sah Kostanshoglo ins Auge, und der Atem wollte ihm
  • ausgehen: »Das ist ja geradezu unfaßbar! Man wird ganz starr vor
  • Schrecken! Man bewundert die Weisheit der Schöpfung, wenn man einen
  • Käfer betrachtet; ich für meinen Teil finde es weit wunderbarer, daß
  • solch gewaltige Summen durch die Hand _eines_ Sterblichen gehen können.
  • Darf ich Sie noch nach einer Sache fragen: sagen Sie, bei der Gründung
  • dieses Vermögens ist es doch wohl nicht ganz sauber zugegangen?«
  • »Im Gegenteil, der Mann steht völlig rein da, er hat sich stets nur der
  • saubersten Mittel bedient.«
  • »Das ist unmöglich, das kann ich nicht glauben! Wenn es sich bloß um
  • Tausende handelte, aber hier geht es um Millionen ...«
  • »Umgekehrt. Tausende erschwindelt man sich, die Millionen dagegen werden
  • leicht erworben. Ein Millionär braucht die krummen Wege nicht: er
  • braucht nur immer geradeauszugehen und zu nehmen, was vor ihm liegt. Ein
  • andrer kann's eben nicht aufheben, es fehlt ihm die Kraft dazu -- der
  • Millionär aber hat keine Nebenbuhler, sein Wirkungsradius ist zu groß ..
  • ich sage Ihnen ja, was er ergreift, verdoppelt und verdreifacht sich ...
  • Was bringen dagegen ein paar Tausende ... zehn bis zwanzig Prozent.« ...
  • »Was ich am unbegreiflichsten finde, ist, daß er mit ein paar Kopeken
  • angefangen haben soll!«
  • »Das ist nun mal nicht anders. Das ist eben der Lauf der Dinge,« sagte
  • Kostanshoglo. »Wer reich geboren und erzogen ist, und von Jugend auf
  • immer mit Tausenden zu tun hat, der erwirbt sich nicht noch was hinzu,
  • der hat schon allerhand Launen, Bedürfnisse und weiß Gott was noch
  • alles! Man muß von Anfang an anfangen und nicht mit der Mitte -- mit der
  • Kopeke und nicht mit dem Rubel -- von unten und nicht von oben: dann
  • erst lernt man die Welt und die Menschen ordentlich kennen, unter denen
  • man später leben muß. Wenn man erst das eine und das andre am eignen
  • Leibe gespürt und die Erfahrung gemacht hat, daß jede Kopeke, wie es
  • heißt, mit einem Rubel festgenagelt ist, und wenn man erst alles
  • durchgemacht und alle Prüfungen überstanden hat, dann wird man klug und
  • besitzt Erfahrung genug, um keine Schnitzer zu machen und bei seinen
  • Unternehmungen nicht Schiffbruch zu leiden. Glauben Sie mir, ich spreche
  • die Wahrheit. Man muß von Anfang anfangen und nicht mit der Mitte. Wer
  • mir sagt: >Gib mir hunderttausend Rubel, dann sollst du sehen, wie
  • schnell ich reich werde,< dem glaube ich nicht; der spekuliert auf das
  • Glück und geht nicht sicher. Man muß mit der Kopeke anfangen.«
  • »In diesem Falle müßte ich einmal sehr reich werden,« versetzte
  • Tschitschikow und mußte unwillkürlich an die toten Seelen denken: »denn
  • ich fange in der Tat mit nichts an.«
  • »Konstantin, es ist wirklich Zeit, daß wir Pawel Iwanowitsch etwas Ruhe
  • gönnen; er will sicher schlafen gehen,« sagte die Hausfrau, »du aber
  • plauderst immer weiter.«
  • »Natürlich werden Sie reich werden,« erwiderte Kostanshoglo, ohne auf
  • seine Frau zu hören. »Passen Sie auf, das Gold wird Ihnen noch einmal in
  • Strömen zufließen. Sie werden gar nicht wissen, wo Sie damit hin
  • sollen.«
  • Pawel Iwanowitsch war ganz wie verzaubert, er schwebte wie in einem
  • herrlichen Reiche schmeichelnder Träume und Hoffnungen. Es war ihm ganz
  • wirr im Kopfe. Seine feurige Einbildungskraft webte goldene Blumen in
  • den silbernen Teppich seines mächtig anschwellenden Reichtums, und immer
  • wieder klangen ihm Kostanshoglos Worte in den Ohren: »Das Gold wird
  • Ihnen noch einmal in Strömen zufließen.«
  • »Wirklich Konstantin, für Pawel Iwanowitsch ist es Zeit schlafen zu
  • gehen.«
  • »Was hast du nur? Geh doch schlafen, wenn du Lust hast,« sagte der
  • Hausherr und hielt inne; Platonow schnarchte so laut, daß das ganze
  • Zimmer dröhnte, und neben ihm lag Jarb, der fast noch lauter schnarchte,
  • als sein Herr. Jetzt erst merkte Kostanshoglo, daß es in der Tat Zeit
  • zum Schlafengehen war, er rüttelte daher Platonow auf und sagte:
  • »Schnarch doch nicht so!«, dann wünschte er Tschitschikow eine gute
  • Nacht, alle gingen auseinander, und bald lag jeder in seinem Bett in
  • tiefen Schlaf versunken.
  • Nur Tschitschikow konnte nicht einschlafen. Seine Gedanken wollten nicht
  • zur Ruhe kommen. Er sann unaufhörlich darüber nach, wie er es anfangen
  • sollte, der Besitzer eines wirklichen, echten und keines bloß
  • eingebildeten oder phantastischen Gutes zu werden. Nach dem Gespräch mit
  • dem Hausherrn war ihm mit einem Male alles klar! Die Möglichkeit, reich
  • zu werden, lag in greifbarer Deutlichkeit vor ihm! Der so schwierige
  • Beruf des Landwirts erschien ihm plötzlich so leicht, so einfach und
  • natürlich, und ganz wie geschaffen für seine Natur! Wenn er nur erst
  • seine Hypothek auf diese Toten hätte und Besitzer eines reellen Gutes
  • wäre. Schon sah er sich im Geist alles verwalten und lenken -- ganz wie
  • Kostanshoglo es ihn gelehrt hatte -- gewandt, umsichtig und sicher, ohne
  • vorzeitige Neuerungen einzuführen, ehe er das Alte gründlich kennen
  • gelernt hatte; alles sah er sich mit eigenen Augen an, er kannte alle
  • Bauern persönlich, versagte sich jeden Luxus und Überfluß und widmete
  • sich allein der Arbeit und dem Haushalt. Er genoß schon im voraus die
  • große Freude, die ihn erwartete, wenn überall strenge Ordnung herrschen,
  • alle Räder der Wirtschaftsmaschine sich munter bewegen und eins das
  • andere vorwärts stoßen und zur Tätigkeit anspornen würde. Überall Leben
  • und geschäftige Tätigkeit; wie in einer lustig klappernden Mühle sich
  • das Korn im Handumdrehen verwandelt, so sollten in seiner Mühle alle
  • Abfälle und jeglicher Plunder zu Staub zermahlen werden, um als bares
  • Geld wieder herauszukommen. Sein wunderbarer Gastfreund stand beständig
  • vor ihm und verließ ihn keinen Augenblick. Das war der erste Mann in
  • ganz Rußland, vor dem er eine ganz persönliche Hochachtung empfand. Bis
  • auf den heutigen Tag hatte er einen Menschen nur wegen seiner Titel und
  • Würden oder weder seines hohen Einkommens geachtet: des Verstandes wegen
  • hatte er eigentlich noch nie jemand besonders hoch geschätzt.
  • Kostanshoglo war der erste Mann, mit dem es ihm anders ging.
  • Tschitschikow fühlte, daß er sich mit diesem Menschen auf keine Kniffe
  • und Kunststücke einlassen dürfe, und daher beschäftigte ihn jetzt ein
  • ganz anderes Projekt -- der Ankauf des Chlobujewschen Gutes. Er besaß
  • selbst zehntausend Rubel, fünfzehntausend hoffte er von Kostanshoglo
  • leihen zu können; hatte dieser doch selbst erklärt, er sei bereit, jedem
  • zu helfen, der zu Reichtum und Wohlstand kommen wolle; den Rest --
  • dachte er durch eine Hypothek zu decken, schlimmstenfalls aber konnte er
  • den Verkäufer warten lassen. Das ging schließlich auch: mochte jener
  • sich doch mit den Gerichten herumplagen, wenn es ihm Spaß machte! Und
  • lange noch lag er so da und dachte darüber nach, bis schließlich
  • Morpheus, der, wie man zu sagen pflegt, das ganze Haus schon vier
  • Stunden lang in seinen Armen hielt, sich auch seiner erbarmte. Bald war
  • Tschitschikow in einen tiefen Schlaf versunken.
  • Viertes Kapitel.
  • Am folgenden Tage ging alles, wie es sich nicht besser wünschen ließ.
  • Kostanshoglo schoß Tschitschikow bereitwilligst zehntausend Rubel vor,
  • ohne Zinsen oder eine Bürgschaft zu verlangen; dieser mußte ihm bloß
  • eine gewöhnliche Quittung ausstellen: so gern half er jedem, der sich
  • Besitz und Wohlstand erwerben wollte. Aber mehr noch; er erbot sich,
  • Tschitschikow persönlich zu Chlobujew zu begleiten, um das Gut mit ihm
  • zusammen in Augenschein zu nehmen. Tschitschikow war in der besten
  • Laune. Nach einem reichlichen Frühstück machten sich alle auf den Weg,
  • nachdem alle drei in Pawel Iwanowitschs Wagen Platz genommen hatten: die
  • leeren Kutschen des Hausherrn folgten ihnen in einiger Entfernung nach.
  • Jarb lief voraus und scheuchte die Vögel am Wege. Fünfzehn Werst lang
  • sah man auf beiden Seiten nichts als Wälder und Ackerland, das zu
  • Kostanshoglos Gute gehörte. Sowie aber dieses zu Ende war, änderte sich
  • das Bild ganz plötzlich; das Korn stand niedrig, und statt der Wälder
  • erblickte man überall nichts als Baumstümpfe. Trotz der hübschen Lage
  • merkte man es dem Nachbargut an, daß es schon lange Zeit vernachlässigt
  • worden war. Zuerst kam man an einem neuen steinernen Hause vorüber, das
  • aber unbewohnt war, denn es war noch nicht vollendet; auf dieses folgte
  • ein zweites bewohntes, das dem Gutsherrn gehörte. Die Gäste fanden den
  • Gutsherrn noch ungekämmt und verschlafen; er war nämlich erst vor kurzem
  • aufgestanden. Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein; sein Halstuch saß
  • schief, sein Rock war geflickt, und der eine Stiefel hatte ein Loch.
  • Er war hocherfreut über die Ankunft der Gäste, als ob Gott weiß was
  • geschehen wäre: man hätte glauben können, er sähe seine Brüder nach
  • langer Trennung zum ersten Male wieder.
  • »Konstantin Fjodorowitsch! Platon Michailowitsch! Nein solch eine
  • Freude. Ich muß mir wirklich die Augen reiben! Ich dachte schon, zu mir
  • kommt keiner mehr. Jeder geht mir aus dem Wege, wie der Pest: alle Leute
  • denken, ich will sie um Geld anbetteln. Ja, ja, Konstantin
  • Fjodorowitsch. Das Leben ist schwer. Ich sehe -- ich bin selbst schuld
  • an allem. Aber, was soll ich tun? Ich lebe wie ein Schwein. Verzeihen
  • Sie bitte, meine Herren, daß ich Sie in einem solchen Kostüm empfange:
  • Sie sehen, meine Stiefel sind durchlöchert. Was darf ich Ihnen
  • vorsetzen?«
  • »Bitte, ganz ohne Umstände! Wir wollen ein Geschäft mit Ihnen machen.
  • Hier haben Sie einen Käufer für Ihr Gut; Pawel Iwanowitsch
  • Tschitschikow,« sagte Kostanshoglo.
  • »Ich freue mich von Herzen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Bitte, lassen
  • Sie mich Ihre Hand drücken!«
  • Tschitschikow reichte ihm beide Hände.
  • »Ich würde Ihnen gern mein Gut zeigen, verehrtester Pawel Iwanowitsch,
  • es ist sehr interessant ... Aber darf ich zuvor fragen, meine Herren, ob
  • Sie auch gegessen haben?«
  • »Freilich haben wir gegessen,« versetzte Kostanshoglo, der ihn möglichst
  • schnell los sein wollte. »Wir wollen keine Zeit verlieren und das Gut
  • gleich jetzt besichtigen.«
  • »Gut, dann wollen wir gehen.« Chlobujew nahm seine Mütze in die Hand.
  • »Kommen Sie, Sie sollen selbst sehen, wie unordentlich und liederlich
  • ich bin.«
  • Die Gäste setzten ihre Hüte auf und schritten die Dorfstraße hinab.
  • Zu beiden Seiten der Straße standen finstere elende Hütten mit winzigen
  • Fenstern, die mit alten Lappen zugestopft waren.
  • »Ja, kommen Sie, Sie sollen selbst sehen, wie unordentlich und
  • liederlich ich bin,« sagte Chlobujew. »Es war natürlich sehr vernünftig
  • von Ihnen, daß Sie schon gegessen haben. Sie werden mir's nicht glauben,
  • Konstantin Fjodorowitsch, ich habe nicht einmal ein Huhn mehr im Hause,
  • soweit ist's mit mir gekommen!«
  • Er seufzte, und da er wohl ahnte, daß er bei Konstantin Fjodorowitsch
  • nur wenig Teilnahme finden werde, nahm er Platonow unter den Arm und
  • ging mit ihm voraus, indem er seine Hand kräftig an sich drückte,
  • Kostanshoglo und Tschitschikow blieben ein wenig zurück und folgten
  • ihnen Arm in Arm in einiger Entfernung.
  • »Man hat's nicht leicht, Platon Michailowitsch, wahrhaftig!« sagte
  • Chlobujew zu Platonow. »Sie können sich's garnicht vorstellen, wie
  • schwer man es hat! Kein Geld, kein Korn, keine Stiefel -- für Sie sind
  • das freilich alles bloß Worte einer fremden Sprache. Das wäre natürlich
  • nicht so schlimm, wenn man noch jung und unverheiratet wäre. Aber wenn
  • all diese Sorgen und dies Ungemach einen im Alter überfallen und man hat
  • noch dazu ein Weib und fünf Kinder -- dann verliert man den Mut, ob man
  • will oder nicht ...«
  • »Und wenn Sie das Gut verkaufen -- glauben Sie, daß Ihnen damit geholfen
  • wäre?« fragte Platonow.
  • »Ach was! Geholfen!« versetzte Chlobujew mit einer hoffnungslosen
  • Gebärde. »Es wird _doch_ alles bei der Bezahlung der Schulden
  • draufgehen, ich selbst werde keine tausend Rubel übrig behalten!«
  • »Und was wollen Sie dann anfangen?«
  • »Das weiß Gott allein.«
  • »Warum tun Sie denn gar nichts, um aus diesen Verhältnissen
  • herauszukommen?«
  • »Was soll ich denn machen?«
  • »Nehmen Sie doch irgend eine Stellung an.«
  • »Ich habe ja keinen Rang und keine Titel. Was kann ich für eine Stellung
  • annehmen? Ich kann höchstens einen ganz unbedeutenden Posten erhalten.
  • Und was soll ich mit einem Gehalt von fünfhundert Rubeln anfangen? Ich
  • habe doch eine Frau und fünf Kinder.«
  • »Nehmen Sie doch eine Stellung als Verwalter auf einem Gute an.«
  • »Wer wird mir denn sein Gut anvertrauen, wo ich selbst alles
  • durchgebracht habe!«
  • »Ja aber man muß doch etwas unternehmen, wenn man vor dem Hungertode
  • steht. Ich will meinen Bruder fragen, ob er Ihnen nicht durch irgend
  • einen Bekannten eine Stelle in der Stadt verschaffen kann.«
  • »Nein, Platon Michailowitsch,« sagte Chlobujew seufzend und drückte
  • Platonow kräftig die Hand. »Ich tauge doch zu nichts mehr! Ich bin
  • vorzeitig alt geworden, und leide an Kreuzschmerzen und an Rheumatismus.
  • Das sind die alten Sünden! Was kann ich denn leisten? Wozu soll ich den
  • Staat plündern? Es gibt jetzt ohnedies genug Leute, die nur deshalb in
  • den Staatsdienst treten, weil sie ein warmes Plätzchen haben wollen.
  • Gott behüte! Ich will nicht, daß den armen Leuten noch neue Steuern
  • aufgehalst werden, damit ich nur mein Gehalt ausbezahlt bekomme!«
  • »Das sind die Folgen seiner ausschweifenden Lebensweise!« dachte
  • Platonow. »Das ist noch schlimmer als meine Lethargie.«
  • Während sie so sprachen, ging Kostanshoglo mit Tschitschikow hinter
  • ihnen her; er war ganz außer sich vor Wut.
  • »Da, sehen Sie,« sagte er, indem er mit dem Finger auf das Dorf wies:
  • »was er aus den Bauern gemacht hat! Dieses Elend! Nicht mal Pferd und
  • Wagen haben sie mehr. Wenn eine Viehseuche im Lande ausbricht, -- dann
  • darf man nicht mehr an sein eigenes Hab und Gut denken: da verkauft man
  • eben alles und schafft neues Vieh für den Bauer an, damit er auch nicht
  • _einen_ Tag ohne die notwendigen Arbeitswerkzeuge bleibt. Aber das da
  • läßt sich nicht so schnell wieder gut machen. Dazu braucht man viele
  • Jahre. Der Bauer ist ja auch schon ganz verändert, er bummelt und säuft.
  • Wenn man ihn nur ein einziges Jahr lang ohne Arbeit sitzen läßt, dann
  • hat man ihn für alle Zeiten verdorben: er gewöhnt sich daran, in Lumpen
  • herumzulaufen und findet Geschmack am Vagabundenleben ... Und sehen Sie
  • einmal das Land an. Nun was sagen Sie,« fuhr er fort, indem er auf die
  • Wiesen deutete, die gleich hinter den Hütten sichtbar wurden. »Alles
  • Land, das jedes Frühjahr überschwemmt ist. Ich würde da Flachs säen, der
  • mir allein fünftausend Rubel einbringen würde, und dann würde ich Rüben
  • pflanzen, die mir noch einmal viertausend eintragen müßten ... Sehen Sie
  • sich bloß einmal den Roggen dort am Abhange an; da hat einer ein paar
  • Körner verschüttet. Denn er hat ja doch kein Korn gesät -- das weiß ich.
  • Und dort -- diese Schlucht! Da würde ich einen Wald anlegen. Die Stämme
  • sollten mir bald bis an den Himmel reichen. Und so einen Schatz, so ein
  • herrliches Stück Land läßt er brach liegen! Wenn man schon keinen Pflug
  • hat, um es zu pflügen, dann nimmt man den Spaten, gräbt es um und
  • pflanzt Gemüse darauf. Das gäbe einen prächtigen Gemüsegarten! Aber man
  • muß den Spaten selbst in die Hand nehmen, muß Frau und Kinder und alle
  • Dienstboten zu Hilfe nehmen, und arbeiten bis man hinfällt! Und wenn man
  • schließlich selbst dabei zugrunde geht, dann hat man doch wenigstens
  • seine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit getan, und ist doch nicht
  • krepiert wie ein Schwein, weil man sich bei Tisch zu voll gefressen
  • hat!« Hier spuckte Kostanshoglo zornig aus und eine finstere Wolke
  • umschattete seine Stirn.
  • Als sie sich dem Abhang näherten und in die mit wildem Beifuß bewachsene
  • Schlucht hinabsahen, da leuchtete plötzlich eine Windung des Flusses
  • hell auf, hinter ihm erhob sich ein dunkler Gebirgszug, und ein Teil vom
  • Hause des Generals Betrischtschew, das in der Perspektive viel näher
  • erschien, tauchte aus dem Gebüsch auf. Dahinter bemerkte man einen
  • lockigen, mit Wald bewachsenen Berg, der in der Entfernung bläulich
  • flimmerte. Dieser Berg brachte Tschitschikow auf den Gedanken, das
  • könnte wohl das Gut Tentennikows sein, und er sagte, »wenn man hier
  • einen Wald anpflanzen würde, -- dann gäbe es einen Anblick, der sich,
  • was Schönheit anbelangt, ruhig mit ....«
  • »Ach! Sie sind ein Freund von schönen Ausblicken,« sagte Kostanshoglo
  • plötzlich, und sah ihn sehr streng an. »Nehmen Sie sich in acht, wenn
  • Sie zuviel auf die schöne Aussicht geben, können Sie eines Tages ohne
  • Brot und auch ohne alle Aussichten dasitzen. Fragen Sie lieber nach dem
  • Nutzen und nicht nach der äußeren Schönheit. Die Schönheit wird schon
  • von selbst kommen. Das beste Beispiel sind die Städte: die
  • allerschönsten Städte sind die, welche gleichsam von selbst aus dem
  • Boden gewachsen sind, wo jeder sich ein Haus nach seinem eigenen
  • Geschmack und Bedürfnis gebaut hat. Die Städte dagegen, die alle nach
  • einer Schablone gebaut sind, -- sehen aus wie Kasernen. Vergessen Sie
  • die Schönheit und denken Sie vor allem an den Nutzen und an Ihre
  • Bedürfnisse.«
  • »Wie schade, daß man so lange warten muß! Man möchte alles recht schnell
  • so sehen, wie man es zu haben wünscht ...«
  • »Sie sind doch kein fünfundzwanzigjähriger Jüngling ...! Man merkt
  • gleich den Petersburger Beamten ...! Geduld! Arbeiten Sie mal erst sechs
  • Jahre nacheinander. Pflanzen, säen, graben Sie, ohne einen Augenblick
  • auszuruhen. Es ist schwer, gewiß, es ist sogar _sehr_ schwer. Aber wenn
  • Sie den Boden erst einmal gründlich aufgerüttelt haben, sodaß er Ihnen
  • selbst hilft, so ist das gleich eine ganz andre Sache, als Ihre .... Ja,
  • ja, Verehrtester, dann werden Sie merken, daß außer Ihren _siebzig_ noch
  • _siebenhundert_ andre, _unsichtbare_ Hände an der Arbeit waren! Alles
  • verzehnfacht sich! Ich brauchte jetzt keinen Finger zu rühren -- und
  • doch ginge alles wie von selbst. Ja die Natur liebt die Geduld: das ist
  • ein Gesetz, das uns der Herr selbst gegeben hat, _Er_ der die Geduldigen
  • selig pries.«
  • »Wenn man Sie reden hört, dann fühlt man neue Kraft durch seine Adern
  • rinnen. Man bekommt Mut und Lust zum Schaffen!«
  • »Sehen Sie doch, wie das Stück Land dort gepflügt ist!« rief
  • Kostanshoglo mitleidig und bitter aus, indem er auf den Abhang zeigte.
  • »Ich kann es hier nicht länger aushalten; diese Unordnung und
  • Verwahrlosung bringt mich um. Sie können den Kauf mit ihm auch ohne mich
  • abschließen. Nehmen Sie diesem Narren diesen Schatz so schnell als
  • möglich ab. Er schändet bloß Gottes herrliche Natur!« Kostanshoglo war
  • sehr aufgeregt und sah finster und ärgerlich drein. Er nahm Abschied von
  • Tschitschikow, holte Chlobujew ein und verabschiedete sich gleichfalls
  • von ihm.
  • »Aber ich bitte Sie, Konstantin Fjodorowitsch!« sagte der Hausherr
  • erstaunt, »Sie sind doch erst eben gekommen und wollen schon wieder
  • fort!«
  • »Ich kann nicht länger bleiben. Ich muß unbedingt wieder nach Hause
  • fahren,« versetzte Kostanshoglo. Er verabschiedete sich, stieg in den
  • Wagen und fuhr davon.
  • Chlobujew schien den Grund seines plötzlichen Verschwindens begriffen zu
  • haben.
  • »Konstantin Fjodorowitsch hat's nicht ausgehalten,« sagte er, »für einen
  • so tüchtigen Landwirt wie er ist es freilich kein Vergnügen, diese
  • schreckliche Wirtschaft mit anzusehn. Glauben Sie mir, Pawel
  • Iwanowitsch, ich habe in diesem Jahr nicht einmal Korn gesät. Mein
  • Ehrenwort! Ich hatte keinen Samen, ganz abgesehen davon, daß ich keinen
  • Pflug und kein Pferd habe, um zu pflügen. Man sagt, Ihr Bruder sei ein
  • so vorzüglicher Wirt, Platon Michailowitsch; von Konstantin
  • Fjodorowitsch will ich gar nicht reden! -- Das ist ein Napoleon in
  • seinem Fach. Ich habe mich schon oft gefragt: Warum mußten sich soviel
  • Geist und Verstand in einem Kopfe vereinigen. Warum konnte nicht auch
  • für meinen Schädel wenigstens ein Tröpfchen übrig bleiben. Nehmen Sie
  • sich in acht, meine Herren; beim Übergang über diesen Steg ist die
  • größte Vorsicht geboten, wenn Sie nicht in die Pfütze plumpsen wollen.
  • Ich habe im Frühjahr die Bretter ausbessern lassen ... Am meisten tun
  • mir meine armen Bauern leid ... sie brauchen ein gutes Beispiel, aber
  • was kann _ich_ ihnen für ein Beispiel geben? Was soll ich machen? Nehmen
  • Sie sie mir ab, Pawel Iwanowitsch. Wie soll ich sie an Ordnung gewöhnen,
  • wenn ich selbst ein so unordentlicher Mensch bin? Ich hätte sie am
  • liebsten ganz freigelassen, aber das hätte ja auch keinen Sinn. Ich weiß
  • sehr gut, daß man erst _andre Menschen_ aus ihnen machen muß, Menschen,
  • die zu leben verstehen. Dazu bedürfte es eines gerechten und strengen
  • Mannes, der immer mit ihnen zusammenlebt und sie durch sein eigenes
  • Beispiel und seine unermüdliche Tätigkeit ... Ein Russe -- das sehe ich
  • an mir selbst -- kann nicht ohne einen Menschen auskommen, der ihn
  • aufmuntert und anspornt, sonst schläft er ein und versauert.«
  • »Seltsam,« sagte Platonow, »woran liegt das bloß; daß der Russe immer
  • gleich einschläft, und daß der gemeine Mann ein Taugenichts und ein
  • Trunkenbold wird, wenn man ihn aus dem Auge läßt!«
  • »Das macht der Mangel an Bildung,« bemerkte Tschitschikow.
  • »Weiß Gott, woran das liegt. Wir haben doch auch eine gewisse Bildung,
  • haben die Universität besucht, und wozu taugen wir? Was habe ich zum
  • Beispiel gelernt? Verstehe ich es denn zu leben, eher habe ich es
  • gelernt, mein Geld für allerhand Luxus und überflüssige Finessen
  • auszugeben; und ich kenne bloß solche Dinge, die einen Geld kosten? --
  • Aber glauben Sie nur nicht, daß das daher kommt, weil ich einen
  • schlechten Unterricht genossen habe. -- Durchaus nicht, der Unterricht
  • war nicht schlechter als der meiner Kameraden. Zweien oder dreien von
  • ihnen hat er ja auch genützt, aber vielleicht nur deshalb, weil sie auch
  • ohnedies gescheit und begabt genug waren, die übrigen haben für nichts
  • Interesse, als wie man seine Gesundheit ruiniert und andern Leuten ihr
  • Geld abnimmt. Bei Gott. Wissen Sie, was ich glaube: mitunter kommt es
  • mir fast so vor, als ob der Russe -- ein verlorener Mensch ist. Wir
  • wollen alles und können nichts. Alles verschieben wir auf morgen, dann
  • nehmen wir uns vor, ein neues Leben zu beginnen, und strenge Diät zu
  • halten; ja prosit, noch am selben Abend schlägt man sich den Bauch so
  • voll, daß einem die Augenlider zusinken und man die Zunge kaum bewegen
  • kann -- dann sitzt man da wie eine Eule und glotzt die andern Leute an
  • -- wahrhaftig. Und so sind wir alle!«
  • »Ja,« sagte Tschitschikow lächelnd, »so was kann vorkommen!«
  • »Wir sind garnicht zum Vernünftigsein geboren. Ich glaube nicht, daß es
  • vernünftige Menschen unter uns gibt. Selbst wenn ich mit meinen eigenen
  • Augen sehe, daß ein Mensch ein geordnetes Leben führt, Geld verdient und
  • erspart, dann traue ich ihm trotzdem nicht. Lassen Sie ihn erst einmal
  • alt werden, früher oder später fällt er doch dem Teufel in die Krallen
  • und bringt seinen letzten Heller durch. Und so sind alle: die Gebildeten
  • wie die Ungebildeten. Nein, es fehlt uns eben noch etwas, ich weiß
  • freilich selbst nicht recht, was es ist.«
  • Auf dem Rückwege genoß man denselben Anblick. Eine grauenhafte Unordnung
  • machte sich überall in unangenehmer Weise bemerkbar. Das einzige Neue
  • war eine große Pfütze inmitten der Straße. Alles bot das Bild einer
  • furchtbaren Verwilderung und Vernachlässigung dar: beim Gutsherrn wie
  • beim Bauern. Ein böses Weib in einem fettigen groben Leinenrock hatte
  • ein kleines Mädchen halbtot geprügelt und schimpfte nun, was das Zeug
  • hält, auf eine dritte Person, indem sie alle Teufel zu Hilfe rief. Etwas
  • weiter standen zwei Bauern und sahen mit stoischem Gleichmut zu, wie das
  • betrunkene Weib sich ereiferte und schimpfte. Der eine kratzte sich die
  • hintere Partie und der andere gähnte. Dieses Gähnen schien sich auch den
  • Häusern und Gebäuden mitzuteilen, selbst die Dächer schienen zu gähnen.
  • Dieser Anblick wirkte ansteckend auf Platonow, er konnte sich nicht
  • enthalten gleichfalls zu gähnen. -- Ein Flicken saß auf dem andern. Bei
  • einer Hütte ersetzte ein Haustor das Dach, die morschen, eingefallenen
  • Fensterrahmen wurden von Stangen gestützt, welche aus der
  • herrschaftlichen Scheune entwendet waren. Wie man sieht, hielt man sich
  • im Haushalt an das System der Fabel von »Trischkas Kaphtan«, man trennte
  • die Aufschläge und Rockschöße ab, um die Löcher im Ärmel zu stopfen.
  • »Das ist gerade kein beneidenswerter Zustand,« sagte Tschitschikow, als
  • sie nach gründlicher Besichtigung vor dem Hause anlangten ... Man begab
  • sich ins Zimmer, und die Gäste waren erstaunt über die seltsame Mischung
  • von Armut und dem Flitterglanz eines modernen Luxus. Auf dem Tintenfaß
  • saß eine Figur, die wohl Shakespeare darstellen sollte, auf dem Tische
  • lag ein eleganter Elfenbeinstift, mit dem sich der Hausherr den eigenen
  • Rücken kratzte. Die Hausfrau war modern und geschmackvoll gekleidet, sie
  • sprach von der Stadt, und vom Theater, das dort gerade eröffnet worden
  • war. Die Kinder waren lustig und munter. Die Knaben und die Mädchen
  • trugen hübsche und geschmackvolle Kleider. Es wäre freilich besser
  • gewesen, sie hätten bunte Leinenröcke und schlichte Hemdchen angezogen,
  • und wären im Hofe herumgelaufen ganz wie die einfachen Bauernkinder.
  • Bald erschien auch eine Dame, die der Hausfrau einen Besuch machte, eine
  • schreckliche Schwätzerin, die furchtbar viel unnützes und törichtes Zeug
  • plapperte. Die Damen zogen sich zurück, und die Kinder liefen gleich
  • darauf auch fort. Die Herren blieben allein im Zimmer.
  • »Also, was ist Ihr Preis?« sagte Tschitschikow. »Ich muß gestehen, es
  • wäre mir lieb den äußersten Preis zu erfahren, denn das Gut ist in einer
  • viel schlechteren Verfassung, als ich annahm.«
  • »Oh, in der allerschlechtesten Verfassung, Pawel Iwanowitsch,« versetzte
  • Chlobujew. »Aber das ist noch nicht alles. Ich will Ihnen nichts
  • verheimlichen: von den hundert Seelen, die in der Revisionsliste stehen,
  • sind nur noch fünfzig am Leben; die Cholera hat bei uns furchtbar
  • aufgeräumt; der Rest ist ohne Paß davongelaufen. Sie können Sie auch zu
  • den Toten zählen; wenn man sie von Gerichts wegen zurückholen wollte,
  • dann würde das solche Unkosten verursachen, daß das ganze Gut den
  • Gerichten verfiele. Ich fordere daher auch nur fünfunddreißigtausend.«
  • Tschitschikow fing natürlich an zu handeln.
  • »Ich bitte Sie? Fünfunddreißigtausend! Fünfunddreißigtausend für so ein
  • Gut! Nein sagen wir doch lieber fünfundzwanzigtausend.«
  • Platonow wurde verlegen. »Kaufen Sie es nur, Pawel Iwanowitsch,« sagte
  • er. »Für so ein Gut kann man schon eine solche Summe bezahlen. Wenn Sie
  • keine fünfunddreißigtausend dafür geben wollen, dann kaufen wir es, mein
  • Bruder und ich.«
  • »Also gut, ich bin einverstanden,« sagte Tschitschikow ganz erschrocken.
  • »Nur eins; ich kann die Hälfte der Summe erst nach einem Jahr bezahlen.«
  • »Nein, Pawel Iwanowitsch! Darauf kann ich mich leider in keinem Fall
  • einlassen; Sie müssen mir gleich jetzt die Hälfte geben, und die andre
  • in spätestens zwei Wochen. Die Bank würde mir ja dies Geld auszahlen,
  • wenn ich nur soviel hätte, um ...«
  • »Ja, wie denn nur? Ich weiß wirklich nicht,« sagte Tschitschikow, »ich
  • habe ja überhaupt nur zehntausend Rubel flüssig.« Er log. Wenn man das
  • von Kostanshoglo entliehene Geld hinzurechnete, verfügte er im ganzen
  • über zwanzigtausend Rubel. Aber man entschließt sich bekanntlich nicht
  • leicht, eine so große Summe auf den Tisch zu legen.
  • »Nein; ich bitte Sie, Pawel Iwanowitsch. Ich versichere Ihnen, ich
  • brauche unbedingt fünfzehntausend.«
  • »Ich will Ihnen fünftausend Rubel leihen,« unterbrach ihn Platonow.
  • »Unter diesen Umständen könnte ich's vielleicht wagen!« sagte
  • Tschitschikow und dachte sich: »Hm, das trifft sich aber gut, daß er mir
  • was leihen will.« Er ließ sich seine Schatulle aus dem Wagen bringen und
  • nahm sofort die für Chlobujew bestimmten zehntausend Rubel heraus; die
  • übrigen fünftausend versprach er ihm morgen mitzubringen; wohl gemerkt,
  • er _versprach_ es nur, in Wahrheit wollte er ihm nur dreitausend geben,
  • den Rest dachte er ihm später nach zwei oder drei Tagen auszuhändigen;
  • wenn es ging, wollte er ihn jedoch noch länger warten lassen. Pawel
  • Iwanowitsch wurde es ganz _besonders_ schwer, sich von seinem Gelde zu
  • trennen. Wenn es aber unbedingt notwendig war, so schien es ihm immer
  • noch besser, das Geld wenigstens _einen_ Tag später, als verabredet,
  • auszuzahlen. Das heißt, eigentlich machte er es genau so, wie wir alle.
  • Es macht uns doch allen Spaß, unseren Schuldner etwas warten zu lassen:
  • mag er sich doch seine Absätze ablaufen und eine Weile im Vorzimmer
  • sitzen! Als ob er wirklich durchaus nicht mehr warten könnte! Was geht
  • es uns an, daß ihm vielleicht jede Stunde teuer ist, und daß seine
  • Geschäfte darunter leiden! »Kommen Sie nur morgen wieder, Verehrtester,
  • heute habe ich leider keine Zeit!«
  • »Und wohin wollen Sie ziehen, wenn das Gut verkauft ist?« fragte
  • Platonow Chlobujew. »Haben Sie denn noch ein andres Gütchen?«
  • »Nein, ich muß schon in die Stadt übersiedeln, dort habe ich ein eigenes
  • Häuschen. Ich hätte das ja auch ohnedies machen müssen: wenn nicht für
  • mich, so um meiner Kinder willen: sie müssen doch was lernen, ich muß
  • ihnen einen Religionslehrer, einen Tanzlehrer und Musiklehrer halten. Wo
  • wollen Sie die auf dem Lande hernehmen?«
  • »Er hat keinen Bissen Brot im Hause, und will seinen Kindern
  • Tanzunterricht geben lassen!« dachte Tschitschikow.
  • »Merkwürdig!« dachte Platonow.
  • »Aber wir müssen doch unser Geschäft auch begießen!« sagte Chlobujew:
  • »He Kirjuschka! Hol doch mal schnell eine Flasche Champagner!«
  • »Er hat kein Stück Brot im Hause, dafür aber Champagner!« dachte
  • Tschitschikow.
  • Platonow wußte dagegen überhaupt nicht, was er denken sollte.
  • Zu seinem Champagner war Chlobujew fast gegen seinen Willen gekommen. Er
  • hatte in die Stadt nach Kwas schicken lassen, aber im Kaufladen wollte
  • man ihm keinen Kwas[5] leihen. Was sollte er tun? Man mußte am Ende doch
  • seinen Durst stillen. Da erschien ein französischer Weinreisender aus
  • Petersburg, der überließ seinen Wein allen Leuten auf Kredit. So blieb
  • denn Chlobujew nichts übrig, und er mußte ihm auch ein paar Flaschen
  • Champagner abnehmen.
  • [Fußnote 5: Eine Art Weißbier.]
  • Der Champagner stand bald auf dem Tische. Jeder trank drei Gläser, und
  • die Stimmung wurde bald animiert, Chlobujew taute auf, wurde
  • liebenswürdig und geistreich und ließ eine Menge Anekdoten und Witze vom
  • Stapel. Aus seinen Reden sprach eine große Welt- und Menschenkenntnis!
  • Wie scharf und richtig faßte er die Dinge auf, wie sicher und treffend
  • konnte er die Gutsherren aus der Nachbarschaft mit ein paar Worten
  • charakterisieren, wie klar erkannte er all ihre Fehler und Mängel, wie
  • gut war ihm die Geschichte aller Gutsbesitzer, die sich ruiniert hatten,
  • bekannt; wie komisch und originell wußte er ihre kleinen Eigenheiten und
  • Gewohnheiten zu beschreiben: die Gäste waren ganz bezaubert von seiner
  • Unterhaltung, und hätten ihn bereitwilligst für den Gescheitesten aller
  • Menschen erklärt.
  • »Ich verstehe nicht, wie Sie bei soviel Geist und Verstand nicht Mittel
  • und Wege finden, um sich zu helfen,« sagte Tschitschikow.
  • »An den Mitteln fehlt es mir nicht,« sagte Chlobujew und rückte sogleich
  • mit einem ganzen Haufen von Projekten heraus. Aber sie waren alle so
  • unsinnig, so seltsam, und ließen so sehr jegliche Welt- und
  • Menschenkenntnis vermissen, daß man nur mit den Achseln zucken und sagen
  • konnte: »Herrgott! welch eine unendliche Kluft liegt doch zwischen der
  • Welt- und Menschenkenntnis und der Fähigkeit, sie auszunutzen!« All
  • seine Pläne hatten zur Voraussetzung, daß er sich plötzlich hundert-
  • oder sogar zweihunderttausend Rubel verschaffen könnte. Wenn ihm das
  • gelänge, dann glaubte er, würde alles in den rechten Gang kommen, die
  • Wirtschaft würde aufblühen, alle Löcher würden sich verstopfen lassen,
  • die Einkünfte würden sich vervierfachen, und bald würde er auch in der
  • Lage sein, all seine Schulden zu bezahlen. Und er schloß seine Rede mit
  • folgenden Worten: »Aber was soll man machen? Es gibt halt keinen solchen
  • edlen Mann, der sich entschließen würde, mir zweihundert- oder
  • meinetwegen auch nur hunderttausend Rubel zu leihen. Es ist wohl nicht
  • Gottes Wille.«
  • »Das fehlte noch, daß Gott solch einem Narren zweimalhunderttausend
  • Rubel in den Schoß werfen sollte!« dachte Tschitschikow.
  • »Ich habe ja freilich noch eine Tante, eine dreifache Millionärin,«
  • sagte Chlobujew, »eine sehr fromme alte Dame: für Kirchen und Klöster
  • hat sie immer was übrig, aber wenn's gilt, seinem Nächsten zu helfen,
  • dann ist sie sehr spröde. Wissen Sie, so eine Tante alten Schlages, es
  • lohnt sich schon, sie einmal näher anzusehen. Sie hat allein gegen
  • vierhundert Kanarienvögel, dazu Möpse, Gesellschafterinnen und Bediente,
  • wie man sie heute garnicht mehr findet. Der jüngste ihrer Diener ist
  • mindestens sechzig Jahre alt, trotzdem sie ihn immer: »He Bursche!«
  • ruft. Wenn sich ein Gast nicht so benimmt, wie sie es wünscht, dann läßt
  • sie bei Tisch die Schüssel an ihm vorbeigehen, und die Bedienten tun
  • natürlich, was sie befiehlt. Na, was sagen Sie?«
  • Platonow lächelte.
  • »Und wie ist ihr Familienname?« fragte Tschitschikow.
  • »Sie wohnt in unserm Städtchen und heißt Alexandra Iwanowna
  • Chanassarowa.«
  • »Warum wenden Sie sich denn nicht an sie?« fragte Platonow teilnehmend.
  • »Ich meine, wenn sie sich in die Lage Ihrer Familie versetzte, könnte
  • sie es Ihnen garnicht abschlagen.«
  • »O nein. Das bringt sie doch fertig. Meine Tante hat eine recht robuste
  • Natur. Die Alte ist hart wie ein Kieselstein, Platon Michailowitsch!
  • Außerdem sind aber noch genug andre Leute da, die sich bei ihr
  • einzuschmeicheln suchen und beständig um sie herum sind. Da ist sogar
  • einer, der es auf einen Gouverneursposten abgesehen hat und sich für
  • einen Verwandten ausgibt .... Tu mir den Gefallen,« sagte er plötzlich
  • zu Platonow, »nächste Woche gebe ich ein Diner, zu dem ich alle
  • Honoratioren der Stadt einladen will.«
  • Platonow riß die Augen auf. Er wußte noch nicht, daß es in Rußland -- in
  • den Residenzen und Provinzstädten -- solche Lebenskünstler gibt, deren
  • Existenz ein unauflösliches Rätsel bildet. So ein Mann hat sein ganzes
  • Vermögen durchgebracht, steckt bis über die Ohren in Schulden, weiß
  • nicht, wo er einen Groschen hernehmen soll und gibt dennoch plötzlich
  • ein großes Diner. Alle Teilnehmer an diesem Fest behaupten, es sei das
  • letzte, morgen werde der Hausherr in den Schuldturm kommen. Aber siehe
  • da: es vergehen zehn Jahre -- unser Hexenmeister behauptet nach wie vor
  • seinen Platz in der Gesellschaft, steckt tiefer in Schulden denn je, und
  • gibt noch immer Diners, von denen alle Gäste glauben, es seien die
  • letzten, und noch immer ist alles überzeugt, daß der Hausherr morgen in
  • den Schuldturm kommen werde.
  • Chlobujews Haus in der Stadt war ein höchst seltsames und eigenartiges
  • Ding. Heute hielt dort ein Priester im Meßgewande eine Andacht ab,
  • morgen übten französische Schauspieler ein Stück ein. Es gab Tage, wo es
  • keine Brotkrume im Hause gab, was aber nicht ausschloß, daß bald darauf
  • ein großes Fest stattfand, an dem viele Schauspieler und Künstler
  • teilnahmen, die in höchst nobler Weise bewirtet und beschenkt wurden.
  • Dann kamen wieder so trübe Zeiten, daß ein anderer sich an Chlobujews
  • Stelle längst erhängt oder erschossen hätte; aber was ihn immer wieder
  • rettete, war seine Religiosität, die sich merkwürdigerweise aufs beste
  • mit seinem liederlichen Lebenswandel vertrug. In solchen Augenblicken
  • las er die Lebensbeschreibungen von Märtyrern und Asketen, die ihren
  • Geist dazu erzogen hatten, alles Unglück mit Gleichmut zu ertragen und
  • sich darüber zu erheben. Dann wurde er ganz weich und gerührt, und seine
  • Augen füllten sich mit Tränen. Er fing an zu beten -- und seltsam! --
  • immer kam ihm von irgend einer Seite eine unerwartete Hilfe; sei es nun,
  • daß sich ein alter Freund an ihn erinnerte und ihm Geld schickte, oder
  • daß irgend eine zufällig vorüberreisende unbekannte Dame, die von ihm
  • gehört hatte, ihm in einer plötzlichen großmütigen Regung ihres
  • weiblichen Herzens ein größeres Geschenk machte; oder er gewann einen
  • Prozeß, von dem er selbst noch nie etwas gehört hatte. Dann pries er
  • demütig die unerschöpfliche Barmherzigkeit der Vorsehung, ließ
  • Dankgebete abhalten, und begann von neuem sein liederliches Leben.
  • »Er tut mir leid, er tut mir wirklich sehr leid,« sagte Platonow zu
  • Tschitschikow, nachdem sie sich von ihm verabschiedet und ihren Wagen
  • wieder bestiegen hatten.(9)
  • »Ein verlorener Mensch!« versetzte Tschitschikow. »Solche Leute sollte
  • man nicht bedauern.«
  • Bald hatten sie ihn vergessen. Platonow dachte nicht mehr an ihn, weil
  • ihn die Menschen bei seiner Trägheit und Apathie ebensowenig
  • interessierten wie die ganze übrige Welt. Sein Herz krampfte sich
  • mitleidig zusammen, wenn er andre Leute leiden sah, aber diese
  • Empfindungen hinterließen keine dauernden Eindrücke in seiner Seele.
  • Schon nach wenigen Augenblicken war Chlobujew vergessen. Platonow dachte
  • nicht mehr an ihn, weil er kaum an sich selbst dachte. Auch
  • Tschitschikow hatte Chlobujew vergessen, weil seine Gedanken allen
  • Ernstes auf sein soeben erworbenes Gut gerichtet waren. Jedenfalls wurde
  • er jetzt, wo er plötzlich kein bloß eingebildeter, sondern leibhaftiger
  • Besitzer eines keineswegs phantastischen Landgutes geworden war,
  • nachdenklich, seine Gedanken und Pläne wurden ruhiger und gesetzter und
  • verliehen seinem Gesicht unwillkürlich einen bedeutenden Ausdruck:
  • »Geduld und Arbeit! Das ist keine Hexerei, die habe ich sozusagen mit
  • der Muttermilch eingesogen. Das ist für mich nichts neues. Aber werde
  • ich in meinem Alter auch noch soviel Geduld aufbringen wie in meinen
  • jungen Jahren?« Genug, wie dem auch sein mochte, wie er die Sache auch
  • ansah, von welcher Seite er sie betrachtete, er überzeugte sich, daß er
  • mit dem Kauf ein gutes Geschäft gemacht hatte. Er konnte ja auch eine
  • Hypothek auf das Gut aufnehmen, nachdem er zuvor das beste Land in
  • kleine Parzellen geteilt und verkauft hatte. Aber er konnte die Sache
  • schließlich auch selbst in die Hand nehmen, und ein tüchtiger Landwirt
  • nach der Art Kostanshoglos werden; er durfte sicherlich auf dessen Rat
  • und Beistand rechnen, jetzt wo er sein Nachbar geworden, und wo er ihm
  • zu so großem Danke verpflichtet war. Ja, man konnte es auch
  • folgendermaßen machen: man konnte das Land weiter verkaufen
  • (selbstverständlich nur dann, wenn man sich selbst nicht mit der
  • Bewirtschaftung des Gutes befassen wollte) und nur die toten und
  • flüchtigen Bauern behalten. Das hätte noch einen andern Vorteil: man
  • konnte überhaupt ganz vom Schauplatz verschwinden und Kostanshoglo das
  • von ihm entliehene Geld gar nicht zurückgeben. Ein sonderbarer Gedanke!
  • Man kann nicht sagen, daß _Tschitschikow_ auf diesen Gedanken gekommen
  • war, er stand vielmehr plötzlich wie von selbst vor ihm, neckte,
  • verspottete ihn und blinzelte ihn listig an. Ein leichtsinniger,
  • liederlicher Gedanke! Wer wohl der Schöpfer solcher Gedanken ist, die so
  • plötzlich über uns kommen? ... Tschitschikow empfand eine große Freude,
  • daß er Gutsbesitzer geworden war -- kein bloß eingebildeter oder
  • phantastischer, nein ein wirklicher wahrhafter Gutsbesitzer, der ein
  • _Grundstück_, ein Stück Land und Leibeigene -- keine bloß vorgestellten,
  • nur in der Phantasie existierenden, sondern wirkliche lebendige Arbeiter
  • besaß. Und allmählich fing er an, auf seinem Platz herumzuhopsen, sich
  • die Hände zu reiben und sich selbst zuzublinzeln, er ballte die Hand,
  • legte sie an den Mund wie eine Trompete und begann einen lustigen Marsch
  • zu blasen, ja er rief sich sogar ganz laut ein paar aufmunternde Worte
  • zu, und gab sich Kosenamen wie: mein Schnäuzchen, oder mein kleiner
  • Kapaun! Aber er besann sich gleich darauf, daß er ja nicht allein sei,
  • wurde plötzlich wieder still und suchte den Eindruck zu verwischen, den
  • der Ausbruch einer ungezügelten Freude auf seinen Nachbar gemacht haben
  • mochte; und als Platonow, der die ihm zu Ohren gekommenen Töne für Worte
  • hielt, welche an ihn gerichtet waren, Tschitschikow ansah und fragte:
  • »Wie meinen Sie?« da antwortete jener verlegen: »Nichts, garnichts.«
  • Jetzt erst sah er sich um und bemerkte, daß sie schon längst durch eine
  • herrliche Allee fuhren, eine reizende Mauer aus Birkenstämmen zog sich
  • zu beiden Seiten den Weg entlang. Die hellen Stämme der Espen und Birken
  • glänzten wie ein schneeweißer Staketenzaun; schlank und leicht hoben sie
  • sich von dem zarten Grün der kaum entfalteten Blätter ab. Die
  • Nachtigallen im Gebüsch schlugen laut um die Wette. Gelbe Waldtulpen
  • schimmerten hell auf dem Grase. Tschitschikow konnte sich nicht recht
  • darüber klar werden, wie er plötzlich an diesen herrlichen Fleck gelangt
  • war, denn noch kurze Zeit vorher hatten sie sich auf offenem Felde
  • befunden. Zwischen den Bäumen hindurch sah man eine weiße steinerne
  • Kirche, und auf der andern Seite hinter der Allee -- ein Gitter. Am Ende
  • des Weges tauchte jetzt ein Herr auf, der ihnen entgegenzugehen schien:
  • er trug eine Mütze und einen Knotenstock in der Hand. Ein englischer
  • Schäferhund auf langen dünnen Beinchen lief vor ihm her.
  • »Da ist ja mein Bruder!« sagte Platonow, »Kutscher, halten Sie doch!«
  • Mit diesen Worten sprang er aus dem Wagen. Tschitschikow folgte seinem
  • Beispiel. Die Hunde schlossen sofort Freundschaft und beschnupperten
  • sich gegenseitig. Der mit den dünnen Beinen hieß Asor, schnell näherte
  • er sich seinem Kameraden Jarb und fuhr ihm mit seiner flinken Zunge über
  • die Schnauze, dann leckte er Platonow die Hände und sprang schließlich
  • an Tschitschikow empor und küßte ihn aufs Ohr.
  • Die Brüder umarmten sich.
  • »Aber lieber Platon, was machst du mir für Geschichten?« sagte der
  • Bruder, und blieb stehen. Sein Name war Wassilij.
  • »Was meinst du?« versetzte Platonow phlegmatisch.
  • »Aber ich bitte dich! Drei Tage lang läßt du überhaupt nichts von dir
  • hören. Petuchs Stallknecht hat deinen Hengst mitgebracht. >Er ist mit
  • einem Herrn weggefahren<, sagt er. Hättest du mir doch nur ein Wort
  • gesagt, wohin, wozu und auf wie lange du verreist bist, lieber Bruder,
  • wer tut denn nur so was? Gott allein weiß, was ich mir all diese Tage
  • für Gedanken gemacht habe!«
  • »Was soll ich machen? Ich habe es vergessen,« versetzte Platonow. »Wir
  • haben Konstantin Fjodorowitsch einen Besuch gemacht; er läßt dich
  • grüßen; deine Schwester ebenfalls. Pawel Iwanowitsch, darf ich Ihnen
  • meinen Bruder Wassilij vorstellen. Lieber Wassilij, dies ist Pawel
  • Iwanowitsch Tschitschikow.«
  • Beide Herrn, die hiermit aufgefordert wurden, sich näher kennen zu
  • lernen, drückten sich die Hand, nahmen ihre Mützen ab und küßten sich.
  • »Wer mag wohl dieser Tschitschikow sein?« dachte Wassilij. »Mein Bruder
  • Platon ist nicht gerade wählerisch in seinen Bekanntschaften.« Er
  • betrachtete Tschitschikow aufmerksam, soweit dies der Anstand zuließ,
  • und überzeugte sich, daß dieser, nach seinem Äußern zu urteilen, ein
  • sehr respektabler Herr war.
  • Tschitschikow betrachtete Wassilij seinerseits gleichfalls so
  • aufmerksam, als dies der Anstand gerade zuließ und sah, daß der Bruder
  • etwas kleiner war als Platon; sein Haar war etwas dunkeler und sein
  • Gesicht lange nicht so hübsch, wie das des Bruders, aber in seinen Zügen
  • lag viel mehr Leben, Bewegung und Herzensgüte. Man sah es ihm gleich an,
  • daß er nicht so schläfrig war wie Platon. Aber hierauf achtete Pawel
  • Iwanowitsch nur wenig.
  • »Weißt du, Wassja, ich habe mich entschlossen, mit Pawel Iwanowitsch
  • eine kleine Reise durch das heilige Rußland zu machen. Vielleicht werde
  • ich so meine Melancholie los.«
  • »Ja, wie kommst du nur plötzlich auf so etwas?« sagte der Bruder
  • Wassilij ganz erstaunt; er hätte beinahe noch hinzugefügt: »Und zu
  • alledem willst du noch mit einem Menschen reisen, den du zum ersten Mal
  • siehst, der vielleicht ein übler Kerl oder weiß Gott was nicht alles
  • ist.« Voller Mißtrauen schaute er nach Tschitschikow hin, aber er war
  • erstaunt über sein respektables Äußeres.
  • Sie traten rechts durchs Tor in einen altertümlichen Hof: auch das Haus
  • sah recht altertümlich aus; heute werden keine solchen Häuser mehr
  • gebaut: es hatte ein hohes Dach, und überall waren Schutzdächer
  • angebracht. Zwei gewaltige Linden standen in der Mitte des Hofes und
  • warfen einen mächtigen Schatten, der fast die Hälfte der ganzen Fläche
  • einnahm. Rings um sie herum standen mehrere Bänke. Blühende
  • Fliederbüsche und Faulbäume faßten den Hof wie ein Perlenhalsband ein;
  • eine Mauer friedigte ihn ein, welche ganz unter Blättern und Blüten
  • verschwand. Das Herrenhaus war von allen Seiten geschlossen, nur eine
  • kleine Tür und ein paar Fenster guckten freundlich unter den Ästen
  • hervor. Hinter den schnurgeraden Baumstämmen sah man die Küche, die
  • Vorratskammern und die Keller. Sie alle befanden sich im Garten. Die
  • Nachtigallen schlugen laut und erfüllten ihn mit ihrem Gesang.
  • Unwillkürlich zog ein beseeligendes Gefühl des Friedens in das Herz ein.
  • Alles gemahnte an jene sorglosen Zeiten, wo die Menschen noch friedlich
  • und gütlich nebeneinander lebten, und wo noch alles schlicht und einfach
  • herging. Bruder Wassilij lud Tschitschikow ein, Platz zu nehmen, und man
  • ließ sich auf den Bänken unter den Linden nieder.
  • Ein siebzehnjähriger Bursche in einem hübschen rosafarbenen Hemde
  • brachte ein Tablett herein und stellte es vor ihnen auf den Tisch. Es
  • war mit Karaffen voll Fruchtlimonaden der verschiedensten Arten und
  • Farben besetzt. Hier waren alle Sorten vertreten: die einen waren dick
  • und zähe wie Öl, andere moussierten wie Brauselimonaden. Nachdem der
  • Bursche die Karaffen auf den Tisch gestellt hatte, ergriff er die
  • Schaufel, die an einem Baume lehnte, und ging in den Garten. Die
  • Gebrüder Platonow hatten wie ihr Schwager Kostanshoglo keine
  • Dienstboten, sondern eigentlich nur Gärtner. Alle Knechte mußten der
  • Reihe nach dieses Amt übernehmen. Bruder Wassilij behauptete immer, die
  • Dienstboten bildeten keinen besonderen Stand: einem etwas reichen oder
  • bringen, das könne ein jeder und dazu brauche man sich keine besonderen
  • Bedienten zu halten; der Russe sei nur solange brav und fleißig, tüchtig
  • und kein Faulpelz, als er Hemd und Bauernkittel trage, sowie er sich
  • einen deutschen Rock anschaffe, werde er plötzlich plump und
  • ungeschickt, er fange an zu faulenzen, wechsele sein Hemd nicht mehr,
  • und gehe überhaupt nicht mehr ins Bad; er liege nur noch in seinem
  • deutschen Rocke herum und schlafe, bis sich in seinem neuen Kleide
  • zahllose Scharen von Wanzen und Flöhen einnisten. Vielleicht hatte er in
  • diesem Punkte nicht ganz unrecht. Auf dem Gute der Brüder waren die
  • Bauern ganz besonders vornehm und reich: der Kopfputz der Frauen
  • schimmerte von Gold, und die Ärmel ihrer Hemden waren schön gestickt wie
  • ein türkischer Schal. »Unser Haus ist berühmt wegen seiner Limonaden,«
  • sagte Wassilij.
  • Tschitschikow nahm das erste Fläschchen und schenkte sich ein Glas ein:
  • es schmeckte ganz wie Lindenmeth, den er einst in Polen getrunken hatte:
  • es moussierte wie Champagner, und die Kohlensäure stieg ihm in
  • angenehmem Bogen aus dem Mund in die Nase. »Der reinste Nektar!« sagte
  • er. Er schenkte sich noch ein Gläschen aus einer zweiten Karaffe ein --
  • und siehe da, es schmeckte noch besser.
  • »Das Getränk aller Getränke!« sagte Tschitschikow. »Ich kann wohl sagen,
  • bei Ihrem verehrten Schwager Konstantin Fjodorowitsch, habe ich den
  • besten Likör, bei Ihnen dagegen die herrlichste Limonade getrunken, die
  • ich jemals gekostet habe.«
  • »Der _Likör_ kommt ja auch von uns: den hat meine Schwester gemacht. Und
  • nach welcher Richtung gedenken Sie jetzt zu reisen? Welche Orte wollen
  • Sie besuchen?« fragte Bruder Wassilij.
  • »Ich reise,« versetzte Tschitschikow, indem er sich ein wenig auf der
  • Bank hin und her schaukelte, sich vornüber beugte und mit der Hand über
  • das Knie strich: »ich reise eigentlich nicht so sehr in eigenem
  • Interesse, wie in dem eines andern. General Betrischtschew, ein guter
  • Freund von mir, und ich kann wohl sagen mein Wohltäter, hat mich
  • gebeten, einige von seinen Verwandten zu besuchen. Die Sache mit den
  • Verwandten ist natürlich sehr wichtig, andererseits aber reise ich doch
  • auch wieder gewissermaßen in eigenen Angelegenheiten: denn ganz
  • abgesehen von der guten Wirkung, die das Reisen auf die Hämorrhoiden
  • hat, man erweitert seine Weltkenntnis, stürzt sich in den Strudel und
  • Wirbel des Menschenvolkes -- und das ist an und für sich schon sozusagen
  • ein lebendiges Buch und auch eine Art Wissenschaft.«
  • Bruder Wassilij wurde nachdenklich. »Der gute Mann spricht etwas
  • geschraubt, es liegt aber doch was Wahres in seinen Worten,« dachte er.
  • Er schwieg eine Weile still und sagte, indem er sich an seinen Bruder
  • Platon wandte: »Weißt du, Platon, ich fange an zu glauben, eine Reise
  • könnte dich wirklich etwas aufrütteln. Du leidest an einer Art geistigen
  • Schlafkrankheit, du bist einfach eingeschlummert, -- und nicht etwa weil
  • du übersättigt oder übermüdet bist, sondern weil es dir an lebendigen
  • Empfindungen und Eindrücken fehlt. Mir geht es gerade umgekehrt. Ich
  • wünschte, ich könnte nicht so stark und lebhaft empfinden und mir die
  • Dinge nicht so sehr zu Herzen nehmen.«
  • »Wozu nimmst du dir auch alles zu Herzen,« sagte Platon. »Du suchst
  • selbst nach Gründen oder erfindest dir welche, um dir Sorgen zu machen
  • und dich unnütz aufzuregen.«
  • »Man braucht sie doch garnicht zu erfinden, wenn man auf Schritt und
  • Tritt Unannehmlichkeiten hat,« versetzte Wassilij. »Hast du gehört, was
  • uns Lenitzyn in deiner Abwesenheit für einen Streich gespielt hat? -- Er
  • hat das Stück Haideland, auf dem wir Johannisnacht feiern, einfach
  • annektiert. Erstlich gebe ich dies Stück für kein Geld her ... Hier
  • feiern meine Bauern jedes Jahr Johannisnacht, mit diesem Flecke sind
  • soviel Erinnerungen für das ganze Gut verbunden; mir ist eine alte Sitte
  • -- etwas Heiliges, und ich bin bereit jedes Opfer für sie zu bringen.«
  • »Er wird das wohl nicht gewußt haben, als er es sich nahm,« sagte
  • Platonow, »er ist noch ganz neu hier im Lande, er kommt doch erst eben
  • aus Petersburg; man muß ihm die Sache klar machen.«
  • »Oh er weiß alles ganz genau. Ich habe zu ihm geschickt, und es ihm
  • sagen lassen. Er hat mir nur Grobheiten an den Kopf geworfen.«
  • »Du hättest eben selbst hinfahren und ihm alles erklären sollen.
  • Besprich doch die Sache mit ihm selbst.«
  • »Nein, danke schön. Er spielt mir zu sehr den großen Herrn. Zu dem fahre
  • ich nicht hin. Fahr du doch hin, wenn du durchaus willst.«
  • »Ich würde schon fahren, aber du weißt ja, ich mische mich nicht in
  • diese ... Er könnte mich ja _auch_ übers Ohr hauen und betrügen.«
  • »Wenn Sie wünschen, so will ich zu ihm hinfahren,« sagte Tschitschikow,
  • »erklären Sie mir nur, worum es sich handelt.«
  • Wassilij sah ihn an und dachte: »Dem scheint das Reisen großen Spaß zu
  • machen.«
  • »Können Sie mir nicht ungefähr andeuten, was er für ein Mensch und was
  • das für eine Angelegenheit ist?« fuhr Tschitschikow fort.
  • »Es ist mir sehr peinlich, Sie mit einem so unangenehmen Auftrag zu
  • betrauen. Meiner Ansicht nach ist er ein schlechter Kerl: er gehört dem
  • ärmeren Adel unserer Provinz an, und hat sich in Petersburg
  • hinaufgedient, nachdem er die illegitime Tochter irgend eines großen
  • Herrn geheiratet hat, und spielt jetzt den vornehmen Mann. Er will hier
  • den Ton angeben. Aber die Leute hierzulande sind auch nicht dumm, sie
  • kümmern sich den Teufel um die Mode, und Petersburg ist für sie garnicht
  • maßgebend.«
  • »Natürlich,« sprach Tschitschikow, »und worum handelt es sich?«
  • »Sehen Sie, er hat ja das Land wirklich nötig, wenn er nicht so
  • rücksichtslos gewesen wäre, hätte ich ihm gern an einer andern Stelle
  • umsonst ein Stück abgetreten ... So aber könnte der hochnäsige Mensch
  • noch glauben ...«
  • »Ich bin der Ansicht, es ist besser man sucht sich friedlich zu
  • verständigen: vielleicht ist die ganze Affäre ... Mit hat schon mancher
  • seine Sache anvertraut, und noch keiner hat es bereut ... General
  • Betrischtschew hat mir ja auch ...«
  • »Aber es ist mir so peinlich, daß Sie meinetwegen mit einem solchen
  • Menschen reden sollen ...«[6]
  • * * * * *
  • »...(10) Besonders wenn man berücksichtigt, daß dies ein Geheimnis war,«
  • sagte Tschitschikow, »denn das eigentlich Schädliche hierbei ist nicht
  • so sehr das Verbrechen wie das Ärgernis, das damit gegeben wird.«
  • »Ja wohl, Sie haben ganz recht,« fiel Lenitzyn ein, indem er den Kopf
  • ganz auf die Seite neigte.
  • »Wie angenehm es doch ist, sich mit einem andern einig zu wissen,«
  • sprach Tschitschikow. »Ich habe da auch eine Sache, die man in gewissem
  • Sinne gesetzlich und ungesetzlich zugleich nennen kann; oberflächlich
  • betrachtet scheint sie ungesetzlich zu sein, _tatsächlich_ steht sie
  • jedoch keineswegs im Widerspruch mit den Gesetzen. Ich brauche eine
  • Hypothek, aber ich kann es doch niemandem zumuten, das Risiko auf sich
  • zu nehmen und zwei Rubel für die lebendige Seele zu bezahlen. Wenn ich
  • Pech habe -- und Bankrott mache -- was Gott verhüte, -- dann hat der
  • Besitzer das Nachsehen: da habe ich mich denn entschlossen, mir den
  • Umstand zunutze zu machen, daß es tote und flüchtige Bauern gibt, die
  • noch nicht aus der Revisionsliste gestrichen sind; womit ich zugleich
  • ein christliches Werk tue und ihrem armen Besitzer die Steuern abnehme,
  • die er für sie bezahlen muß. Wir wollen der Formalität wegen nur einen
  • Kaufvertrag abschließen, wie wenn es sich um lebende handelte.«
  • [Fußnote 6: Hiermit schließt die 96. Seite des Manuskripts, weiter
  • fehlen zwei Seiten. In der ersten Auflage des zweiten Bandes hat S.
  • Schewyrew folgende Anmerkung zu dieser Stelle gemacht: »Hier ist eine
  • Lücke im Manuskript, welche wohl die Erzählung enthielt, wie
  • Tschitschikow sich aufmachte, um den Gutsbesitzer Lenitzyn zu besuchen.«
  • Anm. des Herausgebers.
  • ]
  • »Hm! Das ist aber eine höchst merkwürdige Geschichte!« dachte Lenitzyn
  • und rückte mit dem Stuhle ein wenig zurück. »Diese Sache ist allerdings
  • derartig ....« begann er.
  • »Ein Ärgernis kann es ja hierbei nicht geben, weil die Sache doch geheim
  • bleibt,« versetzte Tschitschikow; »zudem sind wir doch beide
  • wohlgesinnte und zuverlässige Menschen.«
  • »Hm, aber trotzdem, die Sache ist so eigentümlich ..«
  • »Ein Ärgernis kann es nicht geben,« entgegnete Tschitschikow offen und
  • ehrlich. »Es ist doch genau so eine Sache wie die, von der wir soeben
  • gesprochen haben: wir beide sind gutgesinnte, verständige, reife Leute,
  • die eine Stellung in der Gesellschaft einnehmen -- und dann bleibt doch
  • alles geheim.« Und während er dies sagte, sah er ihm offen und ehrlich
  • ins Auge.
  • Obgleich Lenitzyn sehr gewandt, sicher und ein gewiegter Geschäftsmann
  • war, geriet er diesmal ganz aus der Fassung, um so mehr als er sich
  • durch einen merkwürdigen Zufall gleichsam in seinem eigenen Netze
  • gefangen hatte. Er war gar keiner schlechten Handlung fähig und wollte
  • nichts Unrechtes tun, auch nicht im geheimen. »Ist das aber eine
  • sonderbare Geschichte!« dachte er: »Darnach schließe noch einer
  • Freundschaft mit einem anständigen Menschen. Eine schöne Geschichte!«
  • Aber das Schicksal und die Verhältnisse schienen Tschitschikow ganz
  • besonders günstig zu sein. Wie um beiden aus dieser kritischen Situation
  • zu helfen, trat plötzlich die junge Hausfrau, Lenitzyns Gattin, ins
  • Zimmer; sie war bleich, klein und mager, nach Petersburger Mode
  • gekleidet und hatte eine große Schwäche für Menschen, die in jeder
  • Hinsicht korrekt und _comme il faut_ waren. Gleich darauf brachte die
  • Amme Lenitzyns sein Söhnchen auf dem Arme herein, das erste Kind, die
  • Frucht einer zärtlichen Liebe der jungen Gatten. Tschitschikow sprang
  • schnell auf, ging gewandt und sicher auf die Hausfrau zu, neigte den
  • Kopf leicht auf die Seite und bezauberte die Petersburger Dame und nach
  • ihr auch das Kindchen durch seine Liebenswürdigkeit. Der Knabe fing zwar
  • zuerst an zu heulen, aber Tschitschikow gelang es schnell, ihn zu
  • beruhigen: er rief ihm: La, la, la, la mein Herzchen, zu, schnippte mit
  • den Fingern, zeigte ihm ein reizendes Karneolsiegel, das er an der
  • Uhrkette trug, und brachte das Kind bald so weit, daß es sich ruhig auf
  • den Arm nehmen ließ. Dann packte er es, hob es fast bis zur Decke hinauf
  • und entlockte dem Knaben zur höchsten Freude beider Eltern ein
  • liebliches Lächeln. Aber war es nun das ungewohnte Vergnügen oder hatte
  • es einen andern Grund, plötzlich passierte dem Kleinen etwas höchst
  • Peinliches.
  • »Ach Gott, ach Gott!« schrie Lenitzyns Gattin auf; »er hat Ihnen den
  • ganzen Frack verdorben!«
  • Tschitschikow warf einen Blick auf sein Kostüm; in der Tat: der eine
  • Ärmel des neuen Fracks war hin: »Daß dich doch der Teufel holte, kleiner
  • Satan!« dachte er ärgerlich.
  • Der Herr des Hauses, die Hausfrau und die Amme: alles lief hinaus, um
  • Kölnisches Wasser zu holen: dann kamen sie von allen Seiten angelaufen
  • und versuchten ihn abzuwischen.
  • »Es macht nichts, es macht nichts, das ist ja eine Kleinigkeit!« sagte
  • Tschitschikow und suchte seinem Gesicht einen möglichst freundlichen
  • Ausdruck zu verleihen: »Ein Kind in diesem goldenen Alter kann einem
  • doch nichts verderben,« wiederholte er, trotzdem aber dachte er sich:
  • »So ein Schelm, daß dich doch die Wölfe fräßen, hat der mich aber schön
  • zugerichtet, der verdammte kleine Schelm!«
  • Indessen dieser scheinbar so unbedeutende Vorfall hatte den Hausherrn
  • ganz zu Tschitschikows Gunsten umgestimmt. Wie konnte er einem Gast
  • etwas abschlagen, der seinen Kleinen in so harmloser Weise unterhalten
  • und geliebkost, und seine Güte so großmütig mit dem eigenen Frack
  • bezahlt hatte? Um den Menschen kein schlechtes Beispiel zu geben,
  • beschloß man die Sache im geheimen zu erledigen, denn nicht sowohl die
  • Sache selbst, als das Ärgernis, zu dem sie Anlaß gab, konnte ja Schaden
  • stiften.
  • »Doch nun erlauben Sie mir, Ihnen zum Dank für Ihre Güte auch einen
  • kleinen Dienst zu leisten. Ich möchte die Vermittlerrolle in Ihrem
  • Streit mit den Gebrüdern Platonow übernehmen. Sie brauchen doch Land?
  • Nicht wahr?«
  • Fünftes Kapitel.[7]
  • Jedermann sucht sein Schäfchen ins Trockene zu bringen. »Was mich
  • zwickt, das zwick' ich wieder,« sagt ein russisches Sprichwort.
  • Tschitschikow begab sich nun auf eine kleine Entdeckungsreise durch
  • seine Koffer und Kisten; sie war von Erfolg gekrönt, und so wanderte
  • denn während dieser Expedition mancherlei aus den Koffern in die
  • Privatschatulle hinüber. Mit einem Wort, es wurde alles aufs beste
  • erledigt. Tschitschikow hatte ja nicht gestohlen, sondern nur die
  • Gelegenheit benutzt. Wir suchen doch auch aus allem Möglichen Nutzen zu
  • ziehen: der eine aus Staatswäldern, der andere aus Staatsgeldern, ein
  • dritter bestiehlt seine eigenen Kinder wegen irgend einer durchreisenden
  • Schauspielerin, ein vierter -- seine Bauern, um sich Möbel vom Hombs
  • oder eine Equipage anzuschaffen. Was ist zu machen, wo es heute soviel
  • Verführungen in der Welt gibt: teuere Restaurants mit geradezu
  • wahnsinnigen Preisen, Redouten, Gartenfeste, Zigeuner, Bälle usw. Es ist
  • doch so schwer, darauf zu verzichten, wenn alle Leute ringsherum
  • dasselbe tun, -- und dann ist es doch auch Mode, da soll sich einer von
  • alledem fernhalten! Tschitschikow hätte eigentlich schon unterwegs sein
  • sollen, aber die Wege waren nicht in Ordnung. Unterdessen sollte in der
  • Stadt noch eine andere Messe eröffnet werden: nämlich die für die
  • vornehmen Leute.(11) Auf der andern Messe wurde mehr mit Pferden, Vieh,
  • Rohprodukten und allerhand Waren gehandelt, welche die Bauern auf den
  • Markt brachten und die von Viehhändlern und Kaufleuten aufgekauft
  • wurden. Nun aber wurde alles, was auf der Messe zu Nischnij Nowgorod von
  • den Händlern an Handelsartikeln für den Bedarf der vornehmeren Leute
  • aufgekauft worden war, hierhergebracht. Da fand sich alles zusammen:
  • alle Räuber und Plünderer der russischen Geldbeutel, Franzosen mit
  • Pomade, und Französinnen mit Hüten, die Räuber des mit Schweiß, Mühe und
  • Blut erworbenen Geldes -- diese ägyptische Heuschreckenplage, wie
  • Kostanshoglo sich auszudrücken liebte, dieses Ungeziefer, das nicht nur
  • alles auffrißt, sondern auch noch seine Eier zurückläßt und sie in die
  • Erde verscharrt.
  • [Fußnote 7: In dem Manuskript trägt dieser Abschnitt keine
  • Kapitelüberschrift; er stammt also aus einem ganz frühen Entwurf, in dem
  • die Kapiteleinteilung noch nicht durchgeführt war.
  • Der Herausgeber.
  • ]
  • Nur die Mißernte hielt viele Gutsbesitzer zu Hause zurück. Dafür machten
  • die Beamten, die ja unter keinen Mißernten leiden, ihren Beutel um so
  • weiter auf, und ihre Frauen taten leider desgleichen. Sie hatten ihre
  • Köpfe noch voll von allerhand Büchern, die in der letzten Zeit in der
  • Welt verbreitet worden waren, um den Menschen neue Bedürfnisse
  • einzupflanzen, und nun _dürsteten_ sie förmlich nach neuen Genüssen. Ein
  • Franzose eröffnete ein neues Lokal, einen öffentlichen Garten, wie man
  • ihn in der Provinz noch nie gesehen hatte, wo man angeblich zu besonders
  • billigen Preisen soupieren konnte; zudem erhielt man die Hälfte auf
  • Kredit. Dies genügte, daß nicht nur alle Abteilungschefs, sondern selbst
  • alle kleineren Beamten, die schon im voraus mit den Geldgeschenken ihrer
  • Klienten rechneten, dorthin strömten. Auch wünschte man seine Pferde und
  • seinen Kutscher öffentlich sehen zu lassen. Hier floß alles zusammen,
  • hier trafen sich Leute jeden Standes, um sich zu vergnügen und zu
  • zerstreuen ... Trotz des scheußlichen Wetters und dem Kot auf den
  • Straßen flogen überall elegante Equipagen hin und her. Woher sie kamen,
  • das weiß Gott allein, aber sicherlich hätten sie sich auch in Petersburg
  • ruhig sehen lassen können. Die Kaufleute und Kommis lüfteten leicht ihre
  • Mützen und sprachen die vorübergehenden Damen höflich an. Nur hie und da
  • sah man Männer mit langen Bärten und ballonartigen Pelzmützen. Alles
  • hatte einen europäischen Anstrich; überall begegnete man Herren mit
  • schönrasierten Gesichtern und ... hohlen Zähnen.
  • »Bitte hierher, hierher! Aber bitte treten Sie doch nur einen Augenblick
  • in meinen Laden. Mein Herr, mein Herr!« hörte man hie und da kleine
  • Jungen schreien.
  • Aber die vornehmen Herren und Damen, die so vertraut mit dem
  • europäischen Wesen waren, hatten nur einen Blick der Verachtung für sie;
  • nur ganz selten setzte einer eine würdige Miene auf und machte ... Pst;
  • dort wieder hörte man jemand rufen: Hier gibt's Stoffe, helle, dunkle,
  • bunte usw.
  • »Haben Sie einen glänzenden preißelbeerfarbenen Stoff für einen
  • Herrenanzug?« fragte Tschitschikow.
  • »Die schönsten Stoffe,« versetzte der Kaufmann, während er mit der einen
  • Hand die Mütze abnahm und mit der andern auf den Laden deutete.
  • Tschitschikow trat ein. Der Kaufmann hob geschickt das Brett des
  • Ladentisches in die Höhe und stand gleich darauf auf der andern Seite,
  • mit dem Rücken zu den Stoffen, die in Rollen übereinander aufgeschichtet
  • waren und die ganze Wand vom Fußboden bis zur Decke einnahmen. Das
  • Gesicht dem Käufer zugewandt, stützte er sich mit beiden Händen auf den
  • Tisch und sagte, indem er seinen Oberkörper leicht hin- und herwiegte:
  • »Was für einen Stoff wünschen Sie?«
  • »Einen glänzenden Stoff, olivengrün oder flaschengrün, etwas was dem
  • Preißelbeerrot nahekommt,« versetzte Tschitschikow.
  • »Ich darf Ihnen versichern, daß ich Ihnen nur das Allerbeste vorlegen
  • werde. Sie können höchstens in den zivilisiertesten Hauptstädten Europas
  • etwas Besseres finden. He! Bursche! Hol doch mal den Stoff Nummer 34
  • herunter! Nein, nicht doch! nicht den! Wozu strebst du immer über deine
  • Sphäre hinaus, wie so ein Proletarier! So! Wirf ihn mir zu! Bitte! Das
  • ist ein Stoff, kann ich Ihnen sagen!« Und der Kaufmann rollte den Stoff
  • auf und hielt ihn Tschitschikow direkt unter die Nase, sodaß dieser den
  • seidenen Glanz nicht bloß fühlen, sondern auch riechen konnte.
  • »Ganz schön, aber das ist nicht das, was ich haben will,« sagte
  • Tschitschikow. »Ich habe im Zollamt gedient, da brauche ich etwas
  • Erstklassiges, das Beste, was es überhaupt gibt, und dann muß der Stoff
  • mehr rötlich, weniger flaschengrün und mehr preißelbeerfarben sein.«
  • »Ich verstehe: Sie wollen genau die Farbe, die gerade modern zu werden
  • beginnt. Da habe ich einen ganz vorzüglichen Stoff. Ich mache Sie
  • freilich darauf aufmerksam, daß er sehr teuer ist, dafür ist er aber
  • auch von allererster Qualität.«
  • Der Europäer kletterte hinauf. Wieder fiel ein Ballen auf den Tisch. Er
  • rollte ihn mit einer Gewandtheit auf, wie man sie nur in der guten alten
  • Zeit hatte, und vergaß dabei ganz, daß er schon einem späteren
  • Geschlechte angehörte. Dann kam er hinter dem Tisch hervor, hielt den
  • Stoff ans Licht, indem er mit den Augen blinzelte und sagte: »Eine
  • wunderbare Farbe! Navarinoscher[8] Rauch mit Feuerglanz!«
  • Der Stoff fand Tschitschikows Beifall; man einigte sich über den Preis,
  • obwohl dieser prifix (_prix-fix_) war, wie der Kaufmann behauptete. Dann
  • spannte er ihn geschickt zwischen beiden Händen, und wickelte ihn
  • hierauf nach echt russischer Art, d. h. mit unglaublicher Schnelligkeit
  • in ein Stück Papier. Hierauf drehte und wendete er das Paket noch ein
  • paar Mal hin und her, indem er einen dünnen Bindfaden herumlegte, und es
  • mit einem energischen Knoten verschnürte. Eine Schere schnitt den
  • Bindfaden durch, und in demselben Augenblick lag alles in dem
  • bereitstehenden Wagen. Der Kaufmann lüftete den Hut und grüßte. Es hatte
  • seine guten Gründe, warum der Kaufmann den Hut abnahm: das war eine
  • Anspielung, daß der Käufer sofort zahlen solle.(12)
  • »Haben Sie dunkles Tuch?« hörte man jetzt eine Stimme sagen.
  • »Teufel! das ist Chlobujew,« sagte Tschitschikow leise zu sich selber
  • und drehte jenem den Rücken zu; er wollte nicht, daß Chlobujew ihn sehe,
  • denn er hielt es für unklug, sich mit ihm in Verhandlungen über die
  • Erbschaft einzulassen. Aber jener hatte ihn schon gesehen und erkannt.
  • [Fußnote 8: Gemeint ist die Farbe des Rauches der Navarinoschen
  • Seeschlacht.]
  • »Wie? Pawel Iwanowitsch, Sie gehen mir doch nicht etwa absichtlich aus
  • dem Wege? Ich kann Sie nirgends finden, und doch liegen die Verhältnisse
  • so, daß ich ernstlich mit Ihnen reden muß.«
  • »Verehrtester, Verehrtester!« sagte Tschitschikow, indem er ihm beide
  • Hände drückte; »glauben Sie mir, ich habe es mir schon selbst so oft
  • vorgenommen, mit Ihnen zu sprechen, aber ich hatte leider nie Zeit!«
  • Tatsächlich aber dachte er: »Wenn dich doch der Teufel holte!« Plötzlich
  • jedoch erblickte er den eben eintretenden Murasow. »Herrgott! Afanassij
  • Wassiljewitsch! Wie befinden Sie sich?«
  • »Und Sie?« sagte Murasow, indem er den Hut abnahm. Auch der Kaufmann und
  • Chlobujew nahmen ihre Mützen ab.
  • »Ich habe immer Kreuzschmerzen, auch der Schlaf läßt zu wünschen übrig.
  • Vielleicht weil ich mir zu wenig Bewegung mache!«
  • Aber statt näher auf Tschitschikows Klagen und den Grund seiner
  • Schmerzen einzugehen, wandte sich Murasow an Chlobujew: »Ich sah Sie in
  • den Laden treten, Ssemjon Ssemjonowitsch, und da bin ich Ihnen
  • nachgegangen. Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen, können Sie mir
  • nicht einen Besuch machen?« »Aber natürlich, natürlich!« versetzte
  • Chlobujew eilig, und beide gingen hinaus.
  • »Was mögen sie wohl miteinander zu reden haben?« dachte Tschitschikow.
  • »Afanassij Wassiljewitsch -- ist ein sehr würdiger und kluger Mann,«
  • sagte der Kaufmann; »er ist außerordentlich tüchtig in seinem Fach, aber
  • er hat keine Bildung. Ein Kaufmann ist doch sozusagen Negotiant und
  • nicht bloß Kaufmann. Damit sind aber doch gewissermaßen auch allerhand
  • Budgets und Reaktionen verbunden, sonst sind wir dem Pauperismus
  • verfallen.« Tschitschikow zuckte die Achseln.
  • »Pawel Iwanowitsch, ich suche Sie überall!« rief plötzlich eine Stimme.
  • Es war Lenitzyn. Der Kaufmann nahm ehrfürchtig den Hut ab.
  • »Sie? Fjodor Fjodorowitsch?«
  • »Um Gottes willen, kommen Sie, lassen Sie uns schnell zu mir nach Hause
  • fahren, ich muß mit Ihnen sprechen,« sagte jener. Tschitschikow sah ihn
  • an -- er sah ganz bleich aus und seine Gesichtszüge waren entstellt.
  • Tschitschikow bezahlte und verließ den Laden.
  • »Ich warte auf Sie, Ssemjon Ssemjonowitsch,« sagte Murasow, als er
  • Chlobujew eintreten sah. »Bitte kommen Sie doch zu mir ins Zimmer!« Und
  • er geleitete Chlobujew in die Stube, die der Leser schon kennen gelernt
  • hat. Selbst bei einem Beamten, der jährlich nur siebenhundert Rubel
  • Gehalt bezieht, hätte man kein unansehnlicheres, schlichter
  • ausgestattetes Zimmer finden können.
  • »Sagen Sie, ich nehme an, daß sich Ihre Verhältnisse gebessert haben?
  • Ihre Tante hat Ihnen doch sicher etwas hinterlassen.«
  • »Was soll ich sagen, Afanassij Wassiljewitsch? Ich weiß wirklich nicht,
  • ob sich meine Verhältnisse gebessert haben. Ich habe bloß fünfzigtausend
  • Bauern und dreißigtausend Rubel bar erhalten; damit mußte ich einen Teil
  • meiner Schulden bezahlen -- und jetzt sitze ich wieder da und habe
  • nichts. Was aber die Hauptsache ist, die Geschichte mit dieser Erbschaft
  • ist nicht einmal ganz sauber. Es sind da allerhand Gaunereien und
  • Betrügereien vorgekommen, Afanassij Wassiljewitsch! Ich will es Ihnen
  • gleich erzählen, Sie werden staunen, was alles in der Welt vorkommt.
  • Dieser Tschitschikow ...«
  • »Erlauben Sie mal, Ssemjon Ssemjonowitsch; ehe wir von diesem
  • Tschitschikow reden, wollen wir erst einmal von Ihnen selbst sprechen.
  • Sagen Sie mal! wieviel Geld würde Ihrer Meinung nach erforderlich sein,
  • um Ihre Gläubiger zu befriedigen; wieviel brauchen Sie, um wieder in
  • geordnete Verhältnisse zu kommen?«
  • »Meine Verhältnisse sind sehr schlecht,« versetzte Chlobujew. »Um da
  • herauszukommen, alle Schulden zu bezahlen und ein bescheidenes Auskommen
  • zu haben, dazu brauche ich mindestens hunderttausend Rubel, wenn nicht
  • noch mehr! Mit einem Wort: das ist einfach unmöglich.«
  • »Nun, und wenn Sie dies alles hätten, wie würden Sie dann Ihr Leben
  • einrichten?«
  • »Oh, dann würde ich mir eine kleine Wohnung mieten und mich ganz der
  • Erziehung meiner Kinder widmen. An mich selbst darf ich gar nicht mehr
  • denken. Mit meiner Karriere ist es zu Ende; in den Staatsdienst kann ich
  • doch nicht mehr eintreten: ich tauge ja doch zu nichts mehr!«
  • »Das bliebe doch ein müßiges Leben, und Sie wissen, Müßiggang ist aller
  • Laster Anfang, da nahen sich einem allerhand Versuchungen, an die ein
  • fleißiger und tätiger Mensch garnicht einmal denkt.«
  • »Ich kann halt nicht mehr, ich tauge zu nichts mehr! ich bin schon zu
  • stumpf und apathisch, um etwas anzufangen. Zu alledem leide ich noch an
  • Kreuzschmerzen.«
  • »Aber wie kann man nur ohne Arbeit leben? Wie können Sie es bloß auf der
  • Welt aushalten ohne ein Amt und eine Tätigkeit? Ich bitte Sie! Blicken
  • Sie doch um sich! Jedes Wesen auf Gottes Erde erfüllt eine gewisse
  • Bestimmung und hat seine Funktion. Selbst der Stein ist nur dazu da,
  • damit ihn jemand gebraucht oder bei einem nützlichen Werke verwendet,
  • und der Mensch, das klügste, vernünftigste aller Geschöpfe sollte sein
  • Leben tatenlos hinbringen -- das ist doch unmöglich.«
  • »So ganz ohne Tätigkeit bin ich doch auch nicht. Ich kann mich doch mit
  • der Erziehung meiner Kinder beschäftigen.«
  • »Nein, Ssemjon Ssemjonowitsch! Nein. Das ist das allerschwerste. Wie
  • soll _der_ Kinder erziehen, der es nicht einmal verstanden hat, sich
  • selbst zu erziehen, Kinder kann man doch nur durch sein eigenes Beispiel
  • erziehen, indem man ihnen das Leben _vorlebt_. Und sagen Sie ehrlich,
  • kann _Ihr_ Leben ihnen zum Vorbild dienen? Von Ihnen könnten sie
  • schließlich doch nur lernen, wie man die Zeit müßig hinbringt, oder sie
  • mit Kartenspiel totschlägt. Nein, Ssemjon Ssemjonowitsch, lassen Sie
  • lieber _mich_ Ihre Kinder erziehen. Sie werden sie nur verderben.
  • Überlegen Sie sich doch die Sache einmal recht ordentlich. Was Sie zu
  • Grunde gerichtet hat, das ist der Müßiggang -- daher müssen Sie _ihn_
  • vor allem meiden. Ein Mensch kann doch nicht ohne allen Halt im Leben
  • sein. Er muß doch irgendwelche Pflichten haben. Selbst der Tagelöhner
  • hat seinen Beruf. Er hat zwar nur ein kärgliches Einkommen, aber er muß
  • es sich selbst verdienen, und daher hat er auch ein Interesse an seiner
  • Tätigkeit.«
  • »Bei Gott, Afanassij Wassiljewitsch! Ich habe es versucht, ich habe mir
  • redliche Mühe gegeben! Was soll ich machen? Ich bin schon zu alt, jetzt
  • bin ich nicht mehr fähig, etwas Neues zu unternehmen. Sagen Sie doch
  • nur: was soll ich denn anfangen? Ich kann doch nicht in den Staatsdienst
  • treten? Oder soll ich mich etwa noch mit fünfundvierzig Jahren neben
  • einen jungen Anfänger ins Bureau, hinter den Tisch setzen? Und dann bin
  • ich unfähig, Geschenke anzunehmen -- -- ich werde mir selber nur schaden
  • und andern im Wege sein. Außerdem haben sich unter den Beamten auch
  • schon Kasten gebildet. Nein, Afanassij Wassiljewitsch, ich hab's mir
  • schon überlegt, ich hab's versucht und darüber nachgedacht, was ich wohl
  • für eine Stellung annehmen könnte -- nein ich tauge nicht dazu. Ich
  • passe höchstens noch ins Armenhaus.«
  • »Das Armenhaus ist für _die_ da, die im Leben etwas geleistet und
  • gearbeitet haben; _die_ dagegen, die sich amüsiert haben, solange sie
  • jung waren, bekommen zur Antwort, was die Ameise zum Grashüpfer sagte:
  • >Geh, tanze weiter!< Aber auch im Armenhaus wird gearbeitet, auch da muß
  • man sich nützlich machen; dort spielt man nicht etwa Whist, Ssemjon
  • Ssemjonowitsch,« fuhr Murasow fort, indem er Chlobujew fest ins Gesicht
  • sah, »Sie betrügen sich nur selbst und mich dazu.«
  • Murasow sah ihm ernst und lange ins Gesicht, aber der arme Chlobujew
  • vermochte nichts zu antworten, und er fing an, Murasow leid zu tun.(13)
  • »Hören Sie, Ssemjon Ssemjonowitsch ... Sie beten doch, Sie gehen in die
  • Kirche und lassen keine Frühmesse und keinen Abendgottesdienst aus.
  • Trotzdem es Ihnen schwer wird, stehen Sie ganz früh auf und gehen --
  • gehen um vier Uhr morgens in die Kirche, wo noch alles in tiefem Schlafe
  • liegt.«
  • »Das ist etwas andres -- Afanassij Wassiljewitsch. Hier weiß ich, daß
  • ich das nicht um der Menschen willen, sondern um _Dessen_ willen tue,
  • der uns alle in dieses Leben gesandt hat. Was soll ich machen! Ich
  • glaube, daß Er mir gnädig sein wird, daß Er mir verzeihen und mich in
  • Gnaden aufnehmen wird, so häßlich und schlecht ich auch bin, während
  • mich die Menschen mit dem Fuße fortstoßen und meine besten Freunde mich
  • verraten und nachher noch sagen werden, sie hätten es in der besten
  • Absicht getan.«
  • Ein bitteres Gefühl spiegelte sich in Chlobujews Gesicht. Dem alten
  • Herrn traten die Tränen in die Augen ...
  • »Dann dienen Sie doch wenigstens _Dem_, Der allen Wesen so gnädig ist.
  • Er freut sich ebenso sehr über die Arbeit, wie über ein Gebet. Suchen
  • Sie sich irgend eine Beschäftigung, ganz gleich was für eine, wenn es
  • nur eine _Beschäftigung_ ist. Arbeiten Sie, als ob Sie es für _Ihn_ und
  • nicht für die Menschen täten. Schöpfen Sie meinetwegen Wasser in einem
  • Sieb, aber denken Sie, daß Sie es um Seinetwillen tun. Schon das wäre
  • ein Vorteil, Sie würden wenigstens keine Zeit und Gelegenheit finden,
  • was Schlechtes zu tun: Ihr Geld zu verspielen, zu schmausen und zu
  • schlemmen, unmäßig zu leben und den oberflächlichen weltlichen Genüssen
  • nachzugehen. Ach Ssemjon Ssemjonowitsch. Kennen Sie Iwan Potapowitsch?«
  • »Jawohl. Ich kenne und schätze ihn sehr hoch!«
  • »Das war doch wirklich ein tüchtiger Kaufmann: er hatte über eine halbe
  • Million; wie er aber sah, daß ihm alles zum Vorteil ausschlägt -- da
  • wurde er unmäßig und ließ sich gehen. Er ließ seinem Sohn französischen
  • Unterricht geben und verheiratete seine Tochter an einen General. Von da
  • ab sah man ihn nicht mehr im Laden oder in der Börsenstraße; wenn er
  • einen Freund auf der Straße traf, dann schleppte er ihn gleich mit ins
  • Gasthaus, um mit ihm Tee zu trinken. Da konnte er tagelang bei seinem
  • Tee sitzen. Der Erfolg war natürlich, daß er Bankrott machte. Zu alledem
  • hatte er noch Unglück mit seinem Sohn ... Sehen Sie, jetzt dient er bei
  • mir als Kommis. Er hat ganz von Anfang angefangen. Seine Verhältnisse
  • haben sich gebessert. Er könnte sich ganz leicht wieder eine halbe
  • Million verdienen. Aber nun _will_ er nicht mehr. >Jetzt bin ich halt
  • Kommis, und als Kommis will ich auch sterben. Nun bin ich frisch und
  • gesund geworden,< sagte er, >damals aber hatte ich einen dicken Bauch
  • und die beginnende Wassersucht ... Nein ich danke,< sagte er. Tee nimmt
  • er überhaupt nicht mehr in den Mund. Kohlsuppe und Brei, das ist seine
  • ganze Nahrung. Jawohl! Und so fromm ist er geworden, wie keiner von uns,
  • und er tut soviel Gutes für die Armen, wie selten einer; mancher andere
  • würde auch gerne helfen, wenn er nicht sein ganzes Vermögen
  • durchgebracht hätte.«
  • Der arme Chlobujew war nachdenklich geworden. Der Alte ergriff seine
  • beiden Hände: »Ssemjon Ssemjonowitsch! Wenn Sie wüßten, wie leid Sie mir
  • tun! Ich habe die ganze Zeit über an Sie gedacht. Hören Sie, Sie wissen
  • doch, daß in unserem Kloster ein Eremit lebt, der nie einen Menschen
  • sieht. Das ist ein Mann von großem Verstande, oh, von einem solchen
  • Verstande, ich kann's gar nicht sagen. Er sagt auch nie ein Wort. Aber
  • _wenn_ er einmal einen Rat erteilt ... Ich erzählte ihm einmal, ich habe
  • einen kranken Freund, den Namen nannte ich ihm nicht ... Er hörte mich
  • ruhig an und unterbrach mich dann plötzlich mit folgenden Worten:
  • >Gottes Sache vor allem. Da baut man Kirchen und es ist kein Geld da:
  • man muß Geld für den Kirchenbau sammeln!< Und damit schlug er die Türe
  • zu. Ich dachte lange nach, was das wohl bedeuten könne >Offenbar will er
  • mir keinen Rat erteilen<, sagte ich mir. Und so ging ich denn zu unserm
  • Archimandriten. Kaum hatte ich sein Zimmer betreten, so fragt er mich
  • schon, ob ich nicht einen Menschen kenne, den man beauftragen könne,
  • Geld für den Bau einer Kirche zu sammeln, es müßte aber ein Mann aus dem
  • Adels- oder aus dem Kaufmannsstande sein, der eine bessere Erziehung
  • genossen habe und sich der Sache annehmen wolle, als ob sein ganzes Heil
  • davon abhänge? Ich blieb ganz bestürzt stehen. Gott im Himmel. Das ist
  • ja das Amt, das der Mönch Ssemjon Ssemjonowitsch übertragen will. Das
  • Wandern wäre ja sehr gut gegen seine Krankheit. Wenn er mit seinem Buche
  • vom Gutsbesitzer zum Bauern und vom Bauern zum Bürger gehen wird, wird
  • er sehen, wie die Menschen leben und was ein jeder für Bedürfnisse hat.
  • Wenn er dann wiederkommt, nachdem er mehrere Provinzen durchwandert hat,
  • wird er Land und Leute besser kennen, als alle Stadtbewohner. Und solche
  • Menschen brauchen wir ja gerade! Der Fürst hat mir erklärt, er gäbe viel
  • dafür, wenn er solch einen Beamten finden könnte, der die Verhältnisse
  • nicht aus den Büchern und Akten, sondern _tatsächlich_ kennt, so wie sie
  • in Wirklichkeit sind, denn aus den Akten kann man, wie man sagt,
  • überhaupt nichts mehr erfahren: so verwickelt seien die Dinge.«
  • »Sie haben mich ganz verwirrt und ratlos gemacht, Afanassij
  • Wassiljewitsch,« sagte Chlobujew, indem er Murasow erstaunt anblickte.
  • »Ich kann nicht einmal glauben, daß Sie das zu _mir_ sagen: dazu bedarf
  • man eines unermüdlichen, tatkräftigen Menschen. Und dann kann ich doch
  • nicht Frau und Kinder verlassen, die ja nicht einmal was zu essen
  • haben?«
  • »Um Frau und Kinder brauchen Sie sich nicht zu sorgen. Für die will ich
  • schon Sorge tragen, und an Lehrern soll es den Kindern nicht fehlen. Es
  • ist doch besser und anständiger, Geld und milde Gaben für ein
  • gottgefälliges Werk zu sammeln, als mit dem Felleisen herumzugehen und
  • zu betteln. Ich gebe Ihnen einen einfachen Wagen, Sie brauchen aber
  • keine Angst zu haben, daß er Sie zu sehr durchrütteln wird: das wird
  • Ihnen nur gut tun, das ist ganz gesund. Und dann gebe ich Ihnen noch
  • etwas Geld auf den Weg, damit Sie auf Ihrer Reise denen etwas geben
  • können, die am meisten Not leiden. Sie werden auf diese Weise manch
  • gutes Werk tun können: Sie werden schon keine Fehler machen und wirklich
  • nur _denen_ geben, die es wert sind. Wenn Sie so das Land bereisen,
  • werden Sie die Menschen tatsächlich kennen lernen ... und es wird Ihnen
  • nicht so gehen, wie irgend einem Beamten, vor dem alle Angst haben ...
  • Mit Ihnen wird jeder gern sprechen wollen, weil er weiß, daß Sie Geld
  • für die _Kirche_ sammeln.«
  • »Ich sehe in der Tat, daß dies ein vortrefflicher Gedanke ist, und ich
  • wünschte mir wirklich, ich könnte auch nur einen kleinen Teil davon
  • ausführen; aber ich fürchte, es übersteigt meine Kräfte!«
  • »Ja, was übersteigt denn unsere Kräfte nicht?« versetzte Murasow. »Es
  • gibt doch gar nichts, wozu unsere Kräfte ausreichen; alles geht über
  • unsere Kraft. Ohne Hilfe von oben kann uns überhaupt nichts gelingen.
  • Aber das Gebet gibt uns Kraft. Der Mensch schlägt ein Kreuz, sagt: >Gott
  • hilf!< rudert und erreicht schließlich doch das Ufer. Darüber brauchte
  • man nicht erst lange zu grübeln. So etwas muß man einfach als eine
  • göttliche Mission auffassen. Der Wagen steht schon bereit für Sie;
  • laufen Sie jetzt schnell zum Archimandriten, holen Sie sich das Buch,
  • bitten Sie ihn um seinen Segen und dann machen Sie sich auf den Weg.«
  • »Nun gut, ich gehorche Ihnen und nehme es als einen Wink von oben. --
  • Gott sei mir gnädig!« sagte er zu sich selbst und fühlte plötzlich, wie
  • Mut und Kraft sein Herz durchfluteten. Es war fast, als ob sein Geist
  • aus einem tiefen Schlafe erwachte, beseelt von der Hoffnung auf einen
  • Ausweg aus seiner traurigen und verzweifelten Lage. Ein Lichtschimmer
  • blitzte in der Ferne auf ...
  • Doch verlassen wir Chlobujew und wenden wir uns wieder zu
  • Tschitschikow.(14)
  • * * * * *
  • Unterdessen wurden bei den Gerichten immer neue Klagen eingereicht. Es
  • tauchten plötzlich Verwandte auf, von denen niemand je etwas gehört
  • hatte. Wie die Geier auf das Aas, so stürzte sich alles auf das
  • ungeheuere Vermögen, das die Alte hinterlassen hatte: es regnete nur so
  • von Denunziationen, man beschuldigte Tschitschikow und behauptete, das
  • letzte Testament sei gefälscht, genau ebenso wie das erste; man brachte
  • Beweise vor, daß er größere Geldsummen gestohlen und unterschlagen habe.
  • Ja, man beschuldigte ihn sogar, tote Seelen gekauft und während seiner
  • Dienstzeit im Zollamt zollpflichtiges Gut über die Grenze geschmuggelt
  • zu haben. Alle alten Geschichten wurden ausgegraben, seine ganze
  • Vergangenheit wurde wieder ans Licht gezogen. Gott allein weiß, wie man
  • das alles herausgeschnüffelt und in Erfahrung gebracht hatte, jedenfalls
  • waren plötzlich schwer belastende Dinge ans Licht gekommen, von denen
  • Tschitschikow glaubte, niemand außer ihm und den vier Wänden, innerhalb
  • deren er lebte, könne davon Kenntnis haben. Einstweilen war dies alles
  • noch ein gerichtliches Geheimnis, noch war es ihm selbst nicht zu Ohren
  • gekommen, obwohl ein vertrauliches Schreiben seines Rechtsanwaltes, daß
  • ihm bald zugestellt wurde, ihn davon in Kenntnis setzte, daß die Sache
  • bald losgehen müsse. Der Brief war nur ganz kurz: »Ich beeile mich,
  • Ihnen mitzuteilen, daß uns in Ihrer Sache mancherlei Scherereien
  • bevorstehen, aber lassen Sie sich einen guten Rat geben: regen Sie sich
  • nicht unnütz auf. Die Hauptsache ist jetzt -- Ruhe. Wir wollen die Sache
  • schon wieder einrenken.« Dieser Brief beruhigte ihn vollkommen. »Ein
  • Genie!« sagte Tschitschikow. Um seine glückliche Stimmung zu
  • vervollständigen, brachte ihm in diesem Augenblick der Schneider auch
  • noch den neuen Anzug. Eine unbändige Lust packte ihn, sich selbst in dem
  • neuen Frack von Navarinoscher Rauchfarbe mit Feuerglanz zu sehen. Er zog
  • die Beinkleider an, die ihm überall so vorzüglich saßen, daß man ihn
  • ruhig hätte abkonterfeien dürfen. Die Hosen lagen ganz eng an und ließen
  • seine prachtvollen Lenden und die vollen Waden sehen; der Stoff
  • schmiegte sich so glatt an, und ließ alle feinsten Einzelheiten
  • erkennen, was ihnen eine noch größere Biegsamkeit und Elastizität
  • verlieh. Als er hinten die Hosenschnalle anzog, da glich sein Bauch
  • einer Trommel. Er schlug mit der Bürste darauf und sagte: »So ein
  • Trottel! Und _doch_, im ganzen genommen, wirkt er höchst malerisch.« Der
  • Frack schien noch besser genäht zu sein, als die Hosen: da gab es auch
  • nicht ein Fältchen, im Rücken saß er vorzüglich, die Taille war schön
  • geschwungen und ließ die ganze Statur genau hervortreten. Auf
  • Tschitschikows Bemerkung, der rechte Ärmel drücke ihn etwas unter der
  • Achselhöhle, antwortete der Schneider bloß mit einem Lächeln: darum saß
  • er auch um so besser in der Taille. »Sie können ganz ruhig sein, Sie
  • können ganz ruhig sein, was die Arbeit angeht,« wiederholte er mit
  • unverhohlener Freude: »So einen Frack bekommen Sie überhaupt nicht
  • wieder außer etwa in Petersburg.« Der Schneider stammte selbst aus
  • Petersburg, und auf seinem Schilde stand zu lesen: »_Ein Ausländer aus
  • London und Paris_«. Er liebte es nicht zu spaßen und wollte mit den
  • beiden Städten ein für allemal allen andern Schneidern den Mund stopfen,
  • damit in Zukunft keiner seinen Kunden mehr mit einer dieser Städte
  • kommen sollte. Mochte er doch irgend ein »Karlseruh« oder »Kopenhaga«
  • auf sein Schild setzen.
  • Tschitschikow bezahlte den Schneider in nobelster Weise und begann sich,
  • nachdem er allein geblieben war, aufmerksam im Spiegel zu betrachten:
  • und zwar ganz wie ein Künstler, d. h. nach ästhetischen Gesichtspunkten
  • und gewissermaßen _con amore_. Es stellte sich heraus, daß alles noch
  • weit schöner war, als früher: seine Wangen waren noch interessanter,
  • sein Kinn noch anziehender geworden; der weiße Kragen paßte vorzüglich
  • zur Farbe der Wangen, die blaue Atlaskrawatte ließ den Kragen noch
  • weißer erscheinen und das modern gefaltete Vorhemdchen verlieh der
  • Krawatte einen besonderen Farbenton, die nobele Sammetweste bildete
  • einen ausgezeichneten Fond für das Vorhemdchen und der Frack von
  • Navarinoscher Rauchfarbe mit Feuerglanz leuchtete wie Seide und
  • vervollständigte noch die Harmonie des Ganzen. Er drehte sich rechts --
  • und siehe, alles war vortrefflich; er drehte sich links -- und es war
  • noch besser! Er hatte die Figur eines Kammerherrn oder eines vornehmen
  • Mannes, der fließend französisch parliert und, selbst wenn er wütend
  • wird, es nicht wagt, ein russisches Schimpfwort zu gebrauchen, sondern
  • sich aus Zartgefühl auch hierbei noch der französischen Sprache bedient.
  • Hierauf neigte er seinen Kopf ein wenig auf die Seite und versuchte es,
  • eine Pose anzunehmen, als spräche er mit einer Dame in mittleren Jahren,
  • von modernster und exquisitester Bildung; das war einfach ein Tableau,
  • etwas für einen Künstler: rein zum Malen! Zu seinem Pläsier machte er
  • noch einen leichten Luftsprung: etwas wie ein Entrechat, sodaß die
  • Kommode erzitterte und ein Fläschchen mit Kölnischem Wasser
  • herunterfiel; aber das störte ihn nicht im mindesten. Er nannte das
  • Fläschchen, wie es sich gehörte, ein albernes Ding, und dachte: »Zu wem
  • soll ich jetzt zu allererst hingehen? Am besten, ich gehe ...« Da ertönt
  • plötzlich im Flur etwas wie Sporengeklirr, und in der Türe erscheint ein
  • Gendarm: bis an die Zähne bewaffnet, als wollte er ein ganzes Heer
  • repräsentieren, und sagt: »Sie haben sich sofort beim Generalgouverneur
  • zu melden!« Tschitschikow war ganz starr vor Schrecken. Vor ihm stand
  • ein Schreckbild mit einem mächtigen Schnauzbart, einem wallenden
  • Pferdeschweif, der ihm vom Kopfe herabfiel, eine Schärpe über der
  • _rechten_ und eine Schärpe über der _linken_ Schulter und einen
  • gewaltigen Pallasch an der Seite. Ja, es schien ihm, als ob er an der
  • andern Seite noch ein Gewehr und weiß der Teufel was sonst noch alles
  • hängen hatte: eine ganze Armee in einer Person! Er wollte etwas
  • einwenden, aber die Schreckensgestalt antwortete grob: »Sie haben sofort
  • mitzukommen!« Hinter der Vorzimmertür sah er noch eine andre ähnliche
  • Schreckensgestalt auftauchten; er warf einen Blick durchs Fenster: auf
  • der Straße vor seinem Hause hielt eine Equipage. Was war da zu machen?
  • Er mußte sich dazu bequemen, und ganz so wie er da war, in seinem Frack
  • von Navarinoscher Rauchfarbe mit Feuerglanz im Wagen Platz nehmen.
  • Zitternd und zähneklappernd machte er sich auf den Weg und fuhr,
  • begleitet von dem Gendarm direkt zum Generalgouverneur.
  • Im Vorzimmer ließ man ihm gar nicht erst Zeit sich zu sammeln. »Treten
  • Sie ein, der Fürst erwartet Sie schon!« sagte der diensthabende Beamte.
  • Wie durch einen leichten Nebel sah er das Vorzimmer, voller Kuriere, die
  • allerhand Pakete in Empfang nahmen, und hierauf einen Saal, den er
  • durchschreiten mußte, und er dachte: »Wie? Wenn sie mich nun plötzlich
  • ergreifen, und ohne gerichtliche Untersuchung und ohne alle Formalitäten
  • einfach nach Sibirien befördern!« Sein Herz fing heftig an zu klopfen,
  • weit heftiger als bei dem eifersüchtigsten Liebhaber. Endlich tat sich
  • die verhängnisvolle Tür auf: vor ihm lag ein Zimmer mit zahlreichen
  • Schränken und Tischen, die mit Büchern und Portefeuilles bedeckt waren:
  • der Fürst stand vor ihm, schrecklich in seinem Zorn wie der
  • personifizierte Rachegott.
  • »Alleszermalmer!« dachte Tschitschikow, »er wird mich zerreißen, wie der
  • Wolf das Lamm!«
  • »Ich habe Sie geschont, ich habe Ihnen erlaubt, in der Stadt zu bleiben,
  • während Sie eigentlich ins Zuchthaus gehörten; Sie aber haben sich von
  • neuem durch den gemeinsten Schurkenstreich befleckt, mit dem sich jemals
  • ein Mensch beschmutzt hat!« Die Lippen des Fürsten bebten vor Zorn.
  • »Was ist das für ein gemeiner Schurkenstreich, Durchlaucht?« sagte
  • Tschitschikow, der am ganzen Leibe zitterte.
  • »Die Frau,« sagte der Fürst, indem er näher auf ihn zuging und
  • Tschitschikow gerade in die Augen blickte: »die Frau, die das Testament
  • auf Ihr Geheiß unterschrieben hat, ist verhaftet worden, und wird Ihnen
  • gegenübergestellt werden.«
  • Tschitschikow wurde es dunkel vor den Augen.
  • »Durchlaucht! Ich will Ihnen die ganze Wahrheit sagen. Ich bin schuldig,
  • ja ich bin schuldig; aber nicht so schuldig, wie Sie glauben, meine
  • Feinde haben mich verleumdet.«
  • »Sie _kann_ niemand verleumden, denn in Ihnen steckt unendlich viel mehr
  • Gemeinheit und Niedertracht, als der schlimmste Lügner ersinnen kann.
  • Ich glaube, Sie haben in Ihrem ganzen Leben keine ehrliche Tat
  • vollbracht. Jede Kopeke, die Sie besitzen, ist erschwindelt und
  • ergaunert. Es gibt eine Art von Raub und Verbrechen, auf die die Knute
  • und Sibirien stehen! Nein, Ihr Maß ist voll! Du wirst sofort ins
  • Gefängnis abgeführt werden; dort magst du zusammen mit den gemeinsten
  • Schurken und Räubern auf die Entscheidung deines Schicksals warten. Und
  • das kannst du als Gnade ansehen, denn du bist noch weit schlimmer als
  • sie: sie sind einfache Leute, in Pelz und Kittel, du dagegen ...« Er
  • warf einen Blick auf den Frack von Navarinoscher Rauchfarbe mit
  • Feuerglanz, ergriff die Glockenschnur und klingelte.
  • »Durchlaucht!« schrie Tschitschikow, »haben Sie Erbarmen! Sie sind doch
  • auch Familienvater. Ich flehe Sie um Gnade an: nicht für mich, für meine
  • alte Mutter!«
  • »Du lügst!« rief der Fürst zornig. »Genau so hast du damals für deine
  • Kinder und deine Familie, die du nie besessen hast, um Gnade gefleht!
  • Jetzt ist es die Mutter!«
  • »Durchlaucht! Ja ich bin ein Schurke, ein gemeiner niederträchtiger
  • Schuft!« sagte Tschitschikow ... »Ich habe wirklich gelogen, denn ich
  • hatte weder Kinder noch Familie; aber Gott sei mein Zeuge, ich hatte
  • stets die Absicht, mich zu verheiraten, meine Pflicht als Mensch und
  • Bürger zu erfüllen, um mir später einmal die Achtung meiner Vorgesetzten
  • und Mitbürger zu verdienen! ... Aber welch ein unglückliches
  • Zusammentreffen der Umstände! Durchlaucht! Mit meinem Schweiß und Blut
  • mußte ich mir mein tägliches Brot verdienen. Und dabei diese
  • Versuchungen und Verführungen auf Schritt und Tritt ... nichts als
  • Feinde und Gegner ... Räuber und Mörder ... Mein ganzes Leben war wie
  • ein stürmischer Wirbel oder ein schwankender Kahn auf offenem Meer, ein
  • Spielball der Winde und Wellen. Ich bin -- auch nur ein Mensch --
  • Durchlaucht!«
  • Tränenströme stürzten aus seinen Augen. Er warf sich vor dem Fürsten auf
  • die Kniee, wie er ging und stand: im Frack von Navarinoscher Rauchfarbe
  • mit Feuerglanz, mit der Sammetweste und seidenen Krawatte, in den
  • herrlich sitzenden Hosen und seiner schönen Frisur, die eine Wolke von
  • Wohlgeruch und feinstem Eau-de-Cologne-Duft aussendete; er beugte sich
  • tief vor dem Fürsten und schlug mit dem Kopf gegen den Fußboden.
  • »Fort, fort von mir! Ein Soldat soll kommen und ihn mitnehmen!« sagte
  • der Fürst zu den eintretenden Gendarmen.
  • »Durchlaucht!« schrie Tschitschikow und umklammerte mit beiden Armen den
  • einen Stiefel des Fürsten.
  • Der Fürst zuckte zusammen, ein Schauder rann ihm durch alle Adern.
  • »Fort, fort mit ihm! sag ich!« rief er, indem er seinen Fuß aus der
  • Umklammerung Tschitschikows zu befreien versuchte.
  • »Durchlaucht! Ich rühre mich nicht vom Fleck, bis Sie mir verziehen
  • haben,« sagte Tschitschikow, ohne den Fuß des Fürsten loszulassen, sodaß
  • dieser, als er einen Schritt machte, ihn mitsamt seinem Frack von
  • Navarinoscher Rauchfarbe mit Feuerglanz auf dem Fußboden nach sich
  • schleifte.
  • »Fort! Gehen Sie, sag ich Ihnen!« rief der Fürst mit jenem
  • unerklärlichen Gefühl des Ekels und Widerwillens, das ein Mensch beim
  • Anblick eines häßlichen Insekts empfindet, ohne doch den Mut zu haben,
  • es zu zertreten. Er riß seinen Fuß mit solcher Gewalt los, daß
  • Tschitschikow einen Tritt vor Nase, Lippen und das wohlgerundete Kinn
  • erhielt, aber er gab den Stiefel doch nicht frei und klammerte sich nur
  • noch stärker an ihn. Zwei kräftige Gendarmen schleppten ihn nur mit Mühe
  • fort, sie nahmen ihn unter den Arm und führten ihn durch die lange
  • Zimmerflucht hinaus. Er war bleich und niedergeschlagen und befand sich
  • in jenem furchtbaren und gefühllosen Zustande, wo der Mensch den
  • finsteren und unabwendlichen Tod vor Augen sieht, dieses entsetzliche
  • Schreckbild, das unserem ganzen Wesen so sehr widerspricht.
  • In der Tür, die auf die Treppe führte, begegnete ihnen Murasow. Ein
  • Hoffnungsstrahl erhellte plötzlich Tschitschikows verdüstertes Gemüt.
  • Mit geradezu unnatürlicher Kraft hatte er sich plötzlich aus den Händen
  • beider Gendarmen losgerissen und warf sich nun vor dem erstaunten
  • Murasow auf die Kniee.
  • »Pawel Iwanowitsch, Bester! was ist Ihnen?«
  • »Retten Sie mich! Man führt mich ins Gefängnis, aufs Schafott.«
  • Hier aber packten ihn die Gendarmen und führten ihn hinaus, ohne ihn
  • ausreden zu lassen.
  • Eine feuchte dumpfe Zelle, in der es nach den Stiefeln und Fußlappen der
  • Garnisonsoldaten duftete, ein ungestrichener Tisch, zwei schlechte
  • Stühle, ein vergittertes Fenster und ein verfallener Ofen, der beständig
  • rauchte, ohne zu wärmen -- das war der Raum, in dem unser Held
  • untergebracht wurde, er, der bereits begonnen hatte, die Wonnen des
  • Lebens zu kosten und in seinem eleganten neuen Frack von Navarinoscher
  • Rauchfarbe mit Feuerglanz die Aufmerksamkeit seiner Mitbürger auf sich
  • zu lenken. Man erlaubte ihm nicht, seine Sachen zu ordnen, er durfte
  • nicht einmal seine Schatulle mit dem Gelde mitnehmen, das er sich mühsam
  • erworben hatte ... All seine Papiere, die Verträge über den Kauf der
  • toten Bauern -- alles war jetzt in den Händen der Beamten. Er fiel auf
  • die Erde und hoffnungsloser Gram fing an, einem gierigen Wurme gleich an
  • seinem Herzen zu nagen. Immer heftiger zerfleischte er sein armes
  • wehrloses Herz. Noch ein Tag, noch ein einziger Tag voll solchen
  • Schmerzes, und wer weiß, ob Tschitschikow überhaupt noch auf der Welt
  • gewesen wäre. Aber auch über Tschitschikow wachte eine schirmende und
  • rettende Hand. Eine Stunde darauf öffnete sich die Türe des Gefängnisses
  • und hereintrat: »der alte Murasow«.
  • Hätte jemand einem müden und erschöpften, von brennendem Durste
  • gequälten und mit dem Staube und Schmutze des Weges bedeckten Wanderer
  • ein paar Tropfen frischen Quellwassers in die trockene Kehle geträufelt,
  • -- es hatte ihn nicht so beleben können, wie dies Ereignis unsern armen
  • Tschitschikow.
  • »Mein Retter!« rief Tschitschikow plötzlich, indem er vom Fußboden aus,
  • auf den er sich in seinem herzzerreißenden Schmerz niedergeworfen hatte,
  • nach Murasows Hand griff, sie schnell küßte und an seine Brust drückte.
  • »Gott lohne es Ihnen, daß Sie zu mir Unglücklichem kommen!«
  • Und er brach in Tränen aus.
  • Der Greis sah ihn mit traurigem schmerzlichem Blicke an und sagte nur:
  • »Pawel, Pawel Iwanowitsch! Pawel Iwanowitsch! Was haben Sie getan?«
  • »Was soll ich machen! Er hat mich zugrunde gerichtet, der Verfluchte!
  • Ich konnte nicht Maß halten; und verstand es nicht, zur rechten Zeit
  • aufzuhören. Er hat mich verführt, der verfluchte Satan, daß ich alle
  • Grenzen menschlicher Vernunft und Besonnenheit überschritt! Ja, ich habe
  • gefehlt, ich habe schwer gefehlt! Und doch wie konnte man mich so
  • behandeln. Einen Edelmann, ohne Untersuchung und ohne gerichtliches
  • Urteil ins Gefängnis zu werfen! ... Einen Edelmann, Afanassij
  • Wassiljewitsch! Man mußte mir doch wenigstens Zeit lassen, nach Hause zu
  • gehen und meine Sachen zu ordnen? Es liegt ja noch alles so herum wie
  • früher, und es ist niemand da, der sich darum kümmert. Meine Schatulle!
  • Afanassij Wassiljewitsch! O meine Schatulle! Da steckt doch mein ganzes
  • Vermögen drin, das ich mir im Schweiße meines Angesichts mit meinem
  • Blut, durch jahrelange Mühen und Entbehrungen erworben habe. Meine
  • Schatulle, Afanassij Wassiljewitsch! Sie werden mir ja alles stehlen und
  • fortschleppen! O mein Gott, mein Gott!«
  • Er konnte sich nicht mehr beherrschen, und außerstande den Schmerz
  • niederzukämpfen, der sein Herz krampfhaft erschütterte, fing er laut an
  • zu schluchzen, mit einer Stimme, die durch die dicken Mauern des
  • Gefängnisses hindurch drang und weithin widerhallte; er ergriff die
  • Atlaskrawatte und den Kragen seines Anzugs und riß den herrlichen Frack
  • von Navarinoscher Rauchfarbe mit Feuerglanz in Stücke.
  • »Ach Pawel Iwanowitsch, wie hat Sie doch die Gier nach Wohlstand und
  • Reichtum verblendet, daß Sie sich nicht klar wurden über Ihre furchtbare
  • Lage!«
  • »O mein Wohltäter! retten Sie mich, retten Sie mich!« schrie der arme
  • Pawel Iwanowitsch ganz verzweifelt, indem er vor ihm auf die Kniee sank.
  • »Der Fürst liebt Sie. Für Sie wird er alles tun!«
  • »Nein, Pawel Iwanowitsch, ich kann nichts für Sie tun, selbst wenn ich
  • es wollte, und so sehr ich es auch wünschte. Sie sind in die Macht des
  • unerbittlichen Gesetzes und nicht in menschliche Hände gefallen!«
  • »Er hat mich verführt; der Satan! der Verdammte, dieser Auswurf des
  • Menschengeschlechtes!«
  • Und er rannte mit dem Kopfe gegen die Wand und schlug so stark mit der
  • Faust auf den Tisch, daß er sich seine Hand blutig schlug; aber er
  • fühlte weder den Schmerz im Kopfe, noch die furchtbare Wucht des
  • Schlages.
  • »Pawel Iwanowitsch, beruhigen Sie sich; denken Sie lieber daran, sich
  • mit Ihrem _Gotte_ auszusöhnen und nicht mit den Menschen; denken Sie an
  • Ihre arme Seele!«
  • »O welch ein schreckliches Schicksal, Afanassij Wassiljewitsch. Ward je
  • einem Menschen ein solch furchtbares Los zuteil? Mit welch geradezu
  • mörderischer Geduld und Ausdauer habe ich mir jede Kopeke erspart;
  • wahrlich mit harter Mühe und Arbeit, im Schweiße meines Angesichts habe
  • ich sie erworben. Ich habe doch niemand beraubt oder die Staatskasse
  • bestohlen, wie es andre Leute machen. Und wozu habe ich Kopeke auf
  • Kopeke gespart? Um den Rest meiner Tage anständig zu verleben; um meiner
  • Frau und meinen Kindern etwas zu hinterlassen, denn ich wollte mir eine
  • Familie gründen, zum Wohle des Staates und um meinem Vaterlande zu
  • dienen. Das war mein einziges Ziel. Ich habe unrecht getan; ich leugne
  • es nicht, ich habe mich schwer vergangen ... aber was soll ich tun? Und
  • doch wich ich erst da vom geraden Wege ab, als ich sah, daß der gerade
  • Weg nicht zum Ziele führt, und daß der krumme eben der kürzere ist. Aber
  • ich habe doch gearbeitet und mich ehrlich angestrengt. Wenn ich jemand
  • was fortgenommen habe, so nahm ich's nur den Reichen. Es gibt doch
  • Schurken beim Gericht, die der Krone Tausende stehlen, die armen Leute
  • plündern und denen, die nichts haben, die letzte Kopeke wegnehmen! Nein,
  • sagen Sie, hab ich nicht Unglück? -- noch jedes Mal, wenn ich die
  • Früchte meiner Mühe zu ernten, sie schon sozusagen mit Händen zu greifen
  • glaubte, brach ein Sturm über mich herein, strandete ich an einem Riff,
  • und mein ganzes Schiff zerschellte. Einmal hatte ich schon
  • dreihunderttausend Rubel Kapital in Händen und ein dreistöckiges Haus
  • dazu, zweimal schon habe ich mir ein Gut gekauft ... Ach Afanassij
  • Wassiljewitsch. Womit verdiente ich diese Schicksalsschläge? Glich denn
  • nicht schon ohnedies mein Leben einem schwankenden Kahn auf stürmischem
  • Ozean? Wo bleibt da die ewige Gerechtigkeit? Wo der Lohn für meine
  • Geduld und meine unerhörte Ausdauer? Dreimal mußte ich von Anfang
  • anfangen: nachdem ich alles verloren, begann ich von neuem, mit wenigen
  • Kopeken in der Tasche, während sich ein anderer längst dem Trunke
  • ergeben hätte und in der Schenke verkommen wäre. Wie vieles mußte ich in
  • mir unterdrücken, wieviel mußte ich aushalten! Wahrlich, jede Kopeke ist
  • sozusagen mit dem ganzen Aufgebot meiner Geisteskraft errungen! Wie
  • leicht hatten es andre Leute, für mich aber war jede Kopeke wie das
  • Sprichwort sagt mit einem silbernen Nagel festgenagelt, und diese
  • festgenagelte Kopeke mußte ich mir, Gott sei mein Zeuge, mit geradezu
  • eiserner Geduld und Unermüdlichkeit erringen.«
  • Er fing an zu schluchzen, ein unerträglicher Schmerz zerriß sein Herz;
  • kraftlos sank er auf einen Stuhl nieder und riß dabei den einen
  • herabhängenden halbzerfetzten Frackschoß vollends ab; er schleuderte ihn
  • weit von sich, fuhr sich mit beiden Händen durch sein Haar, um dessen
  • Pflege er sonst so eifrig bemüht war, und zerraufte es unbarmherzig; er
  • schien sich an seinem eigenen Schmerze zu weiden, und sein durch nichts
  • zu beschwichtigendes Herzeleid mit dem physischen Schmerz betäuben zu
  • wollen.
  • Murasow saß ihm lange stumm gegenüber, in die Betrachtung dieses
  • seltsamen noch nie gesehenen Schauspieles versunken. Unterdessen wand
  • sich der unglückliche erbitterte Mensch, der sich noch vor kurzem mit
  • der Gewandtheit und Ungezwungenheit eines Weltmannes oder Militärs
  • bewegt hatte, in einem unwürdigen Aufzuge, mit zerzausten Haaren,
  • zerrissenem Frack, aufgeknöpften Beinkleidern und mit blutender Hand zu
  • seinen Füßen, fortwährend bittere Flüche gegen die feindlichen Mächte
  • ausstoßend, die den Menschen befehden.
  • »Ach Pawel Iwanowitsch, Pawel Iwanowitsch! Was hätte aus Ihnen für ein
  • Mensch werden können, wenn Sie sich mit derselben Kraft und Ausdauer
  • einer ehrlichen Arbeit gewidmet und sich ein edleres Ziel gesteckt
  • hätten. Herrgott! wieviel Gutes hätten Sie stiften können! Wenn doch nur
  • _einer_ der Menschen, die das Gute lieben, soviel Anstrengungen machte,
  • wie Sie es taten, um Kopeke auf Kopeke zu häufen, wenn sie es doch
  • verständen, ihre Eigenliebe und ihren Ehrgeiz so für das Gute zu opfern,
  • ohne sich selbst zu schonen, wie Sie sich nicht schonten, um Ihren
  • Besitz zu mehren! -- Gott, wie herrlich würde es dann auf unserer Erde
  • aussehen! ... Pawel Iwanowitsch, Pawel Iwanowitsch! Nicht das ist das
  • Traurige, daß Sie schuldig wurden und sich an andern vergingen, sondern
  • daß Sie sich so schwer an sich selbst vergangen haben: an Ihren reichen
  • Kräften und Fähigkeiten, die Ihnen zuteil wurden. Es war Ihre
  • Bestimmung: ein großer Mann zu werden, Sie aber haben Ihre Kräfte
  • verzettelt und sich selbst zugrunde gerichtet.«
  • Es gibt unergründliche Tiefen der menschlichen Seele: wie weit sich auch
  • der irrende Mensch vom geraden Wege entfernt haben, wie verstockt auch
  • der unverbesserliche Verbrecher in seinen Gefühlen sein mag, wie trotzig
  • er auf seinem lasterhaften Leben beharren mag: wenn man ihm sein
  • besseres Selbst und seine von ihm selbst in den Kot gezogenen Tugenden
  • vorhält, dann bäumt sich alles in ihm, und tieferschüttert steht er da.
  • »Afanassij Wassiljewitsch,« sagte der arme Tschitschikow und ergriff
  • Murasows beide Hände. »Oh! wenn es mir gelänge, frei zu kommen und mein
  • Vermögen zurückzugewinnen! Ich schwöre Ihnen, ich würde von nun ab ein
  • ganz neues Leben beginnen! Retten Sie mich, o mein Wohltäter, retten Sie
  • mich!«
  • »Was kann ich nur tun? Ich müßte wider das Gesetz streiten. Aber selbst
  • wenn ich mich dazu entschließen könnte, vergessen Sie eines nicht: der
  • Fürst ist sehr gerecht, -- er wird unter keinen Umständen nachgeben.«
  • »O, mein Wohltäter! Sie können alles erreichen! Mich schreckt das Gesetz
  • nicht -- gegen das Gesetz werde ich schon Mittel und Wege finden -- was
  • mich empört, ist dies: daß ich unschuldig ins Gefängnis geworfen wurde,
  • wie ein Hund, daß mein ganzes Vermögen, meine Papiere, meine Schatulle
  • .... O, retten Sie mich! Helfen Sie mir!«
  • Er umklammerte die Füße des alten Mannes und benetzte sie mit seinen
  • Tränen.
  • »Ach, Pawel Iwanowitsch, Pawel Iwanowitsch!« sagte der alte Murasow,
  • indem er den Kopf schüttelte: »wie hat Sie doch dieser Reichtum
  • verblendet! Sie denken nur an ihn und hören nicht auf Ihre arme Seele?«
  • »Ich will auch an meine Seele denken, nur retten Sie mich!«
  • »Pawel Iwanowitsch!« sprach der alte Murasow und hielt einen Augenblick
  • inne. »Es liegt nicht in meiner Macht, Sie zu retten -- das sehen Sie
  • doch selbst. Aber ich verspreche Ihnen, alles zu tun, was ich nur kann,
  • um Ihr Los zu erleichtern, und Sie zu befreien. Ich weiß nicht, ob mir
  • dies gelingen wird, aber ich werde mir die größte Mühe geben. Sollte ich
  • jedoch wider Erwarten Glück haben: Pawel Iwanowitsch -- dann bitte ich
  • mir einen Lohn für meine Bemühungen aus. Pawel Iwanowitsch, ich flehe
  • Sie an: lassen Sie ab von dieser Gier und Jagd nach dem Erwerb. Ich gebe
  • Ihnen mein Ehrenwort: wenn ich mein ganzes Vermögen verlöre -- und es
  • ist weit größer als das Ihrige -- ich würde ihm keine Träne nachweinen.
  • Wahrlich, was liegt am Besitz, den man mir jeden Tag konfiszieren kann,
  • worauf es ankommt, das sind die Güter, die mir niemand zu nehmen oder zu
  • stehlen vermag! Sie haben doch schon lange genug auf dieser Welt gelebt.
  • Sie nennen ja Ihr Leben selbst einen schwankenden Kahn auf wogendem
  • Meer. Sie besitzen genug, um den Rest Ihrer Tage sorglos verleben zu
  • können. Lassen Sie sich in einem stillen Erdenwinkel nieder; in der Nähe
  • einer Kirche, nahe bei schlichten braven Menschen, oder wenn Sie schon
  • den glühenden Wunsch haben, Nachkommen zu hinterlassen, so heiraten Sie
  • ein armes braves Mädchen, das an einfache Verhältnisse und an ein
  • mäßiges Leben gewöhnt ist. Vergessen Sie diese lärmende Welt und all
  • ihre Launen und Verführungen: es schadet gar nichts, wenn auch die Welt
  • Sie vergißt: sie kann uns keinen Frieden gewähren, Sie sehen ja selbst:
  • sie ist voller Feinde, Verführungen und Verrätereien.«
  • »Unbedingt, ganz unbedingt! Ich hatte schon die Absicht und wollte eben
  • ein ordentliches Leben beginnen, wollte mich ganz der Landwirtschaft
  • widmen und meine Bedürfnisse einschränken. Der Dämon der Verführung hat
  • mich verwirrt und vom rechten Wege abgeführt, dieser Satan, dieser
  • verfluchte Teufel, o diese Schlangenbrut!«
  • Ganz neue, ungeahnte Gefühle, die er sich nicht zu erklären vermochte,
  • durchdrangen plötzlich seine Brust, es war, als ob sich in ihm etwas
  • regte; und aus tiefem Schlummer erwachte etwas ganz Fernes, längst
  • Vergessenes ... etwas, das eine strenge tote Lehre in frühester Kindheit
  • im Keime erstickt hatte, das eine trübselige, trostlose Jugend, die Enge
  • des Vaterhauses, die Einsamkeit seines traurigen Lebens fern von der
  • Familie, die Armut und Armseligkeit der ersten Eindrücke in ihm
  • unterdrückt hatten; und alles das, was das harte und kalte Auge des
  • Schicksals, das ihn traurig und wie durch ein trübes, vom Schneesturme
  • verwehtes Fenster angeblickt, in sein Inneres zurückgeschreckt hatte,
  • schien sich nun plötzlich losreißen und nach außen drängen zu wollen.
  • Ein Stöhnen entrang sich seiner Brust, er bedeckte sein Antlitz mit
  • beiden Händen und sprach mit schmerzdurchzitterter Stimme: »Wahrhaftig,
  • Sie haben recht!«
  • »Ihre Menschenkenntnis und Ihre Erfahrung haben Ihnen nicht geholfen,
  • weil Sie sie in den Dienst des Unrechts stellten. Hätten Sie doch einer
  • gerechten Sache gedient! ... Ach Pawel Iwanowitsch, warum haben Sie sich
  • selbst zugrunde gerichtet. Erwachen Sie: noch ist es nicht zu spät, noch
  • ist es Zeit ...«
  • »Nein, es ist zu spät, zu spät!« stöhnte Tschitschikow mit einer Stimme,
  • bei deren Klang Murasow fast das Herz springen wollte. »Ich fange an zu
  • fühlen, zu begreifen, daß ich irrte und weit, weit vom rechten Wege
  • abwich, aber ich kann nicht mehr anders! Nein, ich bin einmal so
  • erzogen. Mein Vater hat mir beständig Moral gepredigt, hat mich
  • geschlagen und mich schöne Sittensprüche abschreiben lassen, während er
  • selbst vor meinen Augen den Nachbarn ihr Holz wegstahl und mich zwang,
  • ihm dabei behilflich zu sein. Ich selbst war Zeuge, wie er einen
  • falschen Prozeß begann und ein armes Waisenmädchen verführte, deren
  • Vormund er war. Das lebendige Beispiel wirkt mehr als alle
  • Moralpredigten. Ich sehe und fühle es sehr gut, daß ich ein schlechtes
  • Leben führe, Afanassij Iwanowitsch, und doch verabscheue ich das Laster
  • nicht: ich bin stumpf geworden, ich liebe das Gute nicht, und mir fehlt
  • jene herrliche Neigung zu gottgefälligen Werken, die uns bald zur
  • zweiten Natur, zur Gewohnheit wird ... Ich kann nicht mit demselben
  • Eifer dem Guten dienen, der mich beseelt, wenn mir Reichtum und
  • Wohlstand als Preis winken. Ich spreche die Wahrheit -- was soll ich
  • machen?«
  • Der Greis seufzte tief auf ....
  • »Pawel Iwanowitsch! Sie haben soviel Willenskraft, soviel Geduld und
  • Ausdauer. Die Arznei schmeckt bitter, und doch schluckt sie der Kranke,
  • denn er weiß: nur so kann er genesen. Sie lieben das Gute nicht -- so
  • zwingen Sie sich, das Gute zu tun, ohne es zu lieben. Das wird Ihnen
  • noch höher angerechnet werden, als dem, der das Gute tut, weil er es
  • lieb hat. Versuchen Sie es, sich nur ein paar Mal zu zwingen ... dann
  • wird die Liebe schon von selbst kommen. Glauben Sie mir, es läßt sich
  • alles erreichen. Es ist uns gesagt worden: Das Reich Gottes muß errungen
  • werden. Es muß mit Gewalt erstürmt, mit Gewalt erworben und errungen
  • werden. Ach, Pawel Iwanowitsch! Wahrlich: Sie besitzen diese Kraft, die
  • so vielen andern fehlt, diese eiserne Geduld, und Sie sollten
  • unterliegen? Wahrhaftig! ich glaube fürwahr: Sie waren ein _Held_, ein
  • _Heros_ heute in unserer Zeit, wo alle Menschen so schwach, so energie-
  • und willenlos sind.«
  • Man sah förmlich, wie diese Worte Tschitschikow in die Seele drangen und
  • den Ehrgeiz, der tief auf ihrem Grunde schlummerte, aufstachelten. War
  • es auch kein bestimmter Entschluß, so war es doch etwas Starkes, Festes,
  • was einem Entschlusse sehr ähnlich sah, das jetzt in seinen Augen
  • aufblitzte ....
  • »Afanassij Wassiljewitsch!« sprach er mit fester Stimme: »wenn es Ihnen
  • gelingen sollte, mir die Freiheit und die Mittel zu verschaffen, damit
  • ich diese Stadt wenn auch nur mit einem kleinen Vermögen verlassen kann,
  • dann gebe ich Ihnen mein Wort, ich will ein neues Leben beginnen: dann
  • kaufe ich mir ein kleines Gut, werde Landwirt und fange an zu sparen,
  • nicht für mich selbst, sondern um andern zu helfen und Gutes zu tun,
  • soweit es in meinen Kräften steht; ich will versuchen, mich selbst und
  • all diese städtischen Diners und Schlemmereien zu vergessen, und ein
  • einfaches nur der Arbeit gewidmetes Leben zu führen.«
  • »Gott stärke Sie in diesem Entschluß!« sagte hocherfreut der alte Mann.
  • »Ich will all meine Kräfte einsetzen, um den Fürsten zu bewegen, daß er
  • Ihnen die Freiheit schenkt. Ob es mir gelingen wird, oder nicht, das
  • weiß Gott allein. Auf jeden Fall wird Ihr Los erleichtert werden. O,
  • mein Gott! Umarmen Sie mich, und lassen Sie sich umarmen! Wie haben Sie
  • mich erfreut! Und nun behüte Sie Gott, ich gehe sofort zum Fürsten.«
  • Tschitschikow blieb allein.
  • Sein ganzes Wesen war aufs tiefste erschüttert. Er war ganz weich
  • geworden. Auch das Platin, das härteste aller Metalle, das dem Feuer am
  • längsten widersteht, schmilzt am Ende, wenn man die Flamme in der Esse
  • anfacht, die Blasebälge stärker tritt und des Feuers Hitze zu
  • unerträglicher Glut anschwillt -- allmählich wird es weißer und immer
  • weißer -- das _eigensinnige_ Metall, bis es sich endlich verflüssigt: so
  • gibt auch der stärkste Charakter nach in der Esse der Leiden und
  • Schicksalsschläge, wenn sie immer heftiger auf ihn niederhageln und mit
  • ihrer unerträglichen Glut die harte Rinde seines Wesens erweichen ...
  • »Zwar verstehe und fühle ich es selbst nicht, doch aber will ich all
  • meine Kräfte einsetzen, um es andre fühlen zu machen; zwar bin ich
  • selbst schlecht, doch aber will ich all meine Kraft zusammennehmen, um
  • andre zu bessern; zwar bin ich selbst ein schlechter Christ, doch aber
  • will ich alles daransetzen, um kein Ärgernis zu geben. Ich werde selbst
  • Hand anlegen und auf dem Lande im Schweiße meines Angesichts tätig sein;
  • ich werde mir eine ehrliche Arbeit suchen, um auch auf andre einen guten
  • Einfluß auszuüben. Bin ich denn zu gar nichts mehr nütze? Ich habe doch
  • eine gewisse Befähigung zur Landwirtschaft, ich bin sparsam, flink,
  • gewandt und besonnen, ich habe sogar Energie und Ausdauer. Man muß nur
  • wollen ...«
  • So dachte Tschitschikow und schien mit halberwachten Seelenkräften etwas
  • ahnend zu ergreifen. Es war fast, als fühlte er mit dunklem Instinkt,
  • daß es eine Aufgabe gibt, die der Mensch hier auf Erden zu erfüllen hat,
  • und die sich überall, in jedem Erdenwinkel erfüllen läßt, trotz aller
  • widrigen Verhältnisse, trotz aller Zweifel und Unruhe, die den Menschen
  • auf jedem Posten bestürmen, auf den er gestellt ist. Und das werktägige
  • Leben, fern vom Lärm der Städte und den Versuchungen und Verführungen,
  • die der müßige, von der Arbeit entwöhnte Mensch erdacht hat, stand
  • plötzlich so deutlich vor ihm, daß er seine peinliche Lage beinahe
  • vergaß und vielleicht sogar geneigt gewesen wäre, der Vorsehung für
  • diesen harten Schicksalsschlag zu danken, wenn er seine Freiheit und
  • wenigstens einen _Teil_ seines Vermögens wiedererlangt hätte ... Aber da
  • öffnete sich die kleine Türe zu seiner schmutzigen Zelle, und herein
  • trat ein Beamter namens Ssamoswistow, ein flotter Bursche und Epikuräer,
  • ein breitschultriger, schlanker, hochgewachsener Mann, ein
  • ausgezeichneter Kamerad, ein Zechbruder und ein geriebener Kerl, wie ihn
  • seine eigenen Freunde nannten. In Kriegszeiten hätte der Mensch wahre
  • Wundertaten vollbracht: irgend einen Patrouillenritt durch gefährliche
  • und unwegsame Gegenden ausführen, oder dem Feind eine Kanone vor der
  • Nase wegstehlen -- das wäre so etwas für ihn gewesen. Aber da es keine
  • militärische Stelle für ihn gab, auf der man vielleicht einen
  • anständigen Menschen aus ihm hätte machen können, so gab er sich die
  • größte Mühe, allen Menschen schlechte Streiche zu spielen. Merkwürdig!
  • Er hatte höchst sonderbare Ansichten und Grundsätze: seinen Freunden war
  • er ein guter Kamerad, er verriet sie niemals und hielt ihnen gegenüber
  • stets sein Wort; seine Vorgesetzten dagegen hielt er für eine Art
  • feindliche Batterie, durch die man sich durchschlagen mußte, wobei es
  • erlaubt war, jeden schwachen Punkt, jede Bresche und Fahrlässigkeit
  • seitens des Gegners auszunutzen.
  • »Ich weiß schon, ich habe schon von Ihrer Sache gehört!« sagte er, als
  • er merkte, daß sich die Tür hinter ihm fest geschlossen hatte. »Macht
  • nichts, macht nichts! Lassen Sie den Mut nicht sinken; wir bringen alles
  • wieder in Ordnung. Wir werden uns alle für Sie bemühen. Wir stehen Ihnen
  • ganz zur Verfügung. Dreißigtausend Rubel -- für uns alle zusammen und
  • die Sache ist gemacht.«
  • »Wirklich?« rief Tschitschikow aus, »und ich werde ganz freigesprochen?«
  • »Ganz und gar! Sie bekommen sogar noch Schadenersatz für Ihre Verluste.«
  • »Und für Ihre Bemühungen?«
  • »Dreißigtausend. Alles inbegriffen -- für die Unsrigen, für die Leute
  • des Generalgouverneurs und für den Sekretär.«
  • »Aber erlauben Sie, wie kann ich nur? ... Meine Sachen ... meine
  • Schatulle ... das ist doch alles versiegelt, in den Händen der Polizei
  • ...«
  • »In einer Stunde haben Sie alles wieder! Schlagen Sie ein?«
  • Tschitschikow reichte ihm seine Hand. Sein Herz klopfte, er glaubte
  • nicht recht, das es möglich sei ...
  • »Doch nun leben Sie wohl. Unser gemeinsamer Freund bittet mich Ihnen zu
  • sagen: die Hauptsache ist: ruhig Blut und Geistesgegenwart!«
  • »Hm!« dachte Tschitschikow, »ich verstehe: der Rechtsanwalt!«
  • Ssamoswistow entfernte sich. Als Tschitschikow sich wieder allein in
  • seiner Zelle befand, wollte er noch immer nicht recht an dessen Worte
  • glauben, aber es verging keine halbe Stunde, da wurde ihm schon seine
  • Schatulle gebracht: die Papiere, das Geld -- alles war in schönster
  • Ordnung. Ssamoswistow spielte die Rolle eines Inspektors: er gab den
  • Posten einen Rüffel, weil er nicht wachsam genug sei, gab dem
  • Gefängnisaufseher den Befehl, noch ein paar Soldaten zur Verstärkung der
  • Wache kommen zu lassen, beschlagnahmte die Schatulle und entnahm ihr
  • sämtliche Papiere, die Tschitschikow im geringsten kompromittieren
  • konnten, dann band er alles zusammen, versiegelte es und beauftragte
  • einen Soldaten, das Paket sofort Tschitschikow zu überbringen, unter dem
  • Vorwand, es befänden sich Bettwäsche und die notwendigsten Stücke der
  • Nachttoilette darin, sodaß Tschitschikow zugleich mit seinen Papieren
  • noch warme Sachen erhielt, mit denen er seinen sterblichen Leib zudecken
  • konnte. Diese prompte Zustellung bereitete ihm eine unsagbare Freude. Er
  • faßte wieder Hoffnung und schon fing er aufs neue an, von allerhand
  • schönen Dingen zu träumen: vom Theater und einer reizenden Tänzerin, der
  • er die Kur machte. Das Gut und die ländliche Stille verblaßten merklich,
  • dagegen malte sich ihm die Stadt und ihr lärmendes Getriebe in weit
  • helleren und klareren Farben ... »O Leben!«
  • Unterdessen hatte vor den Gerichten und Tribunalen ein Prozeß von
  • geradezu grenzenlosen Dimensionen begonnen. Die Federn der Schreiber
  • waren emsig an der Arbeit; gescheite Leute schnupften Tabak, zerbrachen
  • sich die Köpfe, und hatten einen beinahe künstlerischen Genuß beim
  • Studium dieser herrlichen schwungvoll geschriebenen Akten. Der
  • Rechtsanwalt lenkte und leitete wie ein verborgener Zauberkünstler den
  • ganzen Mechanismus; noch ehe jemand Zeit hatte sich umzusehen, hatte er
  • alle in seinem Netze gefangen. Der Wirrwarr wurde immer größer.
  • Ssamoswistow übertraf sich selbst durch seine geradezu unerhörte
  • Kühnheit und Frechheit. Er brachte in Erfahrung, wo die jüngst
  • verhaftete Frau untergebracht war, ging sofort hin und trat mit der
  • sicheren und kecken Miene eines Chefs oder Vorgesetzten ein, so daß der
  • Posten »Honneur« machte und stramm stand. »Stehst du schon lange hier?«
  • -- »Seit heute morgen, Euer Gnaden!« -- »Wirst du bald abgelöst?« -- »Um
  • drei Uhr, Euer Gnaden!« -- »Ich werde dich brauchen. Ich werde dem
  • Offizier sagen, daß er statt deiner einen andern herschicken soll.« --
  • »Zu Befehl, Euer Gnaden!« Hierauf fuhr er nach Hause, und um nur ja
  • niemand in die Sache zu verwickeln und alle Spuren zu verwischen, zog er
  • sich sofort um. Er verkleidete sich als Gendarm und klebte sich einen
  • künstlichen Schnurrbart und Backenbart an, sodaß ihn der Teufel selbst
  • nicht erkannt hätte. Er ging in das Haus, wo Tschitschikow wohnte,
  • ergriff das erste beste Weib, das ihm unter die Hände kam, übergab sie
  • zwei jungen forschen Beamten, die auch eingeweiht waren, und erschien
  • plötzlich ganz wie es sich gehört mit einem großen Schnauzbart und einem
  • Gewehr vor dem Posten: »Marsch ... der Kommandeur hat mich hierher
  • geschickt; ich soll dich ablösen.« Er löste den andern ab und pflanzte
  • sich selbst mit dem Gewehr in der Hand vor dem Eingang auf. Das war
  • alles, was er brauchte. Unterdessen hatte man das eine Weib mit einem
  • andren vertauscht, das überhaupt nichts wußte, und keine Ahnung von der
  • ganzen Sache hatte. Das erste Weib wußte man so gut zu verstecken, daß
  • später kein Mensch mehr herauskriegen konnte, wo es eigentlich geblieben
  • war. Während Ssamoswistow so seine Rolle als Soldat spielte, vollbrachte
  • der Rechtsanwalt seinerseits wahre Wundertaten auf dem bürgerlichen
  • Schauplatz! Er ließ dem Gouverneur durch eine dritte Person mitteilen,
  • daß der Staatsanwalt die Absicht habe, ihn zu denunzieren; dem
  • Gendarmerieoberst ließ er mitteilen, daß ein Beamter, der sich im
  • geheimen in der Stadt aufhielte, ihn denunzieren wolle; dem
  • geheimnisvollen Beamten brachte er die Überzeugung bei, daß es einen
  • noch geheimnisvolleren Beamten gäbe, der ihn denunzieren wolle -- und er
  • brachte alle dadurch in eine solche Lage, daß sich jeder an ihn wenden
  • mußte, um sich Rat und Beistand zu holen. Es entstand ein furchtbarer
  • Wirrwarr: eine Denunziation jagte die andre, es kamen unerhörte Dinge an
  • den Tag, wie sie hier unter der Sonne noch nie vorgekommen, und sogar
  • solche, die _überhaupt_ nicht vorhanden waren. Jeder Plunder fand seine
  • Verwendung, alles wurde hervorgeholt und ans Licht gezogen: daß einer
  • ein unehelicher Sohn war, was für einen Beruf und Stand er hatte, daß er
  • sich eine Maitresse hält, und wessen Frau einem andern nachläuft.
  • Skandalgeschichten und allerhand schmutzige Affären wurden mit dem Fall
  • Tschitschikow und den Toten Seelen derartig vermengt und in Verbindung
  • gebracht, daß man absolut nicht herauskriegen konnte, welche von diesen
  • Affären den tollsten Unsinn darstellte: beide waren einander wert. Als
  • dann schließlich die Akten beim Generalgouverneur einliefen, konnte der
  • arme Fürst überhaupt nichts mehr verstehn. Der Beamte, der den Befehl
  • erhalten hatte, einen Extrakt oder Auszug aus den Akten zu machen, ein
  • gewandter und gescheiter Mann, verlor darüber beinahe den Verstand, er
  • konnte den roten Faden in der ganzen Sache durchaus nicht finden. Der
  • Fürst hatte gerade um diese Zeit große Sorgen wegen einer ganzen Reihe
  • anderer Angelegenheiten, von denen eine unangenehmer war, als die andre.
  • In einem Teil der Provinz war eine Hungersnot ausgebrochen. Die Beamten,
  • die hingeschickt worden waren, um Brot unter die Hungernden zu
  • verteilen, hatten die Lebensmittel nicht in der richtigen Weise
  • verwendet. In einem andern Teil der Provinz regten sich die Sektierer.
  • Jemand hatte das Gerücht unter ihnen verbreitet, daß der Antichrist
  • gekommen sei, der nicht einmal die Toten in Ruhe lasse und tote Seelen
  • aufkaufe. Sie taten Buße, sündigten weiter und machten unter dem
  • Vorwande, den Antichristen fangen zu wollen, ein paar Nicht-Antichristen
  • den Garaus. An einer andern Stelle waren Unruhen unter den Bauern
  • ausgebrochen; sie hatten sich gegen die Gutsbesitzer und gegen den
  • Gendarmerieobersten empört. Ein paar Landstreicher hatten das Gerücht
  • verbreitet, jetzt sei die Zeit gekommen, wo die Bauern Gutsbesitzer
  • werden und Fräcke anziehen müßten, während die Gutsbesitzer den
  • Bauernkittel anlegen und selbst Bauern werden müßten -- und ein ganzer
  • Bezirk hatte daraufhin, ohne zu überlegen, daß es unter diesen Umständen
  • ja viel zu viele solche Gutsbesitzer und Gendarmerieoffiziere geben
  • werde -- die Steuern verweigert. Man mußte zu Zwangsmaßregeln greifen.
  • Der arme Fürst war ganz verstimmt und befand sich in der höchsten
  • Aufregung. Da teilte man ihm mit, der Branntweinpächter Murasow sei
  • gekommen. »Er soll eintreten!« sagte der Fürst. Der Greis betrat das
  • Zimmer.
  • »Da haben Sie Ihren Tschitschikow. Sie setzten sich für ihn ein und
  • versuchten, ihn zu verteidigen. Jetzt hat man ihn bei einer Sache
  • ertappt, zu der sich der schlimmste Dieb und Räuber nicht hergegeben
  • hätte.«
  • »Erlauben Sie mir, Ihnen mitzuteilen, Durchlaucht, daß ich die ganze
  • Sache nicht recht gut verstehe.«
  • »Die Fälschung eines Testaments, und was für eine Fälschung! ... Darauf
  • steht öffentliche Züchtigung mit der Knute!«
  • »Durchlaucht -- was ich jetzt sage, sage ich nicht, um Tschitschikow zu
  • verteidigen -- aber das ist doch alles noch garnicht bewiesen: die
  • Untersuchung hat ja noch garnicht stattgefunden.«
  • »Wir haben Beweise: die Frau, die die Rolle der Toten spielte, ist
  • verhaftet. Ich will sie sofort in Ihrer Gegenwart verhören.« Der Fürst
  • klingelte und befahl, die Frau holen zu lassen.
  • Murasow schwieg still.
  • »Eine niederträchtige Gaunerei! Und ist es nicht eine Schande, daß die
  • höchsten Beamten der Stadt, ja sogar der Gouverneur selbst in sie
  • verwickelt sind. Er wenigstens dürfte doch nicht da sein, wo die Diebe
  • und Faulenzer ihr Wesen treiben!« sagte der Fürst heftig.
  • »Aber der Gouverneur ist doch einer der Erben; er hatte doch gewisse
  • Rechte und Ansprüche darauf; und daß auch die andern von allen Seiten
  • herbeigelaufen kamen und mit daran profitieren wollten -- das ist doch
  • nur _menschlich_, Durchlaucht! Eine reiche Frau stirbt, sie hinterläßt
  • ein Testament, das weder klug noch gerecht ist, und nun strömen von
  • allen Seiten Menschen zusammen, die gern was verdienen möchten -- das
  • ist doch alles so menschlich, so natürlich ...«
  • »Ja, aber wozu all diese schmutzigen Geschichten? ... Die Schurken!«
  • sagte der Fürst empört. »Ich habe nicht einen einzigen anständigen
  • Beamten: lauter Lumpen.«
  • »Durchlaucht! wer von uns ist denn gut, d. h. ganz so, wie er sein
  • sollte? Alle Beamten unserer Stadt sind doch Menschen, die haben ihre
  • Vorzüge und ihre Tugenden, es gibt sehr viele unter ihnen, die ihre
  • Sache wirklich verstehen und tüchtige Fachleute sind, aber wer ist denn
  • frei von Sünde?«
  • »Hören Sie, Afanassij Wassiljewitsch: sagen Sie mir bitte -- Sie sind
  • der einzige ehrliche Mensch, den ich kenne -- was macht es Ihnen
  • eigentlich für ein Vergnügen, allerhand Schurken und Gauner in Schutz zu
  • nehmen?«
  • »Durchlaucht!« versetzte Murasow: »wie die Menschen auch sein mögen, die
  • Sie Schurken und Gauner nennen -- sie bleiben immer doch Menschen. Wie
  • soll man denn den Menschen nicht in Schutz nehmen, wenn man weiß, daß er
  • die Hälfte all seiner Übeltaten aus Roheit und Unwissenheit begeht. Wir
  • tuen doch selbst auf Schritt und Tritt unrecht und stürzen jeden
  • Augenblick andere Menschen ins Unglück, oft ohne jede böse Absicht.
  • Durchlaucht haben doch auch neulich sehr ungerecht gehandelt!«
  • »Wie?« rief der Fürst erstaunt aus. Er war aufs höchste überrascht durch
  • die unerwartete Wendung, die die Unterhaltung nahm.
  • Murasow wartete ein wenig und schwieg: er schien zu überlegen und sagte
  • schließlich: »Nun, denken Sie zum Beispiel an den Fall Derpennikow.«
  • »Aber Afanassij Wassiljewitsch! Das war doch ein Verbrechen gegen den
  • Staat, das nahezu an Landesverrat grenzt!«
  • »Ich verteidige ihn nicht. Aber ist es denn gerecht, einen Jüngling, der
  • sich infolge seiner Unerfahrenheit von anderen verführen und fortreißen
  • läßt, ebenso hart zu bestrafen, wie einen der Rädelsführer? Dieser
  • Derpennikow mußte doch dieselbe Strafe erleiden wie irgend ein
  • Woronoi-Drjannoi, und doch war ihr Vergehen ganz verschieden.«
  • »Um Gottes willen ...« sagte der Fürst, dem man seine Aufregung deutlich
  • anmerkte: »Wissen Sie etwas davon? Sprechen Sie, ich bitte Sie! Ich habe
  • erst neulich nach Petersburg geschrieben und gebeten, man möge sein Los
  • mildern.«
  • »Nein, Durchlaucht, ich sage nicht, daß ich etwas weiß, was Sie nicht
  • auch wissen. Es gibt allerdings einen Umstand, der ihm von Nutzen sein
  • könnte, aber er würde selbst nichts davon hören wollen, weil das einem
  • andern schaden würde. Ich meine bloß dies: ob Sie sich damals nicht
  • vielleicht allzusehr übereilt haben? Verzeihen Sie mir, Durchlaucht, ich
  • urteile nach meinem eigenen schwachen Verstande. Sie haben mir mehrmals
  • geboten, aufrichtig zu sein. Als ich noch Direktor war, da hatte ich
  • auch viele Arbeiter unter mir: gute und schlechte. Ich hätte damals auch
  • das frühere Leben meiner Leute berücksichtigen müssen, denn wenn man
  • nicht alles ganz kaltblütig überlegt, sondern die Menschen gleich
  • anschreit -- dann schüchtert man sie nur ein, und kriegt überhaupt
  • nichts aus ihnen heraus; zeigt man ihnen dagegen Teilnahme und fragt sie
  • nach allem, wie ein Bruder den Bruder fragt -- dann sagen sie einem
  • alles ganz von selbst und bitten gar nicht darum, daß man Gnade walten
  • lassen solle; sie sind auch garnicht erbittert und zürnen niemandem,
  • weil sie sehen, daß nicht wir sie bestrafen wollen, sondern das Gesetz.«
  • Der Fürst versank in Nachdenken, doch in diesem Augenblick trat ein
  • junger Beamter ins Zimmer und blieb mit dem Portefeuille unter dem Arm
  • ehrfurchtsvoll an der Türe stehen. Sorge und angestrengte Tätigkeit
  • spiegelten sich auf seinem jungen und noch frischen Gesicht. Man sah es
  • ihm an, daß er Beamter für besondere Aufträge war. Dies war einer der
  • wenigen Menschen, die wirklich mit Liebe bei der Sache waren und denen
  • das Aktenstudium Freude machte. Er hatte weder einen brennenden Ehrgeiz,
  • noch einen heißen Durst nach Geld und Reichtum, noch suchte er es den
  • andern gleichzutun, er arbeitete nur aus dem Grunde, weil er überzeugt
  • war, daß er hier an dieser Stelle an seinem Platze war, wie an keiner
  • andern der Welt, und daß das seine Lebensaufgabe sei. Wenn es galt, eine
  • verwickelte Sache Schritt für Schritt zu verfolgen, zu analysieren, sie
  • in ihre Teile zu zerlegen, in diesem Labyrinth den leitenden Faden zu
  • entdecken, und alles aufzuklären, -- dann war er in seinem Element. Er
  • fand sich reichlich belohnt für seine Mühe und Arbeit und die vielen
  • schlaflosen Nächte, wenn die Sache sich endlich aufzuhellen begann, wenn
  • ihre geheimsten Triebfedern ans Licht kamen und er fühlte, daß er
  • imstande war, sie mit wenigen Worten klar und deutlich darzulegen, sodaß
  • sie jedem einleuchtete und vollkommen durchsichtig wurde. Man kann wohl
  • sagen, kein Schüler freut sich so sehr, wenn ihm endlich der Sinn eines
  • schwierigen Satzes oder die wahre Bedeutung des Gedankens eines großen
  • Schriftstellers aufgeht, als er sich freute, wenn es ihm gelungen war,
  • eine verwickelte Sache zu entwirren. Dafür aber ....
  • »... mit Brot in den Gegenden wo Hungersnot herrscht; ich kenne diesen
  • Teil besser als die Beamten: ich will selbst untersuchen, was und
  • wieviel ein jeder braucht. Und wenn Euere Durchlaucht gestatten, will
  • ich auch persönlich mit den Sektierern reden. Unsereiner, d. h. ein
  • einfacher Mann, kann sie ja doch leichter zum Reden bringen, und
  • vielleicht gelingt's mir mit Gottes Hilfe, die Sache auf friedlichem
  • Wege zu schlichten. Die Beamten aber werden doch nicht mit ihnen fertig:
  • da kommt es höchstens zu weitläufigen Schreibereien; sie werden ja schon
  • so nicht mehr klug aus den Akten und sehen bald über all dem Papier die
  • Sache selbst nicht mehr. Ich will auch von Ihnen kein Geld dafür haben,
  • denn bei Gott, in solch einer Zeit wäre es wirklich eine Schande, noch
  • an seinen Vorteil zu denken, wo die Menschen vor Hunger sterben. Ich
  • habe noch etwas Korn in Reserve: außerdem habe ich schon nach Sibirien
  • schicken lassen; bis zum nächsten Sommer erhalte ich wieder neues
  • geliefert.«
  • »Gott allein kann es Ihnen vergelten, Afanassij Iwanowitsch, Sie leisten
  • mir einen sehr großen Dienst damit. Ich sage Ihnen kein Wort mehr, weil
  • hier -- das werden Sie selbst fühlen -- weil hier jedes Wort ohnmächtig
  • wäre. Aber lassen Sie mich wenigstens noch eins über jene Bitte sagen.
  • Sagen Sie selbst: habe ich denn das Recht, ganz über eine solche Sache
  • hinwegzugehen, wäre es anständig und ehrlich von mir, diesen Schurken zu
  • verzeihen?«
  • »Bei Gott! Durchlaucht, so darf man sie nicht nennen, um so mehr, da es
  • viele ehrenwerte Männer unter ihnen gibt. Die Lage der Menschen ist oft
  • schwer, Durchlaucht, oft sogar sehr schwer. Mitunter scheint es, daß ein
  • Mensch nach allen Seiten hin schuldig ist, und wenn man dann näher
  • zusieht -- ist _er_ es garnicht gewesen.«
  • »Aber was werden sie selbst sagen, wenn ich sie laufen lasse? Es gibt
  • doch Leute unter ihnen, die nachher noch hochnäsiger werden und am Ende
  • noch behaupten werden, sie hätten uns eingeschüchtert. Sie werden die
  • ersten sein, die keine Achtung für ....«
  • »Durchlaucht, erlauben Sie mir, Ihnen meine Ansicht zu sagen: lassen Sie
  • sie alle rufen, erklären Sie ihnen, daß Ihnen alles bekannt ist,
  • schildern Sie ihnen Ihre eigene Lage, so wie Sie sie mir eben
  • geschildert haben, und fragen Sie sie um Rat: was ein jeder von ihnen an
  • Ihrer Stelle gemacht hätte.«
  • »Ja, glauben Sie denn, daß sie besseren Regungen zugänglich sind außer
  • allerhand Intrigen und dem Wunsch, sich zu bereichern? Glauben Sie mir,
  • sie werden mich auslachen.«
  • »Das glaube ich nicht, Durchlaucht. Jeder Mensch, selbst der, der
  • schlechter ist als die andern, hat ein gesundes Gefühl für das Rechte.
  • Es sei denn etwa irgend ein fremder Wucherer oder einer, der kein Russe
  • ist .. Nein, Durchlaucht, Sie haben es nicht nötig, sich zu verstecken.
  • Sagen Sie es ihnen ganz offen, wie Sie es mir gesagt haben. Sie schmähen
  • sie ja doch und sagen, Sie seien ein stolzer und ehrgeiziger Mensch, der
  • gar nichts hören will und sehr selbstbewußt ist -- nun so mögen sie die
  • Dinge sehen, wie sie sind. Was liegt Ihnen schließlich daran? Ihre Sache
  • ist doch gerecht und gut. Sprechen Sie zu ihnen, als legten Sie nicht
  • vor ihnen, sondern vor Gott selbst Rechenschaft ab.«
  • »Afanassij Iwanowitsch,« sagte der Fürst nachdenklich: »ich will es mir
  • überlegen, einstweilen aber danke ich Ihnen herzlich für Ihren Rat.«
  • »Und wie ist es mit Tschitschikow, Durchlaucht? Wollen Sie ihm die
  • Freiheit schenken?«
  • »Sagen Sie diesem Tschitschikow, er soll machen daß er fortkommt, und
  • zwar so schnell als möglich; je weiter er von hier ist, desto besser.
  • Ihm könnte ich niemals verzeihen.«
  • Murasow verneigte sich und begab sich vom Fürsten direkt zu
  • Tschitschikow. Er fand ihn bereits in der besten Laune, in höchster
  • Seelenruhe mit einem respektablen Mittagessen beschäftigt, das ihm in
  • mehreren Porzellanschüsseln aus einem gleichfalls recht respektablen
  • Restaurant in die Zelle gebracht worden war. Aus seinen ersten Worten
  • konnte der alte Herr sofort erkennen, daß Tschitschikow schon mit
  • einzelnen von den gerissenen Beamten gesprochen hatte. Er begriff sogar,
  • daß hier auch der gelehrte Rechtsanwalt seine unsichtbare Hand mit im
  • Spiel hatte.
  • »Hören Sie, Pawel Iwanowitsch,« sagte er, »ich bringe Ihnen die
  • Freiheit, aber unter einer Bedingung, daß Sie sofort die Stadt
  • verlassen. Packen Sie alle Ihre Sachen, und machen Sie, daß Sie
  • fortkommen; Sie dürfen es keinen Augenblick aufschieben, sonst
  • verschlimmern Sie nur Ihre Lage. Ich weiß, daß Ihnen irgend ein Mensch
  • hier Verhaltungsmaßregeln gibt; daher will ich Ihnen verraten, daß man
  • noch einer andern Affäre auf der Spur ist, und keine Macht der Erde wird
  • ihn mehr retten können. Es macht ihm natürlich Spaß, auch andere Leute
  • zugrunde zu richten, da es ihm allein zu langweilig wäre, aber die Sache
  • wird bald aufgedeckt sein. Ich habe Sie in der besten Geistesverfassung
  • zurückgelassen, in einer besseren als jetzt. Ich rate Ihnen daher
  • ernstlich, folgen Sie meinem Rat. Ja, ja, es kommt wirklich nicht auf
  • den Besitz allein an, um dessentwillen die Menschen sich miteinander
  • streiten und einander umbringen, als ob es möglich wäre, hier auf Erden
  • ein geordnetes Leben zu beginnen, ohne an das künftige zu denken.
  • Glauben Sie mir Pawel Iwanowitsch, solange die Menschen nicht all das
  • fahren lassen, um dessentwillen sie sich in dieser Welt auffressen und
  • zerfleischen, und nicht daran denken, ihren _geistigen_ Besitz in
  • Ordnung zu bringen -- wird es auch um den irdischen Besitz nicht
  • wohlbestellt sein. Es werden Zeiten der Hungersnot und der Armut kommen,
  • wie für ein ganzes Volk, so auch für den Einzelnen ... Das ist doch so
  • klar. Sagen Sie, was Sie wollen, der Körper hängt doch von der Seele ab.
  • Wie aber kann man dann verlangen, daß alles gut gehe? Denken Sie nicht
  • an die toten Seelen, sondern an Ihre eigene lebendige Seele, und machen
  • Sie sich mit Gottes Hilfe auf den Weg zu einem neuen Leben! Ich verreise
  • auch morgen. Beeilen Sie sich! Es kann Ihnen schlecht gehen, -- wenn ich
  • nicht mehr da bin.«
  • Der Alte verstummte und ging hinaus. Tschitschikow versank in
  • Nachdenken. Der Sinn des Lebens erschien ihm abermals in seiner hohen
  • Bedeutung. »Murasow hat recht,« sagte er, »es wird Zeit, einen andern
  • Weg einzuschlagen.« Mit diesen Worten verließ er das Gefängnis. Der
  • Wachposten trug ihm die Schatulle nach ..... Seliphan und Petruschka
  • waren ganz selig, als sie sahen, daß ihr Herr wieder frei war, und
  • freuten sich, als ob Gott weiß was passiert wäre. »Nun, meine Lieben,«
  • sagte Tschitschikow, indem er sich gnädig an sie wandte: »jetzt müssen
  • wir packen und abreisen.«
  • »Seien Sie unbesorgt, Pawel Iwanowitsch. Sie sollen sehen, wie wir
  • fliegen werden,« sprach Seliphan: »Wir werden jetzt einen guten Weg
  • haben: es ist reichlich Schnee gefallen. Es ist wirklich Zeit, daß wir
  • die Stadt verlassen. Wahrhaftig, ich habe sie bald so satt, daß ich sie
  • garnicht mehr ansehen mag.«
  • »Geh zum Wagenbauer und sage ihm, er soll unsere Kutsche auf ein
  • Schlittengestell setzen,« versetzte Tschitschikow und ging selbst in die
  • Stadt. Aber er konnte sich doch nicht entschließen, Abschiedsbesuche zu
  • machen. Nach diesem unglücklichen Vorfall war es ihm peinlich, um so
  • mehr, da in der Stadt allerlei äußerst ungünstige Gerüchte über ihn
  • zirkulierten. Er suchte jeder Begegnung mit Bekannten sorgfältig aus dem
  • Wege zu gehn und trat nur ganz unbemerkt in den Laden jenes Kaufmannes,
  • bei dem er den Stoff von Navarinoscher Rauchfarbe mit Feuerglanz gekauft
  • hatte; er erstand noch einmal vier Arschin zu einem Frack und Hosen und
  • begab sich hierauf selbst zu demselben Schneider, der ihm den Anzug
  • genäht hatte. Dieser erklärte sich bereit, seinen Fleiß und Eifer für
  • den doppelten Preis gleichfalls zu verdoppeln und ließ das Völkchen
  • seiner Gehilfen die ganze Nacht hindurch bei Kerzenlicht mit Schere,
  • Bügeleisen und Zähnen arbeiten, sodaß der Frack noch am nächsten Tage
  • fertig war. Die Pferde waren schon angespannt, aber Tschitschikow wollte
  • den Frack dennoch erst anprobieren. Er war sehr schön, ganz ebenso schön
  • wie der erste. Aber ach! Tschitschikow bemerkte etwas Glänzendes, weiß
  • Schimmerndes zwischen seinen Haaren und murmelte schmerzlich: »Wie
  • konnte ich mich auch so der Verzweiflung hingeben? Vor allem aber hätte
  • ich mir die Haare nicht ausraufen dürfen!« Nachdem er seine
  • Schneiderrechnung bezahlt hatte, setzte er sich in seinen Wagen und
  • verließ die Stadt in einer seltsamen Gemütsverfassung. Das war nicht
  • mehr der alte Tschitschikow: das war nur noch eine Ruine des früheren
  • Tschitschikow. Man konnte seinen inneren Seelenzustand mit einem
  • zerstörten Gebäude vergleichen, das nur deswegen niedergerissen wurde,
  • um ein neues daraus zu erbauen, mit dessen Wiederaufbau man jedoch noch
  • nicht begonnen hat, weil der Architekt den definitiven Plan noch nicht
  • gesandt und die Arbeiter im Zweifel sind, was sie tun sollen. Eine
  • Stunde vor ihm war der alte Murasow zusammen mit Potapytsch in einem mit
  • Matten gedeckten Zeltwagen abgefahren, und eine Stunde nach
  • Tschitschikows Abreise erging der Befehl an die Beamten, vor dem Fürsten
  • zu erscheinen: er verreise nach Petersburg und wolle sie vorher alle,
  • bis auf den letzten noch einmal sehen.
  • In dem großen Saal des Hauses, welches der General-Gouverneur bewohnte,
  • war die gesamte Beamtenschaft der Stadt versammelt vom Gouverneur bis
  • zum letzten Titularrat: die Bürovorsteher und Abteilungschefs, allerhand
  • Räte, Assessoren, Kislojedow, Krasnonossow, Samoswistow, solche die
  • Geschenke annahmen und solche, die keine annahmen, ganze und halbe
  • Heuchler und Pharisäer, und solche, die gar nicht heuchelten. Sie alle
  • warteten nicht ohne Unruhe und Aufregung auf das Erscheinen des
  • Generalgouverneurs. Endlich betrat der Fürst den Saal, er war weder
  • finster noch heiter: sein Blick war ebenso fest wie sein Schritt. Die
  • ganze Beamtenschaft verbeugte sich -- viele verneigten sich tief bis zur
  • Erde. Der Fürst antwortete mit einer leichten Verbeugung und begann
  • folgendermaßen:
  • »Ehe ich nach Petersburg reise, hielt ich es für richtig, Sie noch
  • einmal zu sehen und Ihnen wenigstens zum Teil den Anlaß zu meiner Reise
  • mitzuteilen. Es hat sich hier eine sehr unangenehme und peinliche Sache
  • abgespielt. Ich nehme an, daß viele von den Anwesenden wissen, welche
  • Sache ich meine. Diese Sache hat zur Aufdeckung einer ganzen Reihe von
  • Vorgängen geführt, die nicht weniger schmachvoll sind, und in die sogar
  • solche Männer verwickelt scheinen, die ich bisher für rechtschaffen und
  • ehrlich hielt. Mir ist auch die geheime Absicht bekannt, alles so zu
  • verwirren und durcheinanderzubringen, daß es völlig unmöglich werde,
  • diesen Fall auf dem formalen Rechtsweg zu entwirren und zu erledigen.
  • Ich weiß auch, wer der Hauptschuldige ist, obwohl er es sehr klug und
  • fein verstanden hat, alle Beweise für seine Teilnahme zu beseitigen. Nun
  • aber habe ich mich entschlossen, der Sache nicht auf dem formalen
  • Rechtswege noch auf dem Aktenwege nachzugehen, sondern sie wie in
  • Kriegszeiten vor das Kriegsgericht zu bringen und rasch zu erledigen.
  • Ich hoffe, daß der Kaiser mir die Vollmacht dazu geben wird, wenn ich
  • ihm den ganzen Vorfall ausführlich darlege. In einem solchen Fall, wo es
  • nicht möglich ist, den bürgerlichen Rechtsweg zu beschreiten, wo ganze
  • Schränke mit Akten verbrennen, und wo man sich bemüht, durch einen
  • Haufen von falschen Zeugnissen und unbegründeten Denunziationen eine
  • schon an sich recht dunkle Affäre noch mehr zu verdunkeln -- da halte
  • ich das Kriegsgericht für das einzige zuverlässige Mittel, und ich
  • wünsche Ihre Meinung darüber zu hören.«
  • Der Fürst hielt einen Augenblick inne, als erwarte er eine Antwort. Alle
  • standen stumm da, den Blick zu Boden gesenkt. Viele waren sehr bleich
  • geworden.
  • »Außerdem ist mir noch eine Sache bekannt geworden, obgleich ihre
  • Urheber der festen Überzeugung leben, daß niemand etwas davon erfahren
  • konnte. Auch dieser Fall soll nicht auf dem Aktenwege erledigt werden,
  • da ich selbst hier der Ankläger und Supplikant bin, und Sie können
  • sicher sein, daß ich zwingende und evidente Beweise vorlegen werde.«
  • Einer der Beamten zuckte zusammen, und einzelne von den Ängstlicheren
  • wurden gleichfalls bestürzt und verlegen.
  • »Es versteht sich von selbst, daß der Hauptschuldige und Anstifter
  • seiner Titel und Ränge entkleidet und daß sein Eigentum konfisziert
  • werden wird. Die übrigen werden ihrer Ämter enthoben. Es versteht sich
  • von selbst, daß zugleich mit ihnen auch viele Unschuldige werden mit
  • leiden müssen. Aber was soll ich machen? Die Sache ist zu schmählich und
  • schreit nach einer gerechten Strafe und Ahndung. Obwohl ich weiß, daß
  • dies nicht einmal andern zur Lehre dienen wird, da wieder andere an ihre
  • Stelle treten und die, welche bis zu heutigem Tage ehrlich waren,
  • unehrlich und solche, denen man Vertrauen schenken wird, zu Betrügern
  • und Verrätern werden werden -- obwohl ich dies alles weiß, bin ich
  • gezwungen, so hart und grausam zu verfahren, denn das Gesetz ist
  • verletzt und fordert strengste Ahndung. Ich weiß, daß man mir Härte und
  • Grausamkeit vorwerfen wird, aber ich weiß auch ... daß ich Sie in ein
  • gefühlloses Werkzeug der Gerechtigkeit verwandeln muß, das auf die
  • Häupter der Schuldigen herabfallen soll.«
  • Ein Zittern lief unwillkürlich über alle Gesichter.
  • Der Fürst war sehr ruhig. Weder Zorn noch Empörung spiegelte sich in
  • seinen Zügen.
  • »Jetzt bittet euch derselbe, in dessen Händen das Schicksal vieler liegt
  • und den selbst keine Bitten zu erreichen vermochten, jetzt fleht er euch
  • alle an: Alles soll vergessen, jede Schuld soll getilgt und vergeben
  • sein: ich will euer aller Fürsprecher sein, wenn ihr meine Bitte
  • erfüllen wollt. Meine Bitte aber ist diese: Ich weiß, daß kein Mittel,
  • keine Einschüchterung und keine Strafe imstande ist, das Unrecht
  • auszurotten, es hat schon zu tief Wurzeln gefaßt. Die schimpfliche
  • Sitte, Geschenke anzunehmen, ist zur Notwendigkeit und zum Bedürfnis
  • geworden, selbst bei solchen Leuten, die nicht mit der Anlage zum Bösen
  • geboren wurden. Ich weiß wohl, daß es für viele beinahe unmöglich ist,
  • gegen die allgemeine Strömung zu schwimmen. Und doch muß ich heute, in
  • einem entscheidenden und großen Augenblick, wo das Vaterland in Gefahr
  • ist, und wo ein jeder Bürger alles auf sich nimmt und alles zum Opfer
  • bringt, -- einen Ruf an Sie ergehen lassen, oder doch wenigstens an die
  • unter Ihnen, die noch ein russisches Herz in der Brust tragen, und für
  • die _Großherzigkeit_ und _Edelmut_ noch keine leeren Worte geworden
  • sind. Wozu wollen wir hier davon reden, wer von uns am meisten schuldig
  • ist? Vielleicht trage ich die größte Schuld; vielleicht habe ich Sie
  • zuerst allzu strenge und unfreundlich empfangen; vielleicht habe ich
  • durch meinen übertriebenen Argwohn so manchen unter euch abgestoßen, der
  • den ehrlichen Willen hatte, mir nützlich zu sein, obgleich auch ich
  • meinerseits etwas tun konnte .... Wenn Sie wirklich wollten, daß die
  • Gerechtigkeit auf der Seite Ihres Landes sei, wenn Sie Ihr Vaterland
  • wirklich lieb gehabt hätten, dann durften Sie sich nicht durch den Stolz
  • und die Härte meines Auftretens gekränkt fühlen; Sie mußten Ihren
  • Ehrgeiz und Ihre verletzte Eitelkeit unterdrücken und Ihr eigenes Ich
  • zum Opfer bringen. Ich hätte Ihre Selbstlosigkeit und Ihre hohe Liebe
  • zum Guten unmöglich nicht bemerken und mein Ohr unmöglich Ihren
  • verständigen und nützlichen Ratschlägen verschließen können. Am Ende muß
  • sich doch der Untergebene an den Charakter seines Vorgesetzten und nicht
  • der Vorgesetzte an seine Untergebenen anpassen. Jedenfalls wäre das
  • richtiger und bequemer, denn die Untergebenen haben nur _einen_
  • Vorgesetzten, während der Vorgesetzte viele Hunderte von Untergebenen
  • hat. Aber lassen wir es jetzt beiseite, wer hier die meiste Schuld
  • trägt. Jetzt handelt es sich darum, daß uns die Pflicht auferlegt ward,
  • das Vaterland zu retten; unser Vaterland geht nicht daran zugrunde, daß
  • zwanzig fremde Völkerstämme uns mit Krieg überziehen, es geht zugrunde
  • an _uns_ selbst; denn neben der rechtmäßigen Regierung und Verwaltung
  • hat sich noch eine andre Regierung gebildet, die weit stärker ist als
  • jede gesetzliche Macht. Man hat bestimmte Forderungen aufgestellt, alles
  • ist genau taxiert und abgeschätzt, und die Preise sind bereits allgemein
  • bekannt gegeben. Und kein Regierender vermag es, selbst wenn er weiser
  • wäre als alle Gesetzgeber und Regierenden der Welt, das Übel wieder
  • auszurotten, und wenn er die schlechten Beamten tausendmal in ihren
  • Machtbefugnissen beschränkte, indem er noch andre Beamten anstellte, um
  • jene zu beaufsichtigen. Alles ist umsonst, bis ein jeder von uns fühlen
  • lernt, daß er ganz so, wie er sich in der Zeit der Volksaufstände
  • wappnete ... heute wappnen muß gegen Unrecht und Unwahrheit. Als Russe,
  • als ein Mensch, der durch die heiligen Bande der Blutsverwandtschaft mit
  • euch verbunden ist, in dessen Adern dasselbe Blut fließt wie in den
  • euren, wende ich mich in diesem Augenblick an euch. Ich wende mich an
  • die unter euch, die einen Begriff davon haben, was eine vornehme
  • Denkungsart ist. Ich fordere euch auf, euch an die Pflicht zu erinnern,
  • die dem Menschen vorgezeichnet ist, an jedem Punkte, wo er steht. Ich
  • bitte euch, euch dieser eurer Pflicht und der Bedeutung eures irdischen
  • Berufes klarer bewußt zu werden, weil uns dieses nur dunkel vorschwebt,
  • und weil wir kaum ...«
  • Novellen
  • übersetzt von
  • Mario Spiro und S. Bugow
  • Der Mantel
  • In einer Ministerial-Abteilung ...
  • Aber es ist sicher besser, ich sage nicht in welcher. In Rußland nämlich
  • gibt es keine empfindlichere Menschenklasse, als die der Ministerial-,
  • Armee- und Kanzleibeamten, kurz, aller derer, die man im allgemeinen
  • unter dem Namen »Bürokraten« zusammenzufassen pflegt. Hält sich
  • heutzutage der eine von ihnen für auch nur ein wenig in seiner Ehre
  • gekränkt, so bildet er sich sogleich ein, daß in seiner Person auch die
  • ganze Gesellschaft eine Unbill erlitten hat. So soll neulich einmal ein
  • Kreisrichter -- ich weiß nicht mehr, in welcher Stadt -- einen Bericht
  • abgefaßt haben, in dem er dartun wollte, daß man den Erlassen der
  • Regierung nicht mehr die gebührende Achtung entgegenbringe, erfreche man
  • sich doch sogar, dem geheiligten Titel eines Kreisrichters eine
  • verächtliche Nebenbedeutung beizulegen. Und zum Beweise dafür hatte er
  • seinem Berichte einen riesigen Folianten beigelegt, eine Art Roman, in
  • dem man auf jeder zehnten Seite einem völlig berauschten Kreisrichter
  • begegnen konnte. Um also von vornherein allen künftigen Reklamationen
  • den Riegel vorzuschieben, habe ich es vorgezogen, den Schauplatz der
  • folgenden Vorgänge undeutlich zu lassen und mich mit der Angabe: In
  • einer Ministerialabteilung zu begnügen. In einer Ministerialabteilung
  • war ein Individuum beschäftigt, natürlich ein Beamter, der -- ich kann
  • es leider nicht verschweigen -- ein wenig schlicht und unbedeutend
  • aussah. Er war recht klein, und pockennarbig, hatte rote Haare, die ihm
  • jedoch an der Stirn bereits ausgefallen waren, und war sogar etwas
  • kurzsichtig, beide Wangen waren voller Runzeln, und sein Gesicht hatte
  • eine bleiche Farbe, wie bei allen Leuten, die an Hämorrhoiden leiden.
  • Was soll man machen. So sah nun mal unser Held aus, so hatte ihn das
  • Petersburger Klima verunstaltet. Was seinen Rang im Amte betrifft --
  • denn bei uns ziemt es sich vor allem, den Rang eines Beamten
  • festzustellen -- so war er das, was man im allgemeinen unter einem
  • ewigen »Titular-Rat«[9] versteht; d. h. er war einer jener Unseligen,
  • die bekanntlich schon so oft die ironischen Pfeile gewisser
  • Schriftsteller herausgefordert haben, einer Menschenklasse, die die
  • beklagenswerte Angewohnheit hat, Arme, die sich nicht zu verteidigen
  • vermögen, anzugreifen. Der Familienname dieses Beamten war
  • Baschmatschkin (zu deutsch Schuhmann). Dieser Name läßt deutlich
  • erkennen, daß er von dem Worte Schuh herstammt; wann und zu welcher Zeit
  • er jedoch von einem Schuh hergeleitet worden ist, das ist völlig
  • unbekannt. Der Vater, der Großvater und sogar der Schwager unseres
  • Beamten, sowie überhaupt sämtliche Baschmatschkins hatten immer nur
  • Stiefel getragen, die sie sich dreimal im Jahre neu sohlen ließen. Der
  • Vor- und Vatername unseres Helden war Akakij Akakiewitsch. Vielleicht
  • wird der Leser diese Namen etwas seltsam und gesucht finden, aber ich
  • kann ihm die Versicherung geben, daß dem nicht so ist, sondern daß die
  • Umstände es zur Unmöglichkeit gemacht hatten, ihm andere Namen zu geben.
  • Man höre, wie das kam! Akakij Akakiewitsch wurde, wenn mich nicht alles
  • trügt, in der Nacht zum 23. März geboren. Seine verstorbene Mutter, die
  • einen Beamten geheiratet hatte, eine gute, einfache Frau, ging
  • natürlich, wie sich's auch gebührt, sofort daran, ihren Neugeborenen
  • taufen zu lassen. Die Mutter lag noch im Bette, das sich der Türe
  • gegenüber befand, zu ihrer Rechten stand der Pate, Iwan Iwanowitsch
  • Jeroschkin, eine sehr gewichtige Persönlichkeit seines Amtes, Bürochef
  • im Senate, -- und ihm zur Linken die Patin Arina Semenowna
  • Biellobruschkow, die Frau eines Polizei-Inspektors, die mit mancherlei
  • Vorzügen ausgestattet war. Man schlug der Wöchnerin drei Namen zur
  • Auswahl vor: Mokius, Sosias oder den des Märtyrers Chosdasat.
  • [Fußnote 9: Die russische bürokratische Hierarchie oder der Tschin
  • zerfällt in vierzehn Klassen. Der Titular-Rat gehört der neunten an.]
  • »Nein,« dachte sie, »die gefallen mir alle nicht!«
  • Um ihren Wünschen Rechnung zu tragen, schlug man im Kalender ein anderes
  • Blatt auf und legte den Finger auf drei andere Namen: Trifili, Dula und
  • Warachatius. »Aber das ist ja wie eine Strafe Gottes!« rief die alte
  • Mutter aus. »Hat man jemals solche Namen gesehen? Wahrhaftig, heute höre
  • ich sie zum ersten Male in meinem ganzen Leben. Wenn es wenigstens noch
  • Waradat oder Baruch wäre, aber Trifili und Warachatius!«
  • Man blätterte von neuem im Kalender und fand nun Pawsikachi und
  • Wachtissi.
  • »Nein, nun wird es mir klar,« rief die Alte, »es soll nicht sein! So mag
  • er denn meinetwegen den Namen seines Vaters bekommen, wenn man nun
  • einmal keinen besseren wählen kann. Der Vater heißt Akaki. So mag der
  • Sohn denn auch Akaki heißen!« Und so taufte man ihn denn auf den Namen
  • Akaki Akakiewitsch. Das Kind wurde über den Taufstein gehalten:
  • natürlich schrie es hierbei und verzog das Gesicht zu einer Grimasse,
  • wie wenn es hätte ahnen können, daß es eines Tages Titular-Rat werden
  • würde. So aber spielte sich dies alles ab. Wir haben diese Tatsachen
  • deshalb so breit erzählt, damit der Leser sich davon überzeugen kann,
  • daß es gar nicht anders hätte kommen können und daß ein anderer Name für
  • den kleinen Akaki unmöglich gewesen wäre.
  • Zu welcher Zeit Akaki Akakiewitsch in die Kanzlei eintrat und wer ihm
  • dort einen Platz verschaffte, vermag heute niemand mehr zu sagen. Wie
  • viele Vorgesetzte aller möglichen Schattierungen auch schon aufeinander
  • gefolgt waren, er nahm unentwegt seinen alten Platz ein, man sah ihn
  • stets auf demselben Stuhle sitzen, in derselben Haltung, über dieselbe
  • Arbeit gebeugt, mit demselben Range, so daß man hätte glauben können,
  • daß er schon in diesem Zustande fertig auf die Welt gekommen sei, mit
  • seinen kahlen Schläfen und in seiner Dienstuniform. -- In der Kanzlei,
  • in der er angestellt war, nahm niemand auch nur die geringste Rücksicht
  • auf ihn. Selbst die Bureaudiener erhoben sich nicht bei seinem
  • Eintritte, sie beachteten ihn nicht im mindesten und rechneten mit ihm
  • nicht mehr als mit einer Fliege, die gerade davongeflogen war. Seine
  • Vorgesetzten behandelten ihn mit kalter Herrschsucht. Die Gehilfen des
  • Bureauchefs dachten nicht einmal daran, ihm zu sagen, wenn sie vor ihm
  • einen Stoß von Papieren aufhäuften:
  • »Haben Sie doch die Güte, dieses hier abzuschreiben!« --
  • oder etwa:
  • »Das ist etwas sehr Interessantes, eine äußerst angenehme Arbeit!«
  • oder irgend ein angenehmes Wort, wie es unter wohlerzogenen Beamten am
  • Platze ist.
  • Akaki nahm jedoch stets die Akten an, ohne danach zu fragen, wer sie vor
  • ihm hingelegt hatte, und ob der Betreffende überhaupt dazu berechtigt
  • gewesen war. Er nahm sie und begann sie sofort getreulich abzuschreiben.
  • Seinen Kollegen, die bei weitem jünger als er waren, diente er als
  • Gegenstand für ihre Spöttereien und zur Zielscheibe für ihre
  • Geistesblitze -- soweit man bei Beamten und besonders bei Kanzleibeamten
  • überhaupt von Geist reden kann. Bald erzählten sie sich eine Menge
  • erfundener Geschichten über ihn und über die Frau, bei der er wohnte,
  • eine siebzigjährige Greisin. Man sprach davon, daß sie ihn hin und
  • wieder verprügle, man fragte ihn, wann er denn mit ihr vor den Altar
  • treten wolle. Oder man ließ auch auf sein Haupt Papierkügelchen
  • herabregnen und wollte ihm dann weismachen, daß es Schneeflocken wären.
  • Aber Akaki schenkte diesen Attacken nicht die geringste Beachtung; er
  • erweckte den Eindruck, als wüßte er garnichts von der Gegenwart der
  • andern. Alle diese kleinen Quälereien taten seiner Beharrlichkeit im
  • Arbeiten keinen Abbruch, und trotz all dieser Versuchungen lief ihm auch
  • nicht ein einziger Schreibfehler unter. Wurde ihm jedoch einmal der
  • Scherz zu unerträglich, zerrte man ihn etwa am Arme und hinderte ihn am
  • Schreiben, so sagte er auch dann nur:
  • »Lassen Sie mich doch in Ruhe! Warum wollen Sie mich denn durchaus
  • beleidigen?« Und es lag etwas merkwürdig Rührendes in diesen Worten und
  • in der Art, wie er sie sprach.
  • Eines Tages geschah es, daß ein junger Mann, der soeben eine Anstellung
  • im Bureau erhalten hatte und nach dem Beispiel der andern sich auf seine
  • Kosten lustig machen wollte, beim Klange dieser Stimme dastand, als
  • hätte er einen Stich ins Herz bekommen, -- und von nun an sah er den
  • alten Beamten mit ganz andern Augen an.
  • Man hätte meinen können, daß eine übernatürliche Macht ihn von seinen
  • Kollegen, die er soeben erst kennen gelernt und die er zuerst für
  • gebildete und anständige Leute gehalten hatte, trennte. Ja bald empfand
  • er vor ihnen nur noch einen starken Widerwillen. Und noch viel später
  • mitten in der lustigsten Gesellschaft stand ihm das Bild dieses alten
  • kleinen Titularrates mit der kahlen Stirn vor Augen und in seinen Ohren
  • tönten die Worte wider:
  • »Lassen Sie mich doch! Weshalb wollen Sie mich denn durchaus
  • beleidigen?«
  • Und er hörte mit diesen Worten auch noch andere, die in ihnen
  • schlummerten:
  • »Bin ich nicht euer Bruder?«
  • Der junge Mann verbarg sein Gesicht in den Händen, und oft noch zuckte
  • er später bei der Erkenntnis zusammen, daß das menschliche Herz doch nur
  • wenig menschliche Empfindung in sich berge, und daß soviel Härte und
  • Roheit selbst denen eigen wäre, die eine feine und vornehme Erziehung
  • genossen hätten, und o Gott! auch in denen, die im allgemeinen für
  • gütige und ehrenwerte Menschen galten.
  • Nirgends konnte man einen Beamten finden, der seinen Pflichten mit
  • gleichem Eifer oblag wie unser Akaki Akakiewitsch. Was sage ich, mit
  • gleichem Eifer -- arbeitete er doch mit Liebe, mit Leidenschaft. Wenn er
  • Akten abschrieb, so öffnete sich vor ihm eine überaus schöne, eine
  • freundliche Welt. Man konnte von seinen Zügen das Vergnügen, das ihm das
  • Kopieren bereitete, ablesen. Es gab für ihn Lieblingsbuchstaben, die er
  • mit einer ganz besonderen Genugtuung malte -- in der wahren Bedeutung
  • des Wortes; kam er an eine wichtige Stelle, so wurde er ein ganz
  • anderer: er lächelte, seine Augen funkelten, seine Lippen bewegten sich,
  • -- und wer ihn kannte, konnte leicht aus seiner Physiognomie ersehen,
  • welchen Buchstaben er jetzt gerade druckte.
  • Wäre er nach Verdienst belohnt worden, so hätte er sich zu seinem
  • eigenen Erstaunen vielleicht zum Range eines Staatsrates erhoben
  • gesehen. Aber, wie seine witzigen Kollegen sagten, durfte er in seinem
  • Knopfloche nichts wie eine Schnalle tragen, und seine ganze
  • Beharrlichkeit trug ihm nur Hämorrhoiden ein.
  • Übrigens muß ich hier hinzufügen, daß er eines Tages doch eine gewisse
  • Aufmerksamkeit erregte. Ein Direktor, ein anständiger, wohlgesinnter
  • Mann, der ihn für seinen langen Dienst belohnen wollte, befahl, ihm eine
  • wichtigere Arbeit anzuvertrauen als die, die in der Kopierung der
  • gewöhnlichen Akten bestand, und zwar sollte er einen Bericht an irgend
  • eine andere Behörde abfassen, die Titel verschiedener Akten ändern und
  • im ganzen Texte das Pronomen der ersten Person durch das der dritten
  • ersetzen.
  • Akaki machte sich an die Arbeit, aber sie erregte ihn derartig, sie
  • kostete ihn solche Anstrengungen, daß ihm der Schweiß von der Stirn rann
  • und er endlich ausrief:
  • »Nein, gebt mir lieber etwas zum Abschreiben!«
  • Und von nun an ließ man ihn bis an sein Lebensende kopieren.
  • Es schien fast, als ob außer seinen Kopieen nichts auf der Welt für ihn
  • existiere. An seinen Anzug dachte er nie. Seine ursprünglich grüne
  • Uniform hatte allmählich eine mehlig-rote Farbe angenommen; sein Kragen
  • war so eng und so niedrig, daß sein Hals, der eigentlich kurz war,
  • beträchtlich über ihn hinausragte und abnorm lang erschien, ähnlich wie
  • bei jenen Gipskatzen mit beweglichen Köpfen, die die fremden Hausierer
  • in den russischen Dörfern feilbieten, um sie an die Bauern zu verkaufen.
  • Stets gab es irgend ein Ding, das an seiner Kleidung haften geblieben
  • war, -- bald ein Faden, bald ein Strohhalm. Außerdem hatte er eine ganz
  • besondere Vorliebe dafür, gerade in dem Momente unter einem Fenster
  • vorbeizugehen, wo man aus ihm einen nichts weniger als reinlichen
  • Gegenstand auf die Straße warf, und nur selten war sein Hut nicht mit
  • einer Melonenschale oder ähnlichem Plunder garniert. Niemals fiel es ihm
  • ein, sich mit dem, was auf den Straßen vor sich ging und alltäglich vor
  • sich geht, zu beschäftigen, mit Dingen, die die kecken forschenden
  • Blicke seiner jungen Kollegen unbedingt auf sich zogen; ja, die waren
  • gewohnt, wenn sie spazieren gingen, auf dem entgegengesetzten Trottoir
  • sofort alles Merkwürdige herauszufinden, wenn etwa ein Sterblicher mit
  • zerrissenen Beinkleidern sich zeigte, was ihnen stets ein boshaftes
  • Lächeln entlockte.
  • Akaki Akakiewitsch seinerseits sah nur die geraden und regelmäßigen
  • Linien seiner Kopieen vor sich, und er mußte schon plötzlich an die
  • Schnauze eines Pferdes, das ihm seinen vollen Atem ins Gesicht blies,
  • geraten, um sich zu erinnern, daß er sich nicht vor seinem Pult befand,
  • vor seinen schönen kalligraphischen Musterbeispielen, sondern mitten auf
  • der Straße. Und kam er nach Hause, so setzte er sich sofort zu Tisch,
  • schlang hastig seine Kohlsuppe hinunter und verzehrte dann unbekümmert
  • um das, was man ihm vorsetzte, irgend ein Stück Rindfleisch mit
  • Knoblauch -- samt den Fliegen und andern Lieblichkeiten, die Gott und
  • der Zufall dazugetan hatten. Hatte er seinen Magen gefüllt, dann stand
  • er auf, holte ein kleines Tintenfaß aus der Tasche und begann
  • pflichtgemäß die Akten abzuschreiben, die er sich nach Hause mitgenommen
  • hatte. Hatte er zufällig gerade keine dienstlichen Schriftstücke
  • abzuschreiben, so kopierte er zu seinem eigenen Vergnügen Dokumente,
  • denen er eine besondere Wichtigkeit beimaß -- nicht wegen ihrer mehr
  • oder weniger interessanten Fassung, sondern weil sie an irgend eine
  • hochgestellte Persönlichkeit gerichtet waren.
  • Selbst dann, wenn der graue Himmel St. Petersburgs von dem Schleier der
  • Nacht verhüllt ist und der ganze Beamtenstab sein Mahl je nach seinen
  • gastronomischen Neigungen und dem Gewichte seiner Börse eingenommen hat,
  • -- wenn alle Welt sich von dem Kratzen der Federn im Bureau, von den
  • Sorgen und den Geschäften und all den Unbequemlichkeiten, die sich die
  • unruhigen Menschen oft selbst unnützerweise auferlegen, zu erholen
  • sucht, so ist es ganz natürlich, daß die Beamten den Rest des Tages
  • irgend einer persönlichen Zerstreuung widmen. Die einen fahren ins
  • Theater, die andern gehen spazieren und vergnügen sich damit, die
  • Toiletten und Hüte zu betrachten, andere wieder besuchen eine Soirée, wo
  • sie an irgend ein hübsches Mädchen -- irgend einen Stern, der am
  • bescheidenen Horizonte ihres bürokratischen Himmels aufsteigt, einige
  • zärtliche und tiefempfundene Worte richten. Manche dagegen -- und diese
  • sind die zahlreichsten -- besuchen einen Kollegen, der im dritten oder
  • vierten Stockwerke eine kleine Wohnung, bestehend aus einer Küche und
  • einem Zimmer inne hat, ja einem Zimmer, das einen mühselig erbeuteten
  • Luxusgegenstand, eine Lampe oder irgend einen auf Grund langer
  • Einschränkungen gekauften Artikel birgt.
  • Kurz, es ist die Stunde, da jeder Beamte auf die eine oder die andere
  • Weise seinem Müßiggange nachgeht: hier spielt man eine Partie Whist,
  • dort nimmt man Tee mit billigen Bisquits zu sich oder man raucht aus
  • einer langen Pfeife Tabak. Man erzählt sich die Skandalgeschichten, die
  • in der großen Welt passieren, denn in welcher Situation sich der Russe
  • immer befinden mag, nie kann er seine Gedanken von seiner offiziellen
  • Gesellschaft wegwenden, über die so kuriose Anekdoten im Umlaufe sind,
  • wie zum Beispiel die von dem Kommandanten, dem heimlich hinterbracht
  • wird, irgend ein Schurke habe dem Pferde auf dem Standbild Peters des
  • Großen den Schweif abgeschnitten.
  • Mit einem Wort, selbst in diesen Stunden der Erholung und des Amüsements
  • blieb Akaki Akakiewitsch seinen Gewohnheiten treu. Niemand hätte sagen
  • können, daß er ihn auch nur ein einziges Mal des Abends in Gesellschaft
  • gesehen habe. Wenn er vom vielen Abschreiben müde geworden war und nicht
  • mehr weiter konnte, legte er sich zu Bett und dachte an die Freuden des
  • folgenden Tages, an all die schönen Kopieen, die ihm der liebe Gott noch
  • reserviert hatte.
  • So floß das friedliche Leben eines Mannes hin, der bei einem Einkommen
  • von vierhundert Rubeln mit seinem Schicksale vollkommen zufrieden war,
  • und er würde vielleicht ein hohes Alter erreicht haben, wäre er nicht
  • einem unglücklichen Zwischenfall zum Opfer gefallen, wie er nicht nur
  • Titularräte, sondern auch die geheimen, die wirklichen Staatsräte, die
  • Hofräte und selbst die, die niemals einen Rat geben oder empfangen,
  • treffen kann.
  • In St. Petersburg haben alle diejenigen, die nur über ein Einkommen von
  • ungefähr vierhundert Rubeln verfügen, einen furchtbaren Feind, und
  • dieser gräßliche Feind ist kein anderer als der nordische Winter, obwohl
  • man im allgemeinen behauptet, er wäre der Gesundheit sehr zuträglich.
  • Gegen neun Uhr morgens, wenn die Beamten der verschiedenen Ämter sich in
  • ihr Bureau begeben, sticht ihnen die Kälte ohne Unterschied so sehr die
  • Nase, daß die meisten von ihnen nicht wissen, wohin sie sie verstecken
  • sollen.
  • Wenn in solchen Augenblicken die hohen Würdenträger in Person so sehr
  • unter der Kälte leiden, daß ihnen die Stirne weh tut und die Tränen in
  • die Augen steigen, wie schlimm muß es da erst den Titularräten ergehen,
  • die doch über gar keine Mittel verfügen, um sich gegen die Unbilden der
  • Kälte zu schützen. Da sie sich nur in einen leichten Mantel haben hüllen
  • können, so bleibt ihnen als letzte Rettung nur übrig, fünf oder sechs
  • Straßen im Eilschritt zu durchlaufen und sodann bei dem Portier halt zu
  • machen, um hier so lange auf den Füßen herumzuspringen, bis sie ihre
  • eingefrorenen bureaukratischen Fähigkeiten wiedererlangt hatten.
  • Seit einiger Zeit empfand Akaki Akakiewitsch im Rücken und in den
  • Schultern einen stechenden Schmerz, obwohl er in großer Eile und außer
  • Atem die Entfernung von seiner Wohnung zu seinem Bureau zu durchlaufen
  • pflegte. Nachdem er lange hierüber nachgedacht hatte, gelangte er
  • schließlich zu der Annahme, daß sein Mantel nicht mehr ganz intakt sein
  • müsse. Kaum war er in sein Zimmer eingetreten, als er dieses
  • Kleidungsstück sorgfältig untersuchte und hierbei feststellte, daß der
  • einst so kostbare Stoff an zwei oder drei Stellen sich in den reinsten
  • Tüll verwandelt hatte und so dünn geworden war, daß er fast durchsichtig
  • schien; außerdem war das Futter völlig zerrissen. Man muß nämlich
  • wissen, daß dieser Mantel schon lange zur Zielscheibe für die
  • Spöttereien von Akakis mitleidslosen Kollegen gedient hatte. Ja, man
  • hatte ihm sogar die edle Bezeichnung eines Mantels entzogen, um ihn
  • Kapuze zu taufen. Tatsache ist allerdings, daß dieses Kleidungsstück ein
  • äußerst merkwürdiges Aussehen hatte. Im Laufe der Jahre war der Kragen
  • immer mehr zusammengeschrumpft, denn von Jahr zu Jahr hatte der arme
  • Titular-Rat ein Stück davon abgeschnitten, um mit ihm eine schadhafte
  • Stelle des Mantels auszubessern, und diese Flicke verrieten nichts
  • weniger als eine kundige Schneiderhand. Sie waren möglichst ungeschickt
  • aufgesetzt und sahen keineswegs schön aus. Als Akaki Akakiewitsch seine
  • traurigen Betrachtungen beendet hatte, sagte er sich, daß er ohne
  • Zaudern den Mantel zu dem Schneider Petrowitsch, der im vierten Stock
  • eine ganz dunkle Kammer bewohnte, bringen müsse.
  • Petrowitsch war ein Individuum, das schielte, pockennarbig war und im
  • nüchternen Zustande der Ehre teilhaftig wurde, für die Herren Beamten
  • Röcke und Beinkleider anzufertigen, wenn er nicht gerade etwas anders im
  • Kopfe hatte. Ich könnte wohl darauf verzichten, hier länger bei diesem
  • Schneider zu verweilen; aber da es der Brauch nun einmal so will, keine
  • Persönlichkeit in einer Erzählung vorzustellen, deren Physiognomie man
  • nicht genau zu schildern vermöchte, so bin ich gezwungen, meinen
  • Petrowitsch mehr oder minder naturgetreu abzukonterfeien. Früher, als er
  • noch bei seinem Herrn Leibeigner war, hieß er ganz schlicht Gregori.
  • Freigelassen, glaubte er es sich schuldig zu sein, den Namen Petrowitsch
  • anzunehmen. Zugleich begann er zu trinken, zunächst nur an den hohen
  • Feiertagen, dann jedoch an allen Kirchenfesten, die im Kalender mit
  • einem Kreuz verzeichnet sind. In dieser Beziehung blieb er den
  • Gewohnheiten seiner Großväter treu, und wenn seine Frau mit ihm zanken
  • wollte, hieß er sie eine gottlose Person und eine Deutsche. Und da wir
  • diese Frau schon erwähnt haben, so wollen wir auch von ihr noch ein paar
  • Worte sagen: leider ist nur nicht viel über sie zu berichten, außer daß
  • sie eben die Frau des Petrowitsch war, und daß sie eine Haube auf dem
  • Kopfe trug. Im übrigen war sie nicht gerade eine Schönheit zu nennen,
  • höchstens erlaubte es sich ein Gardesoldat, wenn er ihr auf der Straße
  • begegnete, ihr unter die Haube zu gucken, seinen Mund zu einem Lächeln
  • zu verziehen und einen unbestimmten Laut von sich zu geben. Akaki
  • Akakiewitsch kletterte also bis zur Mansarde des Schneiders hinauf. Die
  • Treppe, die zu ihr führte, war dunkel, schmutzig, feucht und strömte,
  • wie alle Proletarierwohnungen in St. Petersburg, einen Nase und Augen
  • beizenden Branntweingeruch aus.
  • Während der Titular-Rat die schlüpfrigen Stufen hinaufkroch, überlegte
  • er, welchen Preis Petrowitsch wohl für die Reparatur fordern könnte, und
  • er beschloß, ihm unter keinen Umständen mehr als zwei Rubel anzubieten.
  • Die Tür des Schneiders stand weit offen, um den Rauchwolken aus der
  • Küche einen Ausgang zu verschaffen; Petrowitschs Frau war gerade dabei,
  • hier Fische zu braten. Akaki Akakiewitsch ging quer durch die Küche, die
  • so voller Rauch war, daß man nicht einmal die vielen sie bevölkernden
  • Schwaben sehen konnte, er ging durch die Küche, ohne daß die Frau seiner
  • ansichtig wurde und trat in die Stube hinein, wo der Schneider auf einem
  • großen, roh gezimmerten und ungestrichenen Tische saß, die Beine wie ein
  • türkischer Pascha übereinandergeschlagen und nach der Art der meisten
  • russischen Schneider mit nackten Füßen.
  • Wenn man an ihn näher herantrat, so zog vor allem ein Umstand die
  • Aufmerksamkeit auf ihn: nämlich der Nagel eines Daumens, der zwar ein
  • wenig verstümmelt, sonst aber hart und starr war wie die Schale einer
  • Schildkröte. Um den Hals hatte er einen Knäul Seidenfaden und mehrere
  • Zwirnsträhne geschlungen und auf seinen Knieen lag ein zerfetzter Rock.
  • Seit einigen Minuten bemühte er sich, eine Nadel einzufädeln, jedoch
  • ohne Erfolg. Er wetterte zuerst auf die Dunkelheit, dann auf den Faden.
  • »Willst du nun endlich hinein, Taugenichts!« schrie er. »Bald habe ich
  • keine Kraft mehr, verdammtes Ding!«
  • Akaki Akakiewitsch merkte sogleich, daß er einen ungünstigen Augenblick
  • erwischt hatte, wo Petrowitsch schlechter Laune war. Es wäre ihm lieber
  • gewesen, Petrowitsch in einer jener günstigen Stunden anzutreffen, in
  • denen der Schneider schon ein wenig angeheitert war, oder -- wie seine
  • Frau sich auszudrücken pflegte -- wo dieser einäugige Teufel sich eine
  • solide Ration Fusel einverleibt hatte. Dann war es für den Kunden ein
  • leichtes, ihm einen beliebigen Preis aufzuschwatzen, ja der Schneider
  • ging in seinen Komplimenten bisweilen so weit, daß er sich ehrfürchtig
  • vor ihm vorbeugte und ihn mit Danksagungen überschüttete.
  • Oft jedoch mischte sich die Frau in die geschäftlichen Abmachungen,
  • beklagte sich über ihren Mann, schrie und tobte und erklärte, er sei
  • betrunken gewesen und habe die Arbeit zu einem viel zu niedrigen Preise
  • angenommen. Dann bot man einige Kopeken mehr, und der Handel war
  • abgeschlossen.
  • Heute aber hatte zu des Titular-Rats Unglück Petrowitsch bis zu diesem
  • Momente noch nicht der Flasche zugesprochen, und in dieser
  • Gemütsverfassung war der Schneider starrköpfig, unvernünftig und fähig,
  • einen schrecklich hohen Preis zu fordern.
  • Akaki Akakiewitsch sah diese Gefahr voraus und hätte gern wieder Reißaus
  • genommen; jedoch es war dazu zu spät: das Auge des Schneiders, sein
  • einziges Auge, denn er war einäugig, hatte ihn bereits entdeckt, und so
  • stammelte denn Akaki Akakiewitsch mechanisch:
  • »Guten Tag, Petrowitsch!«
  • »Guten Tag, Herr!« antwortete der Schneider, dessen Blick sich sofort
  • auf die Hand des Titular-Rates heftete, um zu erkennen, was für ein
  • Objekt sie trug.
  • »Ich war gekommen ... Petrowitsch, nun ... Ich wollte ...«
  • Hier ist die Bemerkung am Platze, daß der furchtsame Titular-Rat es sich
  • zur Regel gemacht hatte, seine Gedanken nur durch halbe Phrasen, Worte,
  • Präpositionen, Adverbien oder Redeteile, die überhaupt keinen Sinn
  • ergaben, auszudrücken.
  • War jedoch die Angelegenheit, um die es sich handelte, von besonderer
  • Wichtigkeit, so gelang es ihm niemals, den angefangenen Satz zu Ende zu
  • sprechen. Wenn die Sache jedoch ganz besonders schwierig war, dann
  • stotterte er nur ein paar Worte heraus: »Das ist doch wirklich ganz ...«
  • und dann folgte überhaupt nichts mehr. Bald hatte er selbst vergessen,
  • was er eigentlich sagen wollte und glaubte, er habe schon alles gesagt.
  • »Was wünschen Sie, Herr?« fragte Petrowitsch ihn, indem er ihn mit
  • seinem einzigen Auge vom Kopf bis zu den Füßen musterte und seinen
  • fragenden Blick über Kragen, Manschetten, Taille, Knöpfe, kurz über die
  • gesamte Uniform Akakis gleiten ließ, die er sehr gut kannte, da er
  • selbst all diese Herrlichkeiten angefertigt hatte. Das ist nun mal die
  • Eigentümlichkeit aller Schneider, dies ist ihr erster Gedanke, sowie sie
  • einem Bekannten begegnen.
  • Akaki antwortete stotternd wie gewöhnlich:
  • »Ich möchte ... Petrowitsch, ... dieser Mantel ... sehen Sie das Tuch
  • ... übrigens ... ich für meinen Teil ... ich glaube, er ist noch ganz
  • gut ... nur ein wenig bestaubt ... Ja, ja, er sieht schon ein wenig
  • abgetragen aus ... aber er ist doch noch ganz neu ... nur an einer
  • Stelle ein wenig abgescheuert ... da, am Rücken ... und hier an der
  • Schulter ... zwei oder drei kleine Risse ... Sehen Sie es nicht? ... es
  • ist ja gar nicht der Rede wert ... Es ist gar nicht viel daran zu tun
  • ...«
  • Petrowitsch ergriff den unglückseligen Mantel, breitete ihn auf dem
  • Tische aus, betrachtete ihn schweigend und schüttelte dann das Haupt.
  • Dann streckte er den Arm nach dem Fenster aus, um sich seine runde mit
  • dem Bilde eines Generals gezierte Tabaksdose herunterzunehmen. Ich weiß
  • nicht, was das für ein General war, denn die Stelle, wo sich das Gesicht
  • befand, war mit dem Finger durchlöchert, und da hatte der Schneider
  • flugs einen viereckigen Streifen Papier darüber geklebt.
  • Als Petrowitsch sich nun endlich eine Prise genommen hatte, nahm er die
  • Kutte von neuem in die Hände, hielt sie ans Licht und schüttelte zum
  • zweitenmal den Kopf. Sodann schaute er sich genau das Futter an,
  • schüttelte sie nochmals, hob wiederum den Deckel seiner vor Zeiten mit
  • dem Porträt eines Generals geschmückten und mit einem Papierstreifen
  • geflickten Tabakdose hoch, entnahm ihr eine zweite Prise, machte die
  • Dose zu, steckte sie ein und schrie endlich:
  • »Daran ist überhaupt nichts mehr auszubessern! Das ist ja nur ein ganz
  • elender Fetzen!«
  • Bei diesen Worten krampfte sich Akaki Akakiewitschs Herz zusammen.
  • »Weshalb nicht, Petrowitsch?« fragte er in dem weinerlichen Ton eines
  • Kindes, »dieser Rock sollte nicht mehr auszubessern sein? Aber so sehen
  • Sie doch, Petrowitsch! nicht wahr, es sind ja nur ein paar Risse an der
  • Schulter drin, und Sie haben genug Flicken, um sie aufzunähen.«
  • »Allerdings habe ich genug Flicken,« versetzte Petrowitsch, »aber wie
  • soll ich sie denn darauf nähen? Das Tuch ist abgescheuert und hält
  • nirgends mehr stand.«
  • »Ach was! so werden Sie einfach einen größeren Flicken nehmen!«
  • »Wo soll man denn da einen Flicken aufsetzen, der wird ja doch nicht
  • halten, der Flicken wäre auch zu groß; das kann man doch kaum noch Tuch
  • nennen, ein Windstoß genügt ja, um es völlig zu zerfetzen!«
  • »Näh ihn ... schon auf ... Ich bitte dich ... Das geht doch nicht.«
  • »Nein!« erwiderte Petrowitsch bestimmten Tones, »da ist gar nichts mehr
  • zu machen! Dieser Stoff hat ausgedient. Es wäre besser, daraus für den
  • Winter Fußlappen zu machen; das wärmt die Füße weit mehr als Strümpfe.
  • Ja, ja, das ist auch so eine deutsche Erfindung, um den Leuten Geld
  • abzunehmen.«
  • Petrowitsch ließ keine Gelegenheit vorübergehen, ohne den Deutschen eins
  • auszuwischen.
  • »Sie müssen sich einen neuen Mantel machen lassen,« fügte er hinzu.
  • »Einen neuen Mantel?«
  • Akaki Akakiewitsch ward es schwarz vor den Augen. Das Atelier des
  • Schneiders fing an ihn zu umkreisen und der einzige Gegenstand, den er
  • deutlich zu erkennen vermochte, war das mit Papier überklebte Porträt
  • des Generals auf Petrowitschs Tabaksdose.
  • »Einen neuen Mantel?« murmelte er wie traumverloren. »Aber ich habe doch
  • kein Geld dazu.«
  • »Jawohl, einen neuen Mantel!« wiederholte Petrowitsch mit grausamer
  • Beharrlichkeit.
  • »Aber, ... selbst ... wenn ... angenommen, ich faßte einen solchen
  • Entschluß ... wieviel? ...«
  • »Sie wollen sagen, wieviel er kosten würde?«
  • »Ja.«
  • »So was wie hundertundfünfzig Papierrubel werden Sie schon anwenden
  • müssen,« erwiderte der Schneider, indem er die Lippen zusammenkniff.
  • Dieser Schneider liebte die starken Effekte und fand ein ganz besonderes
  • Vergnügen darin, seine Kunden zu verblüffen und dann mit seinem einzigen
  • schielenden Auge den Ausdruck ihres Gesichts zu beobachten.
  • »Hundertundfünfzig Rubel für einen Mantel?« sagte Akaki Akakiewitsch.
  • Und der Titular-Rat sprach diese Worte mit einem Ton aus, der fast einem
  • Schrei glich, vielleicht dem ersten, den er seit seiner Geburt
  • ausgestoßen hatte, denn gewöhnlich sprach er ja mit großer
  • Furchtsamkeit.
  • »Ja,« versetzte Petrowitsch, »ohne Marderkragen und Seidenfutter für den
  • Umhang; sonst würde er sich auf zweihundert Rubel belaufen.«
  • »Petrowitsch, ich beschwöre Sie,« unterbrach ihn Akaki Akakiewitsch
  • flehend, der auf den Schneider und all seine Effekte gar nicht mehr
  • hörte, ihn auch nicht hören wollte; »ich beschwöre Sie, diesen Mantel
  • irgendwie auszubessern, damit er noch eine Zeit halten kann!«
  • »Nein! das wäre verlorene Mühe und eine unnütze Ausgabe, eine reine
  • Verschwendung,« versetzte Petrowitsch.
  • Akaki Akakiewitsch zog sich nach diesen Worten ganz niedergeschmettert
  • zurück, während Petrowitsch mit zusammengekniffenen Lippen, mit sich
  • selbst äußerst zufrieden wegen der so mannhaften Verteidigung des
  • gesamten Schneiderstandes, stehen blieb.
  • Ziellos und betäubt irrte Akaki wie ein Somnambule in den Straßen umher.
  • »Welche Widerwärtigkeit!« sprach er beim Gehen vor sich hin.
  • »Wahrhaftig, ich hätte niemals gedacht, daß das so ausgehen würde ...
  • Nein,« fuhr er nach einem kurzen Schweigen fort, »ich konnte nicht
  • annehmen, daß es dazu kommen würde ...« Dann schwieg er wieder eine
  • Weile still und sagte schließlich: »Ich befinde mich augenblicklich in
  • einer durchaus unerwarteten Situation ... in einer solchen Verlegenheit,
  • daß ...«
  • Und während er solcher Art sein Selbstgespräch fortsetzte, schlug er,
  • anstatt nach Hause zu gehen, eine seiner Wohnung völlig entgegengesetzte
  • Richtung ein, jedoch ohne dessen gewahr zu werden. Ein Schornsteinfeger
  • schwärzte ihm beim Vorübergehen den Rücken. Von einem im Bau
  • befindlichen Hause herab fiel ihm eine ganze Mütze mit Gips auf den
  • Kopf; er jedoch sah und merkte nichts. Erst als er mit gesenktem Haupte
  • gegen einen Wachtposten stieß, der ihm mit vorgehaltener Hellebarde den
  • Weg versperrte und ihm aus seiner Dose Tabak auf die schwielige Hand
  • schüttete, erwachte er rauh aus seinen Träumen.
  • »Was tust du hier?« schrie ihn der brutale Hüter der öffentlichen
  • Ordnung an; »kannst du nicht, wie es sich gehört, auf dem Trottoir
  • gehen?«
  • Dieser plötzliche Anruf riß Akaki Akakiewitsch endlich völlig aus dem
  • Zustande der Betäubung. Er sammelte wieder seine Gedanken, überblickte
  • kaltblütig die Situation und ging ernst und freimütig mit sich zu Rate
  • wie mit einem Freunde, dem man alle seine Herzensgeheimnisse anvertraut.
  • »Nein,« sagte er endlich, »heute werde ich nichts bei Petrowitsch
  • erreichen; heute ist er schlechter Laune ... vielleicht hat ihn seine
  • Frau geprügelt, -- ich werde ihn nächsten Sonntag wieder aufsuchen.
  • Sonntag Morgen nach einer durchschwärmten Nacht wird er stark schielen,
  • Durst haben, trinken wollen und seine Frau gibt ihm kein Geld dazu. Ich
  • werde ihm ein Zehnkopekenstück in die Hand drücken, dann wird er viel
  • eher zugänglich sein und mit sich über den Mantel sprechen lassen.«
  • Sich an dieser Hoffnung stützend, wartete Akaki Akakiewitsch bis zum
  • nächsten Sonntag. An diesem Tage begab er sich, als er von ferne
  • Petrowitschs Frau ihr Haus hatte verlassen sehen, zu dem Schneider und
  • fand ihn, wie er erwartet hatte, in dem Zustande völligster
  • Niedergeschlagenheit. Er schielte stärker als je und war ganz
  • verschlafen. Kaum hatte jedoch der Schneider vernommen, worum es sich
  • handelte, als er Akaki Akakiewitsch sofort anschnauzte, als sei der
  • Teufel in ihn gefahren.
  • »Nein, da gibts gar nichts mehr zu tun! Sie können sich jetzt nur einen
  • neuen Mantel kaufen.«
  • Akaki Akakiewitsch drückte ihm hier ein Zehnkopekenstück in die Hand.
  • »Danke, Euer Gnaden,« antwortete Petrowitsch, »ich werde auf Ihre
  • Gesundheit trinken. Was jedoch Ihren Mantel anbetrifft, so dürfen Sie
  • gar nicht mehr an ihn denken. Er ist nicht mehr einen roten Heller wert.
  • Lassen Sie mich nur ruhig gewähren, ich werde Ihnen einen prachtvollen
  • neuen anfertigen -- ich bürge Ihnen dafür!«
  • Der arme Akaki Akakiewitsch bat ein Mal über das andere Mal den
  • Schneider, den alten zu reparieren, aber Petrowitsch wollte ihn gar
  • nicht mehr anhören und sagte: »Ich will Ihnen schon einen neuen
  • anfertigen ... Glauben Sie mir. Ich werde mir die größte Mühe geben. Ja,
  • ich werde sogar, wie es jetzt Mode ist, silberne Haken und Ösen an dem
  • Kragen anbringen.«
  • Jetzt erst begriff Akaki Akakiewitsch, daß er sich tatsächlich einen
  • neuen Mantel werde anschaffen müssen, und zum zweitenmal fühlte er sich
  • einer Ohnmacht nahe. Sich einen neuen Mantel machen lassen! Aber womit
  • ihn bezahlen? Er hatte allerdings, um die Wahrheit zu sagen, zu den
  • Feiertagen Ansprüche auf eine offizielle Gratifikation. Aber dafür hatte
  • er schon längst eine Bestimmung gefunden. Er mußte sich ein Paar
  • Beinkleider kaufen und einem Schuhmacher eine alte Schuld bezahlen, der
  • ihm zwei Paar Stiefel ausgebessert und zwei neue Schäfte aufgesetzt
  • hatte. Er mußte sich bei der Näherin drei neue Hemden und zwei von jenen
  • Kleidungsstücken anfertigen lassen, die beim Namen zu nennen, gegen den
  • literarischen Anstand verstößt, kurz alles war schon im voraus bestimmt.
  • Und sollte -- ein unerwartetes Glück! -- der Direktor etwa die
  • Gratifikation von vierzig auf fünfzig Rubel erhöhen, was wäre
  • schließlich dieser magere Überschuß im Vergleich mit der unerhört hohen
  • Summe, die Petrowitsch für den Mantel gefordert hatte? Ein Tropfen
  • Wasser im Ozean.
  • Er wußte freilich, daß Petrowitsch die Angewohnheit hatte, mitunter ganz
  • unglaubliche Preise zu verlangen, sodaß sich seine Frau oft nicht
  • enthalten konnte, ihn mit folgenden Worten anzufahren:
  • »Bist du verrückt, du Esel? Bald arbeitest du für ein reines Nichts, und
  • ein andermal reitet dich der Teufel, einen so unendlich hohen Preis zu
  • fordern, den der Kerl selbst nicht wert ist.«
  • Er glaube demnach, daß Petrowitsch auch mit einem Preise von achtzig
  • Rubel für einen neuen Mantel einverstanden sein würde. Aber wo sollte
  • man selbst diese achtzig Rubel hernehmen? Vielleicht würde es ihm
  • gelingen, wenn er alle Hebel in Bewegung setzte, die Hälfte oder sogar
  • noch etwas mehr aufzutreiben. Woher aber sollte er die andere Hälfte
  • nehmen!
  • Wir müssen dem Leser von den Mitteln, die Akaki Akakiewitsch zur
  • Beschaffung dieser Summe anzuwenden gedachte, Rechenschaft geben!
  • Er hatte die Gewohnheit angenommen, so oft er einen Rubel erhielt, eine
  • Kopeke in eine kleine Sparbüchse zu werfen, die stets fest verschlossen
  • war. Am Ende eines jeden Halbjahres nahm er diese kleinen Kupferstücke
  • heraus und ersetzte sie durch Silbergeld von gleichem Werte. Dieses
  • Sparsystem hatte er schon ziemlich lange durchgeführt, und so beliefen
  • sich nach Verlauf einiger Jahre seine Ersparnisse auf etwas mehr als
  • vierzig Rubel. So besaß er wenigstens die Hälfte der in Betracht
  • kommenden Summe. Aber die andere Hälfte! Wo sollte er die andern vierzig
  • hernehmen? Akaki stellte unabsehbare Berechnungen an; schließlich sagte
  • er sich, daß er mindestens ein Jahr hindurch verschiedene seiner
  • Ausgaben reduzieren könne, des Abends auf den Tee verzichten, keine
  • Kerze anzünden und -- wenn er etwas zu arbeiten hätte -- sich mit seinen
  • Akten ins Zimmer seiner Wirtin setzen müßte, um seine Arbeit bei ihrer
  • Kerze zu vollenden. Er faßte auch den Entschluß, auf der Straße
  • möglichst sanft und vorsichtig aufzutreten, ja wenn es ging auf den
  • Zehenspitzen über das Trottoir und das Pflaster zu gehen, um seine
  • Sohlen nicht zu schnell durchzuscheuern, seine Wäsche nicht so oft
  • waschen zu lassen, sie beim Nachhausekommen auszuziehen und statt dessen
  • bloß seinen baumwollenen Schlafrock anzulegen, ein zwar sehr altes
  • Stück, das die Zeit jedoch glücklicherweise noch ziemlich verschont
  • hatte.
  • Anfangs waren ihm diese Entbehrungen etwas peinlich, aber nach und nach
  • gewöhnte er sich an seine neue Lebensweise und brachte es sogar soweit,
  • sich, ohne Abendbrot gegessen zu haben, zur Ruhe zu begeben. Während
  • sein Körper unter dieser Unterernährung litt, fand sein Geist in der
  • unaufhörlichen Beschäftigung mit seinem Mantel neue Anregung. Von diesem
  • Augenblicke an hätte man sagen können, daß seine Natur das passende
  • Komplement gefunden, daß er sich verheiratet hätte, daß noch ein anderer
  • Mensch immer um ihn war, daß er nicht mehr einsam war und daß ihm eine
  • Gefährtin zur Seite stände, die ihn auf allen seinen Lebenswegen
  • begleitete; diese Gefährtin -- war das Bild seines Mantels, wohl
  • wattiert und gefüttert, eines Mantels, der überhaupt nicht umzubringen
  • war.
  • Und man sah ihn viel entschlossener und mutiger als früher
  • einherschreiten, er war ein Mensch geworden, der nur ein Ziel vor Augen
  • hatte, das er auf jeden Fall erringen will. Die Charakterlosigkeit und
  • Ängstlichkeit in seinem Gesichtsausdruck und in seinen Handlungen, seine
  • lässige Haltung: mit einem Wort, all jene schwankenden und unsicheren
  • Züge waren auf einmal verschwunden. Mitunter glänzten seine Augen wie in
  • neuem Leben, und in seinen kühnen Träumen legte er sich bereits die
  • Frage vor, ob er sich nicht an seinem Mantel auch ganz gut einen
  • Mantelkragen anbringen lassen könne.
  • Diese Gedanken machten ihn bisweilen merkwürdig zerstreut. Eines Tages,
  • als er wieder seine Akten abschrieb, bemerkte er plötzlich, daß ihm
  • beinahe ein Fehler untergelaufen wäre.
  • »O, o!« rief er aus.
  • Und schnell machte er das Zeichen des Kreuzes.
  • Mindestens einmal im Monat begab er sich zu Petrowitsch, um sich mit ihm
  • über den kostbaren Mantel zu unterhalten und andre wichtige Dinge mit
  • ihm festzustellen, zum Beispiel wo er das Tuch kaufen solle, wie teuer
  • es wohl zu stehen kommen werde und welche Farbe in Betracht käme.
  • Jeder dieser Besuche führte zu neuen Erwägungen; aber jedesmal kehrte er
  • zwar etwas besorgt aber doch glücklich und zufrieden nach Hause zurück,
  • denn nun mußte doch endlich der Tag erscheinen, an dem alles besorgt,
  • und der Mantel fix und fertig sein würde.
  • Dieses große Ereignis trat viel früher, als er gehofft hatte, ein. Der
  • Direktor bewilligte ihm eine Gratifikation nicht von vierzig oder
  • fünfzig, sondern von fünfundsechzig Rubeln. Hatte etwa dieser brave
  • Beamte bemerkt, daß unser Freund Akaki Akakiewitsch so dringend eines
  • neuen Mantels bedurfte? oder verdankte unser Held diese seltene
  • Freigebigkeit nur seinem guten Sterne?
  • Wie dem auch immer war, Akaki Akakiewitsch wurde um zwanzig Rubel
  • reicher. Eine solche Vermehrung seiner Ersparnisse mußte notwendig die
  • Verwirklichung seines Vorhabens beschleunigen.
  • Noch zwei oder drei Monate, während deren er hungerte, und Akaki
  • Akakiewitsch hatte seine achtzig Rubel beisammen. Sein gewöhnlich
  • friedliches Herz begann heftig zu schlagen. Sowie er die ungeheure Summe
  • von achtzig Rubeln beisammen hatte, suchte er Petrowitsch auf, und alle
  • beide begaben sich noch am selbigen Tage zusammen zu einem Tuchhändler.
  • Ohne Zaudern kauften sie dort eine gute Ware. Kein Wunder! Seit mehr
  • denn einem Jahre hatten sie sich über diese Anschaffung unterhalten,
  • über alle Einzelheiten hatten sie debattiert und Monat für Monat hatten
  • sie die Auslagen des Kaufmanns aufs sorgfältigste studiert um sich über
  • die Preise zu vergewissern. Dafür erklärte aber Petrowitsch auch, einen
  • bessern Stoff würde man schwerlich finden. Als Futter nahmen sie äußerst
  • feste Leinewand, die nach der Meinung des Schneiders besser als Seide
  • war und überdies einen unvergleichlichen, viel schöneren Glanz hatte.
  • Marder kauften sie nicht, da sie ihn zu teuer fanden, aber sie
  • entschieden sich für das schönste Katzenfell, das es in dem ganzen Laden
  • gab und das man schließlich wohl auch für Marder halten konnte.
  • Um dieses Kleidungsstück anzufertigen, bedurfte Petrowitsch voller
  • vierzehn Tage; denn er machte eine zahllose Menge von Stichen, ohne die
  • wäre er allerdings früher fertig geworden. Er berechnete seine Arbeit
  • mit zwölf Rubeln; weniger konnte er nicht fordern: alles war mit Seide
  • gearbeitet, und der Schneider hatte die Nähte mit den Zähnen, deren
  • Spuren man noch sah, gebügelt. Endlich kam er an, der so innig
  • herbeigesehnte Mantel. Es ist mir nicht möglich, genau den Tag zu
  • beschreiben, aber sicherlich war es der feierlichste Tag in dem Leben
  • Akakij Akakiewitschs.
  • Der Schneider brachte den Mantel selbst schon am frühen Morgen, bevor
  • der Titular-Rat sich in sein Büro begab. Er hätte garnicht zu
  • gelegenerer Zeit kommen können, denn die Kälte machte sich bereits
  • bitter fühlbar, und drohte mit der Zeit noch weit heftiger zu werden.
  • Petrowitsch näherte sich seinem Kunden mit der würdevollen Miene eines
  • weltberühmten Schneiders. Seine Physiognomie war von einem seltenen
  • Ernst; niemals hatte der Titular-Rat ihn so gesehen. Er war von seinem
  • Verdienst durchdrungen und bemaß in Gedanken voller Stolz den Abstand,
  • der den Flickschneider von dem Künstler, dem Verfertiger neuer
  • Kleidungsstücke, scheidet.
  • Der Mantel war in eine neue, erst kürzlich gewaschene Leinewanddecke
  • gehüllt, die der Schneider sorgfältig aufknüpfte und dann wieder
  • zusammenlegte, um sie seiner Tasche anzuvertrauen. Dann faßte er stolz
  • den Mantel mit beiden Händen an und legte ihn Akakij Akakiewitsch auf
  • die Schultern. Hierauf half er ihm vollends hinein, strich ihm mit der
  • Hand noch einmal über den Rücken, und ein Lächeln der Genugtuung
  • überlief seine Züge, als er ihn in seiner ganzen Länge majestätisch
  • herabfallen sah; schließlich mußte Akakij Akakiewitsch ihn noch einmal
  • weit aufmachen und sich dem Schneider von vorne präsentieren.
  • Als ein Mann reiferen Alters wollte Akakij Akakiewitsch auch die Ärmel
  • anprobieren; Petrowitsch half ihm in die Ärmel hinein, und siehe da, sie
  • saßen wundervoll. Kurz, der Mantel war tadellos in allen seinen
  • Einzelheiten, und der Schnitt ließ nichts zu wünschen übrig.
  • Während der Schneider sein Werk betrachtete, verfehlte er nicht, darauf
  • hinzuweisen, daß er ihn nur wegen der geringen Miete, weil er in einer
  • kleinen Nebenstraße wohne und nichts für ein Aushängeschild zu zahlen
  • brauche, sowie wegen seiner langjährigen Bekanntschaft mit Akakij
  • Akakiewitsch so billig hergestellt hätte. Dann bemerkte er noch, daß ein
  • Schneider vom Newski Prospekt allein für die Fasson eines gleichen
  • Mantels mindestens fünfundsiebzig Rubel gefordert haben würde. Akakij
  • Akakiewitsch wollte sich jedoch über diesen Punkt nicht erst in eine
  • Diskussion einlassen, denn er fürchtete sich vor den horrenden Summen,
  • mit denen Petrowitsch zu prahlen liebte. Er zahlte, dankte und verließ
  • seine Stube, um sich in seinem neuen Mantel nach dem Büro zu begeben.
  • Petrowitsch ging mit ihm und machte mitten auf der Straße halt, um ihm
  • so weit wie möglich mit den Augen zu folgen. Dann verließ er die Straße,
  • durchquerte eiligst eine kleine Gasse und rannte nach der Straße zurück,
  • um den Mantel noch einmal von einer andern Seite, d. h. von vorne zu
  • betrachten.
  • Voll süßer Gedanken, in einer wahren Feiertagsstimmung, näherte sich
  • Akakij seinem Büro. Jeden Augenblick fühlte er, daß von seinen Schultern
  • ein neues Kleidungsstück herabhing und beglückte sich selbst mit einem
  • holden Lächeln der Genugtuung.
  • Zwei Dinge vor allem gingen ihm durch den Kopf: zunächst, daß der Mantel
  • warm war, sodann, daß er gut aussah. Ohne irgendwie auf den Weg, den er
  • gegangen war, geachtet zu haben, betrat er plötzlich die Kanzlei, legte
  • seinen Schatz im Vorzimmer ab, schaute ihn sich noch einmal sorgfältig
  • von allen Seiten an und bat den Portier, recht sorgsam auf den Mantel zu
  • achten.
  • Ich weiß nicht, wie sich das Gerücht in den Bureaus verbreitet hatte,
  • daß Akaki Akakiewitsch sich einen neuen Mantel angeschafft, und die alte
  • Kapuze zu existieren aufgehört habe. Jedenfalls eilten alle Kollegen
  • Akaki Akakiewitschs herbei, um seinen herrlichen Mantel zu bewundern und
  • den Titular-Rat mit so warmen Glückwünschen zu überhäufen, daß er nicht
  • umhin konnte, ihnen mit einem Lächeln der Genugtuung zu antworten, das
  • bald jedoch wieder einer gewissen Verlegenheit Platz machte.
  • Aber wie groß war seine Überraschung, als seine schrecklichen Kollegen
  • ihn merken ließen, daß sein Mantel einer feierlichen Einweihung bedürfe
  • und daß sie auf ein feines Mahl rechneten. Der arme Akaki Akakiewitsch
  • war darüber so bestürzt, so betäubt, daß er nicht wußte, was er zu
  • seiner Entschuldigung anführen sollte. Errötend stotterte er, das
  • Kleidungsstück sei gar nicht so neu, wie man glauben mochte, der Mantel
  • wäre vielmehr schon ganz alt.
  • Einer seiner Vorgesetzten, irgend ein Gehilfe des Bürovorstehers, der
  • ohne Zweifel dartun wollte, daß er so gar nicht stolz auf seinen Rang
  • und Titel war und daß er die Gesellschaft seiner Untergebenen nicht
  • verschmähte, nahm das Wort und sagte:
  • »Meine Herren, anstelle von Akaki Akakiewitsch werde ich Sie bewirten.
  • Ich lade Sie ein, diesen Abend den Tee bei mir einzunehmen, ich habe
  • heute gerade Geburtstag!«
  • Alle Beamten dankten ihrem Chef für seine Güte und beeilten sich, seine
  • Einladung mit großer Freude anzunehmen. Akaki Akakiewitsch wollte zuerst
  • ablehnen, man hielt ihm jedoch vor, daß das sehr unhöflich von ihm wäre,
  • gewissermaßen eine unverzeihliche Handlungsweise, und so fügte er sich
  • denn in das Notwendige.
  • In Gedanken empfand er übrigens eine gewisse Freude darüber, daß er auf
  • diese Art Gelegenheit hatte, sich in seinem Mantel auf der Straße zu
  • zeigen. Dieser ganze Tag war für ihn ein Fest. In dieser glücklichen
  • Stimmung trat er in seine Wohnung ein, zog seinen Mantel aus und hängte
  • ihn, nachdem er einmal übers andre Stoff und Futter geprüft hatte, an
  • die Wand. Dann holte er seine alte Kapuze herbei, um sie mit
  • Petrowitschs Meisterstück zu vergleichen. Seine Blicke wanderten von
  • einem Kleidungsstück zum andern und sanft lächelnd dachte er: »Welch ein
  • Unterschied!« Und noch lange nachher, beim Mittagessen konnte er sich
  • eines Lächelns nicht erwehren, wenn er daran dachte, in was für einer
  • Verfassung sein alter Mantel sich befand.
  • Ganz fröhlich nahm er diesmal seine Mahlzeit ein, und darnach setzte er
  • sich nicht wie sonst an seine Kopieen. Nein er streckte sich wie ein
  • rechter Sybarit auf seinem Sofa aus und erwartete das Herannahen des
  • Abends. Dann zog er sich schnell an, nahm seinen Mantel und ging.
  • Es dürfte mir leider nicht möglich sein, Ihnen die Wohnung dieses
  • Vorgesetzten anzugeben, der seine Untergebenen so freigebig eingeladen
  • hatte. Mein Gedächtnis beginnt bereits etwas nachzulassen, und die
  • Straßen und Häuser St. Petersburgs richten in meinem Hirn eine derartige
  • Verwirrung an, daß ich große Mühe habe, mich nur einigermaßen zurecht zu
  • finden. Einzig und allein daran erinnere ich mich, daß der würdige
  • Beamte in einem der schönsten Stadtviertel wohnte, und daß infolgedessen
  • seine Wohnung sehr weit von der Akakis entfernt war.
  • Zuerst durchwanderte der Titular-Rat mehrere schlechtbeleuchtete
  • Straßen, die ganz ausgestorben schienen, aber je mehr er sich der
  • Wohnung seines Vorgesetzten näherte, um so heller und belebter wurden
  • die Straßen. Er begegnete einer zahllosen Menge nach der neuesten Mode
  • gekleideter Spaziergänger, schönen eleganten Frauen und Herren, die
  • Biberkragen trugen. Die Bauernschlitten mit ihren Holzbänken und ihren
  • mit goldenen Nägeln geschmückten Gittern wurden immer seltener, und alle
  • Augenblicke bemerkte er forsche Kutscher mit roten Samtmützen, die mit
  • Bärenfellen versehene Schlitten aus lackiertem Holz und prachtvolle
  • Karossen lenkten, oder er sah vornehme Equipagen mit eleganten
  • Kutschböcken, die knirschend über den Schnee dahinglitten.
  • Das war für unsern Akaki Akakiewitsch ein gänzlich neues Schauspiel.
  • Seit vielen Jahren war er nicht des Abends ausgegangen. So recht
  • neugierig blieb er vor der Auslage einer Kunsthandlung stehen. Ein
  • Gemälde zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Das war das Porträt einer
  • Frau, die ihren Schuh ausgezogen hatte und ihren kleinen entzückenden
  • Fuß von einem jungen Manne mit dickem Schnurrbart und langer Fliege, der
  • durch eine halbgeöffnete Tür blickte, bewundern ließ.
  • Nachdem Akaki Akakiewitsch dieses Bild genug angeschaut hatte,
  • schüttelte er den Kopf und setzte lächelnd seinen Weg fort. Warum
  • lächelte er wohl? Etwa wegen der Fremdheit des Gegenstandes? für den er
  • sich trotzdem gleich allen anderen Leuten ein gewisses Verständnis
  • bewahrt hatte? Oder vielleicht deshalb, weil er wie die meisten seiner
  • Kollegen dachte: die Franzosen haben mitunter etwas zu seltsame
  • Einfälle; wenn sie einmal so eine Sache machen wollen, dann ist es
  • wirklich so eine Sache. Ach, er dachte wohl an gar nichts, und im
  • übrigen ist es sehr schwer, sich in die Seele eines andern zu versetzen
  • und die Gedanken der Menschen zu lesen.
  • Endlich gelangte er vor das Haus, in dem der Gehilfe des Bureauchefs
  • wohnte. Sein Vorgesetzter lebte wie ein Grandseigneur; auf der Treppe
  • brannte eine Laterne, bewohnte er doch eine ganze Etage im zweiten
  • Stock. Als unser Akaki Akakiewitsch eingetreten war, erblickte er eine
  • lange Reihe Galoschen, dazwischen dampfte und brodelte mitten im Zimmer
  • ein Samowar, an den Wänden hingen die Mäntel, von denen mehrere mit
  • Samt- und mit Pelzkragen versehen waren. Aus dem Zimmer nebenan drang
  • ein wirres Geräusch, das bestimmtere Formen annahm, als ein Diener die
  • Tür öffnete und mit einem Tablett voll leerer Tassen, einem Topf mit
  • Sahne und einem Korb mit Kuchen herausschritt. Die Gäste mußten bereits
  • lange versammelt sein, und sie hatten augenscheinlich bereits ihre erste
  • Tasse Tee geleert.
  • Akaki hängte seinen Mantel selbst an einen Haken und ging dann auf das
  • hell erleuchtete Zimmer zu, in dem sich seine mit langen Pfeifen
  • ausgerüsteten Kollegen um einen Spieltisch gruppiert hatten, sich sehr
  • laut unterhielten und ihm Stühle hin und her schoben.
  • Er trat ein, blieb jedoch verlegen auf der Türschwelle stehen, da er
  • nicht wußte, was er tun sollte. Aber seine Kollegen hatten ihn schon
  • bemerkt, begrüßten ihn mit großem Hallo und eilten sofort in das
  • Vorzimmer, um seinen Mantel zu bewundern. Dieser Ansturm raubte unserem
  • braven Titular-Rat seine ganze Haltung. Da er aber ein schlichter und
  • treuherziger Mann war, freute er sich dennoch ganz aufrichtig über die
  • Glückwünsche, die man ihm zu seinem kostbaren Kleidungsstücke
  • darbrachte. Bald darauf gaben seine Kollegen ihm nun die Freiheit wieder
  • und gingen an ihre Whisttische zurück. Diese Bewegung, diese Erregung,
  • die lebhafte Konversation, die vielen Menschen ... das alles verwirrte
  • unseren schüchternen Akaki Akakiewitsch im höchsten Grade. Er wußte
  • nicht, wo er seine Hände und Füße hintun, wie er sie verbergen sollte;
  • schließlich setzte er sich zu den Spielern, sah bald auf ihre Karten,
  • bald auf ihre Gesichter, nach kurzer Zeit fing er jedoch zu gähnen und
  • sich zu langweilen an, denn er empfand, daß die Stunde bereits längst
  • verstrichen war, um die er sich zur Ruhe zu begeben pflegte. Er wollte
  • sich zurückziehen, doch hielt man ihn zurück, indem man ihm klarmachte,
  • er dürfe sich unmöglich entfernen, ohne ein Glas Champagner zur Feier
  • dieses denkwürdigen Tages getrunken zu haben.
  • Nach einer Stunde trug man das Abendessen auf, das aus Heringsalat,
  • kaltem Kalbsbraten, Kuchen, Pasteten und gemischtem Backwerk bestand; zu
  • jedem Gang gab es den sogenannten Champagner. Akaki Akakiewitsch sah
  • sich genötigt, zwei große Gläser von diesem prickelnden Getränk zu
  • leeren, und nach kurzer Zeit bereits begann alles um ihn herum ein
  • heiteres Ansehen anzunehmen. Indes vergaß er nicht, daß Mitternacht
  • vorüber und daß es längst Zeit zum Nachhausegehen war.
  • In der Furcht, noch länger zurückgehalten zu werden, schlich er sich
  • insgeheim ins Vorzimmer, wo er den Schmerz erlebte, seinen Mantel auf
  • dem Boden erblicken zu müssen. Er schüttelte ihn mit größter Sorgfalt,
  • entfernte jedes kleine Federchen, zog ihn an und ging die Treppe
  • hinunter.
  • Die Straßen waren noch beleuchtet. Die kleinen von den Dienstboten und
  • dem niederen Volke besuchten Läden waren noch geöffnet; einige waren
  • zwar schon verschlossen, doch konnte man an dem Lichtschein, der aus den
  • Türspalten fiel, unschwer erkennen, daß die Gäste noch nicht gegangen
  • waren. Wahrscheinlich saßen die Knechte und Mägde noch immer in
  • lebhaftem Gespräche beisammen, in dem sie ihre Herren in vollkommener
  • Unklarheit über ihren Aufenthaltsort ließen.
  • Überaus froh und etwas bezecht schlug Akaki Akakiewitsch den Weg nach
  • seiner Wohnung ein. Er lief sogar, ohne zu wissen warum, einer Dame
  • nach, die wie ein Blitz an ihm vorbeihuschte, und deren sämtliche
  • Körperteile sich in lebhafter Bewegung befanden. Aber er besann sich
  • bald wieder, blieb einen Augenblick stehen und setzte dann seinen Weg
  • langsam weiter fort, höchst verwundert über das lebhafte Tempo, das er
  • angeschlagen hatte. Bald gelangte er wieder in dunkele und unbelebte
  • Gassen und plötzlich merkte er, daß er sich in einer jener Straßen
  • befand, die sich des Tags und noch mehr in der Nacht durch ihre Ruhe
  • auszeichneten. Heute aber erschien sie noch einsamer und schauerlicher.
  • Alles um ihn hatte ein finsteres Aussehen. Die Laternen wurden immer
  • seltener, da die Stadtverwaltung offenbar nur wenig Öl für die
  • Beleuchtung dieses Viertels bewilligte ... Holzhäuser, Palisadenzäune --
  • aber nirgends eine lebende Seele. Bei dem fahlen Schein dieser Laternen
  • glänzte der Schnee, und all die kleinen Häuser mit ihren verschlossenen
  • Läden lagen in der Dunkelheit gar trübselig da. Er gelangte an eine
  • Stelle, wo die Straße in einen riesigen, mit Häusern bebauten Platz
  • mündete, die von der anderen Seite aus kaum zu sehen waren. Es schien
  • fast, als befände man sich in einer weiten und trostlosen Wüste.
  • In der Ferne, Gott weiß wo, schimmerte ein Licht von einem Schilderhause
  • her, das ihm am Ende der Welt zu stehen schien. Mit einem Male verlor
  • Akaki Akakiewitsch seine fröhliche Stimmung. Er ging mit starkem
  • Herzklopfen auf das Licht zu, er ahnte eine drohende Gefahr. Der vor ihm
  • liegende Raum erschien ihm größer als der Ozean.
  • »Nein,« sagte er, »ich will lieber garnicht hinsehen!«
  • Und er ging weiter, indem er die Augen beständig zumachte. Als er sie
  • öffnete, sah er sich plötzlich von mehreren bärtigen Männern umgeben,
  • deren Gesichter er nicht erkennen konnte. Es wurde ihm dunkel vor den
  • Augen, sein Herz krampfte sich zusammen.
  • »Dieser Mantel gehört mir,« schrie einer der Männer, indem er Akaki
  • Akakiewitsch an dem Kragen faßte.
  • Akaki Akakiewitsch wollte um Hilfe rufen. Einer der Angreifer schloß ihm
  • indessen mit seiner Faust, die die Größe eines Beamtenkopfes hatte, den
  • Mund und sagte zu ihm:
  • »Laß dir's nur nicht einfallen, zu schreien!« Im selben Augenblick
  • fühlte der Titular-Rat, wie man ihm seinen Mantel auszog, und fast
  • gleichzeitig ließ ihn ein Fußtritt in den Schnee rollen, in dem er
  • bewußtlos liegen blieb.
  • Einige Sekunden später kam er wieder zu sich; aber er vermochte niemand
  • mehr zu erblicken. Seiner Kleidung beraubt und ganz erfroren begann er
  • aus Leibeskräften zu schreien, aber seine Rufe konnten kaum bis zum
  • anderen Ende des Platzes dringen. Ganz außer sich lief er über den Platz
  • und stürzte mit der letzten Kraft der Verzweiflung auf das
  • Schilderhäuschen zu, wo die Wache, Gewehr bei Fuß, ihn neugierig
  • betrachtete und fragte, weshalb zum Teufel er denn einen solchen Lärm
  • vollführe und wie ein Verrückter liefe.
  • Als Akaki Akakiewitsch den Soldaten erreicht hatte, beschuldigte er ihn
  • mit bebender Stimme der Trunkenheit, weil er nicht bemerkt hatte, daß
  • man in nächster Nähe von ihm die Passanten bestehle und ausplündere.
  • »Ich habe nichts gesehen,« erwiderte der Mann, »ich sah Sie nur mitten
  • auf dem Platze zusammen mit zwei Individuen. Ich glaubte, es wären Ihre
  • Freunde. Es ist unnütz, sich deshalb aufzuregen. Suchen Sie morgen den
  • Polizei-Inspektor auf, er wird die Angelegenheit in die Hand nehmen,
  • nach den Dieben des Mantels forschen lassen und eine Untersuchung
  • einleiten.«
  • Der unglückliche Akaki Akakiewitsch kam in einem fürchterlichen Zustande
  • zu Hause an: die wenigen Haare, die er noch am Hinterkopf und an der
  • Schläfe hatte, hingen ihm wirr über die Stirn; Brust, Rücken und
  • Beinkleider waren voller Schnee. Als seine alte Wirtin ihn wie einen
  • Besessenen an die Tür klopfen hörte, stand sie schnell auf und kam auf
  • nackten, nur in Pantoffeln steckenden Füßen herbeigeeilt. Sie öffnete
  • die Türe, indem sie ihre nur mit einem Hemde bekleidete Brust mit der
  • einen Hand schamhaft zudeckte. Aber bei Akaki Akakiewitschs Anblick
  • prallte sie entsetzt zurück.
  • Als er ihr erzählte, was ihm zugestoßen war, rang sie die Hände und
  • rief:
  • »Sie müssen sich nicht an den Polizei-Inspektor wenden, sondern an den
  • Bezirks-Kommissar. Der Inspektor wird Sie mit schönen Worten abspeisen
  • und doch nichts für Sie tun. Aber den Bezirks-Kommissar kenne ich schon
  • lange. Meine alte Köchin Anna, eine Finnländerin, dient jetzt bei ihm
  • als Amme, und ich sehe sie oft unter unseren Fenstern vorbeikommen. Er
  • geht jeden Sonntag in die Kirche, um zu beten, und wirft allen Leuten
  • freundliche Blicke zu, man sieht es ihm gleich an, daß er ein braver
  • Mann ist.«
  • Nach dieser beruhigenden Empfehlung zog sich Akaki traurig in sein
  • Zimmer zurück. Wer sich nur einigermaßen in die Situation eines andern
  • hinein versetzen kann, wird begreifen, wie er die Nacht verbrachte.
  • Am andern Morgen begab er sich sofort zum Bezirks-Kommissar. Man
  • bedeutete ihm, daß dieser hohe Beamte noch schlief. Um zehn Uhr kam er
  • wieder. Der hohe Beamte schlief noch. Um elf Uhr war der Kommissar
  • ausgegangen. Der Titular-Rat stellte sich noch einmal um die Essenszeit
  • ein, aber die Schreiber wollten ihn durchaus nicht vorlassen und fragten
  • ihn, was er wolle und warum er es denn so eilig habe, ihren Chef zu
  • sprechen. Zum erstenmal in seinem Leben machte Akaki Akakiewitsch einen
  • Energieversuch. Er erklärte kategorisch, daß er unbedingt und zwar auf
  • der Stelle mit dem Kommissar reden müsse, er komme aus dem Departement,
  • daher dürfe man ihn keinesfalls abweisen, denn es handle sich um eine
  • äußerst wichtige Staatsangelegenheit, und sollte es etwa jemand
  • einfallen, ihn zu behindern, so würde er sich beschweren, und dies
  • könnte ihnen teuer zu stehen kommen.
  • Auf solchen Ton konnte man nichts weiter erwidern. Einer der Schreiber
  • ging hinaus, um den Chef herbeizuzitieren. Dieser gewährte nun Akaki
  • Akakiewitsch eine Audienz, hörte sich jedoch seine Erzählung über den
  • Raub seines Mantels in einer recht merkwürdigen Weise an. Anstatt sich
  • für den Hauptpunkt, nämlich den Diebstahl, zu interessieren, fragte er
  • den Titular-Rat, wie er denn dazu gekommen wäre, zu so ungewöhnlicher
  • Stunde nach Hause zu gehen, und ob er nicht etwa in einem verdächtigen
  • Hause gewesen sei.
  • Völlig verblüfft durch diese Frage fand der Titular-Rat keine Antwort
  • und zog sich zurück, ohne genau zu wissen, ob man sich überhaupt mit
  • seiner Angelegenheit beschäftigen würde oder nicht.
  • Er war den ganzen Tag über nicht in seinem Bureau gewesen: (ein
  • unerhörtes Ereignis in seinem Leben). Am folgenden Tage erschien er
  • wieder, aber in welchem Zustand! bleich, aufgeregt, mit seinem alten
  • Mantel, der nun noch jämmerlicher aussah als ehedem. Als seine Kollegen
  • erfuhren, welches Unglück ihn betroffen hatte, fanden sich noch immer
  • einige Rohlinge, die aus vollem Halse darüber lachen zu müssen glaubten;
  • die Mehrzahl indessen empfand aufrichtiges Mitleid mit ihm und
  • veranstaltete zu seinen Gunsten eine Subskription. Unglücklicherweise
  • hatte dieses löbliche Unternehmen nur ein völlig ungenügendes Resultat,
  • weil diese selben Beamten und Vorgesetzten bereits kurz vorher zu zwei
  • Subskriptionen beigesteuert hatten: zunächst mußten sie sich ein Porträt
  • ihres Direktors anfertigen lassen, sodann handelte es sich um das
  • Abonnement auf ein Werk, das ein Freund ihres Chefs soeben hatte
  • erscheinen lassen. Das war der Grund, weswegen nur eine ganz
  • unbedeutende Summe zusammenkam.
  • Einer von ihnen, der Akaki Akakiewitsch ehrliche Teilnahme
  • entgegenbrachte, wollte ihm wenigstens aus Mangel an Besserem einen
  • guten Rat geben. Er sagte ihm, daß es verlorene Mühe wäre, sich noch
  • einmal an den Bezirkskommissar zu wenden, denn vorausgesetzt, daß dieser
  • Beamte sich wirklich Mühe geben sollte, um sich das Lob seiner
  • Vorgesetzten zu verdienen, und daß es ihm in der Tat glücken sollte,
  • seinen Mantel aufzufinden, so würde die Polizei dieses Kleidungsstück so
  • lange in Verwahrung behalten, bis sich der Titular-Rat nicht
  • unumstößlich sicher als der alleinige und wahre Besitzer des Mantels
  • legitimiert habe. Er ermahnte ihn also, sich an eine gewisse,
  • hochgestellte Persönlichkeit zu wenden, welche hochstehende
  • Persönlichkeit dank ihrer guten Beziehungen zu den Behörden die Sache
  • ohne große Schwierigkeit erledigen könne.
  • In seiner Verwirrung entschloß sich Akaki, dieser Ansicht Folge zu
  • leisten. Welche Stellung in der Beamtenskala diese hohe Persönlichkeit
  • eigentlich bekleidete, wie hoch denn ihr Rang in Wirklichkeit war, hätte
  • man nicht sagen können. Man wußte einzig und allein, daß diese _hohe
  • Persönlichkeit_ erst seit kurzer Zeit in ihrem Amte säße, bis dahin war
  • sie nämlich eine ganz unbedeutende Persönlichkeit gewesen. Allerdings
  • gab es andre noch höher gestellte Persönlichkeiten, aber bekanntlich
  • finden sich ja immer Leute, in deren Augen eine Persönlichkeit, die
  • andre Menschen für unbedeutend halten, eine sehr hohe und bedeutende
  • Persönlichkeit ist. Genug, der in Frage stehende Beamte setzte alle
  • möglichen Hebel in Bewegung, um noch höher zu steigen. So zwang er alle
  • andern Beamten, die unter ihm standen, am Fuße der Treppe auf ihn zu
  • warten, bis er erschien, und niemand konnte direkt zu ihm gelangen,
  • sondern dies alles mußte auf dem strengsten Ordnungswege geschehen. Der
  • Kollegien-Sekretär teilte einem Regierungs-Sekretär das Audienzgesuch
  • mit, der es seinerseits an einen Titular-Rat oder einen noch höheren
  • Beamten weitergab, und dieser stattete endlich der hohen Persönlichkeit
  • darüber Bericht ab.
  • Das ist der gewöhnliche Gang der Geschäfte in unserem heiligen Rußland.
  • Der Wunsch, es den hohen Beamten gleich zu tun, bewirkt, daß jeder die
  • Manieren seines Vorgesetzten nachäfft. Vor noch nicht allzu langer Zeit
  • ließ ein erst eben zum Chef eines kleinen Bureaus beförderter
  • Titular-Rat über einem seiner Zimmer die Aufschrift »Beratungssaal«
  • anbringen. An der Tür standen Diener mit roten Kragen und gestickten
  • Röcken, um die Bittsteller anzumelden und einzulassen, die sie in einen
  • äußerst kleinen, kaum einem gewöhnlichen Schreibtisch Platz bietenden
  • »Saal« hineinführten.
  • Aber kehren wir zu unserer hohen Persönlichkeit, zu unserem Beamten,
  • zurück. Er hatte eine imponierende majestätische Haltung, wenngleich
  • sein Benehmen und seine Gewohnheiten recht primitiv waren; sein System
  • faßte sich in einem einzigen Wort zusammen, und dieses hieß: Strenge,
  • Strenge, Strenge. Er pflegte dieses Wort dreimal zu wiederholen, und
  • beim letztenmal sah er den, mit dem er gerade zu tun hatte,
  • bedeutungsvoll an. Er hätte gut darauf verzichten können, soviel Energie
  • zu entfalten, denn seine zehn Untergebenen, die den ganzen
  • Regierungsmechanismus seiner Kanzelei bildeten, fürchteten ihn schon
  • ohnehin genug. Wenn sie ihn nur von weitem sahen, legten sie eiligst
  • ihren Federhalter hin und stürzten herbei, um bei seinem Vorübergang
  • Spalier zu bilden. In seinen Gesprächen mit seinen Untergebenen
  • beobachtete er immer eine strenge Haltung und sprach stets nur folgende
  • Worte:
  • »Was erlauben Sie sich? Wissen Sie auch, mit wem Sie sprechen? Vergessen
  • Sie nicht, wen Sie vor sich haben!«
  • Im übrigen war er ein braver Mann und liebenswürdig und gefällig gegen
  • seine Freunde. Nur sein Generalsrang hatte ihm den Kopf verdreht. Seit
  • dem Tage, an dem er ihn erhalten hatte, verbrachte er den größten Teil
  • seiner Zeit in einer Art Schwindel und wußte kaum noch, wie er sich
  • benehmen sollte, doch wurde er wieder im Verkehr mit seinesgleichen
  • menschlich und vernünftig. Dann benahm er sich wie ein anständiger und
  • in mancher Beziehung sogar wie ein recht gescheiter Mensch. Befand er
  • sich jedoch mit einem Untergebenen zusammen, dann war der Teufel los --
  • dann beschränkte er sich auf ein strenges Schweigen, und in dieser
  • Situation war er wirklich zu bedauern, um so mehr, als er selbst
  • empfand, wie viel angenehmer er seine Zeit hätte verbringen können.
  • Allen, die ihn in solcher Stimmung beobachteten, konnte es nicht
  • entgehen, daß er vor Verlangen brannte, sich in eine interessante
  • Konversation zu mischen, aber die Furcht, unklugerweise zu zuvorkommend
  • zu erscheinen, sich etwas zu vergeben, sich zu familiär zu zeigen, hielt
  • ihn davon zurück. Um sich Gefahren dieser Art zu entziehen, beobachtete
  • er eine außerordentliche Reserve und sprach nur von Zeit zu Zeit irgend
  • ein einsilbiges Wort. Kurz, er hatte sein System so auf die Spitze
  • getrieben, daß man ihn einen langweiligen Peter nannte, und dieser Titel
  • war wohl verdient.
  • Das war die hohe Persönlichkeit, die Akaki Akakiewitsch um Hilfe und
  • Schutz angehen mußte. Der Augenblick, den er wählte, um seine Absicht
  • auszuführen, schien äußerst ungünstig, besonders für Akaki Akakiewitsch,
  • dagegen um so günstiger, um der Eitelkeit des Generals zu schmeicheln.
  • Die hohe Persönlichkeit befand sich gerade in ihrem Arbeitszimmer und
  • plauderte angeregt mit einem alten Jugendfreunde, der vor kurzem
  • angekommen war und den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, als man
  • ihr meldete, daß ein Herr Baschmakschin um die Ehre einer Audienz bei
  • Seiner Exzellenz nachsuchte.
  • »Wer ist das?« fragte er kurz und sehr erstaunt.
  • »Ein Beamter!«
  • »Warten lassen. Beschäftigt. Ich habe keine Zeit, ihn zu empfangen.«
  • Die hohe Persönlichkeit schwindelte. Nichts hinderte sie daran, die
  • gewünschte Audienz zu gewähren. Beide Freunde hatten schon alles
  • durchgesprochen. Schon mehr als einmal war ihre Unterhaltung von langen
  • Pausen unterbrochen worden, nach deren Beendigung sie sich beide
  • freundschaftlich auf die Knie klopften:
  • »So geh, lieber Iwan Abramowitsch!«
  • »Ja, ja, Stephan Warlamowitsch!«
  • Aber der Direktor wollte den Bittsteller nicht gleich empfangen, um
  • seinen Freund seine ganze Bedeutung empfinden zu lassen, dieser hatte
  • nämlich den Dienst quittiert und wohnte jetzt auf dem Lande; daher
  • wollte ihm der Direktor deutlich demonstrieren, daß die Beamten sich so
  • lange im Vorzimmer zu gedulden hätten, bis es ihm gefiele, sie zu
  • empfangen.
  • Endlich -- nach mehreren Zwiegesprächen und einigen neuen Pausen,
  • währenddessen die beiden Freunde in ihren bequemen Lehnsesseln liegend,
  • den Rauch ihrer Zigarren zur Decke sandten, schien sich der
  • General-Direktor plötzlich daran zu erinnern, daß man ihn um eine
  • Audienz gebeten hätte. Er rief seinen Sekretär, der mit verschiedenen
  • Akten an der Tür stand, und sagte: »Ich glaube es wartet da irgend ein
  • Beamter auf mich. Lassen Sie ihn herein!«
  • Als er Akaki Akakiewitschs ansichtig wurde, der sich ihm mit
  • untertäniger Miene in seiner alten Uniform näherte, wandte er sich
  • schroff zu ihm und fuhr ihn in jenem strengen und rauhen Tone an, den er
  • sich, wenn er in seinem Zimmer allein war, vor dem Spiegel einstudiert
  • hatte, noch eine ganze Woche bevor er seinen neuen Posten einnehmen und
  • sich General nennen durfte.
  • »Was wollen Sie?«
  • Der schon ganz eingeschüchterte Akaki Akakiewitsch war wie
  • niedergeschmettert von dieser schroffen Anrede. Indes versuchte er es
  • sich so gut er konnte verständlich zu machen und zu erzählen, wie man
  • ihn in unmenschlicher Weise seines neuen Mantels beraubt hatte, nicht
  • ohne seinen Bericht mit einer Menge überflüssiger Flickworte zu
  • verbrämen. Er fügte hinzu, er habe sich an Seine Exzellenz gewandt in
  • der Hoffnung, daß er dank dieser hohen und gütigen Protektion bei dem
  • Polizei-Präsidenten oder bei andern hohen Behörden wieder in den Besitz
  • seines Kleidungsstückes gelangen könne.
  • Der General-Direktor fand aus irgend einem Grunde, daß dies Benehmen
  • viel zu familiär sei und herrschte ihn daher kurz an: »Wie Herr! Sie
  • wissen nicht, was Sie in so einem Falle zu tun haben? Was fällt Ihnen
  • ein? Sie kennen wohl den Instanzenweg nicht? Sie hätten eine Bittschrift
  • einreichen sollen, die in die Hände des Bureauchefs und aus ihnen in die
  • des Abteilungsvorstandes gelangt wäre; dieser hätte sie meinem Sekretär
  • überreicht, durch den sie mir hätte zugestellt werden müssen.«
  • »Gestatten Sie mir,« unterbrach ihn Akaki Akakiewitsch mit großer
  • Anstrengung, um den kargen Rest von Geistesgegenwart, der ihm geblieben
  • war, zusammenzunehmen. Fühlte er doch, daß er schon vor Schrecken und
  • Erregung schwitzte. »Gestatten Sie mir, Eure Exzellenz, Ihnen zu
  • bemerken, daß, wenn ich mir die Freiheit genommen habe, Sie mit dieser
  • Angelegenheit zu belästigen, die Sekretäre ... die Sekretäre sind Leute,
  • von denen man nichts zu erwarten hat.«
  • »Wie? Was? Wahrhaftig!« schrie ihn der General-Direktor an. »Sie wagen
  • es, hier eine solche Sprache zu führen? Wie sind Sie denn zu solchen
  • Ansichten gelangt? Es ist eine Schmach, zu sehen, wie sich junge Leute
  • derartig gegen ihre Vorgesetzten empören!«
  • In seinem Ungestüm sah wohl der General-Direktor garnicht, daß der
  • Titular-Rat bereits die Fünfzig überschritten hatte und daß die
  • Bezeichnung: junger Mann nur noch relativ auf ihn angewendet werden
  • konnte: im Vergleich mit einem Siebzigjährigen nämlich!
  • »Wissen Sie auch,« fuhr die hohe Persönlichkeit fort, »mit wem Sie
  • sprechen? Erinnern Sie sich, vor wem Sie stehen? Erinnern Sie sich
  • daran! Ich sage: erinnern Sie sich daran!«
  • Diese Worte begleitete er mit heftigem Fußstampfen, und seine Stimme
  • nahm eine solche Schärfe, einen so furchterregenden Umfang an, daß auch
  • ein anderer erschrocken zusammengefahren wäre.
  • Akaki war völlig gelähmt; er zitterte, seufzte, konnte sich kaum
  • aufrecht halten und wäre ohne das Zuhilfekommen des Bureaudieners
  • unfehlbar zu Boden gesunken. Man führte, oder vielmehr man schleppte ihn
  • fast ohnmächtig hinaus.
  • Der General-Direktor war über die Wirkung seiner Worte ganz erstaunt;
  • sie überstieg seine Erwartung, und voller Genugtuung darüber, daß sein
  • herrischer Ton auf einen Greis einen solchen Eindruck gemacht hatte, daß
  • dieser arme Mann sein Bewußtsein verlor, warf er einen flüchtigen Blick
  • auf seinen Freund, um zu sehen, wie er diesen Ausgang aufgenommen hatte.
  • Wie grenzenlos wurde da seine Zufriedenheit mit sich selbst, als er
  • sogar bei seinem Freunde, der unschlüssig dasaß und ihn mit einem
  • gewissen Schrecken ansah, einen tiefen Eindruck feststellte!
  • Wie Akaki Akakiewitsch die Treppe hinunter gelangte und wie er die
  • Straßen durchwanderte, darüber hätte er selbst niemals Rechenschaft
  • geben können; denn er war mehr tot als lebendig. In seinem ganzen Leben
  • war er noch nicht von einem General-Direktor, und noch dazu von einem so
  • strengen General-Direktor, so heftig gescholten worden.
  • In dem heulenden Schneesturm, der draußen tobte, wanderte er mit offenem
  • Munde dahin, ohne dieses abscheuliche Wetter überhaupt zu bemerken, und
  • ohne auf dem Trottoir vor dem Schneegestöber Schutz zu suchen. Der Wind,
  • der nach Petersburger Sitte aus allen vier Himmelsrichtungen blies,
  • verursachte ihm eine Halsentzündung. Nach Hause zurückgekehrt, war er
  • außerstande, ein Wort zu sprechen. Sein ganzer Körper war geschwollen,
  • und daher legte sich Akaki Akakiewitsch zu Bett. So groß ist mitunter
  • die Wirkung einer gründlichen Moralpauke!
  • Am folgenden Tage fieberte Akaki heftig. Dank der großmütigen Hilfe des
  • St. Petersburger Klimas machte seine Krankheit in kurzer Zeit
  • beunruhigende Fortschritte. Als der Arzt sich einstellte, war all seine
  • Kunst bereits nutzlos. Der Doktor fühlte ihm den Puls, aber er konnte
  • nichts mehr ausrichten, so verschrieb er ihm denn ein Rezept, um ihn
  • doch nicht ohne die Segnungen der medizinischen Wissenschaft sterben zu
  • lassen, und erklärte, daß der Kranke nur noch zwei Tage zu leben hätte.
  • Dann wandte er sich an Akakis Wirtin und sagte: »Sie haben keine Zeit
  • mehr zu verlieren; lassen Sie ihm doch gleich einen Sarg aus Fichtenholz
  • machen, denn ein eichner wäre für diesen armen Mann wohl zu teuer.«
  • Hörte Akaki Akakiewitsch diese verhängnisvollen Worte? Waren sie es, die
  • eine so erschütternde Wirkung auf ihn ausübten? Beklagte er sich ganz
  • leise über sein trauriges Schicksal? Niemand hätte es sagen können,
  • redete er doch bereits im Delirium. Seltsame Visionen jagten
  • unaufhörlich durch sein geschwächtes Hirn. Bald sah er sich Petrowitsch
  • gegenüber, den er beauftragte, ihm einen Mantel anzufertigen, bald sah
  • er Fußangeln für die Diebe, die er beständig unter seinem Bett zu
  • entdecken glaubte. Bald hatten sie sich unter seiner Decke verkrochen,
  • und er flehte seine Wirtin an, sie fortzujagen. Bald fragte er, warum
  • die alte Kapuze noch an der Wand hänge, wo er doch einen neuen Mantel
  • habe, bald sah er sich vor dem General-Direktor, der ihn wieder mit
  • Vorwürfen überhäufte, so daß er seine Exzellenz um Gnade bat. Bald
  • verwirrte er sich in so seltsame und schreckliche Flüche und Reden, daß
  • die erschreckte alte Frau sich bekreuzigte. Niemals in ihrem Leben hatte
  • sie derartige Dinge von ihm gehört, und die zornigen Worte des Kranken
  • ließen sie um so mehr außer sich geraten, als der Titel einer Exzellenz
  • jeden Augenblick wiederkehrte. Bald murmelte er von neuem sinnlose Sätze
  • ohne Zusammenhang, die sich aber immer um denselben Punkt drehten: um
  • den Mantel.
  • Endlich hauchte der arme Akaki Akakiewitsch seinen letzten Seufzer aus.
  • Man legte weder auf sein Zimmer noch auf seinen Schrank Siegel -- und
  • zwar aus dem einfachen Grunde, weil er keinen Erben hatte und nur ein
  • Päckchen Gänsefedern, ein Heft mit weißem Aktenpapier, drei Paar
  • Strümpfe, einige Hosenknöpfe und seinen alten Mantel hinterließ. Wem
  • fielen diese Reliquien zu? Das weiß Gott allein! Der Verfasser dieser
  • Erzählung muß gestehen, daß er es unterlassen hat, sich genauer darüber
  • zu informieren.
  • Akaki Akakiewitsch wurde in ein Leichentuch gehüllt und nach dem
  • Kirchhof gebracht, auf dem man ihn beisetzte. Die große Stadt Petersburg
  • fuhr in ihrem gewöhnlichen Leben fort, wie wenn der Titularrat niemals
  • existiert hätte.
  • So schwand ein menschliches Wesen dahin, das weder einen Beschützer,
  • noch einen Freund gehabt, das nie jemand ein wahrhaft herzliches
  • Interesse eingeflößt, das nicht einmal die Neugier der sonst doch so
  • forschungswütigen Männer erregt hatte, jener Schnüffler, die es doch
  • sonst nicht verschmähen, eine gewöhnliche Fliege zum Zwecke einer
  • mikroskopischen Untersuchung auf die Nadel zu spießen. Ohne ein einziges
  • Wort der Klage hatte dieses Wesen die Mißachtung und den Spott seiner
  • Kollegen ertragen. Ohne daß es je ein außerordentliches Erlebnis gehabt
  • hätte, war es seinen Weg zum Grabe dahingewandert, und als ihm am Ende
  • seiner Tage ein Lichtblick in Form eines Mantels sein elendes Dasein
  • belebt hatte, mußte das Schicksal es niederwerfen, ganz so, wie es auch
  • die Großen dieser Welt niederzuwerfen pflegt! ....
  • Einige Tage nach seinem Tode ließ ihm sein Chef durch einen Boten
  • mitteilen, daß er sich sofort auf seinen Posten zu begeben habe. Der
  • Bureaudiener kam jedoch mit der Nachricht zurück, daß der Titular-Rat
  • nicht mehr kommen könne.
  • »Und weshalb nicht?« fragten die Beamten.
  • »Weil er bereits tot und vor vier Tagen begraben worden ist!«
  • So erfuhren Akaki Akakiewitschs Kollegen seinen Tod.
  • Am Tage darauf nahm seinen Platz ein anderer Beamter ein, der viel
  • robuster und gröber war und der sich nicht die Mühe nahm, beim Kopieren
  • der Akten die Buchstaben so aufrecht hinzumalen, sondern der eine viel
  • schrägere Schrift hatte.
  • * * * * *
  • Es könnte scheinen, als müsse Akaki Akakiewitschs Geschichte hier
  • endigen, und als hätten wir nichts mehr über ihn mitzuteilen. Allein der
  • bescheidene Titular-Rat war dazu bestimmt, nach seinem Tode noch manchen
  • Tag von sich reden zu machen: wie zur Belohnung für sein bescheidenes
  • von niemandem beachtetes Dasein, und unsere Erzählung nimmt hier ganz
  • unerwarteter Weise eine recht phantastische Wendung.
  • Eines Tages verbreitete sich in St. Petersburg das Gerücht, daß in der
  • Nähe der Katharinenbrücke Nacht für Nacht ein Gespenst in der Uniform
  • eines Kanzleibeamten erscheine, einen gestohlenen Mantel suche und allen
  • Passanten, ohne sich im mindesten um deren Titel oder Rang zu kümmern,
  • ihre wattierten, mit Katzen-, Otter-, Bären-, Biberfell gefütterten
  • Mäntel, kurz alle solche, die die Menschen erfunden haben, um ihr
  • eigenes Fell gegen die Kälte zu schützen, abnehme. Ein dermaliger
  • Kollege des Titular-Rates hatte dieses Gespenst gesehen und in ihm
  • sofort Akaki Akakiewitsch erkannt. Er war, tödlich erschrocken, so
  • schnell er konnte, davongelaufen, und so war es ihm gelungen, zu
  • entkommen, aber -- obwohl er schon fern war -- hatte er es doch mit der
  • Faust drohen sehen. Überall erfuhr man, daß die Rücken und die Schultern
  • von Räten, -- nicht nur von Titular-Räten, -- sondern auch von
  • Staatsräten infolge dieses unqualifizierbaren Raubes ihrer schönen
  • warmen Kleidung den heftigsten Erkältungen ausgesetzt waren.
  • Die Polizei traf natürlich alle möglichen Maßregeln, um dieses Gespenst
  • -- tot oder lebend -- zu ergreifen und an ihm eine exemplarische Strafe
  • zu vollziehen; und das wäre ihr auch beinahe gelungen.
  • Eines Abends hatte ein Posten in der Kirjuschkingasse das Glück, das
  • Gespenst gerade in dem Momente am Kragen zu packen, wo es einem alten
  • Musiker, der vormals die Flöte gespielt hatte, seinen Friesmantel
  • fortnehmen wollte. Die Wache rief zwei Kameraden zu Hilfe und vertraute
  • ihnen den Gefangenen an, während sie mit der Hand in ihren Stiefel
  • langte, um ihre Tabaksdose zu suchen, und ihre schon zum sechsten Male
  • erfrorene Nase wieder etwas zu beleben. Aber der Tabak war wohl von
  • solcher Art, daß selbst ein Toter ihn nicht gut vertragen konnte. Kaum
  • hatte der Posten seinem linken Nasenloche einige Körnchen anvertraut,
  • während er das rechte zuhielt, als der Gefangene so gewaltig zu niesen
  • begann, daß die drei Soldaten fühlten, wie ein Nebel ihre Augen
  • verhüllte. Während sie sich die Lider rieben, verschwand das Gespenst
  • spurlos, so daß sie nicht recht wußten, ob sie es auch wirklich in ihren
  • Händen gehalten hatten. Von diesem Tage an hatten alle Wachen eine so
  • große Furcht vor Gespenstern, daß sie nicht einmal einen lebendigen
  • Menschen mehr zu verhaften wagten und sich darauf beschränkten, ihm von
  • ferne zuzurufen:
  • »Geht weiter! Geht weiter!«
  • Das Phantom fuhr fort, in der Nähe der Kalinkinbrücke umzugehen, und
  • verbreitete in dem ganzen Viertel einen gewaltigen Schrecken unter allen
  • ängstlichen Leuten.
  • Kehren wir jedoch zu der hohen Persönlichkeit, der ursprünglichen
  • Veranlassung unserer phantastischen, aber durchaus wahren Geschichte,
  • zurück. Der Wahrheit gemäß müssen wir zugeben, daß die hohe
  • Persönlichkeit, bald nachdem sich der arme von ihr so schlecht
  • behandelte Akaki Akakiewitsch entfernt hatte, etwas wie Mitleid mit ihm
  • empfand. Ein gewisses Gefühl der Teilnahme war dem Herzen des hohen
  • Herrn durchaus nicht fremd; er selbst hatte manch edle Regung, -- sein
  • einziger Fehler bestand darin, sie infolge des maßlosen Stolzes auf
  • seinen Titel zu unterdrücken. Als sein Freund gegangen war, hatte er
  • sich aufs teilnahmsvollste mit diesem unglücklichen bleichen Titular-Rat
  • beschäftigt, den er immer in seiner Verstörtheit vor sich sah, sich
  • krümmend unter den grausamen Vorwürfen, die er ihm gemacht hatte. Diese
  • Vision beunruhigte ihn derartig, daß er eines Tages einem seiner Beamten
  • den Auftrag gab, sich über Akaki Akakiewitschs Schicksal zu unterrichten
  • und festzustellen, ob man noch etwas für ihn tun könne.
  • Als der Bote mit der Nachricht zurückkam, daß der arme kleine Beamte
  • kurz nach der Audienz einem plötzlichen Fieberanfall zum Opfer gefallen
  • war, empfand der General-Direktor starke Gewissensbisse und verbrachte
  • den ganzen Tag in der düstersten Stimmung.
  • Um sich ein wenig zu zerstreuen und seine peinlichen Eindrücke zu
  • verjagen, begab er sich des Abends zu einem Freunde, bei dem er eine
  • angenehme Gesellschaft antraf, und -- was die Hauptsache war -- lauter
  • Personen von seinem Rang, so daß er sich nicht zu genieren brauchte.
  • Und wirklich sah er sich auch bald all seiner melancholischen Gedanken
  • enthoben, er wurde wieder lebhaft, fing Feuer, beteiligte sich in
  • liebenswürdigster Weise an den Gesprächen, wie wenn nichts vorgefallen
  • wäre, und verbrachte so einen sehr schönen Abend.
  • Zum Souper trank er zwei Glas Champagner, bekanntlich das beste Mittel,
  • um seine Heiterkeit wieder zu gewinnen. Unter dem Einflusse dieses
  • schäumenden Trankes bekam er Lust zu etwas ganz Besonderem: er beschloß
  • daher, nicht unmittelbar nach Hause zu gehen, sondern eine seiner
  • Freundinnen, ich glaube es war eine deutsche Dame, namens Karoline
  • Iwanowna, aufzusuchen, zu der er zärtliche Beziehungen unterhielt.
  • Ich möchte hierbei betonen, daß die hohe Persönlichkeit keineswegs mehr
  • jung war, ja, daß man sie überall als tadellosen Gatten und guten
  • Familienvater rühmte. Ihre beiden Söhne, deren einer bereits in einem
  • Ministerium angestellt war, und ein sechszehnjähriges Töchterchen mit
  • einer zwar hakenförmigen aber doch ganz reizenden Nase, kamen
  • allmorgentlich in sein Zimmer, um ihm die Hand zu küssen und ihm mit den
  • Worten: _Bonjour, papa_ guten Morgen zu sagen.
  • Seine Gattin, eine frische und noch immer anziehende Erscheinung, bot
  • ihm zuerst die Hand zum Kusse, ergriff sodann die seine und drehte sie
  • nach innen, um sie ihrerseits an ihre Lippen zu führen. Obgleich sich
  • die hohe Persönlichkeit also in ihrer Häuslichkeit äußerst wohl fühlte
  • und durch die Zärtlichkeiten der Familienmitglieder vollauf befriedigt
  • schien, glaubte sie dennoch auch in einem anderen Viertel den Galanten
  • spielen zu müssen. Die Freundin, mit der seine Gattin seine
  • Zärtlichkeiten teilen mußte, war keineswegs jünger als diese; aber so
  • sind die Rätsel des Lebens, und wir sind ja nicht befugt, sie hier lösen
  • zu wollen.
  • Die hohe Persönlichkeit ging also die Treppe hinunter, bestieg ihren
  • Schlitten und sagte zu dem Kutscher:
  • »Zu Karoline Iwanowna!«
  • Sorgfältig in seinen warmen Mantel eingehüllt, befand er sich in der
  • angenehmsten Stimmung, die sich ein Russe nur wünschen mag, einer
  • Stimmung, wo man selbst an nichts denkt und sich der Geist doch in einem
  • Kreislauf von Gedanken bewegt, von denen die einen immer wohltuender
  • sind als die anderen, und wo man sich garnicht die Mühe zu nehmen
  • braucht, nach ihnen zu suchen oder sie festzuhalten. Er dachte an die
  • glücklichen Stunden, die er soeben in so angenehmer Gesellschaft
  • verbracht hatte, an die geistreichen Bemerkungen, die den kleinen Kreis
  • zu lautem Lachen gereizt und die er halblaut kichernd wiederholte.
  • Hierbei fand er, daß sie noch genau so komisch waren wie damals, als er
  • sie zum ersten Male gehört hatte, und er wunderte sich daher nicht im
  • mindesten darüber, daß er so herzhaft hatte lachen müssen.
  • Von Zeit zu Zeit störte ihn ein heftiger Windstoß, der ihn plötzlich
  • ganz unmotiviert anwehte und ihm ganze Schneehaufen ins Gesicht
  • schleuderte, in seinen Betrachtungen. Der Nord pfiff durch seinen
  • Mantel, blähte ihn wie ein Segel auf, schlug ihm den Kragen um die Ohren
  • und nötigte ihn, seine ganze Kraft zusammenzunehmen, um sich wieder aus
  • ihm herauszuwinden.
  • Plötzlich fühlte die hohe Persönlichkeit, wie eine machtvolle Hand sie
  • am Kragen packte. Sie wandte sich um und bemerkte einen kleinen, mit
  • einer alten Uniform bekleideten Mann. Entsetzt erkannte sie Akaki
  • Akakiewitschs Züge, und diese Züge waren bleich wie der Schnee und
  • abgezehrt wie die eines Toten.
  • Aber wer beschreibt den Schrecken der hohen Persönlichkeit, als sie
  • bemerkte, daß sich der Mund des Toten in krampfhaften Zuckungen verzog,
  • den Direktor mit eisigem Grabeshauche anblies und in folgende Worte
  • ausbrach:
  • »Endlich habe ich dich ... endlich kann ich dich am Kragen packen. Ich
  • will meinen Mantel. Du hast dich nicht um mich gekümmert, als ich in
  • Nöten war, und mich nur mit Schmähungen überhäuft. -- Nun sollst du mir
  • deinen Mantel geben!«
  • Der arme hohe Beamte war ein Kind des Todes. In seinem Bureau vor seinen
  • Untergebenen fehlte es ihm sicher nicht an Mut und Charakterstärke; er
  • brauchte nur einen Subalternen streng anzusehen, und schon rief jeder,
  • der einen Blick auf seine kräftige Gestalt und sein imponierendes
  • Äußeres warf: »Welch ein Charakter!«
  • Aber wie bei so vielen anderen hochmütigen Beamten offenbarte sich sein
  • Heldentum nur in seiner äußeren Erscheinung, und in diesem Augenblick
  • war er so erschrocken, daß er sogar um seine Gesundheit fürchten mußte.
  • Mit zitternder Hand zog er sich selbst seinen Mantel aus und rief seinem
  • Kutscher zu:
  • »Schnell nach Hause! Schnell!«
  • Als der Kutscher diese Stimme hörte, die, wie das in solchen
  • Augenblicken wohl vorkommt, einen sehr bestimmten und energischen Klang
  • hatte und meist von noch viel bestimmteren und energischeren Taten
  • begleitet zu sein pflegte, neigte er vorsichtig den Kopf, schwang seine
  • Peitsche und ließ seinen Schlitten pfeilschnell dahinsausen. In weniger
  • als sechs Minuten hielt der Schlitten vor dem Hause der hohen
  • Persönlichkeit. Bleich, erschrocken und ohne Mantel stieg er aus und
  • begab sich sofort nach seinem Zimmer. Statt zu Karoline Iwanowna zu
  • fahren, war er schleunigst zu sich nach Hause geeilt. Er verbrachte eine
  • so schreckliche Nacht, daß seine Tochter am andern Morgen während des
  • Tees entsetzt ausrief:
  • »Du bist ja heute so bleich, Papa!«
  • Er sagte nichts, weder von dem, was er gesehen, noch von dem, wo er
  • gewesen war, und was er am Abend vorher hatte tun wollen. Indes machte
  • dieses Ereignis einen tiefen Eindruck auf ihn. Von diesem Tage an fragte
  • er seine Untergebenen nicht mehr in seiner bisherigen schroffen Art:
  • »Was erlauben Sie sich? Wissen Sie, wer vor Ihnen steht?«
  • Oder, wenn es ihm doch noch bisweilen widerfuhr, in herrischem Tone mit
  • ihnen zu sprechen, so hörte er doch wenigstens vorher erst ihr Gesuch
  • an.
  • Und wie seltsam! Von diesem Tage an zeigte sich das Gespenst nicht mehr.
  • Augenscheinlich hatte es überhaupt keine andere Absicht gehabt, als sich
  • den Mantel des General-Direktors anzueignen. Jedenfalls hörte man von
  • nun an nichts mehr davon, daß den Leuten ihre Mäntel geraubt wurden.
  • Allerdings gab es noch einige ängstliche und übereifrige Personen, die
  • sich durchaus nicht beruhigen wollten und behaupteten, daß sich das
  • Phantom noch immer und zwar in andern entlegeneren Stadtvierteln zeige
  • ... Und in der Tat, ein Wachtposten wollte sogar mit eigenen Augen
  • gesehen haben, wie es an einem Hause vorübergeeilt war. Der Posten war
  • jedoch von Natur ein wenig schwächlich -- hatte doch sogar ein
  • gewöhnliches ausgewachsenes Ferkel, das aus einem Privathause
  • ausgebrochen war, ihn zur größten Freude und Erheiterung der
  • herumstehenden Droschkenkutscher einmal ganz einfach umgeworfen. Dafür
  • ließ er sich freilich nachher von jedem einen Groschen für Tabak geben,
  • um sie zu strafen, weil sie sich über ihn lustig gemacht hatten. Da er
  • also ein solcher Schwächling war, wagte er es nicht, das Gespenst zu
  • verhaften, sondern begnügte sich damit, ihm in der Dunkelheit
  • nachzuschleichen. Da aber drehte sich das Gespenst plötzlich um und
  • schrie ihn an: »Was willst du?« wobei es ihm eine so schreckliche Faust
  • zeigte, wie man sie sogar bei einem Lebenden nicht so leicht zu sehen
  • bekommt.
  • »Nichts,« antwortete der Wachtposten und nahm eiligst Reißaus.
  • Dieser Schatten war jedoch schon bedeutend größer als der des
  • Titular-Rats und trug einen enormen Schnauzbart. Er schien mit mächtigen
  • Schritten der Obuhoffbrücke zuzueilen und verschwand gleich darauf in
  • der dunklen Nacht.
  • Die Nase
  • I.
  • Am 25. März trug sich in St. Petersburg ein außerordentliches Ereignis
  • zu.
  • Auf dem Wosnessenski-Prospekt wohnte der Barbier Iwan Jakowlewitsch,
  • dessen Familienname von dem Schilde, auf dem man nur noch die Abbildung
  • eines an Wangen und Kinn eingeseiften Herrn nebst der Inschrift: »Hier
  • wird auch zur Ader gelassen!« erkennen konnte, geschwunden war. Dieser
  • Barbier Iwan Jakowlewitsch wachte also ziemlich frühzeitig auf und
  • atmete den Duft von warmem Brote ein. Er richtete sich im Bette etwas
  • empor und sah, wie seine Frau, eine äußerst respektable Dame und
  • leidenschaftliche Liebhaberin des Kaffees, einige frischgebackene Brote
  • aus dem Ofen hervorholte.
  • »Heute, meine liebe Praskowia Ossipowna, werde ich keinen Kaffee
  • trinken,« sagte Iwan Jakowlewitsch; »ich habe mehr Appetit auf Brot mit
  • Zwiebeln.«
  • Um die Wahrheit zu sagen: Iwan Jakowlewitsch hätte gar zu gern von
  • beidem gekostet; doch war er von vornherein von der Unmöglichkeit einer
  • derartigen Schwelgerei völlig durchdrungen, denn Praskowia Ossipowna
  • ließ solche Launen nicht zu.
  • »Iß meinetwegen Brot, Schafskopf,« dachte die Frau bei sich; »für mich
  • wird dann um so mehr Kaffee übrig bleiben ...« und sie warf ein Brot auf
  • den Tisch.
  • Iwan Jakowlewitsch zog aus Schicklichkeitsgründen einen Leibrock über
  • sein Hemd, nahm -- nachdem er am Tische Platz genommen hatte -- etwas
  • Salz, stutzte zwei Zwiebeln, ergriff ein Messer und schickte sich an,
  • das Brot höchst bedächtig zu zerteilen. Er schnitt es in zwei Hälften,
  • schaute sich die eine Fläche an und bemerkte zu seiner größten
  • Verwunderung etwas Weißliches. Iwan Jakowlewitsch kratzte vorsichtig mit
  • dem Messer daran herum und befühlte es mit dem Daumen. »Das Ding ist ja
  • ganz hart!« sagte er zu sich; »was mag denn das nur sein?«
  • Er schälte es mit den Fingern heraus und fand -- eine Nase! Iwan
  • Jakowlewitsch ließ seine Arme sinken; dann begann er sich seine Augen zu
  • reiben und befühlte es noch einmal mit dem Finger. In der Tat, es war
  • eine Nase, eine wirkliche Nase, und dazu noch eine Nase, deren Bildung
  • er wiederzuerkennen glaubte.
  • Entsetzen malte sich auf Iwan Jakowlewitschs Zügen: aber dieses
  • Entsetzen war harmlos im Vergleich mit der Empörung, die sich seiner
  • Gattin bemächtigte.
  • »Wo hast du nur diese Nase abgeschnitten, du Vieh?« fing sie
  • wutentbrannt zu schreien an. »Du Dieb, du Trunkenbold! Ich werde dich
  • selbst der Polizei denunzieren! Was für ein Lumpenkerl! Schon drei
  • Herren haben mir gesagt, du zerrst beim Rasieren derartig an den Nasen,
  • daß du sie beinahe abreißt!«
  • Allein Iwan Jakowlewitsch war weder tot noch lebend, hatte er doch
  • soeben festgestellt, daß diese Nase keine andere war als die des
  • Kollegien-Assessors Kowalew, den er Mittwochs und Sonntags zu rasieren
  • pflegte.
  • »Schweig doch, Praskowia Ossipowna,« sagte er, »ich werde sie in ein
  • Stück Leinewand einschlagen und sie in irgend eine Ecke verstecken, wo
  • sie einige Tage liegen bleiben mag. Dann werde ich sie forttragen.«
  • »Damit bin ich ganz und gar nicht einverstanden. Ich soll zugeben, daß
  • du eine abgeschnittene Nase im Zimmer versteckst? Du gerösteter Zwieback
  • du! Er kann nur sein Rasiermesser abziehen und ist nicht fähig, sein
  • Geschäft schnell und solid auszuführen! Herumstreicher, Strauchdieb!
  • Glaubst du etwa, ich werde mir deinetwegen Scherereien mit der Polizei
  • zuziehen? Ach, du bist ein Taugenichts, ein dummer Klotz bist du! Weg
  • damit! Fort! Da, trag sie weg, wohin du willst. Ich will nichts davon
  • wissen!«
  • Iwan Jakowlewitsch war völlig zerschmettert. Er überlegte und überlegte
  • ... und wußte im Grunde garnicht was.
  • »Der Teufel soll wissen, wie das nur möglich ist!« sagte er endlich,
  • indem er sich mit der Hand über die Ohren fuhr. »Bin ich gestern
  • betrunken nach Hause gekommen oder nicht? Allerdings kann ich das nicht
  • mit Gewißheit sagen. Aber allem Anschein nach handelt es sich hier um
  • einen ganz außergewöhnlichen Vorgang; denn das Brot -- das Brot wird
  • doch gebacken, während eine Nase ... Weiß Gott, ich verstehe das nie und
  • nimmer!«
  • Iwan Jakowlewitsch verstummte. Der Gedanke, ein Polizist könnte diese
  • Nase bei ihm entdecken und ihn zur Rechenschaft ziehen, versetzte ihn in
  • eine vollkommene Niedergeschlagenheit. Es war ihm bereits, als sähe er
  • einen roten, reich mit Silber besetzten Kragen, und einen Degen vor sich
  • ... und er zitterte am ganzen Körper. Endlich zog er seine Beinkleider
  • und Stiefel an, wickelte die Nase schnell unter den peinlichsten
  • Ermahnungen seiner Frau in ein Stück Leinewand und verließ seine
  • Wohnung.
  • Er hatte die Absicht, die Nase irgendwo an einem Brunnen, unter einer
  • Schwelle niederzulegen oder sie wie absichtslos fallen zu lassen, und
  • dann in eine andere Straße einzubiegen.
  • Aber unglücklicherweise lief er einem Bekannten in die Arme, der ihn
  • sofort zu fragen anfing:
  • »Wo gehst du denn hin?« oder: »Wen willst du denn schon so frühzeitig
  • rasieren?« sodaß Iwan Jakowlewitsch durchaus keinen günstigen Moment für
  • sein Vorhaben erwischen konnte. In der Folge glückte es ihm zwar einmal,
  • die Nase fallen zu lassen; aber ein Schutzmann machte ihm schon von
  • weitem mit der Hellebarde ein Zeichen und rief ihm zu: »Heb's doch auf!
  • Du hast da etwas fallen lassen!« Und Iwan Jakowlewitsch ward so
  • genötigt, die Nase aufzuheben und in seine Tasche zu stecken.
  • Verzweiflung überfiel ihn, und zwar um so heftiger, je mehr sich die
  • Straße bevölkerte und je mehr Läden und Wirtshäuser geöffnet wurden.
  • Er entschloß sich, auf die Isaaksbrücke zu gehen. Vielleicht würde er
  • dort ein Mittel finden, die Nase unbemerkt in die Newa zu werfen! ...
  • Aber ich habe einen Fehler begangen, daß ich dem Leser bis jetzt noch
  • nichts über Iwan Jakowlewitsch, eine in mancher Hinsicht bemerkenswerte
  • Persönlichkeit, berichtet habe.
  • Iwan Jakowlewitsch war wie jeder russischer Handwerker, der etwas auf
  • sich hält, ein furchtbarer Trunkenbold, und obgleich er täglich die
  • Bärte anderer Leute rasierte, rasierte er doch niemals seinen eigenen.
  • Sein Frack -- denn Iwan Jakowlewitsch trug nie einen Überrock -- war
  • bunt oder vielmehr schwarz und mit gelblich-zimtfarbenen und grauen
  • Flecken übersät; der Kragen glänzte schon ein wenig, und anstelle von
  • drei Knöpfen sah man nichts mehr als ein Paar abgerissene Zwirnsfäden.
  • Iwan Jakowlewitsch war in jeder Beziehung ein Zyniker; wenn der
  • Kollegien-Assessor Kowalew nach seiner Gewohnheit, während er rasiert
  • wurde, zu ihm sagte:
  • »Deine Hände stinken immer, Iwan Jakowlewitsch!« so antwortete er
  • gelassen:
  • »Warum sollen sie denn stinken?«
  • »Ich weiß nicht, Brüderchen, aber sie stinken!« versetzte hierauf der
  • Kollegien-Assessor Kowalew; und Iwan Jakowlewitsch nahm dann erst eine
  • Prise und seifte hierauf Kowalews Wangen, seine Oberlippe, die Partie
  • hinter den Ohren und unter dem Kinne ein -- mit einem Worte, er seifte
  • ihn ein, wo es ihm Vergnügen machte.
  • Dieser ehrenwerte Bürger war nun endlich auf der Isaaksbrücke
  • angekommen. Zunächst warf er einen spähenden Blick auf die Umgebung,
  • beugte sich über das Geländer, wie wenn er die vielen Fische im Wasser
  • beobachten wollte, und warf dann das Päckchen mit der Nase ganz behutsam
  • hinab.
  • Es war ihm zumute, als fielen ihm mit einem Male zehn Pud[10] vom
  • Herzen. Ja, er lächelte sogar.
  • Anstatt sich nun auf den Weg zu machen, um schnell seine Beamten zu
  • rasieren, trat er in ein Lokal ein, das ein Schild mit der Inschrift
  • »Tee und Lebensmittel« trug, und bestellte dort ein Glas Punsch.
  • Plötzlich bemerkte er jedoch ganz in der Nähe am Ende der Brücke, den
  • Bezirkskommissar, einen Mann von vornehmem Äußeren, mit breitem
  • Backenbart, Dreispitz und Degen. Iwan Jakowlewitsch wurde vor Entsetzen
  • starr wie ein Eisklumpen. Der Kommissar winkte ihm mit der Hand und
  • sagte zu ihm:
  • [Fußnote 10: Ein Pud = etwa 35 Pfund.]
  • »Komm doch mal näher, mein Lieber!«
  • Iwan Jakowlewitsch zog, da er die gebräuchlichen Höflichkeitsformen sehr
  • wohl kannte, schon von weitem die Mütze, sprang herbei und sagte:
  • »Ich wünsche Ew. Wohlgeboren einen schönen guten Morgen!«
  • »Nein, nein, Brüderchen, laß nur das >Ew. Wohlgeboren< aus dem Spiel! --
  • Sag mir lieber, was hattest du da auf der Brücke zu tun?«
  • »Wahrhaftig, Herr, ich war gerade auf dem Wege zu meinen Kunden, die ich
  • rasieren soll, und schaute hinab, ob die Strömung sehr stark ist!«
  • »Du lügst! Du schwindelst! So kommst du mit nicht davon! Willst du mir
  • jetzt wohl Rede stehen?«
  • »Ich bin bereit, Ew. Gnaden zwei-, ja sogar dreimal wöchentlich ohne
  • jede Bezahlung zu rasieren!« versetzte Iwan Jakowlewitsch.
  • »Nein, lieber Freund! Das sind Dummheiten! Mich rasieren bereits drei
  • Barbiere und rechnen sich diese Funktion zur Ehre an. Aber ich bitte
  • dich, mir zu sagen, was du dort gemacht hast!«
  • Iwan Jakowlewitsch erblaßte ...
  • Aber hier hüllt plötzlich ein undurchdringliches Dunkel unsere
  • Geschichte ein, und über die folgenden Geschehnisse weiß man absolut
  • nichts zu berichten.
  • II.
  • Der Kollegien-Assessor[11] Kowalew erwachte eines Morgens besonders früh
  • und bewegte seine Lippen, um ein lautes Brr ... brr ... auszustoßen, wie
  • es so seine Art war, wenn er munter wurde, ohne daß er hierfür einen
  • Grund hätte angeben können. Er reckte sich erst tüchtig und suchte dann
  • nach einem kleinen Spiegel, der auf dem Tische stand. Er wollte sich ein
  • Pickelchen anschauen, das am Abend vorher auf seiner Nase aufgesprungen
  • war. Aber zu seinem größten Erstaunen befand sich anstelle seiner Nase
  • in seinem Gesicht eine durchaus ebene und glatte Fläche! Voller
  • Schrecken ließ Kowalew sich Wasser bringen und wusch sich die Augen mit
  • dem Handtuch aus: wahrhaftig, er hatte keine Nase mehr! Er befühlte die
  • Stelle mit der Hand und kniff sich ins Fleisch, um festzustellen, ob er
  • vielleicht noch schliefe; aber nein, er schien tatsächlich nicht zu
  • schlafen. Der Kollegien-Assessor Kowalew sprang aus seinem Bett,
  • schüttelte und rüttelte sich, -- doch die Nase war und blieb
  • verschwunden! Er ließ sich sofort seine Kleider bringen und stürzte
  • schleunigst zu dem Polizeivorstand.
  • Aber inzwischen ist es Zeit geworden, einige Worte über Kowalew zu
  • sagen, damit der Leser ermessen kann, um welche Art von
  • Kollegien-Assessor es sich bei unserem Freunde Kowalew handelt.
  • [Fußnote 11: Kollegien-Assessor: so heißen die Beamten des achten
  • Beamtengrades. Im Heere nennt man sie Major; diese Bezeichnung führt
  • Kowalew.]
  • Man darf nicht etwa die Kollegien-Assessoren, die diesen Rang ihren
  • Diplomen verdanken, mit denen verwechseln, die ihn während ihrer
  • Dienstzeit im Kaukasus erhalten haben. Die Kollegien-Assessoren mit
  • wissenschaftlicher Bildung ... aber ich will doch lieber aufhören, denn
  • Rußland ist ein so seltsames Land, daß all seine Kollegien-Assessoren
  • von Riga bis Kamtschatka sich getroffen fühlen, wenn auch nur von einem
  • dieser Gattung die Rede ist. Und das gilt auch für alle Ämter und alle
  • Grade.
  • Kowalew war ein _kaukasischer_ Kollegien-Assessor. Seit zwei Jahren erst
  • bekleidete er diesen Rang, und es gab kaum einen Moment, in dem er sich
  • nicht an seine Stellung erinnerte; um sich noch mehr Ansehen und Gewicht
  • zu verleihen, stellte er sich niemals als simplen Kollegien-Assessor
  • vor, sondern stets als Major. »Hör doch, mein Täubchen,« sagte er
  • gewöhnlich, so oft er auf der Straße eine alte Frau traf, die Leinewand
  • feilbot, »geh doch zu mir in meine Wohnung; ich wohne in der
  • Sadovaja[12] und frage nur: >Wohnt hier der Major Kowalew?< Jedermann
  • wird dir gern Auskunft erteilen.« Oder begegnete er einer artigen
  • Schönen, so flüsterte er ihr ganz leise zu: »Du brauchst nur nach der
  • Wohnung des Majors Kowalew zu fragen, liebes Kind!« Aus diesem Grunde
  • wollen auch wir ihn von nun an stets den »Major« nennen.
  • [Fußnote 12: Große Straße in St. Petersburg.]
  • Der Major Kowalew pflegte jeden Tag einen Spaziergang auf dem
  • Newski-Prospekt zu machen. Sein Hemdkragen war stets peinlich sauber und
  • frisch gestärkt. Sein Backenbart war von jener Art, wie man ihn noch bei
  • Gouvernements- und Kreislandmessern, Architekten und Militär-Ärzten, d.
  • h. fast bei allen Leuten trifft, die runde Backen und rote Wangen haben
  • und gut »Boston« spielen. Dieser Backenbart zieht sich von der Mitte der
  • Wangen bis dicht unter die Nase hin. Major Kowalew trug an der Uhrkette
  • eine ganze Sammlung von kleinen Korallenberlocken, die mit einem Wappen
  • oder auch mit der Inschrift »Mittwoch«, »Donnerstag«, »Montag« usw.
  • versehen waren. Der Zwang der Verhältnisse hatte ihn dazu veranlaßt,
  • nach Petersburg zu ziehen, hauptsächlich aus dem Grunde, weil er eine
  • seinem Range angemessene Stellung bekleiden wollte, und zwar wenn er
  • Glück hatte, die eines Vize-Gouverneurs, oder doch wenigstens die eines
  • schlichten Exekutors in irgend einem angesehenen Departement. Der Major
  • Kowalew war einer Ehe durchaus nicht abgeneigt, doch mußte seine
  • Auserkorene über eine Mitgift von mindestens zweihunderttausend Rubeln
  • verfügen. Und nun mag sich der Leser in die Empfindungen dieses Majors
  • versetzen, als er anstelle seiner recht hübschen und wohlgebildeten Nase
  • nur eine alberne, glatte und flache Ebene erblickte.
  • Unglücklicherweise zeigte sich auch nicht ein einziger Kutscher auf der
  • Straße; so war er also genötigt, zu Fuß zu gehen -- in seinen Mantel
  • eingehüllt und das Gesicht hinter einem Taschentuch verbergend, wie wenn
  • er gerade Nasenbluten hätte.
  • »Aber vielleicht ist es doch nur eine Einbildung von mir; es ist doch
  • unmöglich, daß mir meine Nase so ohne weiteres aus dem Gesicht
  • geschwunden ist,« dachte er.
  • Und er kehrte in einer Konditorei ein, um dort einen Blick in den
  • Spiegel zu werfen. Zum Glück für ihn befand sich weiter niemand im
  • Lokal, außer einigen Burschen, die gerade auskehrten und die Stühle
  • zurecht rückten. Einige von ihnen trugen noch ganz schlaftrunken heiße
  • Kuchen in Körben hinaus; auf den Tischen und Stühlen lagen
  • kaffeebefleckte Zeitungen vom gestrigen Tage.
  • »Also Mut! Gott sei Dank ist sonst niemand hier,« sagte er; »nun kann
  • ich meine Untersuchung beginnen!«
  • Er näherte sich dem Spiegel und blickte hinein.
  • »Der Teufel mag wissen, wie das nur gekommen ist,« schrie er, indem er
  • empört ausspie; »wenn sich wenigstens anstelle meiner Nase noch etwas
  • anderes befände! Aber nichts, absolut gar nichts!«
  • Nachdem er die Zähne vor Wut aufeinander gebissen hatte, verließ er das
  • Lokal und beschloß, wider seine Gewohnheit unterwegs niemand anzusehen
  • und keinem auch nur das geringste Lächeln zu spenden.
  • Plötzlich blieb er wie versteinert vor der Tür eines Hauses stehen.
  • Seine Augen wurden von einer unerklärlichen Erscheinung angezogen: ein
  • Wagen hielt dicht neben dem Trottoir, der Schlag wurde geöffnet und ihm
  • entstieg ein uniformierter Herr, der eiligst die Treppe hinaufeilte. Wie
  • groß war Kowalews Entsetzen, wie groß war sein Erstaunen, als er in ihm
  • seine eigene Nase wiedererkannte. Angesichts dieses außergewöhnlichen
  • Schauspieles war ihm zu Mute, als ob sich alles um ihn herumdrehe, und
  • nur mit Mühe vermochte er sich aufrecht zu halten. Aber trotzdem
  • beschloß er, obwohl er am ganzen Körper zitterte wie ein Fieberkranker,
  • zu warten, bis dieser Herr wieder zurückkehren würde, um in seinen Wagen
  • zu steigen.
  • Nach Ablauf zweier Minuten erschien die »Nase« tatsächlich. Sie trug
  • eine goldgestickte Uniform mit hohem steifen Kragen, Beinkleider aus
  • Semischleder, und an der Seite einen Degen. An den Federn ihres Hutes
  • konnte man erkennen, daß es sich um einen Staatsrat handelte. Der Anzug
  • des Herrn wies darauf hin, daß er gerade Besuche abstattete. Er schaute
  • sich nach links und nach rechts um, rief dem Kutscher ein »Vorwärts!« zu
  • und rollte davon.
  • Der unglückliche Kowalew fühlte sich dem Wahnsinn nahe. Er wußte nicht,
  • was er von einem so überraschenden Ereignis halten sollte. Wie war es
  • denn auch nur möglich, daß eine Nase, die sich noch gestern abend in
  • seinem Gesicht befand und die weder gehen noch fahren konnte, jetzt eine
  • Uniform trug! Er stürzte hinter dem Wagen her, der glücklicherweise
  • nicht sehr weit fuhr und vor dem Gostini Dwor[13] halt machte.
  • Er rannte wie ein Besessener und schlüpfte zwischen einer Reihe alter
  • Bettlerinnen mit verbundenen Gesichtern und zwei großen Öffnungen statt
  • der Augen hindurch, über die er sich früher so oft lustig gemacht hatte.
  • Sonst trieben sich hier nur wenig Menschen umher. Kowalew befand sich in
  • einer solchen geistigen Verwirrung, daß er keinen Entschluß fassen
  • konnte und lediglich in allen Winkeln und Ecken nach dem Herrn Ausschau
  • hielt; endlich sah er ihn vor einem Laden stehen. Die Nase verbarg ihr
  • Gesicht völlig in ihrem hohen Kragen und betrachtete mit gespannter
  • Aufmerksamkeit die ausliegenden Waren.
  • [Fußnote 13: Ein großer Bazar.]
  • »Soll ich ihn anreden?« dachte Kowalew. »Aus seiner ganzen
  • Persönlichkeit, aus seiner Uniform und seinem Dreispitz geht klar und
  • deutlich hervor, daß es ein Staatsrat ist. Wenn ich nur wüßte, wie ich
  • es anstellen soll! ...«
  • Schließlich begann er ganz in der Nähe des Staatsrates zu husten; aber
  • die Nase verließ auch nicht für eine Minute ihren Standpunkt.
  • »Mein Herr!« sagte Kowalew, der sich innerlich Mut zuzusprechen
  • versuchte, »mein Herr! ...«
  • »Was wünschen Sie?« fragte die Nase, indem sie sich umwandte.
  • »Ich finde es erstaunlich, mein Herr ... mir scheint, daß ... Sie
  • sollten doch wissen, wohin Sie gehören. Und plötzlich finde ich Sie, und
  • noch dazu ... hier? ... Sie müssen doch zugeben ...«
  • »Verzeihung; ich kann absolut nicht begreifen, wovon Sie sprechen.
  • Erklären Sie sich deutlicher!«
  • »Wie soll ich mich ihm noch verständlich machen?« dachte Kowalew. Und
  • sich ein Herz fassend begann er:
  • »Sicherlich ... übrigens bin ich Major. Ich habe zurzeit keine Nase. Sie
  • müssen zugeben, das schickt sich doch nicht. Einer Hökerin, die auf der
  • Woskressenski-Brücke geschälte Orangen feilbietet, mag es ja im Grunde
  • nichts ausmachen, ohne Nase herum zu laufen. Jedoch was mich anbetrifft,
  • der ich die Ehre habe, Beamter zu sein und der ich außerdem Beziehungen
  • zu vielen Häusern unterhalte, zu Damen der Gesellschaft, wie zum
  • Beispiel zu Frau Tschechtarewa, die die Frau eines Staatsrates ist, und
  • noch zu vielen andern, ... urteilen Sie selbst ... Ich weiß nicht, mein
  • Herr« -- und hierbei zuckte der Major Kowalew mit den Achseln --
  • »entschuldigen Sie tausendmal ... aber wenn man die Sache vom Standpunkt
  • der Ehre und der Pflicht betrachtet ... Sie können selbst begreifen ...«
  • »Ich begreife absolut nichts,« erwiderte die Nase. »Erklären Sie sich
  • deutlicher.«
  • »Mein Herr,« versetzte Kowalew mit Würde, »ich weiß nicht, wie ich Ihre
  • Worte auffassen soll. Hier handelt es sich doch, wie mich dünkt, um
  • einen durchaus klaren Vorgang. Oder wollen Sie ... denn kurz und gut,
  • Sie sind doch meine eigene Nase!«
  • Die Nase blickte den Major an, und runzelte die Stirne.
  • »Sie täuschen sich, mein Herr; ich bin durchaus selbständig. Außerdem
  • können zwischen uns nicht die geringsten Beziehungen existieren. Nach
  • den Knöpfen Ihrer Uniform zu urteilen, müssen Sie in einem andern
  • Ressort dienen.«
  • Und nach diesen Worten drehte ihm die Nase den Rücken.
  • Kowalew war nun völlig verwirrt und wußte nicht, was er tun, ja nicht
  • einmal was er sich denken sollte. In diesem Augenblick ertönte das
  • angenehme Rascheln eines seidenen Gewandes. Eine alte, über und über mit
  • Spitzen behängte Dame ging an ihm vorbei, begleitet von einem jungen
  • Mädchen, deren weißes Kleid ihre harmonische Figur aufs vorteilhafteste
  • zur Geltung brachte; sie trug einen gelben federleichten Hut. Beide
  • Damen wurden von einem baumlangen Heiducken mit mächtigem Bart und einem
  • ganzen Dutzend von Mantelaufschlägen begleitet. Er blieb hinter den
  • Damen stehen und öffnete seine Tabaksdose.
  • Kowalew trat nahe an sie heran, rückte den Kragen seines Batisthemdes
  • zurecht, brachte sein an einer goldenen Kette hängendes Petschaft in
  • Ordnung und wandte seine ganze Aufmerksamkeit der jungen Dame zu, die
  • sich leicht wie eine Frühlingsblume bewegte und eine kleine weiße Hand
  • mit fast durchsichtigen Fingern an ihre Lippen führte. Das Lächeln auf
  • Kowalews Gesicht wurde noch intensiver, als er unter dem Hut ein rundes
  • Kinn von blendender Weiße und einen Teil der Wange bemerkte, die in
  • ihrem Teint einer zarten Frühlingsblume glich.
  • Aber nur zu bald prallte er wie von einer Tarantel gestochen zurück.
  • Er hatte sich soeben daran erinnert, daß er keine Nase mehr hatte; und
  • heiße Tränen entströmten seinen Augen.
  • Er wandte sich um, um dem uniformierten Herrn laut und deutlich zu
  • sagen, daß er nur die Larve eines Staatsrates trüge, daß er ein Lump,
  • ein Spitzbube wäre und daß er nichts weiter sei als seine eigne Nase ...
  • Aber die Nase war verschwunden; sie hatte den günstigen Augenblick
  • benutzt und sich entfernt, höchstwahrscheinlich, um noch einen Besuch
  • abzustatten.
  • Dieser Umstand stürzte Kowalew vollends in Verzweiflung. Er blieb noch
  • eine Minute unter dem Säulengang stehen und schaute sich gespannt nach
  • allen Seiten um, ob er nicht etwas von der Nase bemerken könne. Er
  • erinnerte sich deutlich, daß ihr Hut mit Federn geschmückt und die
  • Uniform mit Gold gestickt war; aber er hatte nicht auf den Mantel
  • geachtet, auch nicht auf die Farbe des Wagens noch auf die der Pferde;
  • er wußte nicht einmal, ob hinten ein Lakai gestanden hatte und was für
  • eine Livree er trug. Überdies waren eine solche Anzahl von Fahrzeugen
  • aller Art im Trab durch die Straßen gefahren, daß es schwer war, sie
  • voneinander zu unterscheiden. Und hätte er auch das gesuchte
  • herausgefunden, wie hätte er ihm Halt gebieten sollen?
  • Der Tag war sehr schön und sonnig. Auf dem Newski-Prospekt wimmelte es
  • von Menschen. Ein üppiger Damenflor überschwemmte das ganze Trottoir von
  • der Polizei-Brücke bis zur Anitschkin-Brücke. Hier ging ein Hofrat, ein
  • Bekannter von Kowalew, den er meist, besonders aber vor fremden Leuten,
  • »Oberstleutnant« zu titulieren pflegte. _Dort_ sah er seinen Busenfreund
  • Jaryschkin, der sich beim Bostonspiel oft genug hineinlegen ließ, und
  • _dort_ einen andern Major, der gleich ihm seinen Grad im Kaukasus
  • erlangt hatte, und der ihm nun mit der Hand ein Zeichen gab, er möge
  • doch zu ihm herüberkommen.
  • »Der Teufel soll ihn holen!« sagte Kowalew. »Kutscher! bring mich doch
  • auf dem nächsten Wege zum Polizei-Präfekten.«
  • Kowalew bestieg eine Droschke und schrie dem Kutscher jeden Augenblick
  • zu: »Fahr zu, so schnell du kannst!«
  • »Ist der Polizei-Präfekt zu sprechen?« fragte er sofort beim Eintritt in
  • das Vestibül.
  • »Nein,« antwortete der Portier; »er ist soeben weggegangen.«
  • »Das ist ja wundervoll!«
  • »Gewiß,« fügte der Portier hinzu, »erst vor ganz kurzer Zeit ist er
  • fortgegangen. Wären Sie nur eine Minute früher gekommen, Sie hätten ihn
  • sicher noch getroffen.«
  • Ohne das Taschentuch vom Gesicht zu nehmen, stürzte Kowalew wieder in
  • den Wagen zurück und rief dem Kutscher mit verzweifelter Stimme zu:
  • »Fahr weiter!«
  • »Wohin?« fragte der Kutscher.
  • »Geradeaus!«
  • »Wie? Geradeaus? Wir befinden uns doch an einer Straßenecke: also rechts
  • oder links?«
  • Diese Frage verwirrte Kowalew und zwang ihn von neuem zum Nachdenken. In
  • seiner Lage wäre es vor allem angebracht gewesen, aufs Polizeipräsidium
  • zu gehen, nicht weil seine Angelegenheit direkt in das Polizeiressort
  • gehörte, sondern weil er hier auf eine schnellere Erledigung als sonst
  • wo rechnen konnte. Sich an das Ressort zu wenden, in dem die Nase
  • angestellt war, wäre sicher unklug gewesen, ging doch bereits aus den
  • eigenen Äußerungen der Nase zur Evidenz hervor, daß es für diesen Mann
  • nichts Heiliges gab. Weshalb sollte er sich denn nicht mittels einer
  • Lüge aus einer solchen Lage befreien, er hatte doch ganz frech gelogen,
  • als er behauptete, daß er nie etwas mit ihm zu tun hatte. Kowalew wollte
  • dem Kutscher gerade den Befehl geben, er solle ihn zum Polizei-Präsidium
  • fahren, als ihm der Gedanke kam, daß dieser miserable Kerl, der sich bei
  • ihrer ersten Begegnung so perfid benommen hatte, den günstigen
  • Augenblick benutzen und die Stadt verlassen könnte; -- und dann wären
  • alle Nachforschungen überflüssig gewesen, oder sie konnten sich, was
  • Gott verhüten mochte, wohl gar einen ganzen Monat hinziehen. Endlich gab
  • ihm, wie er glaubte, der Himmel selbst einen Wink. Er beschloß, direkt
  • nach der Expedition der Amtszeitung zu fahren und dort sofort eine
  • Annonce mit der genauen Angabe seines Signalements einrücken zu lassen,
  • damit die, die der Nase begegneten, sie ihm zuführen oder ihm doch
  • wenigstens die Wohnung dieses Räubers mitteilen konnten.
  • Nachdem er diesen Entschluß gefaßt hatte, befahl er dem Kutscher, nach
  • der betreffenden Expedition zu fahren, bearbeitete während der ganzen
  • Fahrt unaufhörlich den Rücken des Automedon mit seinen Fäusten und
  • schrie:
  • »Schneller, du Spitzbube! Schneller, Kanaille!«
  • »Aber, Herr!« antwortete nur immer kopfschüttelnd der Kutscher und
  • schlug mit dem Zügel über den Rücken des Pferdes, das so behaart war wie
  • ein Bologneserhund.
  • Endlich hielt die Droschke, und Kowalew trat ganz atemlos in ein kleines
  • Empfangszimmer, wo ein alter Beamter in einem schäbigen Frack und mit
  • einer Brille hinter einem Tische saß, einen Federkiel zwischen den
  • Zähnen hielt und Kupfergeld zählte.
  • »Wer nimmt hier Annoncen an?« schrie Kowalew; »doch ich bitte um
  • Verzeihung, guten Morgen vor allen Dingen!«
  • »Guten Morgen!« sagte der alte Beamte und blickte einen Moment empor, um
  • seine Aufmerksamkeit sofort wieder seinen Geldhaufen zuzuwenden.
  • »Ich möchte ein Inserat aufgeben ...«
  • »Einen Augenblick nur bitte ich Sie, sich gedulden zu wollen,« fuhr der
  • Beamte fort, indem er mit der Hand eine Zahl auf das Papier schrieb und
  • mit einem Finger der Linken an der Rechenmaschine zwei Kugeln verschob.
  • Ein galonnierter Diener von äußerst korrektem Aussehen, dem man seine
  • lange Dienstzeit in aristokratischen Häusern anmerkte, stand mit einem
  • Zettel vor dem Tisch und hielt es für angebracht, auf seine
  • gesellschaftliche Bildung hinzuweisen.
  • »Seien Sie überzeugt, mein Herr, daß dieser kleine Hund keine acht
  • Groschen wert ist; ich für meine Person würde nicht acht Pfennig für ihn
  • geben. Aber die Frau Gräfin betet ihn an, bei Gott! sie betet ihn in der
  • Tat an, -- deshalb verspricht sie seinem Ueberbringer hundert Rubel. In
  • aller Höflichkeit sei's gesagt, aber unter uns: die Geschmacksrichtungen
  • der Leute sind doch ganz unberechenbar. Wenn man schon einmal
  • Hundeliebhaber ist, so halte man sich meinetwegen einen Windhund oder
  • einen Pudel; dafür kann man ruhig fünfhundert, ja auch tausend Rubel
  • anwenden, aber dann hat man auch einen wirklich wertvollen Hund.«
  • Der ehrenwerte Beamte hörte sich diese Ausführungen mit einer sehr
  • bezeichnenden Miene an und zählte unterdessen ruhig die Buchstaben des
  • Zettels, den der Diener mitgebracht hatte. Links von ihm hatte sich eine
  • Menge alter Weiber, Handlungsgehilfen und Portiers gleichfalls mit
  • Zetteln in der Hand angesammelt.
  • Aus einem dieser Zettel ging hervor, daß ein Kutscher, der sich sehr gut
  • geführt hatte, von seinem Besitzer aus dem Dienst entlassen worden war,
  • aus einem andern, daß man eine noch wenig benutzte, um 1814 aus Paris
  • bezogene Kutsche zum Verkauf feilbot. Hier suchte ein neunzehnjähriges
  • Dienstmädchen, das waschen und gleichzeitig noch andere Arbeiten
  • verrichten konnte, eine Stellung. Dort wollte jemand eine Droschke ohne
  • Federn verkaufen, oder einen jungen, feurigen, siebzehn Jahre alten
  • Apfelschimmel, oder erst kürzlich aus London eingetroffenen Rüben- und
  • Rettichsamen, oder ein Landhaus mit allem Zubehör (zwei Pferdeställen,
  • nebst einem Platz, wo man einen prachtvollen Birken- oder Tannenwald
  • anpflanzen konnte usw.). Wieder andere annoncieren, daß sie alte Sohlen
  • zu verkaufen hätten, und luden täglich von 8 bis 3 Uhr zu deren
  • Besichtigung ein.
  • Das Zimmer, in dem sich der ganze Schwarm aufhielt, war klein, und
  • infolgedessen war die Luft in ihm äußerst dumpf; allein der
  • Kollegien-Assessor Kowalew merkte nichts davon, denn sein Gesicht war
  • mit einem Taschentuch verhüllt und seine Nase befand sich Gott weiß wo
  • --
  • »Mein Herr, darf ich Sie bitten ... Ich habe es sehr eilig ...« sagte er
  • endlich ungeduldig.
  • »Gleich, gleich! ... Zwei Rubel dreiundvierzig Kopeken! ... Nur noch
  • eine Minute! ... Ein Rubel vierundsechzig Kopeken!« sagte der alte Herr,
  • indem er den alten Frauen und den Portiers die Zettel ins Gesicht warf.
  • »Was wünschen Sie?« sagte er endlich, indem er sich an Kowalew wandte.
  • »Ich bitte Sie,« sagte Kowalew ... »es handelt sich um eine schier
  • unglaubliche Spitzbüberei; bis zu diesem Augenblick weiß ich noch nicht,
  • wie sie bloß passieren konnte. Ich bitte Sie jetzt nur, annoncieren zu
  • wollen, daß derjenige, der mir diesen Halunken herbeischafft, eine gute
  • Belohnung erhalten soll.«
  • »Wollen Sie mir bitte Ihren Namen angeben?«
  • »Nein! weshalb meinen Namen? es ist mir ganz unmöglich, ihn zu nennen.
  • Ich habe aber gute Beziehungen, zum Beispiel zu Frau Tschechtarewa, der
  • Gattin eines Staatsrates, oder zu Frau Pelagia Grigoriewna Podtotschina,
  • die einen höheren Offizier zum Mann hat. Wenn sie es erführen ... Gott
  • behüte! Sie können ganz einfach schreiben: >Ein Kollegien-Assessor< oder
  • noch besser: >Ein Major<.«
  • »Und der Ausgerückte war Ihr Leibeigner?«
  • »Was für ein Leibeigner? Das wäre noch keine so große Gemeinheit! Nein,
  • mir ist ... die Nase ausgerückt! ...«
  • »Hm! was für ein merkwürdiger Familienname! Und um welche Summe hat Sie
  • Herr Nase bestohlen?«
  • »Nase! Aber Sie sind nicht bei Sinnen! Meine Nase, meine eigene Nase ist
  • es, die verschwunden ist, ich weiß nicht, wohin. Der Teufel hat mir
  • einen Streich spielen wollen!«
  • »Aber auf welche Weise ist sie verschwunden? Ich verstehe absolut nichts
  • von alledem!«
  • »Ich kann Ihnen nicht sagen, auf welche Weise. Aber das wichtigste bei
  • dieser Angelegenheit ist die Tatsache, daß sie jetzt in der Stadt
  • herumspaziert und sich Staatsrat tituliert. Und aus diesem Grunde bitte
  • ich Sie, zu annoncieren, daß derjenige, der sie fassen sollte, sie ohne
  • Verzug zu mir bringen möge. Sagen Sie übrigens selbst: wie soll ich ohne
  • diesen Körperteil, der doch unbedingt zu meiner Person gehört,
  • existieren? Es handelt sich hier doch nicht etwa um eine Zehe ... wenn
  • man einen Schuh trägt, so würde man ihr Fehlen ja garnicht bemerken.
  • Aber ich gehe doch jeden Donnerstag zu Frau Staatsrat Tschechtarewa;
  • Frau Pelagia Grigoriewna Podtotschina, die Gattin eines höheren
  • Offiziers und Mutter eines reizenden Töchterchens, ist eine gute
  • Bekannte von mir. Außerdem habe ich noch zu andern vornehmen Familien
  • Beziehungen, und nun mögen Sie selbst urteilen, ob ich so herumlaufen
  • kann ... Es ist mir doch augenblicklich ganz unmöglich, mich irgendwo zu
  • zeigen.«
  • Der Beamte überlegte, indem er fortwährend die Lippen zusammenkniff.
  • »Nein, ein solches Inserat kann ich nicht aufnehmen!« sagte er endlich
  • nach längerem Stillschweigen.
  • »Wie? -- Weshalb nicht?«
  • »Weil die Zeitung dadurch ihren guten Ruf verlieren könnte. Wenn jemand
  • schreibt, daß ihm seine Nase abhanden gekommen ist, dann ... Auch ohne
  • dies wird schon genug davon gesprochen, daß alle möglichen Torheiten und
  • Lügen gedruckt werden!«
  • »Und weshalb ist das töricht? Mein Fall ist doch, wie mir scheint, ganz
  • klar und ....«
  • »Das ist Ihre Meinung! Aber hören Sie, was uns vorige Woche passiert
  • ist. Es erscheint ein Beamter, ganz wie Sie heute, und bringt uns ein
  • Inserat, das ihn zwei Rubel dreiundsiebzig Kopeken kostet. In diesem
  • Inserat wird das Entlaufen eines schwarzen Pudels angekündigt. Sie
  • werden einwenden: >Ich kann keine Ähnlichkeit mit meinem Fall
  • entdecken!< Aber es stellte sich bald heraus, daß das lediglich eine
  • Mystifikation gewesen war; mit dem Pudel war der Kassierer eines
  • Geschäftes gemeint.«
  • »Aber ich suche doch garnicht nach einem Pudel, sondern nach meiner
  • eigenen Nase; hören Sie: das ist doch fast so, als ob ich nach mir
  • selbst suchte!«
  • »Nein, ich kann ein solches Inserat nicht aufnehmen!«
  • »Aber wenn doch meine Nase in der Tat verschwunden ist?«
  • »Wenn sie verschwunden ist, so geht das nur den Arzt etwas an; ich habe
  • gehört, daß einige von ihnen eine große Geschicklichkeit in der
  • Herstellung künstlicher Nasen entwickeln! Übrigens bin ich der Meinung,
  • daß Sie ein Spaßvogel sind und sich in guter Gesellschaft gern einen
  • Scherz erlauben!«
  • »Ich beschwöre Sie bei allem, was mir heilig ist! Gestatten Sie, wenn es
  • nicht anders geht, daß ich es Ihnen demonstriere!«
  • »Warum diese Aufregung?« fuhr der Beamte fort, indem er eine Prise nahm.
  • »Aber schließlich ..., wenn es Sie weiter nicht inkommodiert,« fügte er
  • neugierig hinzu, »ich würde mir die Sache mit Vergnügen ansehen!«
  • Der Kollegien-Assessor zog das Taschentuch von seinem Gesichte fort.
  • »In der Tat, das ist äußerst sonderbar!« sagte der Beamte. »Die Stelle
  • ist ja ganz eben wie ein frischgebackener Eierkuchen. Ja, sie ist glatt,
  • -- es ist schier unglaublich!«
  • »Nun, wollen Sie jetzt noch streiten? Jetzt sehen Sie wohl selbst, daß
  • Sie mein Inserat unmöglich nicht aufnehmen können. Ich wäre Ihnen dafür
  • zu ganz besonderem Dank verpflichtet, und ich bin sehr froh darüber, daß
  • diese Gelegenheit mir das Vergnügen verschafft hat, Ihre Bekanntschaft
  • zu machen.«
  • Der Major ließ sich, wie man sieht, sogar zu einer Schmeichelei herab.
  • »Die Sache mit der Annonce hätte an und für sich keine Schwierigkeit,«
  • sagte der Beamte; »nur sehe ich darin keinen Vorteil für Sie. Sie
  • sollten sich an irgend einen geschickten Journalisten wenden, der Ihren
  • Fall als Naturphänomen behandeln und darüber einen Artikel in der »Biene
  • des Nordens« -- hierbei nahm er eine Prise -- »zur Belehrung der Jugend«
  • -- hierbei schneuzte er sich -- »oder noch besser zur allgemeinen
  • Unterhaltung veröffentlichen könnte.«
  • Der Kollegien-Assessor war der Verzweiflung nahe. Er warf einen Blick
  • auf das Feuilleton des Zeitungsblattes und auf die Theaternotizen; ein
  • Lächeln huschte über sein Gesicht, als er den Namen einer hübschen
  • Schauspielerin las, und er steckte schon die Hand in die Tasche, um
  • einen blauen Zettel hervorzuholen -- denn nach seiner Meinung mußten die
  • höheren Offiziere mindestens im Parkett sitzen --; aber der Gedanke an
  • seine Nase verdarb ihm jedes Vergnügen.
  • Der Beamte hatte das lebhafteste Mitgefühl mit Kowalew, der sich in
  • einer höchst peinlichen Situation befand. Von dem Wunsche beseelt,
  • seinen Kummer ein wenig zu mildern, hielt er es für gut, ihm mit einigen
  • Worten seine Teilnahme auszusprechen:
  • »Wahrhaftig, ich bin sehr betrübt, daß Ihnen ein solches Mißgeschick
  • widerfahren ist. Nehmen Sie vielleicht eine Prise Tabak? Das vertreibt
  • die Kopfschmerzen und den Hang zur Melancholie! Außerdem ist es ein
  • unfehlbares Heilmittel gegen Hämorrhoiden!«
  • Mit diesen Worten reichte der Beamte ihm seine Tabaksdose, indem er den
  • Deckel, der mit dem Porträt einer Dame im Hut geschmückt war, in sehr
  • geschickter Weise wegschob.
  • Dieser unüberlegte Höflichkeitsakt brachte Kowalew um den Rest seiner
  • Geduld.
  • »Ich verstehe nicht, wie Sie solche Scherze machen können!« sagte er
  • zornig. »Sehen Sie denn nicht, daß mir augenblicklich gerade der
  • Körperteil fehlt, der zum Nehmen einer Prise unbedingt erforderlich ist?
  • Der Teufel soll Ihren Tabak holen! Ich kann ihn jetzt garnicht mehr
  • sehen, selbst dann nicht, wenn es kein stinkender Beresinski, sondern
  • echter Rapé wäre.«
  • Nach diesen Worten verließ er tiefgekränkt das Zeitungsbureau und begab
  • sich aufs Polizei-Kommissariat.
  • Als Kowalew ins Bureau trat, traf er dort einen Beamten an, der gerade
  • gähnte, sich streckte und laut zu sich selbst sprach: »Ich würde jetzt
  • mit großem Vergnügen noch ein paar Stündchen schlafen.«
  • Man sieht hieraus, daß ihm die Ankunft des Kollegien-Assessors nichts
  • weniger als gelegen kam.
  • Der Polizei-Kommissar war ein großer Liebhaber von allen möglichen
  • Kunstgegenständen; doch zog er einen mit dem kaiserlichen Wappen
  • geschmückten Schein allen andern Dingen vor.
  • »Das ist ein Stück,« sagte er oft, »wie es nirgends ein besseres gibt:
  • es braucht keine Nahrung, nimmt wenig Platz ein, läßt sich bequem in die
  • Tasche stecken und zerbricht nicht, wenn es einmal zu Boden fällt.«
  • Er empfing Kowalew sehr kühl und ließ die Bemerkung fallen, daß die
  • Stunde nach dem Mittagessen nicht der geeignete Moment zur Erledigung
  • amtlicher Nachforschungen wäre, und daß die Natur uns selbst darauf
  • hinwiese, daß es gut sei, einen Augenblick der Ruhe zu pflegen, wenn man
  • gegessen habe -- woraus der Kollegien-Assessor ersehen konnte, daß die
  • Gepflogenheiten der Philosophen des Altertums dem Kommissar nicht ganz
  • unbekannt waren --, und daß ein ordentlicher Mann seine Nase nicht
  • verliere.
  • Diese Worte verwundeten unseren Helden aufs tiefste.
  • Hierbei muß bemerkt werden, daß Kowalew eine äußerst empfindliche Natur
  • war. Er konnte alles verzeihen, was man über ihn sagte, doch niemals
  • vergab er einen Verstoß gegen die seiner amtlichen Würde gebührende
  • Achtung. Er dachte daran, daß man in den Theaterstücken alle üblen
  • Bemerkungen über die Subaltern-Offiziere durchgehen ließ, aber niemals
  • ein Wort, das sich gegen die höheren Offiziere richtete. Der Empfang des
  • Kommissars brachte ihn derartig aus der Fassung, daß er kopfschüttelnd
  • und im Bewußtsein seiner Würde die Hände erhob und erklärte:
  • »Ich muß gestehen, daß ich auf solche beleidigende Äußerungen nichts zu
  • erwidern habe.«
  • Und damit ging er.
  • Er suchte seine Wohnung auf; es war ihm, als wären seine Beine
  • abgestorben. Es wurde bereits dunkel, und seine Behausung erschien ihm
  • nach allen diesen fruchtlosen Nachforschungen sehr traurig und sehr
  • schmutzig. Beim Eintritt in das Vorzimmer bemerkte er auf dem alten
  • schmutzigen Ledersopha seinen Diener Iwan, der auf dem Rücken lag, sich
  • damit unterhielt, an die Zimmerdecke zu spucken, und hierbei mit großer
  • Geschicklichkeit stets ein und dieselbe Stelle traf. Eine solche
  • Gleichgültigkeit versetzte ihn vollends in Wut; er schlug ihm mit seinem
  • Hut auf die Stirn und schrie ihn an:
  • »Du Esel hast doch immer nur Torheiten im Sinn!«
  • Iwan sprang von seiner Bank herunter und stürzte schleunigst herbei, um
  • ihm seinen Mantel abzunehmen.
  • Der Major trat müde und traurig in sein Zimmer, warf sich in einen
  • Sessel, seufzte einigemal laut auf und sagte:
  • »Mein Gott! Mein Gott! Womit habe ich ein solches Unglück verdient?
  • Hätte ich eine Hand oder einen Fuß verloren -- das wäre noch nicht so
  • schlimm; aber ein Mensch ohne Nase, das ist doch ... weiß der Teufel
  • was! Ein Vogel, der kein Vogel ist, ein Bürger, der das Bürgerrecht
  • verloren hat, das ist ganz einfach ein Ding, das man nehmen und zum
  • Fenster hinauswerfen möchte. Wäre sie mir wenigstens noch im Kriege oder
  • im Duell abhanden gekommen, oder hätte ich es wenigstens selbst
  • verschuldet! Aber so um nichts und wieder nichts, ohne jede Veranlassung
  • zu verduften! Nein, nein ... das ist ja ganz unmöglich!« -- fügte er
  • nach kurzem Nachdenken hinzu --, »es ist ganz unglaublich, daß eine Nase
  • so ohne weiteres verschwindet. Das ist doch zu unwahrscheinlich.
  • Sicherlich träume ich bloß oder ich bilde es mir nur ein. Vielleicht
  • habe ich aus Versehen statt eines Glases Wasser den Branntwein
  • ausgetrunken, mit dem ich mir nach dem Rasieren mein Gesicht einreibe.
  • Dieser Schafskopf Iwan wird ihn sicher nicht weggenommen haben, und so
  • habe ich ihn gewiß ganz ahnungslos heruntergegossen.«
  • Und um sich zu beweisen, daß er nüchtern sei, kniff sich der Major so
  • heftig ins Fleisch, daß er einen lauten Schrei ausstieß. Dieser Schmerz
  • überzeugte ihn endgültig davon, daß er am Leben war und vernünftig
  • handelte. Er trat ganz leise vor den Spiegel und blinzelte zuerst mit
  • den Augen, da er sich mit der Hoffnung schmeichelte, die Nase könne doch
  • vielleicht noch an ihrem Platze sein; aber er trat sogleich wieder einen
  • Schritt zurück und murmelte:
  • »Die reinste Karikatur!«
  • Die Sache war ihm ganz unverständlich; wäre ihm noch ein Knopf
  • verschwunden, ein silberner Löffel, eine Uhr oder etwas dergleichen! --
  • aber eine Nase ... und noch dazu auf welche Weise? wohl gar aus seinem
  • eigenen Zimmer? Der Major Kowalew ließ alle die verschiedenen Umstände
  • an sich vorüberziehen und kam schließlich zu dem Resultat, daß noch am
  • ehesten Frau Podtotschina, die Gattin eines höheren Offiziers, an seinem
  • Unglücke Schuld sein konnte, da sie ihn heftig zum Schwiegersohne
  • begehrte. Es machte ihm Spaß, ihrer Tochter den Hof zu machen, doch ging
  • er einer deutlichen Erklärung stets aus dem Wege. Als die Dame ihm nun
  • offen mitteilte, daß sie ihm gern ihre Tochter zur Frau geben würde,
  • lehnte er diese Ehre unter vielen Komplimenten mit der Begründung ab, er
  • wäre noch zu jung und müsse noch gegen fünf Jahre dienen, um die runde
  • Zahl von zweiundvierzig Jahren zu erreichen.
  • Sicherlich hatte die Frau des höheren Offiziers aus diesem Grunde
  • beschlossen, sich zu rächen, ihn zu verderben, und zu diesem Behufe
  • einige alte Hexen gegen ihn ins Feld geführt; denn es war ja unmöglich,
  • daß ihm die Nase auf die eine oder die andere Weise abgeschnitten sein
  • sollte. Niemand war im Zimmer gewesen. Der Barbier Iwan Jakowlewitsch
  • hatte ihn noch am Mittwoch rasiert, und während des ganzen Tages, sowie
  • auch am Donnerstag war seine Nase noch ganz heil und gesund gewesen.
  • Daran erinnerte er sich ganz deutlich. Außerdem hätte er doch irgend
  • einen Schmerz empfinden müssen, die Wunde wäre auch nicht so schnell
  • geheilt und nicht so platt wie ein Fladen geworden.
  • Er schmiedete in seinem Hirn alle möglichen Pläne, er wollte die Frau
  • Podtotschina beim Gericht verklagen oder sich wenigstens persönlich zu
  • ihr begeben und sie zur Rechenschaft ziehen.
  • Plötzlich wurde er in seinem Sinnen durch einen Lichtschimmer gestört,
  • der durch die Türritzen drang und ihm ankündigte, daß Iwan im Vorzimmer
  • eine Kerze angezündet hatte.
  • Gleich darauf erschien Iwan selbst, eine Kerze in der Hand haltend, und
  • bald war das Zimmer hell erleuchtet. Kowalews erste Bewegung war es,
  • sein Taschentuch zu ergreifen und die Stelle zu verdecken, an der sich
  • noch tags zuvor seine Nase befunden hatte, damit der dumme Lakai nicht
  • das Maul aufzureißen brauchte, wenn er seinen Herrn so sonderbar
  • entstellt sah.
  • Iwan hatte nicht Zeit gehabt, seine Kammer aufzusuchen, denn eine
  • unbekannte Stimme ließ sich im Vorzimmer vernehmen und fragte:
  • »Wohnt hier der Kollegien-Assessor Kowalew?«
  • »Treten Sie ein; hier wohnt allerdings der Major Kowalew,« sagte dieser,
  • indem er eiligst die Tür öffnete.
  • Der Polizeikommissar, ein Mann von würdigem Aussehen, mit einem nicht
  • all zu hellen, noch all zu dunklen Backenbart und runden Wangen,
  • derselbe, den wir beim Beginn dieser Erzählung am Ende der Isaaks-Brücke
  • getroffen haben, trat ein.
  • »Sie hatten die Ehre, Ihre Nase zu verlieren?«
  • »In der Tat!«
  • »Sie ist soeben gefunden worden.«
  • »Was sagen Sie da?« schrie der Major Kowalew. Die Freude machte ihn
  • sprachlos.
  • Er sah den Polizisten, der vor ihm stand, starr an, wobei seine Lippen
  • und Wangen von dem flackernden Kerzenlicht erhellt wurden.
  • »Auf welche Weise?« fragte er endlich.
  • »Durch einen erstaunlichen Zufall: man hat sie gerade im Moment ihrer
  • Abreise verhaftet. Sie hatte schon einen Platz im Wagen eingenommen, um
  • nach Riga zu fahren. Ihr Paß lautete auf den Namen eines Beamten. Und
  • das Sonderbarste ist, daß ich selbst sie zuerst für einen Herrn gehalten
  • habe; aber ich setzte glücklicherweise meine Brille auf und erkannte
  • sogleich, daß es eine Nase war. Ich muß Ihnen nämlich sagen, daß ich
  • kurzsichtig bin, und wie Sie jetzt vor mir stehen, erkenne ich wohl, daß
  • Sie ein Gesicht haben, aber ich unterscheide weder Nase, noch Bart, noch
  • sonst etwas. Meine Schwiegermutter, die Mutter meiner Frau, sieht auch
  • nicht mehr als ich.«
  • Kowalew konnte sich nicht mehr beherrschen.
  • »Wo ist sie? Wo? Ich laufe sofort hin.«
  • »Regen Sie sich nicht auf. Da ich wußte, daß Sie sie sehr nötig haben,
  • habe ich sie gleich mitgebracht. Das Merkwürdigste ist, daß der
  • Hauptschuldige an dieser ganzen Angelegenheit ein Lump von Barbier aus
  • der Wosnessenski-Straße ist, der zur Zeit bereits im Polizeigewahrsam
  • sitzt. Ich habe ihn schon lange im Verdacht, daß er ein Trunkenbold und
  • Dieb ist; erst vor drei Tagen hat er in einem Laden eine Schachtel mit
  • Knöpfen entwendet. Ihre Nase ist gänzlich unversehrt.«
  • Mit diesen Worten griff der Agent in seine Tasche und holte die Nase
  • hervor, die in ein Stück Papier eingewickelt war.
  • »Ja, das ist sie!« schrie Kowalew. »Das ist sie und keine andere!
  • Trinken Sie vielleicht eine Tasse Tee mit mir?«
  • »Ich danke Ihnen für Ihre außerordentliche Liebenswürdigkeit, aber das
  • ist mir leider unmöglich. Ich muß mich von hier aus sofort in ein
  • Konfektionshaus begeben ... In den letzten Tagen sind die Lebensmittel
  • entsetzlich teuer geworden ... Meine Schwiegermutter, die Mutter meiner
  • Frau, und meine Kinder warten zu Hause auf mich ... Mein Ältester
  • berechtigt zu den schönsten Hoffnungen; das ist wirklich ein recht
  • intelligenter Bursche; aber mir fehlen die Mittel, ihm eine geeignete
  • Erziehung zu geben ...«
  • * * * * *
  • Nachdem der Kommissar den Kollegien-Assessor verlassen hatte, befand
  • sich dieser einige Minuten in einer unbeschreiblichen Geistesverfassung;
  • einen Moment lang konnte er seine Lage kaum überblicken. Die plötzliche
  • Freude hatte ihn ganz matt gemacht. Endlich nahm er die wieder gefundene
  • Nase vorsichtig zwischen seine beiden Hände und schaute sie noch einmal
  • mit großer Aufmerksamkeit an.
  • »Ja, das ist sie! Das ist sie in der Tat!« sagte er. »Hier auf der
  • linken Seite ist auch das Pickelchen von gestern ...«
  • Der Major hätte vor Freude laut aufjubeln mögen.
  • Aber auf dieser Welt ist nichts von langer Dauer; bald läßt die Freude
  • nach und, während Sekunde auf Sekunde vergeht, weicht auch sie schnell
  • einer peinigenden Abspannung, um unmerklich wieder zum gewohnten
  • Gleichmaß zurückzukehren, so wie der Kreis, den das Fallen eines Steines
  • im Wasser erzeugt, allmählich in der glatten Oberfläche zerrinnt.
  • Kowalew begann, das Vorgefallene zu überdenken, und begriff, daß sein
  • Abenteuer noch nicht zu Ende war. Die Nase war wohl gefunden, aber jetzt
  • mußte man sie vor allen Dingen wieder an ihren alten Platz bringen und
  • befestigen.
  • »Wenn sie nun nicht halten wird?«
  • Bei diesem Gedanken erbleichte der Major.
  • Von einer unerklärlichen Furcht gepackt stürzte er an den Tisch und
  • ergriff den Spiegel, um sich die Nase nur nicht schief anzusetzen. Seine
  • Hände zitterten. Mit großer Vorsicht und Behutsamkeit drückte er sie
  • wieder an ihren alten Platz. Doch welch ein Schrecken! die Nase hielt
  • nicht! ... Er führte sie an seinen Mund, erwärmte sie mit seinem Atem
  • und brachte sie von neuem an die glatte Fläche, die sich zwischen seinen
  • beiden Wangen befand. Die Nase wollte absolut nicht halten!
  • »So sitz doch, du Rindvieh!« sagte Kowalew zu ihr.
  • Aber die Nase schien wie aus Holz zu sein und fiel mit einem recht
  • sonderbaren Ton gleich einem Stück Kork auf den Tisch. Kowalews ganzes
  • Gesicht zuckte konvulsivisch zusammen.
  • »Ist es denn möglich, daß sie in der Tat nicht haften bleiben sollte?«
  • sagte er voller Schrecken.
  • Er drückte sie noch einmal auf die Stelle, an die sie gehörte, -- aber
  • auch dieses Mal ohne Erfolg.
  • Kowalew rief Iwan und trug ihm auf, zum Arzte zu gehen, der eine der
  • schönsten Wohnungen im ersten Stock des Hauses inne hatte. Dieser Arzt
  • war ein Mann von feiner Lebensart, außerdem verfügte er über ein Paar
  • herrliche pechschwarze Favoris und eine prachtvolle urgesunde Frau.
  • Schon am frühen Morgen pflegte er frische Äpfel zu essen. Als besondere
  • Eigentümlichkeit wäre dann noch die außerordentliche Pflege zu erwähnen,
  • die er seinem Munde angedeihen ließ, denn er spülte ihn nach dem
  • Aufstehen fast dreiviertel Stunden lang und putzte sich stets die Zähne
  • mit fünf verschiedenen Bürstchen.
  • Der Arzt ließ nicht lange auf sich warten.
  • Nachdem er sich danach erkundigt hatte, wieviel Zeit verstrichen war,
  • seit Kowalew den Verlust bemerkt hatte, faßte er den Major am Kinn und
  • gab ihm mit dem Zeigefinger an der Stelle, wo sich früher die Nase
  • befunden hatte, einen so tüchtigen Nasenstüber, daß der Major mit dem
  • Kopfe zurückzuckte und mit ihm ziemlich heftig an die Mauer schlug. Der
  • Arzt meinte, das mache weiter nichts, und befahl ihm, mit dem Kopf von
  • der Wand abzurücken und ihn ein wenig nach links zu neigen, befühlte ihn
  • und ließ dann ein gedehntes »Hm« vernehmen. Zum Schluß gab er ihm noch
  • einen Nasenstüber, sodaß Kowalew mit dem Kopf zurückfuhr wie ein Pferd,
  • dessen Zähne man untersucht.
  • Nach dieser Einleitung schüttelte der Arzt den Kopf und sagte:
  • »Nein, es ist unmöglich! Es ist besser, Sie lassen die Geschichte auf
  • sich beruhen, sonst könnte es noch schlimmer werden. Gewiß kann man die
  • Nase wieder befestigen; ich könnte es sogar auf der Stelle tun, das
  • unterliegt keinem Zweifel. Aber ich gebe Ihnen die Versicherung, daß es
  • dann noch schlimmer werden kann.«
  • »Das ist ja großartig! Aber wie kann ich denn ohne Nase existieren?«
  • sagte Kowalew. »Schlimmer als jetzt kann es ja garnicht werden. Da soll
  • doch das heilige Donnerwetter dreinschlagen! Wo kann ich mich denn mit
  • einem solchen grotesken Kopf blicken lassen? Ich muß doch meine guten
  • Beziehungen pflegen, heute abend muß ich sogar noch zwei Besuche
  • abstatten. Ich bin mit vielen einflußreichen Personen bekannt, so z. B.
  • mit Frau Staatsrat Tschechtarewa, und mit Frau Podtotschina, die die
  • Gattin eines höheren Offiziers ist, wenngleich ich mit dieser Dame nach
  • dem Vorgefallenen nur noch durch die Polizei verkehren werde. Tun Sie
  • mir den Gefallen,« fügte Kowalew mit bittender Stimme hinzu, »setzen Sie
  • sie mir wieder an, mir ist jedes Mittel recht. Wenn es auch nicht gut
  • aussieht, die Hauptsache ist, daß sie hält; in gefährlichen Situationen
  • könnte ich sie ja etwas mit der Hand stützen. Im übrigen tanze ich auch
  • garnicht, sodaß ich nicht etwa zu befürchten brauche, daß sie sich durch
  • eine unvorsichtige Bewegung ablösen könnte. Und was das Honorar für
  • Ihren Besuch anbetrifft, so können Sie überzeugt sein, daß, soweit es
  • mir meine Mittel gestatten ...«
  • »Glauben Sie mir,« sagte der Arzt nicht allzu laut, aber auch nicht
  • allzu leise, auf jeden Fall aber in überzeugendem und eindringlichem
  • Tone, »daß ich meine Kunst niemals um des schnöden Mammons willen
  • ausübe. Das wäre gegen meine Grundsätze und gegen meinen Beruf. Ich
  • nehme gern eine Vergütung für meinen Besuch an, aber einzig und allein,
  • um Sie nicht durch meine Weigerung zu verletzen. Gewiß kann ich Ihre
  • Nase wieder anheften. Aber ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, wenn Sie es
  • mir so nicht glauben wollen, daß es sehr häßlich aussehen wird. Lassen
  • Sie doch lieber die Natur walten! Waschen Sie die betreffende Stelle
  • recht häufig mit kaltem Wasser, und ich versichere Sie, daß Sie sich
  • ohne Nase ebenso gut befinden werden als mit ihr. Und dann gebe ich
  • Ihnen noch den Rat, die Nase in einem Gefäß mit Spiritus aufzubewahren
  • oder noch besser zwei Suppenlöffel Branntwein und heißen Essig in den
  • Rezipienten zu tun, -- auf diese Weise könnten Sie viel Geld für sie
  • erhalten. Ich selbst würde sie Ihnen gern abnehmen, wenn Sie nicht zu
  • teuer sind!«
  • »Nein, nein, um keinen Preis in der Welt würde ich sie verkaufen!« rief
  • der Major Kowalew verzweifelt aus; »lieber will ich sie vernichten!«
  • »Entschuldigen Sie,« sagte der Arzt und erhob sich; »ich wollte Ihnen
  • nur nützlich sein ... Was ist da zu tun? Auf jeden Fall haben Sie sich
  • von meinem guten Willen überzeugt.«
  • Mit diesen Worten und mit einer vornehmen Handbewegung verließ der Arzt
  • das Zimmer. Kowalew hatte nicht einmal sein Gesicht deutlich gesehen und
  • in seiner tiefen Betäubung nur die Manschetten seines schneeweißen
  • Hemdes bemerkt, das aus den Ärmeln des schwarzen Frackes
  • hervorleuchtete.
  • Am folgenden Tage beschloß er, noch bevor er die Klage gegen Frau
  • Podtotschina einreichte, an sie zu schreiben und sie zu fragen, ob sie
  • seiner Forderung nicht vielleicht gutwillig Folge leisten wollte.
  • Dieser Brief lautete folgendermaßen:
  • »Sehr geehrte Frau Alexandra Grigoriewna!
  • Es ist mir unmöglich, Ihre äußerst seltsame Handlungsweise zu
  • begreifen. Seien Sie überzeugt, daß Sie hierdurch nichts gewinnen
  • und mich keineswegs dazu zwingen werden, Ihre Tochter zu heiraten.
  • Was die Angelegenheit mit meiner Nase anbetrifft, so ist die Rolle,
  • dessen versichere ich Sie, die Sie, die Hauptanstifterin, in ihr
  • spielen, von allem andern zu schweigen, schon völlig aufgeklärt. Ihr
  • plötzliches Verschwinden von ihrem Platze, ihre Flucht, ihre
  • Verkleidung als Beamter wie ihr darauffolgendes Auftreten in
  • natürlicher Gestalt: das alles ist nur die Folge einer Behexung, die
  • Sie oder irgend welche von Ihnen bezahlte Kreaturen gegen mich
  • inszeniert haben. Was nun mich anbetrifft, so glaube ich die Pflicht
  • zu haben, Ihnen im voraus anzukündigen, daß ich, sollte die in Frage
  • kommende Nase sich nicht noch heute an ihrem alten Platze befinden,
  • mich gezwungen sehen würde, den Beistand und Schutz der Gerichte
  • anzurufen.
  • Im übrigen bin ich mit der Versicherung meiner vorzüglichen
  • Hochachtung
  • Ihr ergebener Diener
  • Platon Kowalew.«
  • »Geehrter Herr Platon Kusmitsch!
  • Ihr Brief hat mich in außerordentliches Erstaunen versetzt. Ich
  • gestehe offen, ich hätte von Ihnen nie so ungerechte Vorwürfe
  • erwartet. Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ich den Beamten, von
  • dem Sie sprechen, weder maskiert, noch in eigener Gestalt, bei mir
  • empfangen habe. Allerdings hat mich Philipp Iwanowitsch
  • Potantschikow besucht. Und obgleich er in der Tat um die Hand meiner
  • Tochter angehalten hat und auf einen tadellosen, nüchternen
  • Lebenswandel und große Bildung hinweisen konnte, habe ich ihm doch
  • keinerlei Hoffnung gegeben. Sie sprechen dann noch von Ihrer Nase.
  • Wenn Sie damit sagen wollen, daß ich die Absicht habe, Ihnen eine
  • Nase zu drehen statt Sie endgültig abzuweisen, so kann ich hierüber
  • nur meiner Überraschung Ausdruck verleihen. Denn wie Sie sehr wohl
  • wissen, ist gerade das Gegenteil davon der Fall; und wenn Sie
  • gegenwärtig gesonnen sein sollten, meine Tochter zu Ihrem Ehegemahl
  • zu machen, so bin ich bereit, Ihnen sofort jede Genugtuung zuteil
  • werden zu lassen. Damit wäre in der Tat einer meiner innigsten
  • Wünsche erfüllt. In dieser Hoffnung bin ich wie stets
  • Ihre gehorsame Dienerin
  • Alexandra Podtotschina.«
  • »Nein!« sagte Kowalew nachdem er den Brief gelesen hatte, »sie ist
  • sicher unschuldig. Das ist ja ganz unmöglich! Solch einen Brief kann nie
  • und nimmer eine Person schreiben, die ein Verbrechen auf ihrem Gewissen
  • hat.«
  • Der Kollegien-Assessor verstand sich auf diese Dinge, war er doch schon
  • mehrfach mit Untersuchungen in den kaukasischen Provinzen betraut
  • worden.
  • »Wie mag es nur geschehen sein?« fragte er sich immer wieder. »Hol's der
  • Teufel!«
  • Und er ließ resigniert die Hände sinken.
  • Unterdessen hatte sich in der ganzen Residenz das Gerücht von diesem
  • außergewöhnlichen Ereignis verbreitet -- und zwar, wie es ja Brauch ist,
  • nicht ohne Zutaten und Übertreibungen. Alle Gemüter standen zu dieser
  • Zeit gerade unter dem Eindruck übernatürlicher Vorgänge. Kurz vorher
  • hatten nämlich das Publikum allerhand Experimente mit dem tierischen
  • Magnetismus beschäftigt; die tanzenden Stühle waren für die
  • Scheunenstraße noch etwas völlig Neues. Man braucht es also nicht allzu
  • sonderbar zu finden, daß bald darauf das Gerücht auftauchte, die Nase
  • des Kollegien-Assessors Kowalew spazire bereits seit längerer Zeit jeden
  • Tag um drei Uhr auf dem Newski-Prospekt herum. Eine Menge Neugieriger
  • strömte daher alltäglich dorthin. Irgend jemand hatte erzählt, die Nase
  • hielte sich in Junkers Magazin auf, und gleich stauten sich dort die
  • Menschen derartig, daß die Polizei sich genötigt sah, einen
  • Ordnungsdienst einzurichten. Ein sehr ehrenwerter Spekulant von höchst
  • würdigem Äußeren mit einem prachtvollen Backenbart, der am Ausgang der
  • Theater verschiedene Süßigkeiten und trockene Kuchen feilzubieten
  • pflegte, ließ daher schöne solide hölzerne Bänke vor dem Laden
  • aufstellen, lud die Neugierigen ein, Platz zu nehmen und erhob ein
  • Eintrittsgeld von sechzig Kopeken pro Zuschauer. Ein Oberst a. D.
  • erschien schon ganz früh an Ort und Stelle, um sich das Schauspiel
  • anzuschaun, und schlängelte sich mit großer Mühe durch die Menge; aber
  • zu seiner größten Empörung sah er im Fenster des Magazins anstatt der
  • Nase nur ein ganz gewöhnliches baumwollenes Kamisol nebst einer
  • Lithographie, die ein junges Mädchen darstellte, wie es sich seinen
  • Strumpf hinaufzieht, und einen Stutzer mit ausgeschnittener Weste und
  • Spitzbart, der sie hinter einem Baume beobachtet -- ein Bild, das schon
  • seit mehr als zehn Jahren an dieser Stelle hing. Der Oberst ging fort,
  • indem er ärgerlich sagte:
  • »Wie kann man nur die Leute durch solche dumme und unwahrscheinliche
  • Gerüchte auf die Beine bringen? ...«
  • Dann wurde allgemein davon gesprochen, daß die Nase des Majors Kowalew
  • garnicht auf dem Newski-Prospekt, sondern im Taurischen Garten
  • herumspaziere; man sagte, sie befände sich schon lange dort, schon
  • Chozrew-Mirza habe in der Zeit, da er dort wohnte, sehr über dieses
  • seltsame Naturwunder gestaunt. Von der medizinischen Fakultät wurden
  • einige Studenten hingesandt; eine ehrenwerte Dame von hoher Geburt bat
  • den Wächter des Gartens in einem Privatschreiben, dieses Phänomen doch
  • ja ihren Kindern zu zeigen und womöglich eine gründliche, lehrreiche
  • Erklärung hinzuzufügen.
  • All diese Geschehnisse bildeten das Entzücken jener Müßiggänger, die bei
  • keiner Gesellschaft fehlen dürfen und deren Pflicht es ist, die Damen zu
  • zerstreuen -- und dies in um so höherem Maße, als ihr Vorrat an
  • Neuigkeiten zurzeit völlig erschöpft war. Indes zeigte sich doch eine
  • Minderheit ehrlicher und vernünftiger Leute sehr ungehalten über all
  • diese Scherze. Ein Herr erklärte sogar voller Empörung, er begriffe
  • nicht, wie in einem aufgeklärten Jahrhundert solche falsche und absurde
  • Gerüchte entstehen könnten, ja, er wunderte sich darüber, daß die
  • Regierung diesen Vorgängen nicht mehr Beachtung schenke. Dieser Herr
  • gehörte augenscheinlich zu jener Menschenklasse, die es für
  • wünschenswert hält, daß die Regierung sich in alle Angelegenheiten
  • mische, selbst in die alltäglichen Zwistigkeiten der Ehegatten.
  • Infolgedessen ... Aber hier hüllt sich unsere Historie von neuem in
  • einen dichten Schleier, und über alle folgenden Ereignisse ist wieder
  • nichts bekannt.
  • III.
  • Es gibt keinen Unsinn, der in dieser Welt nicht möglich wäre, und oft
  • passieren Dinge, die geradezu unglaublich sind. So befand sich dieselbe
  • Nase, die in Gestalt eines Staatsrates spazieren gegangen war und in der
  • ganzen Stadt eine solche Aufregung verursacht hatte, plötzlich auf ganz
  • unerklärliche Weise wieder an ihrem alten Platz zwischen den beiden
  • Wangen des Majors Kowalew. Das geschah am 7. April.
  • Als der Major an diesem Morgen erwachte und in den Spiegel sah,
  • erblickte er darin seine Nase. Er griff mit seiner Hand nach ihr, --
  • wahrhaftig, es war seine Nase.
  • »Mein Gott!« sagte Kowalew, und er wollte schon vor Freude im Zimmer
  • barfuß ein Tänzchen machen, aber das Eintreten Iwans hinderte ihn daran.
  • Er befahl ihm, sofort Waschwasser zu bringen und besah sich noch einmal
  • im Spiegel -- aber die Nase war in der Tat wieder da! Er trocknete sich
  • mit dem Handtuch ab und blickte zum dritten Mal in den Spiegel, -- aber
  • die Nase war noch immer da!
  • »Sieh doch mal her, Iwan, ich glaube, ich habe da so eine Art Pickel auf
  • der Nase,« sagte er und dachte indessen bei sich:
  • »Was für ein Unglück, wenn Iwan mir plötzlich antwortete: >Nein, Herr,
  • Sie haben nicht nur keinen Pickel auf der Nase, Sie haben ja überhaupt
  • keine Nase!<«
  • Aber Iwan bemerkte:
  • »Ich sehe gar keinen Pickel; Ihre Nase ist ganz rein.«
  • »Gut, vortrefflich, der Teufel soll mich holen!« sagte der Major im
  • stillen zu sich selbst und knipste mit den Fingernägeln.
  • In diesem Augenblick erschien der Barbier Iwan Jakowlewitsch im
  • Türrahmen -- furchtsam wie eine Katze, die ein Stück Talg gestohlen und
  • dafür Prügel bekommmen hat.
  • »Sag mal vor allem: sind deine Hände auch sauber?« schrie ihm Kowalew
  • schon von weitem entgegen.
  • »Gewiß sind sie sauber!«
  • »Du lügst!«
  • »Bei Gott, sie sind sauber, Herr!«
  • »Na, dann mal los!«
  • Kowalew setzte sich, und Iwan Jakowlewitsch band ihm eine Serviette um.
  • In einem Moment verwandelte sich der ganze Bart und ein Teil der Wangen
  • mit Hilfe eines Pinsels in einen Crême, wie ihn die Kaufleute an ihren
  • Namenstagen den Gästen servieren.
  • »Da schau her!« sagte Iwan Jakowlewitsch zu sich selbst, nachdem er sich
  • die Nase angesehen; dann wandte er den Kopf ein wenig, um sie auch von
  • der Seite zu prüfen, »wahrhaftig sie sitzt tadellos!« -- und noch lange
  • betrachtete er die Nase. Endlich erhob er mit einer Zartheit und
  • Behutsamkeit, als ob es sich hier um seine eigene Person handle, zwei
  • Finger, um die Nasenspitze zu ergreifen.
  • Das war Iwan Jakowlewitschs System.
  • »Achtung!« schrie Kowalew.
  • Iwan Jakowlewitsch ließ die Hand sinken, verlor den Kopf und zitterte
  • wie noch nie zuvor in seinem Leben. Endlich begann er mit großer
  • Vorsicht, ihm unter dem Kinn mit dem Rasiermesser den Hals zu kitzeln;
  • obwohl es ihm sehr schwer wurde, da er ja das Geruchsorgan nicht stützen
  • durfte, überwand er doch alle Schwierigkeiten dadurch, daß er mit dem
  • Zeigefinger bald die Wange, bald das Kinn anfaßte, und so führte er denn
  • sein Geschäft glücklich zu Ende.
  • Hierauf kleidete sich Kowalew an, nahm eine Droschke und fuhr
  • schnurstracks nach einer Konditorei. Schon auf der Schwelle befahl er
  • dem Kellner, ihm eine Tasse Schokolade zu bringen, und blickte
  • gleichzeitig schnell noch einmal in den Spiegel: wahrhaftig, die Nase
  • war noch da! Fröhlich wandte er sich um und fixierte mit spöttischer
  • Miene zwei Offiziere, deren einer eine Nase hatte, die nicht viel größer
  • war als ein Westenknopf.
  • Dann begab er sich auf die Kanzlei des Departements, in dem er sich um
  • die Stelle eines Vizegouverneurs oder doch wenigstens um die eines
  • Exekutors bewarb; als er durch das Empfangszimmer schritt, schaute er in
  • den Spiegel, -- die Nase war noch immer da!
  • Hierauf fuhr er zu einem andern Kollegien-Assessor, der gleichfalls
  • Major war, einem großen Spaßvogel, dem er auf all seine bissigen
  • Bemerkungen stets nur die eine Antwort zu geben pflegte:
  • »O, ich kenne dich ja, du bist boshaft!«
  • Und er dachte sich unterwegs:
  • »Wenn der Major bei meinem Anblick nicht in Lachen ausbricht, so ist das
  • das sicherste Zeichen, daß alles in Ordnung ist.«
  • Aber der Kollegien-Assessor ließ sich nichts merken.
  • »Gut! vortrefflich! der Teufel soll ihn holen!« murmelte Kowalew.
  • Auf der Straße begegnete er Frau Podtotschina, der Gattin eines höheren
  • Offiziers nebst ihrer Tochter; er machte eine tiefe Verbeugung und wurde
  • mit den freudigsten Ausrufen begrüßt. Er unterhielt sich längere Zeit
  • mit ihnen, nahm eine Prise aus seiner Tabaksdose und stopfte sie sich
  • mit Absicht in ihrer Gegenwart in beide Nasenlöcher, indem er sich
  • dachte:
  • »Da habt ihr's! Ihr Weiber, ihr seid Gänse! Ich denke ja garnicht daran,
  • mich mit deiner Tochter zu verheiraten! _Par amour_ -- na, meinetwegen!
  • Das ginge noch allenfalls.«
  • Und der Major Kowalew zeigte sich, als ob nichts geschehen wäre, auf dem
  • Newski-Prospekt, in den Theatern und überall. Seine Nase saß, wie wenn
  • nichts vorgefallen wäre, fest in seinem Gesicht, und niemand sah es ihr
  • an, daß sie einst so weit umhergeirrt war. Und seitdem sah man Major
  • Kowalew stets in guter Laune, er lachte und blickte mit
  • leidenschaftlichem Interesse allen schönen Frauen nach. Einmal sah man
  • ihn sogar im Laden von Gostini Dwor ein Ordensband kaufen; zu welchem
  • Zwecke dies geschah, das wußte freilich niemand, denn er war ja garnicht
  • Ritter eines Ordens.
  • Das ist die Geschichte, die sich in der nördlichen Hauptstadt unseres
  • großen Reiches abgespielt hat. Jetzt finden wir allerdings bei näherer
  • Überlegung viel Unwahrscheinliches in ihr. Ohne davon zu sprechen, daß
  • es doch höchst sonderbar ist, wenn eine Nase verschwindet und an
  • verschiedenen Stellen in Gestalt eines Staatsrates auftaucht, -- wie
  • konnte Kowalew nicht begreifen, daß man doch nicht durch die Amtszeitung
  • nach einer Nase suchen darf? Ich will hier garnicht einmal den hohen
  • Preis erwähnen, den man für ein Inserat bezahlen muß. Das ist eine
  • Kleinigkeit. Denn ich gehöre ganz und gar nicht zu den habgierigen
  • Leuten. Aber so etwas ist doch unschicklich, lächerlich und töricht!
  • Und dann noch dies: wie geriet die Nase in ein Brot, und wie konnte Iwan
  • Jakowlewitsch selbst ...? Nein, das werde ich nie und nimmer begreifen;
  • wahrhaftig, das verstehe ich nicht! Was aber noch erstaunlicher und noch
  • unverständlicher ist, das ist der Umstand, daß sich Autoren solche
  • Gegenstände wählen können. Man muß zugeben, daß das in der Tat ganz
  • unbegreiflich ist. Geradezu ... nein, nein! Ich verstehe auch nicht ein
  • Wort davon! Erstens bringt es dem Vaterland nicht den geringsten Nutzen,
  • und zweitens ... aber auch zweitens hat niemand einen Vorteil davon. Ich
  • weiß einfach nicht, was das für einen Sinn hat.
  • Und dennoch und trotz alledem läßt sich letzten Endes vielleicht doch
  • eins oder das andere oder das dritte davon begreifen! Denn schließlich,
  • wo stößt man denn nicht auf Unbegreifliches? Und wenn man ordentlich
  • über alles nachdenkt, so bleibt sicher doch wenigstens _etwas_ davon
  • bestehen. Man mag sagen, was man will: derartige Dinge kommen in der
  • Welt vor -- wenngleich höchst selten, aber sie _kommen_ vor.
  • Das Porträt
  • Erster Teil.
  • Nirgends blieben soviel Menschen stehen wie vor dem Bilderladen in der
  • Schtschukin-Passage. Dieser Laden bot in der Tat eine äußerst
  • mannigfaltige Sammlung von Sehenswürdigkeiten dar: die Bilder waren
  • meistenteils mit Ölfarbe gemalt, mit dunkelgrünem Lack gefirnißt und mit
  • dunkelgelben, flittergoldenen Rahmen versehen. Eine Winterlandschaft mit
  • weißen Bäumen, ein völlig roter, einer Feuersbrunst gleichender Abend,
  • ein flämischer Bauer mit einer Pfeife und einem ausgerenkten Arm, der
  • eher einem Truthahn in Manschetten als einem Menschen ähnlich sieht: das
  • sind gewöhnlich die Lieblingsthemata dieser Gemälde. Dazu kamen noch
  • einige gestochene Abbildungen: ein Porträt von Chosrev-Mirsa in einer
  • Hammelfellmütze und etwa das Bild eines Generals mit Dreispitz und
  • krummer Nase. Überdies pflegen die Türen eines solchen Ladens mit ganzen
  • Bündeln von Werken, die auf große Bogen gedruckt sind und von der
  • instinktiven Begabung des Russen zeugen, behangen zu sein. Auf einem war
  • die Zarentochter Miliktrissa Kirbitjewna, auf einem andern die Stadt
  • Jerusalem zu sehen, über deren Häuser und Kirchen ohne weitere Umstände
  • ein intensives Rot gestrichen war, ein Rot, das auch einen Teil der Erde
  • und zwei betende russische Bauern in Fausthandschuhen einhüllte. Für
  • diese Erzeugnisse findet sich schwer ein Käufer, um so leichter jedoch
  • ein Zuschauer. Irgend ein Taugenichts von Lakai sieht sie sich schon
  • sicher an, während er die Wirtshaus-Menage für seinen Herrn in der Hand
  • hält, der seinem Magen die Suppe wohl nicht allzu heiß einverleiben
  • wird; neben ihm steht sicher irgend ein in einen Mantel eingehüllter
  • Soldat, dieser Kavalier des Trödelmarktes, der zwei Federmesser
  • feilbietet, und eine Höckerfrau aus Ochta mit einer Schachtel, die
  • Schuhe enthält. Jeder genießt auf seine Art. Die Bauern pflegen ihre
  • Zeigefinger darauf zu drücken, die Kavaliere betrachten die Bilder mit
  • ernster Miene, die Handwerksburschen lachen und machen sich mit Hinweis
  • auf die Karikaturen übereinander lustig, alte Lakaien in Friesmänteln
  • schauen sich diese Dinge an, weil sie schließlich doch irgendwo gähnen
  • müssen, und die Höckerinnen, diese jungen russischen Weiber, kommen
  • instinktiv hierher gelaufen, um zu hören, was denn das Volk wieder
  • zusammen klatscht, und um sich das anzuschaun, was sich das Volk
  • anschaut.
  • Um diese Zeit blieb auch der junge Künstler Tschartkow, der gerade die
  • Passage passierte, unwillkürlich vor dem Laden stehen; der alte Mantel
  • und der nicht sehr sorgfältige Anzug ließen in ihm einen Menschen
  • erkennen, der seiner Arbeit mit Selbstvergessenheit ergeben war und
  • keine Zeit hatte, sich um die Kleidung zu kümmern, die doch gerade für
  • die Jugend sonst einen geheimnisvollen Reiz in sich zu bergen pflegt. Er
  • blieb vor dem Laden stehn und lachte zuerst innerlich über diese
  • greulichen Bilder. Dann bemächtigte sich seiner eine unwillkürliche
  • Versonnenheit, er fing an, darüber nachzudenken, wem diese Machwerke
  • wohl von Nutzen wären. Daß das russische Volk von diesen Jeruslanen
  • Lazarewitschen, diesen Freß- und Saufhelden, sowie von dem Foma und
  • Jerjoma hingerissen wird, das erschien ihm nicht verwunderlich: die
  • abgebildeten Gegenstände waren dem Volke durchaus verständlich. Aber wo
  • sind die Käufer für diese bunten, schmutzigen Ölpinseleien, wem konnten
  • diese flämischen Bauern, diese roten und blauen Landschaften, die
  • bereits einen gewissen Anspruch auf eine etwas höhere Stufe der Kunst
  • erheben, gefallen, einer Kunst, die gerade hier aufs tiefste erniedrigt
  • wird? Dies waren allem Anschein nach keineswegs Werke eines Kindes oder
  • eines Autodidakten, sonst wäre in ihnen bei aller gefühllosen
  • Karikierung doch etwas wie ein starker Impuls zum Ausdruck gekommen.
  • Aber hier war nichts zu entdecken als Stumpfheit, eine kraftlose,
  • greisenhafte Talentlosigkeit, die sich eigenmächtig in die Reihen der
  • Künste drängte, während sie doch lediglich unter den niedrigsten
  • Handwerken ihren Platz hatte, -- eine Talentlosigkeit, die übrigens
  • ihrem Beruf treu blieb und das Handwerkliche mitten in die Kunst
  • importierte. Dieselben Farben, die gleiche Manier, dieselbe geübte Hand,
  • die eher einem roh gearbeiteten Automaten gehören mochte, als einem
  • Menschen! ...
  • Lange stand er vor diesen schmutzigen Bildern, bis er schließlich gar
  • nicht mehr an sie dachte, inzwischen aber sprach der Besitzer des
  • Ladens, ein verschimmelter Kerl in einem Friesmantel und mit einem seit
  • Sonntag nicht rasierten Barte, auf ihn ein, und feilschte mit ihm um den
  • Preis, ohne sich davon unterrichtet zu haben, was ihm gefallen hatte und
  • was er kaufen wollte. »Hier, für diese Bäuerlein und diese kleine
  • Landschaft, will ich nur einen weißen Schein haben. Sehen Sie sich doch
  • nur diese Malerei an! Die sticht einem geradezu in die Augen; die sind
  • eben erst aus der Börse gekommen, sogar der Firnis ist noch nicht
  • trocken. Oder nehmen Sie doch vielleicht den Winter hier! Nur fünfzehn
  • Rubel! der Rahmen kostet doch allein soviel! Das ist dafür aber auch ein
  • rechter Winter!« Hierbei schnellte der Händler mit den Fingerspitzen
  • leicht gegen die Leinewand, wahrscheinlich, um die Güte des Winters
  • recht zu betonen. »Befehlen der Herr, daß ich sie zusammenbinde und zu
  • Ihnen trage? Wo belieben Sie zu wohnen? He, Junge, gib mal einen
  • Bindfaden her!« -- »Wart, Bruder, nicht so schnell!« sagte der endlich
  • zu sich kommende Maler, als er sah, daß der lebhafte Händler sich im
  • Ernst daran machte, sie zusammenzubinden. Es war ihm etwas peinlich,
  • nichts zu kaufen, nachdem er sich schon so lange im Laden aufgehalten
  • hatte, und er sagte: »Aber warte, ich will mal sehen, ob ich nicht dort
  • etwas für mich finde.« Und er bückte sich und fing an, die auf dem
  • Fußboden aufgestapelten, abgescheuerten, verstaubten, alten
  • Schmierereien aufzuheben, die offenbar keine sonderliche Ehre genossen.
  • Da waren altertümliche Porträts von Ahnen, deren Nachkommen man in der
  • Welt sicher nirgends hätte finden können -- unbekannte Bilder, deren
  • Leinwand durchgerissen war, mit Rahmen ohne Vergoldung: mit einem Worte,
  • allerlei alter Plunder. Aber der Maler fing an, sie genauer zu
  • untersuchen, indem er in seinem Inneren zu sich sagte: »Vielleicht
  • findet sich doch noch etwas darunter!« Er hatte mehr als einmal gehört,
  • wie man mitunter bei Trödlern zwischen altem Kram Gemälde großer Meister
  • fand.
  • Als der Besitzer bemerkte, wohin sich Tschartkow verkrochen hatte, ließ
  • seine Zuvorkommenheit nach, er placierte sich in seiner gewöhnlichen
  • Stellung und gebührenden Würde wieder vor seiner Tür, rief die Passanten
  • an und zeigte ihnen mit einer großen Geste seinen Laden. »Hierher,
  • Väterchen! Hier sind Bilder! Kommen Sie herein, kommen Sie herein!
  • Soeben von der Börse importiert!« Er schrie sich tot, aber meistenteils
  • ohne jeden Erfolg, schwatzte unterdessen zur Genüge mit dem
  • Resteverkäufer, der ebenfalls ihm gegenüber an der Türe seiner Bude
  • stand, und erinnerte sich schließlich, daß er noch einen Käufer im Laden
  • hatte; sofort wandte er den Außenstehenden den Rücken zu und begab sich
  • hinein. »Na, Väterchen, haben Sie schon etwas ausgewählt?« Aber der
  • Künstler stand schon eine geraume Zeit vor einem Porträt in einem großen
  • Rahmen, der von vergangener Pracht zeugte und auf dem jetzt kaum noch
  • die Spuren der Vergoldung glänzten.
  • Das war ein Greis mit einem bronzefarbenen, schmächtigen Gesicht und
  • hervorstehenden Backenknochen. Seine Züge schienen einen Augenblick von
  • einer krampfhaften Bewegung erfaßt zu sein und muteten nicht wie
  • nordische Kraft an; der feurige Süden spiegelte sich in ihnen wieder. Er
  • war in ein weites asiatisches Kostüm gehüllt. Wie schmutzig und
  • beschädigt das Porträt auch war, Tschartkow entdeckte in ihm sofort die
  • Spuren der Arbeit eines großen Künstlers, nachdem es ihm gelungen war,
  • den Staub vom Gesicht zu entfernen. Das Porträt schien nicht ausgeführt
  • zu sein, aber die Kraft der Pinselführung war eine überwältigende.
  • Seltsamer als alles waren jedoch die Augen; der Künstler schien seine
  • ganze Kraft und seine ganze Sorgfalt auf sie verwandt zu haben. Sie
  • starrten einen an, blickten geradezu aus dem Porträt heraus und
  • zerstörten beinahe die ganze Harmonie durch ihre sonderbare
  • Lebhaftigkeit. Als er das Porträt näher an die Tür gebracht hatte,
  • blickten ihn die Augen noch stärker an. Fast denselben Eindruck machten
  • sie auch auf die Umstehenden. Die Frau, die hinter ihm stehen gelieben
  • war, rief: »Er starrt, er starrt mich an!« und wich zurück. Eine
  • unangenehme, ihm selbst unbegreifliche Empfindung bemächtigte sich
  • seiner, und er stellte das Bild auf den Boden.
  • »Na, meinetwegen nehmen Sie doch das Porträt!« meinte der Ladenbesitzer.
  • »Und was kostet es?« fragte der Künstler.
  • »Nun, dafür kann man doch nicht viel verlangen! Geben Sie fünfundsiebzig
  • Kopeken!«
  • »Nein.«
  • »Na, was geben Sie?«
  • »Zwanzig,« sagte der Maler, indem er sich zum Weggehen anschickte.
  • »Nein, mit was für einem Preis Sie herausrücken! Mit zwanzig Kopeken ist
  • ja nicht einmal der Rahmen bezahlt! Sie wollen es wohl morgen kaufen?
  • Herr Herr, kehren Sie doch zurück! legen Sie wenigstens zehn Kopeken zu.
  • Nehmen Sie, nehmen Sie es, also gut, geben Sie zwanzig Kopeken.
  • Wirklich, nur um den Anfang zu machen; nur, weil Sie der erste Käufer
  • sind.« -- Und dabei führte er mit der Hand eine Geste aus, die zu sagen
  • schien: »Sei dem, wie ihm sei, mag das Bild verloren gehen!«
  • So hatte denn Tschartkow ganz unerwartet ein altes Porträt gekauft, und
  • er dachte sich: »Wozu habe ich es gekauft? wozu brauche ich es?« Aber es
  • blieb ihm nichts mehr übrig. Er nahm ein Zwanzigkopekenstück aus der
  • Tasche, gab es dem Ladenbesitzer, nahm das Porträt unter den Arm und
  • trug es nach Hause. Unterwegs erinnerte er sich daran, daß die zwanzig
  • Kopeken, die er soeben weggegeben hatte, sein letztes Geld waren. Seine
  • Gedanken trübten sich mit einem Mal; ein Gefühl des Ärgers und der
  • gleichgültigen Leere erfaßte ihn im selben Augenblick. »Hol's der
  • Teufel! Wie scheußlich ist es auf der Welt!« dachte er wie jeder Russe,
  • dessen Geschäfte nicht blühen. Und fast mechanisch ging er schnellen
  • Schrittes, voller Verdrossenheit, weiter. Der Schimmer der untergehenden
  • Sonne tauchte die eine Himmelshälfte in ein tiefes Rot; noch waren die
  • dieser Seite zugewandten Häuser von ihrem warmen Schein schwach
  • bestrahlt; aber nach und nach erglänzte immer stärker und stärker der
  • kühle bläuliche Schein des Mondes. Halbdurchsichtige Schatten von
  • Häusern und Menschen fielen wie lange Schweife auf die Erde. Voller
  • Bewunderung blickte der Maler zum Himmel empor, der in einem
  • durchsichtigen, feinen, unbestimmten Lichte schimmerte, und dabei
  • entschlüpften seinem Munde die Worte: »Was für ein zarter Ton!« »Wie
  • ärgerlich! Hol's der Teufel!« Und während er sich das Porträt bequemer
  • zurechtschob, das fortwährend unter seinem Arme hinunterglitt,
  • beschleunigte er seine Schritte.
  • Müde und ganz in Schweiß gebadet, schleppte er sich nach seiner Wohnung
  • in der 15. Linie auf der Wassilij-Insel, mühsam und keuchend kletterte
  • er die mit Spülwasser begossenen und von den Spuren von Katzen und
  • Hunden verunreinigten Treppen hinauf. Er pochte an die Tür; niemand
  • antwortete, sein Diener war nicht zu Hause. Er lehnte sich auf das
  • Fensterbrett und entschloß sich, geduldig zu warten, bis er endlich
  • hinter sich die Schritte eines Burschen in blauem Hemde vernahm: dies
  • war sein Faktotum und Modell, sein Farbenreiber und Dielenfeger, der den
  • Fußboden allerdings mit seinen Stiefeln stets wieder zu beschmutzen
  • pflegte, während er ihn fegte. Der Bursche hieß Nikita und brachte
  • während der Abwesenheit seines Herren die ganze Zeit vor dem Tore zu.
  • Nikita gab sich lange Zeit große Mühe, das Schlüsselloch zu finden, das
  • infolge der Dunkelheit kaum zu sehen war. Endlich wurde die Tür
  • geöffnet. Tschartkow betrat sein Vorzimmer, das, wie bei den meisten
  • Künstlern, unerträglich kalt war, ein Umstand, den sie allerdings im
  • allgemeinen nicht bemerken. Ohne Nikita seinen Mantel zu übergeben,
  • begab er sich in sein Atelier, einen großen, aber niedrigen
  • quadratischen Raum mit zugefrorenen Fensterscheiben, der mit allerlei
  • künstlerischem Plunder, Stücken von Gipshänden, Keilrahmen, angefangenen
  • und wieder weggeworfenen Skizzen und bunten, auf Tischen und Stühlen
  • liegenden Draperieen angefüllt war. Er war äußerst müde, legte den
  • Mantel ab, stellte zerstreut das mitgebrachte Porträt zwischen zwei
  • andere Bilder und warf sich auf einen schmalen Diwan, von dem man nicht
  • behaupten konnte, daß er mit Leder bezogen war, denn die Messingknöpfe,
  • die es einst befestigt hatten, residierten in stolzer Selbständigkeit.
  • Das Gleiche ließ sich von dem Leder behaupten, sodaß Nikita seine
  • schwarzen Socken, Hemden und allerlei schmutzige Wäsche darunter
  • aufbewahren konnte. Nachdem er ein wenig auf ihm gesessen und gelegen,
  • soweit hier von Liegen die Rede sein konnte, und sich genügend ausgeruht
  • hatte, fragte er endlich nach einer Kerze.
  • »Wir haben keine Kerze mehr!« sagte Nikita.
  • »Weshalb nicht?«
  • »Es war doch schon gestern keine da,« sagte Nikita. Der Künstler
  • erinnerte sich in der Tat, daß es auch gestern keine Kerze mehr gab,
  • beruhigte sich und schwieg still. Er ließ sich auskleiden und zog
  • hierauf seinen schon arg verschlissenen Schlafrock an.
  • »Der Wirt ist wieder dagewesen!« fuhr Nikita fort.
  • »So! Er kam wegen des Geldes!« meinte der Künstler mit wegwerfender
  • Miene.
  • »Aber er war nicht allein da,« sagte Nikita.
  • »Wer denn noch?«
  • »Ich weiß nicht, wer. Irgend so ein Polizeibeamter.«
  • »Wozu denn ein Polizeibeamter?«
  • »Ich weiß nicht, wozu! Er meinte, weil die Wohnung noch nicht bezahlt
  • ist.«
  • »Nun, und was soll daraus werden?«
  • »Ich weiß nicht, was daraus werden soll. Er meinte, wenn er nicht zahlen
  • will, so soll er doch ausziehen! Sie wollten beide morgen wiederkommen.«
  • »Mögen sie nur kommen!« sagte Tschartkow mit trauriger Gleichgültigkeit,
  • und eine melancholische Regenstimmung bemächtigte sich seiner.
  • Der junge Tschartkow war ein Künstler, dessen Talent zu manchen
  • Hoffnungen berechtigte. In Augenblicken der Inspiration zeigte sein
  • Pinsel scharfe Beobachtungsgabe, tiefes Verständnis und einen heißen
  • Drang, der Natur nahe zu kommen. »Sieh, sieh, Bruder,« sagte ihm mehr
  • als einmal sein Professor, »du hast Talent. Es wäre eine Sünde, wenn du
  • es zugrunde richten wolltest. Aber du hast keine Geduld. Irgend etwas
  • lockt dich, dir gefällt etwas, und du bist gleich davon hingerissen,
  • alles übrige ist dir dann Quark, hat für dich keinen Wert mehr, du
  • willst es dir garnicht einmal anschaun ... sieh dich nur vor, daß aus
  • dir nicht etwa ein moderner Maler wird. Deine Farben sind schon jetzt
  • etwas zu scharf und zu schreiend; deine Zeichnung ist nicht mehr streng
  • und manchmal geradezu schwach ... Die Linie verschwimmt, du trachtest
  • schon nach modernen Beleuchtungseffekten und willst nur das wiedergeben,
  • was dem ersten besten in die Augen springt. Nimm dich in acht, daß du
  • nicht etwa in die Manier der Engländer verfällst! ... Gieb acht, die
  • große Welt beginnt dich bereits zu reizen. Ich habe schon manchmal eine
  • stutzerhafte Krawatte bei dir bemerkt oder einen gebügelten Hut ... ich
  • weiß ja, wie verlockend es ist, für Geld Bilder nach dem Geschmack der
  • Mode zu malen. Aber daran geht ein Talent zugrunde, anstatt daß es ihm
  • Förderung einträgt. Hab Geduld, beschäftige dich sorgfältig mit jeder
  • Arbeit, laß ab vom Dandytum ... Mögen doch andere dem Gelde nachjagen
  • ... dein Vermögen wird dir trotzdem nicht entgehen.«
  • Der Professor hatte zum Teil recht. Manchmal mochte unser Maler in der
  • Tat etwas über die Stränge schlagen, es den Gecken gleichtun, mit einem
  • Wort: zeigen, daß auch er eigentlich noch recht jung war. Aber bei
  • alledem verstand er es auch, sich zu zügeln. Bisweilen konnte er, wenn
  • er an seine Arbeit gegangen war, alles vergessen, und er riß sich nicht
  • anders von ihr los als wie von einem herrlichen Traume. Sein Geschmack
  • wurde immer subtiler; noch erfaßte er nicht die ganze Tiefe Raffaels,
  • doch wurde er von der raschen, breiten Pinselführung Guidos hingerissen,
  • er blieb vor den Porträts Tizians stehen und begeisterte sich an der
  • vlämischen Schule. Noch war der dunkle Schleier, der die alten Bilder
  • verhüllt, nicht ganz vor ihm geschwunden, aber schon vermochte er ihn
  • hin und wieder mit seinem Blicke zu durchdringen, obgleich er dem
  • Professor innerlich nicht beistimmte, daß die alten Meister für uns so
  • durchaus unerreichbar wären. Ihm schien es sogar, daß das neunzehnte
  • Jahrhundert sie in mancher Beziehung bedeutend überholt hätte, daß die
  • Nachbildung der Natur recht häufig intensiver, lebendiger, treuer
  • geworden war, kurz, er dachte in diesem Falle genau so wie gewöhnlich
  • die Jugend denkt, die schon einiges zu verstehen beginnt und es mit
  • Stolz und Selbstbewußtsein empfindet. Manchmal wurde er ärgerlich, wenn
  • er sah, wie ein zugereister Maler, ein Franzose oder etwa ein Deutscher,
  • der oft genug garnicht einmal ein Maler von Beruf war, nur durch
  • gewohnheitsmäßige Routine, flotte Pinselführung und schreiende Farben
  • allgemeines Aufsehen erregte und sich in einem Augenblick ein ganzes
  • Kapital erwarb. Solche Gedanken kamen ihm, nicht wenn er, ganz von
  • seiner Arbeit absorbiert, Essen, Trinken und die ganze Welt vergaß,
  • sondern nur dann, wenn die Not ihn zu arg bedrängte, wenn er keine
  • Kopeke mehr hatte, um sich Pinsel und Farben zu kaufen und wenn der
  • aufdringliche Wirt zehnmal am Tage kam, um die Miete für die Wohnung von
  • ihm zu verlangen. Dann malte sich wohl in seiner hungrigen Phantasie in
  • angenehmem Lichte das Leben eines reichen Malers, dann spielte er sogar
  • mit dem Gedanken, der so oft das Hirn eines Russen überfällt, alles im
  • Stich zu lassen und sich aus Gram und allem zum Trotz dem Trunk zu
  • ergeben. Und nun war er wieder einmal in einer solchen Lage.
  • »Ja, hab Geduld, hab nur Geduld!« wiederholte er verdrießlich; »aber
  • schließlich hat auch die Geduld ihr Ende. Hab Geduld, und womit soll ich
  • denn eigentlich morgen das Mittagsessen bezahlen? Stunden wird es mir
  • niemand, und wenn ich auch alle meine Bilder und Zeichnungen verkaufen
  • wollte, so würde man mir doch für sie alle zusammen noch keine zwanzig
  • Kopeken geben. Sie sind mir wohl von Nutzen gewesen, gewiß, ich fühle
  • es! An keinem von ihnen habe ich umsonst gearbeitet; aus jedem habe ich
  • etwas gelernt. Aber was frommt mir das? Es sind Skizzen, Versuche ...
  • und das werden sie immer bleiben, immer nur Skizzen, Versuche ... Und
  • wer, der nicht zufällig meinen Namen kennt, wird sie denn kaufen mögen?
  • Wer bedarf denn eigentlich dieser Zeichnungen nach der Antike, dieser
  • Naturstudien oder gar meiner unbeendigten »Psyche«? Wen interessiert
  • dieser Ausblick aus meinem Zimmer oder das Porträt meines Nikita, wenn
  • es auch wirklich besser ist, als die Arbeiten irgend eines Modemalers?
  • Und weshalb das alles? Weshalb quäle ich mich ab und plage ich mich, wie
  • ein Schüler mit dem Abc, wo ich doch nicht weniger berühmt sein, als die
  • andern und gleich ihnen Geld verdienen könnte.«
  • Bei diesen Worten zitterte und erblaßte der Maler plötzlich. Ein
  • krampfhaft verzerrtes Gesicht starrte ihn von der Leinwand her -- sich
  • weit vorbeugend -- an; zwei schreckliche Augen richteten sich auf ihn,
  • als ob sie ihn verzehren wollten. Die Lippen schienen ihn bedeuten zu
  • wollen, er solle schweigen. Erschrocken wollte er aufschreien und Nikita
  • rufen, der bereits in seinem Vorzimmer schnarchte wie ein zweiter
  • Polyphem. Aber plötzlich blieb er stehen und lachte. Das Gefühl der
  • Angst verließ ihn einen Augenblick; es war das von ihm gekaufte Porträt,
  • das er ganz vergessen hatte. Der Mondschein, in den das ganze Zimmer
  • getaucht war, beleuchtete auch das Bild und teilte ihm eine sonderbare
  • Lebendigkeit mit. Er fing an, es zu betrachten und zu reinigen. Er
  • benetzte einen Schwamm mit Wasser, fuhr einige Mal mit ihm über die
  • Fläche, wusch den dicken und fest an ihm klebenden Staub und Schmutz
  • herunter, hängte es vor sich an die Wand hin und war über dieses
  • ungewöhnliche Werk noch mehr erstaunt als vorher. Das ganze Gesicht
  • schien Leben zu bekommen und die Augen blickten ihn so an, daß er
  • erzitterte, zurückwich und ganz verdutzt sagte: »Er sieht mich an, er
  • blickt mich mit Menschenaugen an!« Tschartkow mußte plötzlich an eine
  • Geschichte denken, die er einmal von seinem Professor über ein Bildnis
  • des berühmten Lionardo da Vinci gehört hatte, jenes Bildnis, das der
  • große Meister, trotzdem er mehrere Jahre daran gearbeitet hatte, doch
  • noch immer für unvollendet ausgab, und das nach Vasaris Worten dennoch
  • von allen für das vollkommenste und vollendetste Kunstwerk erklärt
  • wurde. Am hervorragendsten waren daran die Augen, die in höchstem Maße
  • die Bewunderung aller Zeitgenossen hervorriefen. Selbst die winzigsten,
  • kaum sichtbaren Äderchen waren berücksichtigt und auf die Leinwand
  • gebannt, aber hier, bei diesem jetzt vor ihm hängenden Porträt, war es
  • noch sonderbarer. Das war keine Kunst mehr; es störte sogar die Harmonie
  • des Bildes. Das waren lebendige, menschliche Augen. Es schien, als wären
  • sie einem lebenden Antlitze entnommen und in dieses Bildnis eingesetzt.
  • Das hatte nichts mehr mit jenem hohen Genuß zu tun, den die Seele
  • angesichts eines Kunstwerkes empfindet, wie entsetzlich auch der
  • dargestellte Gegenstand sein mag. Des Beschauers bemächtigte sich
  • vielmehr nur ein krankhaftes quälendes Gefühl.
  • »Was ist das?« fragte sich der Künstler unwillkürlich. »Das ist doch in
  • der Tat Natur, lebendige Natur! Woher also dieses seltsame, unangenehme
  • Gefühl? Oder wäre die sklavische, peinliche Naturnachahmung an sich
  • schon ein Vergehen, wirkte sie wie ein greller unharmonischer Ton? Oder
  • erscheint der Gegenstand, wenn man gefühllos, gleichgültig, ohne innere
  • Anteilnahme an ihn herantritt, stets nur in seiner abschreckenden
  • Wirklichkeit -- ohne jenen Glanz eines gewissen, unbegreiflichen,
  • überall verborgenen Gedankens? -- in jener Wirklichkeit, die sich
  • offenbart, wenn wir uns, mit einem anatomischen Messer bewaffnet, einem
  • Menschen nahn, in der Erwartung, etwas Herrliches zu schaun, sein
  • Inneres bloßlegen und eines Ungeheuers gewahr werden? Warum erscheint
  • denn die einfache gemeine Natur bei einem Künstler in einer gewissen
  • Verklärung -- und man erhält keinen gemeinen Eindruck? Im Gegenteil! es
  • scheint einem, als hätte man einen großen Genuß gehabt, und alles fließt
  • und bewegt sich ruhiger und gleichmäßiger um einen herum. Und warum
  • erscheint ebendieselbe Natur bei einem anderen Künstler niedrig und
  • schmutzig, während doch auch er der Natur treu blieb? Es fehlt ihm eben
  • das Etwas, das sie verklärt. Ganz wie eine Landschaft, so herrlich sie
  • auch sein mag, doch unvollkommen erscheint, wenn kein Sonnenstrahl sie
  • erleuchtet.«
  • Er näherte sich aufs neue dem Porträt, um diese wunderbaren Augen zu
  • betrachten, und sah wieder mit Entsetzen, daß sie ihn wirklich
  • anstarrten. Das war keine Kopie nach der Natur mehr, das war jene
  • entsetzliche Lebhaftigkeit die dem Gesicht eines dem Grabe entstiegenen
  • Toten Leben gegeben hätte. War es der Mondschein, der Wahngebilde und
  • Träume mit sich brachte und jedem Ding eine andre Form verlieh als das
  • nüchterne positive Tageslicht? Oder war etwas anderes die Ursache? Es
  • wurde ihm -- er wußte selbst nicht warum -- ängstlich und bang zumute,
  • er fürchtete sich, allein im Zimmer zu bleiben. Er trat leise vom
  • Porträt zurück, wandte sich nach der andern Seite und bemühte sich, es
  • nicht anzublicken; inzwischen aber schielte sein Auge dennoch ganz wie
  • von selbst unwillkürlich nach ihm hin. Schließlich verursachte ihm sogar
  • die Regelmäßigkeit, mit der er das Zimmer durchmaß, Unruhe. Es war ihm,
  • als folgte ihm immer jemand, und jedesmal sah er sich scheu um. Jede
  • Feigheit lag ihm fern, aber seine Einbildungskraft und seine Nerven
  • waren sehr feinfühlig, und an diesem Abend konnte er sich seine
  • instinktive Furcht selbst nicht erklären. Er setzte sich in eine Ecke,
  • aber auch hier hatte er das Gefühl, als werde ihm gleich jemand über die
  • Achsel in das Gesicht schaun. Selbst Nikitas Schnarchen, das aus dem
  • Vorzimmer herüberdrang, vermochte nicht, seine Angst zu verscheuchen.
  • Endlich erhob er sich zaghaft, ohne die Augen zu erheben, von seinem
  • Platze, begab sich hinter die spanische Wand und legte sich in sein
  • Bett. Durch eine Spalte sah er das vom Monde bestrahlte Zimmer und das
  • ihm gerade gegenüber an der Wand hängende Porträt. Noch bedeutsamer
  • heftete es jetzt die Blicke auf Tschartkow, als suchte es niemand anders
  • als ihn. Voller Unruhe entschloß er sich, sein Lager zu verlassen, er
  • ergriff ein Laken, trat an das Porträt heran und hüllte es in das
  • Betttuch ein.
  • Nachdem er dies getan hatte, legte er sich ruhig wieder zu Bett und
  • begann über die Armut, über das erbärmliche Schicksal des Künstlers,
  • über den Dornenweg, der ihn in dieser Welt erwartet, nachzudenken,
  • unterdessen aber blickten seine Augen unwillkürlich durch die Spalte der
  • spanischen Wand nach dem vom Betttuch verhüllten Porträt. Der
  • Mondenschein ließ das Weiß des Lakens noch heller erscheinen, und es kam
  • Tschartkow so vor, als schimmerten die schrecklichen Augen schon durch
  • das Leinentuch hindurch. Furchtsam starrte er hin, als wollte er sich
  • davon überzeugen, daß es sich um eine Illusion handelte. Aber jetzt ...
  • tatsächlich ... jetzt steht es vor ihm ... er sieht es, sieht es ganz
  • klar. Das Laken ist nicht mehr vorhanden. Das Porträt steht ganz frei da
  • und schaut ihn über alles hinweg unverwandt an, späht geradezu in sein
  • Inneres hinein. Es wurde ihm kalt ums Herz, ... doch da sieht er mit
  • einem Male, wie der Greis sich bewegt, sich plötzlich mit beiden Händen
  • auf den Rahmen stützt, sich emporreckt und beide Beine herausstreckend,
  • aus dem Rahmen springt. Durch den Spalt des Bettschirmes war nur noch
  • ein leerer Rahmen wahrzunehmen. Die Schritte hallten im Zimmer wider und
  • näherten sich immer mehr dem Schirme. Das Herz des armen Künstlers
  • begann stärker zu pochen. Während er vor Angst kaum zu atmen wagte,
  • schien er darauf gefaßt zu sein, daß der Greis gleich den Kopf nach ihm
  • hinter den Schirm strecken würde. Und in der Tat, jetzt beugte sich sein
  • bronzefarbenes Antlitz mit den großen rollenden Augen über ihn.
  • Tschartkow versuchte voller Qual aufzuschrein, bemerkte jedoch, daß ihm
  • der Ton in der Kehle stecken blieb; er versuchte sich zu rühren, irgend
  • eine Bewegung auszuführen. Jedoch die Glieder versagten ihren Dienst.
  • Mit offenem Munde und stockendem Atem betrachtete er dieses furchtbare,
  • hochgewachsene, in ein weites asiatisches Gewand gehüllte Phantom und
  • wartete ab, was es tun würde. Der Greis ließ sich am Fußende des Lagers
  • nieder und zog etwas aus den Falten seines Kleides hervor. Es war ein
  • Geldbeutel. Er schnürte ihn auf, packte ihn an den beiden Endzipfeln,
  • schüttelte ihn ... und mit dumpfem Geräusch fielen schwere Rollen, die
  • wie längliche Säulchen aussahen, auf den Boden; jede war in blaues
  • Papier eingeschlagen und trug die Aufschrift: »Tausend Dukaten«. Seine
  • langen knochigen Finger aus den weiten Ärmeln herausstreckend, begann
  • der Alte, die Rollen zu öffnen, aus denen ihm das Gold entgegenglänzte.
  • Mit wie tödlicher Qual auch der Alpdruck auf dem Künstler lastete, er
  • war doch von dem Anblicke des Goldes ganz hingerissen und beobachtete
  • unverwandt, wie die knochigen Hände es aufrollten, wie es glänzte, fern
  • und dumpf klirrte und wie der Alte es dann wieder einhüllte. Plötzlich
  • bemerkte er eine Rolle, die abseits von den anderen unter sein Bett
  • gefallen war; fast krampfhaft ergriff er sie und spähte voller Furcht
  • danach, ob sie der Alte nicht etwa vermißte. Der Greis schien jedoch
  • sehr beschäftigt zu sein. Er suchte alle seine Rollen zusammen, legte
  • sie wieder in den Beutel und trat, ohne ihn zu beachten, hinter der
  • spanischen Wand hervor. Tschartkows Herz schlug heftig, als er hörte,
  • wie sich die Schritte im Zimmer immer mehr und mehr von ihm entfernten.
  • Er umschloß die Rolle in seiner Hand mit kräftigerem Drucke und
  • erzitterte am ganzen Körper, als er plötzlich vernahm, wie sich die
  • Schritte wieder dem Schirme näherten. Offenbar war der Alte gewahr
  • geworden, daß ihm eine Rolle fehlte, und so spähte er denn auch zu ihm
  • hinter die Wand. Voller Verzweiflung hielt der Künstler die Rolle
  • krampfhaft in seiner Hand fest, machte eine ungeheure Anstrengung, sich
  • zu bewegen, schrie auf und erwachte.
  • Kalter Schweiß bedeckte ihn am ganzen Körper. Sein Herz schlug so stark,
  • wie es nur schlagen konnte. Die Brust war wie eingeschnürt, wie wenn sie
  • den letzten Atemzug getan hätte. »War es denn wirklich ein Traum?« sagte
  • er, indem er sich mit beiden Händen an den Kopf faßte. Aber die
  • furchtbare Lebhaftigkeit der Erscheinung widersprach dieser Annahme.
  • Hatte er doch, nachdem er bereits erwacht war, gesehen, wie der Alte in
  • den Rahmen hineinschlüpfte; sogar ein Zipfel seines weiten Gewandes
  • flatterte noch vor ihm her, und seine Hand spürte deutlich, daß sie noch
  • vor einer Minute irgend einen schweren Gegenstand gehalten hatte. Der
  • Mondschein überflutete das Zimmer und ließ bald eine Staffelei, bald
  • eine fertige Haube, bald eine auf dem Stuhl vergessene Draperie, bald
  • ein Paar ungeputzte Stiefel in den finsteren Ecken hervortreten. Erst
  • jetzt bemerkte Tschartkow, daß er nicht im Bette lag, sondern dicht vor
  • dem Porträt auf seinen beiden Beinen stand. Wie er hierhin gelangt war,
  • das konnte er sich auf keine Weise erklären. Noch mehr aber setzte ihn
  • der Umstand in Erstaunen, daß das Porträt unverhüllt war -- das Laken
  • fehlte tatsächlich! -- Regungslos und voller Angst starrte er es an und
  • sah, wie sich zwei lebendige, menschliche Augen unverwandt auf ihn
  • richteten. Kalter Schweiß bedeckte sein Antlitz. Er wollte fliehen,
  • fühlte aber, daß seine Füße wie angewurzelt waren. Und nun sieht er --
  • es ist kein Traum! -- wie die Züge des Greises Bewegung gewinnen und
  • seine Lippen sich ihm entgegenspitzen, als wollten sie sich an ihn
  • festsaugen. Mit einem Schrei der Verzweiflung sprang er zurück und
  • erwachte.
  • »War auch das nur ein Traum?« fragte er sich und tastete mit den Händen
  • um sich, während sein Herz zum Zerspringen klopfte. Ja, er lag noch
  • genau in jener Lage, in der er eingeschlafen war, auf dem Bett. Vor ihm
  • stand der Schirm, das Zimmer war vom Mondschein erfüllt, und durch den
  • Spalt der spanischen Wand konnte er noch das sorgfältig mit dem Laken
  • verhüllte Porträt sehen, genau so, wie er es selbst verhüllt hatte.
  • Folglich hatte er wieder geträumt; aber die geballte Faust hatte noch
  • immer die Empfindung, daß sie irgend etwas umschlossen hielt. Sein Herz
  • klopfte stark und schrecklich. Das Gefühl, als lastete etwas auf seiner
  • Brust, war unerträglich. Er spähte durch den Spalt und betrachtete
  • unverwandt das Laken. Und nun sieht er klar und deutlich, wie dieses
  • allmählich heruntergleitet, als ob sich zwei Hände unter ihm bewegten
  • und sich bemühten, es abzustreifen. »Herr Gott, was ist denn das?« rief
  • er voller Verzweiflung, bekreuzigte sich und erwachte.
  • War auch dies ein Traum? Er sprang halb wahnsinnig, besinnungslos aus
  • dem Bett, unfähig, zu begreifen, was denn eigentlich mit ihm geschehen
  • war: ob ein Alpdrücken oder ein Spuk, ein Fieberwahn oder eine lebendige
  • Erscheinung ihn gequält hatte. In der Absicht, die seelische Erregung
  • und das stürmende Blut, das heftig durch all seine Adern rollte, zu
  • stillen, trat er ans Fenster und öffnete es halb. Ein kalter Windstoß
  • von außen her brachte ihn wieder zu sich. Der Mond bestrahlte noch immer
  • die Dächer und die weißen Mauern, wenn auch jetzt hin und wieder kleine
  • Wölkchen über den Himmel glitten. Alles war still. Nur selten drang das
  • ferne Rasseln einer Mietsdroschke an das Ohr, deren Kutscher, in
  • Erwartung eines verspäteten Fahrgastes, von seiner faulen Mähre
  • eingewiegt, in irgend einer versteckten Gasse schlummerte. Lange schaute
  • Tschartkow zum Fenster hinaus. Schon zeigten sich am Himmel die
  • Anzeichen der nahenden Morgenröte; endlich fühlte er das Bedürfnis zu
  • schlafen, er schlug das Fenster zu, entfernte sich, legte sich ins Bett
  • und schlief bald fest ein wie ein Toter.
  • Er erwachte sehr spät und hatte jenes unangenehme Gefühl, das einen
  • Menschen nach einer Kohlendunstvergiftung überfällt. Sein Kopf schmerzte
  • ihn heftig. Im Zimmer war es trübe; eine unangenehme Feuchtigkeit
  • erfüllte die Luft und drang durch die Spalten seiner Fenster, die mit
  • Bildern oder grundierten Keilrahmen verstellt waren. Mürrisch und
  • unzufrieden wie ein begossener Hahn setzte er sich auf seinen
  • verschlissenen Diwan, ohne zu wissen, was er beginnen, was er tun
  • sollte, und überdachte schließlich seinen ganzen Traum. Dabei wirkte
  • dieser in der Erinnerung so stark auf ihn, daß er sich sogar dem Argwohn
  • hingab, vielleicht hätte ihn doch nicht nur ein einfacher Traum oder
  • eine Wahnidee heimgesucht, sondern irgend etwas anderes, -- etwa eine
  • Vision. Er schob das Laken zurück und betrachtete nun dieses
  • schreckliche Porträt beim hellen Tageslicht. Die Augen wirkten in der
  • Tat durch ihr ungewöhnliches Feuer ganz erstaunlich; und doch konnte er
  • nichts Schreckliches an ihnen entdecken, nur blieb in seiner Seele eine
  • unbestimmte, unerklärliche, peinigende Empfindung zurück. Trotzdem aber
  • wollte er nicht recht daran glauben, daß es lediglich ein Traum gewesen
  • war. Es schien ihm, als enthielte seine Vision ein entsetzliches
  • Bruchstück der Wirklichkeit. Er hatte das Gefühl, als ob ein Etwas im
  • Blick und im Gesichtsausdruck des Greises ihm zuflüsterte, daß er diese
  • Nacht bei ihm gewesen sei. Seine Hand empfand noch den Druck, wie wenn
  • eine andere sich erst kurz vorher von ihr losgerissen hätte, und er kam
  • zur Überzeugung, daß die Rolle auch nach dem Erwachen noch in seiner
  • Hand gewesen wäre, wenn er sie nur fester gehalten hätte.
  • »Herrgott! wenn mir doch nur ein Teil dieses Geldes gehörte!« sagte er,
  • indem er tief aufseufzte, und er glaubte zu sehen, wie alle Rollen mit
  • der verlockenden Aufschrift »Tausend Dukaten«, die er im Traum erblickt
  • hatte, aus dem Beutel herausfielen. Sie öffneten sich, das Gold glänzte
  • und funkelte vor seinen Augen und wurde dann wieder eingewickelt, er
  • aber verharrte unbeweglich und wie von Sinnen, in die leere Luft
  • starrend, völlig unfähig, sich von diesem Gegenstande loszureißen, wie
  • ein Kind, das vor einer süßen Speise sitzt und, während ihm das Wasser
  • im Munde zusammenläuft, zusehen muß, wie sie von anderen verzehrt wird.
  • Da wurde plötzlich heftig an die Tür gepocht, was ihn wieder auf
  • unangenehme Weise in die Wirklichkeit zurückversetzte. Der Wirt trat
  • ein, und mit ihm der Polizeikommissar, dessen Erscheinen auf kleine
  • Leute bekanntlich noch widerwärtiger wirkt als das Gesicht eines
  • Bettlers auf einen Reichen. Der Wirt des kleinen Hauses, in dem
  • Tschartkow lebte, war eins jener Wesen, die irgendwo in der 15. Linie
  • der Wassilij-Insel, im Petersburger Viertel oder in einer entfernteren
  • Ecke von Kolomna ein Häuschen besitzen -- ein Geschöpf, deren es in
  • Rußland noch viele gibt und deren Charakter ebenso schwer zu bestimmen
  • ist, wie die Farbe eines abgetragenen Rockes. In seiner Jugend war er
  • Hauptmann der Infanterie und ein rechter Bramarbas gewesen, war aber
  • auch in Zivilangelegenheiten verwandt worden: ein Meister im Prügeln,
  • behend, geckenhaft und dumm; nun aber, wo er alt geworden war,
  • vereinigten sich alle diese hervorstechenden Eigenheiten zu einer
  • gewissen undeutlichen Verschwommenheit. Jetzt war er Witwer und hatte
  • schon seinen Abschied genommen; daher vernachlässigte er sein Äußeres,
  • er prahlte nicht mehr so unverschämt, war nicht mehr so arrogant und
  • liebte es nur, Tee zu trinken und dabei allerlei Unsinn
  • zusammenzuschwatzen; er ging beständig im Zimmer auf und ab, putzte die
  • Talgkerze, besuchte pünktlich nach Ablauf jedes Monats seine Mieter
  • wegen des Mietzinses, trat öfters mit dem Schlüssel in der Hand auf die
  • Straße hinaus, um einen Blick auf das Dach seines Hauses zu werfen, und
  • vertrieb seinen Portier beständig aus seiner Kammer, in der dieser
  • gewöhnlich sein Lager aufschlug: mit einem Wort, es war einfach ein Mann
  • im Ruhestande, der nach einem langen liederlichen Leben, währenddessen
  • er so oft strapaziöse Reisen in Postkutschen machen mußte, nichts
  • zurückbehalten hatte als ein paar platte Gewohnheiten.
  • »Sehen Sie doch selbst, Waruch Kusmitsch!« meinte der Wirt, indem er
  • sich an den Polizeikommissar wandte und mit den Armen eine bezeichnende
  • Geste vollführte; »er bezahlt die Wohnung nicht, er zahlt nun einmal
  • nicht!«
  • »Was soll ich denn machen, wenn ich kein Geld habe? Warten Sie doch nur,
  • ich werde schon bezahlen!«
  • »Ich kann nicht warten, Väterchen,« erwiderte der Wirt heftig und
  • klopfte mit dem Schlüssel, den er in der Hand hielt, auf den Tisch. »Der
  • Oberstleutnant Potogonkin wohnt schon sieben Jahre lang in meinem Hause;
  • Anna Petrowna Buchmisterowa hat mir eine Scheune und einen Stall für
  • zwei Pferde abgemietet: eine Frau, die drei Dienstboten hat! Da sehen
  • Sie, was für Mieter ich habe. Offengestanden, bei mir ist es nicht
  • Sitte, daß man mir den Zins schuldig bleibt. Wollen Sie sofort das Geld
  • bezahlen und dann die Wohnung räumen.«
  • »Ja, wenn Sie sich dazu verpflichtet haben, dann müssen Sie auch
  • zahlen,« meinte der Polizeikommissar, indem er leicht den Kopf
  • schüttelte und den Zeigefinger zwischen zwei Knöpfe seines Uniformrockes
  • steckte.
  • »Aber womit soll ich denn bezahlen? Das ist doch eben die Frage. Ich
  • verfüge jetzt noch nicht über einen Pfennig.«
  • »In diesem Falle müssen Sie Iwan Iwanowitsch durch die Erzeugnisse Ihrer
  • Kunst sicherstellen,« meinte der Kommissar. »Er wird vielleicht damit
  • einverstanden sein, sich die Miete in Bildern bezahlen zu lassen.«
  • »Nein, Väterchen, ich danke schön für die Bilder! Wären es noch Gemälde
  • von vornehmem Inhalt, so daß man sie an die Wand hängen könnte, ... etwa
  • ein General mit einem Stern, oder ein Porträt des Fürsten Kutusow! Aber
  • da malt er sich hier einen Bauern im Hemde hin, seinen Diener, der ihm
  • die Farben reibt! Noch ein Bild von dem Schwein zu malen! Ich werde ihm
  • den Buckel vollhauen! Er hat mir alle Nägel aus den Riegeln
  • herausgezogen. Dieser Schuft! Sehen Sie nur, was für Gegenstände er sich
  • wählt. Da malt er sein Zimmer! Hätte er noch wenigstens eine saubere,
  • aufgeräumte Stube genommen! Aber wie das hier gemalt ist! Mit dem ganzen
  • Schmutz und Dreck, der überall herumliegt! Sehen Sie mal, wie er mir das
  • Zimmer versaut hat! Wollen Sie doch selbst sehen. Bei mir wohnen die
  • Mieter sieben Jahre lang, ein Oberst und Frau Buchmisterowa, Anna
  • Petrowna ... Wahrhaftig, ich muß Ihnen gestehen, es gibt keinen
  • schlimmeren Mieter als einen Maler ... Der lebt wie ein Schwein! ...
  • Einfach wie ein ..., Gott soll mich davor bewahren!«
  • Und dies alles mußte der arme Maler geduldig anhören. Der
  • Polizeikommissar beschäftigte sich inzwischen mit der Prüfung der Bilder
  • und Skizzen und bekundete hierbei, daß er eine lebendigere Seele hatte
  • als der Wirt, und sogar für künstlerische Eindrücke nicht ganz
  • unempfänglich war.
  • »He,« sagte er, während er mit dem Finger gegen eine Leinwand klopfte,
  • auf der ein nacktes Frauenzimmer dargestellt war, »dieser Gegenstand ist
  • ja recht pikant, ... und dieser Kerl hier, weshalb ist denn der so
  • schwarz unter der Nase? Hat er sich etwa mit Tabak beschmutzt? Wie?«
  • »Das ist ein Schatten!« antwortete Tschartkow herb und ohne ihn
  • anzusehen.
  • »Nun, den könnte man auch wo anders hinsetzen! Unter der Nase fällt es
  • doch gar zu sehr auf,« sagte der Kommissar. »Und wessen Porträt ist dies
  • hier?« fuhr er fort, indem er sich dem Bilde des Greises näherte. »Der
  • ist ja entsetzlich! War er denn wirklich so schrecklich? Mein Gott, der
  • starrt einen ja geradezu an! Sieh einmal, was für Blitze der schleudert!
  • Wer hat Ihnen denn dazu Modell gesessen?«
  • »Ach, das ist ein ...,« sagte Tschartkow, doch er sprach den Satz nicht
  • zu Ende.
  • Man vernahm ein Krachen ... Der Kommissar hatte offenbar infolge des
  • ungeschlachten Baues seiner polizeilichen Hände den Rahmen des Bildes zu
  • fest angepackt. Die Leisten an der Seite waren eingedrückt, die eine
  • fiel auf den Boden, und mit ihr flog klirrend eine in blaues Papier
  • gehüllte Rolle heraus. Die Aufschrift »Tausend Dukaten« sprang
  • Tschartkow in die Augen. Wie wahnsinnig stürzte er herbei, um sie
  • aufzuheben, ergriff die Rolle und umschloß sie krampfhaft mit einer
  • Hand, die sich mit der schweren Last herabsenkte.
  • »Es klang doch hier wie Geld!« sagte der Kommissar, der etwas Klirrendes
  • hatte auf den Boden fallen hören und den die Schnelligkeit, mit der
  • Tschartkow herbeistürzte, daran hinderte, genau zu erkennen, was es war.
  • »Und was geht Sie das an? Was brauchen Sie zu wissen, was ich hier
  • habe?«
  • »Das geht mich deshalb was an, weil Sie dem Wirt sofort die Miete zahlen
  • müssen! Weil Sie Geld haben, aber nichts zahlen wollen!«
  • »Also gut, ich werde ihn heute bezahlen!«
  • »Warum wollten Sie dann aber nicht schon früher bezahlen? Wozu mußten
  • Sie den Wirt beunruhigen und die Polizei belästigen?«
  • »Weil ich dieses Geld nicht angreifen möchte! Ich werde ihm heute abend
  • alles bezahlen und sofort die Wohnung räumen, weil ich bei einem solchen
  • Wirte nicht mehr bleiben will.«
  • »Nun also, Iwan Iwanowitsch, er wird Ihnen alles bezahlen,« sagte der
  • Kommissar, sich an den Wirt wendend. »Wenn es sich jedoch herausstellt,
  • daß Sie heute abend nicht gebührend befriedigt werden, dann sollte es
  • mir sehr leid tun, Herr Maler!«
  • Sprach's, setzte seinen Dreispitz auf und ging zum Flur hinaus. Der Wirt
  • folgte ihm mit gesenktem Kopf und anscheinend etwas nachdenklich auf dem
  • Fuße.
  • »Gott sei Dank, der Teufel hat sie geholt!« sagte Tschartkow, als er
  • hörte, daß die Tür des Vorzimmers sich hinter ihnen geschlossen hatte.
  • Er warf noch einen Blick in den Flur, schickte Nikita fort, um ganz
  • allein zu bleiben, schloß die Tür hinter ihm ab und begann, nachdem er
  • wieder in sein Zimmer zurückgekehrt war, unter heftigem Herzklopfen die
  • Rolle zu öffnen. Wahrhaftig! sie enthielt lauter glänzende Dukaten, die
  • alle ohne Ausnahme neu geprägt waren und wie Feuer funkelten! -- Wie
  • wahnsinnig hockte er über dem Goldhaufen und fragte sich immer und immer
  • wieder: »Ist das alles nicht doch nur ein Traum?« Die Rolle enthielt
  • genau tausend Goldstücke. Äußerlich glichen sie völlig denen, die er im
  • Traum gesehen hatte. Einige Minuten wühlte er prüfend in ihnen herum und
  • konnte sich noch immer nicht beruhigen. In seiner Phantasie lebten
  • plötzlich alle Geschichten von Schätzen und Schatullen mit Geheimfächern
  • auf, die vorsorgliche Ahnen ihren Enkeln in der sicheren Voraussicht
  • ihres zukünftigen Ruins hinterlassen hatten. Er dachte sich: »Vielleicht
  • hatte auch in diesem Falle irgend ein Großvater den Einfall, seinem
  • Enkel ein Geschenk zu hinterlassen, indem er es in dem Rahmen eines
  • Familienporträts verbarg.« Voll von romantischen Vorstellungen fing er
  • sogar an, darüber nachzudenken, ob nicht etwa zwischen diesem Vorfall
  • und seinem Schicksale irgend eine geheime Verbindung bestände, ob nicht
  • gar dieses Porträt irgendwie mit seinem Leben verknüpft wäre, und ob es
  • nicht von einer geheimnisvollen Macht vorausbestimmt gewesen sei, daß er
  • es erwerben sollte. Neugierig betrachtete er den Rahmen des Porträts. An
  • einer Seite war eine Rinne ausgehöhlt, die so geschickt und unmerklich
  • von einem Brettchen verdeckt wurde, daß die Dukaten hier bis in alle
  • Ewigkeit ungestört verblieben wären, hätte nicht die gründliche Hand des
  • Polizeikommissars dort einen Einbruch verübt. Er betrachtete das Porträt
  • und bewunderte immer wieder die vollkommene Arbeit und die ungewöhnliche
  • Zeichnung der Augen. Jetzt kamen sie ihm gar nicht mehr schrecklich vor,
  • ließen jedoch noch immer ein unangenehmes Gefühl in seinem Innern
  • zurück. »Nein,« sagte er zu sich selbst, »wessen Großvater du auch sein
  • magst, ich werde dich doch mit Glas bedecken und dir einen goldenen
  • Rahmen anfertigen lassen.« Hierbei ließ er die Hand auf den vor ihm
  • liegenden Goldhaufen fallen und sein Herz begann infolge dieser
  • Berührung heftig zu pochen. »Was nun tun?« dachte er, während er die
  • Blicke auf das Geld richtete. »Jetzt bin ich mindestens für drei Jahre
  • gesichert, ich kann mich in meiner Mansarde einschließen und arbeiten.
  • Jetzt habe ich Geld genug für Farben, Essen, Trinken, Tee, und für die
  • sonstigen Lebensbedürfnisse sowie für die Wohnung. Stören und belästigen
  • wird mich jetzt niemand mehr. Ich werde mir eine vorzügliche
  • Gliederpuppe kaufen, werde mir einen Gipstorso bestellen, werde mir Füße
  • modellieren lassen, eine Venus aufstellen, Stiche nach den besten
  • Bildern anschaffen, und, wenn ich dann diese drei Jahre für mich allein
  • ohne Übereilung und ohne an den Verkauf zu denken, arbeite, überhole ich
  • alle meine Kollegen und kann ein tüchtiger Künstler werden.«
  • So sprach er im Einklang mit der Vernunft, die ihm diesen guten Vorsatz
  • eingab. Aber aus seinem Inneren ertönte eine andere Stimme vernehmlicher
  • und klangvoller, und als er noch einmal auf das Gold blickte, da
  • erwachten ganz andere Gefühle in ihm: die Bedürfnisse seiner
  • zweiundzwanzig Jahre, die Sehnsucht einer stürmenden Jugend! Jetzt war
  • alles in seiner Macht, was er bisher nur mit neiderfüllten Augen
  • angeschaut, was er nur von der Ferne bewundert hatte, während ihm das
  • Wasser im Munde zusammenlief. Hei, wie ihm das Herz zu pochen begann,
  • als er nur daran dachte, sich einen modernen Frack anzuziehn, nach dem
  • langen Fasten endlich einmal über die Stränge zu schlagen, sich eine
  • schöne Wohnung zu mieten und sich sogleich ins Theater und in eine
  • Konditorei zu begeben. Er steckte das Geld in die Tasche und trat auf
  • die Straße hinaus.
  • Vor allem ging er zum Schneider, ließ sich vom Kopf bis zu den Füßen neu
  • einkleiden, wobei er sich unaufhörlich wie ein Kind anstaunte, kaufte
  • Parfüms und Pomade, mietete sich -- ohne lange zu handeln -- eine
  • vornehme Wohnung auf dem Newski-Prospekt mit Spiegeln und großen
  • Fensterscheiben, erstand ebenfalls, ohne sich zu besinnen in einem Laden
  • eine teure Lorgnette und eine Unmenge von Krawatten, -- weit mehr als er
  • überhaupt nötig hatte --, ließ sich von einem Friseur die Locken
  • kräuseln, fuhr zweimal in einer eleganten Equipage ohne jeden Zweck
  • durch die Stadt, aß sich in einer Konditorei an Konfitüren satt, und
  • ging dann ins Restaurant »Zum Franzosen«, von dem er bis jetzt nicht
  • mehr Ahnung hatte als von dem Reiche der Mitte. Dort speiste er stolz
  • wie ein Spanier, warf hochmütige Blicke auf seine Mitgäste und strich
  • sich vor dem Spiegel unaufhörlich die gebrannten Locken zurecht; er
  • trank sogar eine Flasche Champagner, den er bis dahin ebenfalls nur vom
  • Hörensagen kannte. Der Wein benebelte sein Hirn ein wenig, und so trat
  • er denn animiert, angeheitert und keck oder wie man in Rußland zu sagen
  • pflegt: »Selbst dem Teufel kein Bruder!« auf die Straße. Wie ein Geck
  • spazierte er den Bürgersteig entlang und warf nachlässige Blicke durch
  • seine Lorgnette auf die Passanten; auf der Brücke gewahrte er seinen
  • früheren Professor und huschte keck an ihm vorbei, als hätte er ihn gar
  • nicht bemerkt, so daß der verdutzte Professor noch lange unbeweglich
  • stehen blieb wie ein personifiziertes Fragezeichen ...
  • Alle seine Sachen und alles, was er noch besaß, die Staffelei, die
  • Bilder, die Leinewand, hatte er noch am selben Abend in seine
  • prachtvolle Wohnung bringen lassen; das Bessere stellte er an
  • exponierten Stellen auf, das Minderwertige warf er in die Ecke; dann
  • schritt er in den glänzenden Zimmern auf und ab wie ein Pfau, wobei er
  • sich unaufhörlich im Spiegel betrachtete. In seiner Seele erwachte
  • sofort das unüberwindliche Verlangen, den Ruhm bei den Haaren zu packen
  • und sich der ganzen Welt zu zeigen. Schon war es ihm, als hörte er Rufe
  • wie die folgenden: »Tschartkow! Tschartkow! Haben Sie das Bild von
  • Tschartkow gesehen? Über was für eine rasche Pinselführung doch der
  • Tschartkow verfügt! Was für ein mächtiges Talent dieser Tschartkow
  • besitzt!« Verträumt ging er wieder durch sein Zimmer und war bald in wer
  • weiß welche Regionen entrückt. Gleich am andern Tage begab er sich mit
  • einem Dutzend Dukaten zu dem Herausgeber eines vielgelesenen Blattes, um
  • sich dessen großmütigen Beistand zu erbitten; er wurde von dem
  • Journalisten, der ihn sofort »Geehrter Herr« anredete, ihm beide Hände
  • drückte, und sich eingehend nach seinem Vor- und Vatersnamen und nach
  • seiner Adresse erkundigte, aufs gastfreundlichste empfangen, -- und
  • schon am nächsten Tage erschien in der Zeitung gleich hinter einer
  • Ankündigung von neu in den Handel gebrachten Talgkerzen ein Artikel mit
  • folgender Überschrift:
  • »_Ein ungewöhnliches Talent!_ Der Maler Tschartkow.
  • Wir beehren uns, die gebildeten Einwohner der Hauptstadt mit einer --
  • man kann ruhig sagen -- in jeder Beziehung herrlichen und
  • außerordentlichen Entdeckung zu erfreuen. Alle sind darin einig, daß wir
  • viele bezaubernde Physiognomien und Gesichter von wunderbarer Schönheit
  • besitzen, nur gab es bis jetzt kein Mittel, sie auf die wundertätige
  • Leinewand zu übertragen und sie dadurch der Nachkommenschaft zu
  • erhalten. Jetzt ist diesem Mangel abgeholfen. Ein Künstler ist uns
  • erstanden, der alles in sich vereinigt, was uns not tut. Von nun ab darf
  • jede Schönheit fest davon überzeugt sein, daß sie sich mit der ganzen
  • Grazie ihres ätherischen, leichten, faszinierenden und wunderbaren
  • Reizes im Porträt wiederfinden wird ... Der ehrwürdige Familienvater
  • wird sich von seiner Familie umgeben erblicken, der Kaufmann, der
  • Krieger, der Bürger, der Staatsmann können ihre glorreiche Laufbahn
  • ruhig fortsetzen. Eilt, eilt alle von einem Fest, von einem
  • Spaziergange, von einem Besuche bei einem Freunde, bei einer Kusine,
  • oder aus einem eleganten Laden, eilt hin zu ihm, zu diesem großen
  • Künstler. Das herrliche Atelier des Malers Newski-Prospekt Nr. .. steckt
  • voller Porträts, die von seinem Pinsel herrühren und eines Van Dyck oder
  • Tizian würdig sind. Man weiß nicht, worüber man sich mehr wundern soll:
  • über den Realismus, die Ähnlichkeit mit den Originalen, oder über die
  • ungewöhnliche Kraft und Frische der Pinselführung. Preis Dir, mein
  • Künstler, Du hast das große Los gezogen. Vivat, Andrei Petrowitsch! (Der
  • Journalist hatte anscheinend viel für das Familiäre übrig.) Bedecke Dich
  • und uns mit ewigem Ruhme, wir wissen es wohl, Dich zu würdigen;
  • allgemeines Aussehen, ein gewaltiger Zuspruch und zugleich damit
  • Reichtum und Wohlstand -- obwohl sich einige Journalisten aus unserer
  • Mitte auch dagegen auflehnen werden -- wird Dein Lohn sein.«
  • Mit heimlichem Vergnügen sah der Künstler diese Anzeige; sein Gesicht
  • strahlte. In der Presse wurde über ihn geredet, das war etwas ganz Neues
  • für ihn. Mehrere Male hintereinander überlas er die Zeilen. Der
  • Vergleich mit Van Dyck und Tizian schmeichelte ihm sehr. Der Satz »Vivat
  • Andrei Petrowitsch« erweckte ebenfalls sein Wohlgefallen. Er wurde auf
  • bedrucktem Papier mit Vor- und Vaternamen genannt, eine Ehrung, die er
  • bis dahin noch nicht gekannt hatte. Er begann rasch, im Zimmer auf- und
  • abzugehen, und sich mit den Fingern durch die Haare zu fahren; bald
  • setzte er sich in ein Fauteuil, bald sprang er wieder auf und ließ sich
  • auf dem Diwan nieder, indem er sich fortwährend vorstellte, wie er die
  • Besucher empfangen würde, dann trat er an eine Leinewand heran und
  • pinselte keck darauf los, immer bestrebt, der Hand recht graziöse
  • Bewegungen abzulocken.
  • Schon am folgenden Tage schellte es an der Türe, und er beeilte sich,
  • sie zu öffnen. Eine Dame, in Begleitung eines Lakaien in einer
  • pelzgefütterten Livree, und ihrer Tochter, eines jungen achtzehnjährigen
  • Mädchens, betrat das Atelier.
  • »Sind Sie Monsieur Tschartkow?« fragte die Dame. Der Künstler verneigte
  • sich.
  • »Es wird soviel über Sie geschrieben; Ihre Porträts sollen der Gipfel
  • der Vollkommenheit sein.« Nach diesen einleitenden Worten bewaffnete die
  • Dame ihr Auge mit einem Lorgnon und ließ die Blicke schnell über die
  • nackten Wände gleiten. »Und wo sind Ihre Porträts?«
  • »Man hat sie soeben abgeholt,« sagte der Künstler etwas verlegen. »Ich
  • bin erst vor kurzem in diese Wohnung gezogen, und so kommt es, daß sie
  • noch unterwegs sind ... sie sind noch nicht angekommen.«
  • »Waren Sie in Italien?« fragte die Dame, indem sie ihr Lorgnon in
  • Ermangelung eines andern Objektes für ihre Beobachtungen auf ihn selbst
  • richtete.
  • »Nein, ich war nicht dort, ich hatte aber immer die Absicht ... Übrigens
  • habe ich es jetzt aufgeschoben ... Bitte hier ist ein Fauteuil ... Sind
  • Sie nicht müde?«
  • »Danke, ich habe sehr lange in meiner Equipage gesessen. Ah, hier!
  • Endlich sehe ich eine Arbeit von Ihnen,« sagte die Dame, während sie an
  • die gegenüberliegende Wand eilte und ihr Lorgnon auf die dort lehnenden
  • Skizzen, Perspektiven und Porträts richtete. »_C'est charmant, Lise,
  • venez-ici!_ Ein Zimmer im Stile von Teniers. Sieh doch diese Unordnung!
  • Ein Tisch ... auf dem eine Büste steht, eine Hand, eine Palette ...
  • Dieser Staub hier, siehst du, wie der Staub gemalt ist? _C'est
  • charmant!_ -- Und hier eine andere Leinwand: eine Frau, die sich das
  • Gesicht wäscht ... _Quelle jolie Figure!_ ... Ach, ein Bäuerlein! Liese,
  • Liese ... ein Bäuerlein im russischen Hemd. Schau her, ein Bäuerlein!
  • ... Also Sie malen nicht nur Porträts?«
  • »O, das ist nur eine Bagatelle, ein Scherz! Lauter Skizzen!«
  • »Sagen Sie bitte, was halten Sie von den heutigen Porträtisten? Nicht
  • wahr, es gibt jetzt keinen solchen mehr, wie Tizian? Keine solche Kraft
  • in der Farbengebung ... Keine solche ... wie schade, daß ich es Ihnen
  • nicht russisch sagen kann. (Die Dame war eine Liebhaberin der Malerei
  • und hatte bewaffnet mit ihrem Lorgnon alle Galerien Italiens
  • durchwandert.) Allerdings Monsieur Nohl! Ach, wie der malt! Was für eine
  • ungewöhnliche Pinselführung! Ich finde, daß in seinen Gesichtern sogar
  • noch mehr Ausdruck enthalten ist, als in denen Tizians. Kennen Sie
  • Monsieur Nohl?«
  • »Wer ist dieser Nohl?« fragte der Maler.
  • »Monsieur Nohl? oh, das ist ein Talent! Er hat meine Tochter gezeichnet,
  • als sie noch zwölf Jahre alt war. Sie müssen unbedingt zu uns kommen --
  • Liese, du wirst ihm dein Album zeigen! Wissen Sie, wir sind in der
  • Meinung hierhergekommen, daß Sie sofort ein Porträt von Liese in Angriff
  • nehmen würden.«
  • »Aber mit Vergnügen, ich stehe Ihnen sogleich zu Diensten.« Sofort schob
  • er die Staffelei mit einem präparierten Keilrahmen heran, nahm die
  • Palette in die Hand und heftete den Blick auf das blasse Gesichtchen der
  • Tochter. Wäre er ein Kenner der menschlichen Natur gewesen, er hätte in
  • diesem Gesichte sogleich die ersten Spuren einer kindlichen Leidenschaft
  • für Bälle, einer peinigenden Unzufriedenheit über die Länge der Zeit vor
  • und nach dem Mittagessen, den Wunsch, sich in einem gewissen Kleide auf
  • einem Gartenfest sehen zu lassen, die drückenden Folgen eines
  • erheuchelten Eifers für die verschiedensten Künste, zu dem sie die
  • Mutter zur Erbauung der Seele und Erhebung des Gefühls zwang, bemerkt.
  • Allein der Künstler entdeckte in diesem zarten Antlitz nichts wie eine
  • lockende Aufgabe für seinen Pinsel: eine fast porzellanartige
  • Durchsichtigkeit des Körpers, ein entzückendes leichtes Vibrieren, ein
  • dünnes, zartes Hälschen und eine aristokratische Zierlichkeit der Figur.
  • Und er bereitete sich schon im voraus auf einen Triumph; endlich war die
  • Gelegenheit da, den Schwung und den Glanz seines Pinsels, der sich bis
  • dahin nur an den rohen Zügen ordinärer Modelle, an langweiligen Antiken
  • und Kopien nach einigen klassischen Meistern versucht hatte, zu
  • offenbaren. Und er stellte sich schon vor, wie dieses duftige Gesicht
  • ihm von der Leinwand entgegenblicken werde.
  • »Wissen Sie,« sagte die Dame mit einem fast rührenden Ausdruck, »ich
  • möchte ... sie hat jetzt dieses Kleid an ... mir wäre es offengestanden
  • lieber, daß sie ein Kleid trüge, an das wir schon gewöhnt sind. Es wäre
  • mir lieb, wenn sie ganz einfach gekleidet wäre und im Schatten eines
  • Baumes säße ... mit einer Wiese im Hintergrunde und mit der Aussicht auf
  • eine weidende Herde oder einen Hain, ich möchte nicht, daß es so
  • aussähe, als fahre sie irgend wohin zu einem Ball oder zu einer
  • modischen Soirée ... Offengestanden, unsere Bälle töten die Seele so
  • sehr und morden jeden letzten Rest eines Gefühls; Einfachheit, mehr
  • Einfachheit! Nicht wahr?« Doch ach, leider konnte man es sowohl der
  • Mutter wie der Tochter vom Gesicht ablesen, daß sie sich alle beide auf
  • allerhand Bällen so müde getanzt hatten, daß sie beinahe wie Wachs
  • anzuschauen waren.
  • Tschartkow machte sich ans Werk, ordnete die Haltung seines Modells an,
  • überlegte sich alles reiflich, nahm mit dem Pinsel das Maß, kniff das
  • eine Auge ein wenig zu, warf den Kopf zurück, fixierte die junge Dame
  • von weitem und begann zunächst eine Skizze zu entwerfen, die er in einer
  • Stunde beendigte. Da er mit seiner Arbeit zufrieden war, machte er sich
  • sofort an die eigentliche Ausführung. Das Schaffen riß ihn vollkommen
  • hin, er hatte sogar schon die Gegenwart der aristokratischen Damen
  • vergessen, kehrte hin und wieder zu seinen Bohèmegepflogenheiten zurück,
  • indem er sich durch einige Ausrufe anfeuerte, und machte zuweilen
  • halblaute Bemerkungen, wie es so die Art eines Künstlers ist, wenn er
  • sich mit ganzer Seele seinem Werke hingibt. Ohne viel Umstände zu
  • machen, ließ er auf einen Wink des Pinsels hin das Modell, das sich
  • schließlich zu bewegen begann und eine starke Müdigkeit erkennen ließ,
  • den Kopf hochheben.
  • »Genug, fürs erste Mal wird es wohl genug sein!« sagte die Dame. »Nein
  • bitte, noch ein wenig,« bat der eifrige Maler.
  • »Nein, es ist Zeit! Liese, es ist schon 3 Uhr!« versetzte die Dame, zog
  • ihre kleine, an einer goldnen Kette vom Gürtel herabhängende Uhr hervor
  • und rief ganz überrascht aus: »Ach wie spät!«
  • »Nur noch ein Augenblickchen,« sagte Tschartkow mit der einfältigen und
  • bittenden Gebärde eines Kindes.
  • Jedoch die Dame war diesmal offenbar nicht geneigt, seinen
  • künstlerischen Wünschen nachzugeben, versprach ihm aber dafür, ein
  • anderes Mal länger zu bleiben.
  • »Das ist doch ärgerlich!« dachte Tschartkow, »meine Hand war gerade in
  • Schwung gekommen.« Und er erinnerte sich daran, wie er von niemandem
  • gestört und gehindert wurde, als er noch in seinem Atelier auf der
  • Wassilij-Insel arbeitete. Nikita pflegte gewöhnlich ganz regungslos auf
  • einem Flecke zu sitzen, man konnte ihn malen, so lange man wollte, ja,
  • er schlief sogar in der gewünschten Stellung ein. Unzufrieden legte
  • Tschartkow Pinsel und Palette auf den Stuhl und blieb verdrießlich vor
  • der Leinwand stehn.
  • Ein Kompliment der vornehmen Dame weckte den Nachdenklichen aus seinem
  • Traume, er stürzte schnell zur Tür, um die Damen hinauszugeleiten. Auf
  • der Treppe erhielt er die Einladung, in der nächsten Woche bei ihnen zu
  • dinieren, und kehrte mit fröhlicher Miene in sein Zimmer zurück. Die
  • aristokratische Dame hatte ihn vollkommen bezaubert -- bis dahin hatte
  • er solche Geschöpfe als etwas für ihn Unerreichbares angesehen, als
  • Wesen, die nur dazu geboren sind, in prächtigen Equipagen mit Dienern in
  • kostbaren Livreen und gallonierten Kutschern an armen Sterblichen, wie
  • er, vorbeizusausen und einen im verschlissenen Mantel zu Fuß
  • einherschreitenden Burschen mit einem gleichgültigen Blick zu streifen.
  • Mit einem Male aber war eines dieser Wesen zu ihm in seine Wohnung
  • gekommen; er malte dessen Porträt und war zu einem Diner in ein
  • aristokratisches Haus eingeladen. Eine ganz ungewöhnliche Zufriedenheit
  • bemächtigte sich seiner, er war vollständig trunken vor Freude und
  • belohnte sich für seine gute Laune mit einem famosen Souper, einem
  • Theaterbesuch und einer nochmaligen ziellosen Spazierfahrt in einer
  • Equipage durch die Stadt.
  • Während all dieser Tage kam ihm seine gewohnte Arbeit gar nicht in den
  • Sinn; er war nur mit Vorbereitungen auf den Besuch beschäftigt, und
  • wartete auf den Augenblick, wo die Glocke zu ertönen pflegte. Endlich
  • erschien die Dame mit ihrer blassen Tochter wieder. Er ließ sie Platz
  • nehmen, rückte die Leinewand schon mit einer gewissen Sicherheit und mit
  • den Prätensionen eines Mannes von feinen Manieren zurecht, und begann
  • seine Arbeit. Der sonnige Tag und die gute Beleuchtung leisteten ihm
  • große Dienste. Er entdeckte an seinem duftigen Modell eine Menge von
  • Einzelheiten, deren Beachtung und Fixierung auf der Leinewand dem
  • Porträt einen hohen Wert verleihen konnten. Er sah, daß es wohl möglich
  • war, etwas Besonderes zu leisten, wenn er alles so vollkommen
  • darzustellen vermochte, wie es ihm jetzt in der Natur entgegentrat. Sein
  • Herz fing leicht zu klopfen an, weil er die Kraft in sich fühlte, etwas,
  • was andere noch nicht bemerkt hatten, zum Ausdruck zu bringen. Die
  • Arbeit nahm ihn ganz in Anspruch, er gab sich ihr völlig hin und vergaß
  • bald wieder die aristokratische Herkunft des Originals; mit benommenem
  • Atem stellte er fest, wie die zarten Züge und der fast durchsichtige
  • Körper des siebenzehnjährigen Mädchens allmählich auf der Leinwand
  • erschienen. Keine noch so zarte Nuance entging ihm, er traf den leichten
  • gelben Ton, einen kaum merklichen bläulichen Schimmer unter den Augen --
  • und war sogar schon im Begriff, einen kleinen Pickel, der sich auf der
  • Stirne befand, zu verzeichnen, als er plötzlich neben sich die Stimme
  • der Mutter vernahm. »Ach nein, wozu nur? Das ist nicht nötig! Auch hier
  • haben Sie ... hier an einigen Stellen scheint es mir etwas zu gelb zu
  • sein, und auch dies sieht ganz aus, wie ein dunkler Flecken.« Der Maler
  • fing an zu erklären, daß sich gerade diese Pünktchen und die gelbe Farbe
  • besonders gut machten, weil sie im Gesicht als angenehme und leichte
  • Töne wirkten. Er erhielt jedoch zur Antwort, daß das überhaupt keine
  • Töne seien, daß sie sich garnicht gut ausnähmen, und daß es ihm nur so
  • vorkäme. »Aber so erlauben Sie mir doch wenigstens, hier, an dieser
  • einen Stelle, etwas Gelb aufzutragen!« bat der Künstler mit harmloser
  • Miene. Indessen gerade das wurde ihm nicht erlaubt. Man erklärte ihm,
  • daß Liese heute bloß nicht in Stimmung sei, daß sie sonst ganz und gar
  • nicht gelb aussehe, und daß ihr Gesicht im Gegenteil durch die Frische
  • seines Teints überrasche. Traurig machte er sich daran, die
  • beanstandeten Spuren seines Pinsels von der Leinewand zu tilgen. Viele
  • fast unmerkliche Züge mußten schwinden, und mit Ihnen schwand zum Teil
  • auch die Ähnlichkeit dahin. Gleichgültig begann er dem Bilde jenes
  • konventionelle Kolorit mitzuteilen, das sich von vornherein ganz
  • mechanisch und wie von selbst einstellt und auch einem nach der Natur
  • gemalten Gesicht eine gewisse kühle Idealität verleiht, wie wir sie auf
  • Schülerprogrammen antreffen. Die Dame war jedoch sehr zufrieden, daß
  • nunmehr das Verletzende der Farbengebung gänzlich vermieden wurde. Sie
  • drückte nur ihr Erstaunen darüber aus, daß die Arbeit so langsam vor
  • sich ging, und fügte hinzu, sie hätte gehört, er könnte schon in zwei
  • Sitzungen ein vollständiges Porträt malen. Der Maler fand hierauf keine
  • Antwort. Die Damen erhoben sich und wollten fortgehen. Er legte den
  • Pinsel nieder, geleitete sie bis an die Tür und blieb lange Zeit in
  • trüber Stimmung vor seinem Porträt stehen.
  • Er starrte es stumm und gedankenlos an; inzwischen aber schwebten jene
  • zarten weiblichen Züge, jene Schatten und luftigen Töne, die er bemerkt,
  • und die sein Pinsel dann so schonungslos vernichtet hatte, vor seinem
  • Auge. Ganz von ihnen erfüllt, stellte er das Porträt beiseite und suchte
  • aus irgend einer Ecke seine »Psyche« hervor, die er vor längerer Zeit
  • einmal flüchtig skizziert hatte. Es war ein graziös hingemaltes, aber
  • rein ideales und kaltes Gesichtchen, das bloß allgemeine und wenig
  • charakteristische Züge aufwies und noch auf keinem lebendigen Körper
  • saß. Er begann diese Züge mit dem Pinsel nachzuziehen, während er sich
  • dabei an alles erinnerte, was sein scharfes Auge an dem Antlitze seiner
  • aristokratischen Besucherin bemerkt hatte. Die von ihm erfaßten Linien,
  • Schatten und Töne nahmen hierbei jene verklärte Form an, wie sie dem
  • Künstler erscheinen, wenn er die Natur genügend in sich aufgenommen hat,
  • sich nunmehr von ihr entfernt und ein ihr ebenbürtiges Werk schafft. Die
  • Psyche lebte allmählich wieder auf, und der Gedanke, der ihn kaum
  • flüchtig bewegt hatte, nahm wieder Fleisch und Blut an. Der
  • Gesichtstypus der vornehmen jungen Dame teilte sich von selbst der
  • Psyche mit, und dadurch erhielt sie einen eigenartigen Ausdruck, der ihr
  • das Recht auf den Namen eines wahrhaft originellen Werkes verleihen
  • durfte. Er hatte gleichsam in den Einzelheiten und im Ganzen ausgenutzt,
  • was ihm das Original bot, und war von seiner Arbeit vollkommen
  • hingerissen. Einige Tage lang beschäftigte er sich nur mit ihr, da
  • überraschte ihn zufällig das Eintreten der bekannten Damen bei dieser
  • Arbeit. Er hatte keine Zeit, das Bild von der Staffelei zu entfernen;
  • die beiden Damen stießen einen frohen Ruf des Erstaunens aus und
  • schlugen die Hände zusammen.
  • »_Lise, Lise!_ ach, wie ähnlich! _Superbe, superbe!_ Was für ein schöner
  • Einfall, sie in einem griechischen Kostüm zu malen! Welche
  • Überraschung!«
  • Der Künstler wußte nicht, wie er die Damen über ihren angenehmen Irrtum
  • aufklären sollte. Verlegen und mit gesenktem Kopf bemerkte er leise:
  • »Das ist Psyche!«
  • »Als Psyche? _C'est charmant!_« sagte die Mutter lächelnd zu ihrer
  • gleichfalls lächelnden Tochter. »Nicht wahr, _Lise_, so machst du dich
  • am besten, so als Psyche, nicht? _Quelle idée délicieuse!_ Aber was für
  • eine Arbeit! Das ist ja ein Correggio! Offengestanden, ich habe zwar von
  • Ihnen gelesen und gehört, ich wußte aber doch nicht, daß Sie ein solches
  • Talent sind. Nein, Sie müssen unbedingt auch noch _mein_ Porträt malen!«
  • Die Dame wollte sich offenbar gleichfalls als Psyche präsentieren ...
  • »Was soll ich mit ihnen anfangen?« dachte der Künstler. »Wenn sie es
  • selbst durchaus wollen, gebe ich einfach die »Psyche« für das aus, was
  • ihnen am meisten behagt!« Und er sagte laut: »Belieben Sie noch für eine
  • Weile Platz zu nehmen. Ich möchte hier noch einen Tupfen auftragen!«
  • »Ach, ich fürchte, daß Sie hier irgend etwas ... Sie ist jetzt so
  • ähnlich.«
  • Aber der Künstler merkte wohl, daß sich ihre Befürchtungen nur auf
  • gelben Ton bezogen, und beruhigte sie, indem er sagte, daß er den Augen
  • nur noch etwas mehr Glanz und Ausdruck geben wolle. In Wirklichkeit aber
  • war es ihm zu peinlich zumute, er wollte wenigstens die Ähnlichkeit mit
  • dem Original noch etwas verstärken, damit ihm wenigstens niemand seine
  • Schamlosigkeit zum Vorwurf machen könne. Und in der Tat, das Antlitz
  • ließ bald immer deutlicher die Züge des blassen Mädchens erkennen.
  • »Genug,« sagte die Mutter, die zu fürchten begann, daß die Ähnlichkeit
  • allzu groß werden könnte. Dem Künstler wurde durch ein Lächeln, durch
  • Geld, Komplimente, herzliche Händedrücke und eine Einladung zum Diner
  • eine reichliche Belohnung zuteil: mit einem Worte, er wurde nur so
  • überschüttet mit Schmeicheleien und höchsten Zeichen der Anerkennung.
  • Das Porträt erregte in der Stadt Aufsehen. Die Damen zeigten es ihren
  • Freundinnen; alle bewunderten die Kunst, mit der der Maler es verstanden
  • hatte, die Ähnlichkeit zu wahren und dem Original dennoch Schönheit und
  • Liebreiz zu verleihen. Dieser Punkt wurde natürlich nicht ohne einen
  • leichten Anflug von Neid festgestellt, und mit einem Male war der
  • Künstler mit Arbeiten überhäuft. Fast schien es, als wollte die ganze
  • Stadt sich bei ihm porträtieren lassen. Im Flur ertönte jeden Augenblick
  • die Glocke. -- Dieser äußere Erfolg konnte zwar sein Glück ausmachen, da
  • er ihm eine große Praxis verschaffte, und die Mannigfaltigkeit und die
  • Zahl der Gesichter, die er malen mußte, war in der Tat sehr groß. Leider
  • waren es jedoch alles Menschen, mit denen man nur schwer auskommen
  • konnte, eilige, beschäftigte Menschen oder Personen, die der großen
  • Gesellschaft angehörten und infolgedessen noch mehr als alle anderen
  • abgehetzt und aufs äußerste ungeduldig waren.
  • Die einzige Forderung, die von allen Seiten an ihn gestellt wurde, war
  • diese, daß er was Gutes leisten und möglichst schnell arbeiten solle.
  • Bald sah der Maler die Unmöglichkeit ein, seine Porträts sorgfältig
  • auszuführen, er gelangte vielmehr zur Überzeugung, daß man die genauere
  • Charakteristik durch einen leichten und flotten Pinselstrich ersetzen,
  • nur das große Ganze, den allgemeinen Ausdruck festhalten müsse und sich
  • nicht mit besonderen subtilen Einzelheiten abgeben dürfe: mit einem
  • Worte, er begriff, daß er es sich nicht erlauben konnte, die Natur in
  • ihrer ganzen Vollkommenheit wiederzugeben. Außerdem muß hinzugefügt
  • werden, daß fast alle seine Modelle auch noch andere Wünsche geltend
  • machten. Die Damen verlangten, daß hauptsächlich die Seele und das Wesen
  • auf den Porträts betont, andere Züge dagegen unter Umständen durchaus
  • hintangesetzt würden, daß alle Ecken abgerundet, alle Mängel verwischt
  • oder wenn möglich ganz und gar ausgemerzt werden sollten, mit einem
  • Worte, daß das Gesicht zur Bewunderung, wenn nicht gar zur Anbetung
  • reizen solle. Daher nahmen, wenn sie zur Sitzung kamen, ihre Mienen
  • einen solchen Ausdruck an, daß der Künstler aufs höchste erstaunt war.
  • Die eine bemühte sich, eine gewisse Melancholie auf ihrem Gesichte
  • wiederzuspiegeln, die andere nahm eine verträumte Pose an, die dritte
  • wollte um jeden Preis den Mund kleiner erscheinen lassen und spitzte ihn
  • so zu, bis er sich endlich in einen Punkt verwandelte, der nicht größer
  • als ein Stecknadelknopf war. Trotz alledem aber verlangte man
  • Ähnlichkeit und ungezwungene Natürlichkeit von ihm. Und die Herren waren
  • nicht besser als die Damen. Der eine wollte mit einer kraftvollen,
  • energischen Kopfhaltung dargestellt werden, der andere mit
  • durchgeistigten und gen oben gerichteten Augen. Ein Gardeleutnant
  • wünschte, daß Mars aus seinen Blicken hervorleuchte, ein Zivilbeamter
  • hatte das Bestreben, möglichst viel Gradheit und Edelmut in seinen
  • Gesichtsausdruck zu legen, stützte die Hand auf ein Buch, das die
  • deutliche Aufschrift trug: »Ich bin stets für die Wahrheit
  • eingetreten!«, und wollte in dieser Pose porträtiert sein. Anfangs trat
  • dem Künstler infolge dieser Forderungen der Schweiß auf die Stirn, all
  • dies mußte genau durchdacht werden, und doch räumte man ihm nur eine
  • geringe Frist dafür ein. Schließlich jedoch begriff er den Kern der
  • Sache und wurde nicht im geringsten mehr verlegen. Schon zwei, drei
  • Worte reichten hin, ihn darüber zu belehren, wie sich ein jeder
  • dargestellt wissen wollte. Wer nach einem Mars Verlangen trug, dem
  • steckte er einen Mars ins Gesicht, wer es auf einen Byron abgesehen
  • hatte, dem gab er eine byronische Haltung! Ob die Damen als Corinna, als
  • Undine oder gar als Aspasia erscheinen wollten, war für ihn ohne jeden
  • Belang: er willigte mit großem Vergnügen in alles ein und legte schon
  • aus eigner Machtvollkommenheit einem jeden eine beträchtliche Dosis
  • Wohlgeratenheit bei, bekanntlich eine Willkür, die nirgends Schaden
  • stiften kann und für die man sogar mitunter eine gewisse Unähnlichkeit
  • mit in den Kauf nimmt. Allmählich fing er selbst an, sich über die
  • erstaunliche Schnelligkeit und Flottheit seines Pinsels zu wundern. Die
  • Porträtierten aber waren ganz entzückt und erklärten ihn für ein Genie.
  • Tschartkow wurde in jeder Beziehung ein Modemaler. Er begann, Diners zu
  • besuchen und Damen in die Galerien und sogar auf Bälle und Feste zu
  • begleiten, sich geckenhaft zu kleiden und laut zu behaupten, daß ein
  • Künstler gesellschaftsfähig sein müsse, daß er sich standesgemäß zu
  • betragen habe, daß sich die Maler im allgemeinen wie die Schuster
  • kleiden, sich nicht anständig zu benehmen, den höheren Ton nicht zu
  • wahren verstehen und jeder Bildung entbehren. Bei sich zu Hause im
  • Atelier beobachtete er die peinlichste Reinlichkeit und Akkuratesse; er
  • hielt sich zwei elegante Lakaien, nahm stutzerhafte Schüler an, kleidete
  • sich mehrere Male am Tage um, ließ sich das Haar brennen, beschäftigte
  • sich damit, verschiedene Gesten einzustudieren, mit denen er seine
  • Besucher zu empfangen gedachte, und legte den größten Wert auf die
  • Pflege seines Äußeren, um einen möglichst günstigen Eindruck auf die
  • Damen zu machen, mit einem Wort, man konnte in ihm bald kaum noch jenen
  • Künstler wiedererkennen, der einst unbemerkt und im stillen in seinem
  • Kämmerlein auf der Wassilij-Insel gearbeitet hatte. Über Künstler und
  • Kunst fällte er nur noch die anmaßendsten Urteile, er behauptete, man
  • mäße den früheren Meistern zu viel Wert bei, denn sie alle mit Ausnahme
  • von Raffael hätten keine lebendigen Menschen, sondern bloß Heringe
  • geschaffen, und er erklärte, die Ansicht, daß ihnen etwas Heiliges
  • innewohne, existiere nur in der Einbildung der Beschauer; ja selbst
  • Raffael habe nicht nur vollendete Werke geschaffen und viele seiner
  • Bilder genössen überhaupt nur aus einem gewissen Atavismus einen so
  • hohen Ruhm; er schrie, daß Michelangelo ein Prahler sei, der nur durch
  • Kenntnis der Anatomie imponieren wollte, daß er gar keine Grazie besäße,
  • und daß man einen wirklichen Glanz, und die wahre Kraft der
  • Pinselführung und des Kolorits nur in dem gegenwärtigen Zeitalter finden
  • könne. Dann kam er naturgemäß auch auf sich selbst zu sprechen. »Ich
  • verstehe nicht, wozu sich die Menschen so anstrengen,« pflegte er zu
  • sagen, »da hocken und brüten sie über ihrer Arbeit: ein Mensch, der
  • mehrere Monate hintereinander an einem Bilde herumtiftelt, ist meines
  • Erachtens nichts als ein gewöhnlicher Tagelöhner und kein Künstler; ich
  • kann nicht glauben, daß er Talent besitzt. Ein Genie schafft kühn und
  • schnell. Sehen Sie,« pflegte er zu sagen, indem er sich an seine
  • Besucher wandte, »dieses Porträt hier habe ich in zwei Tagen gemalt,
  • dieses Köpfchen in einem Tage, dies hier nur in wenigen Stunden, und das
  • dort in etwas mehr als einer Stunde. Nein, offengestanden, ich kann doch
  • ein Werk nicht als Kunst gelten lassen, in dem Strich neben Strich
  • gesetzt ist, nein, das ist Handwerkerarbeit und keine Kunst mehr.« So
  • sprach er zu seinen Gästen, und diese bewunderten die Kraft und
  • Leichtigkeit seiner Pinselführung, stießen Rufe des Erstaunens aus, wenn
  • sie hörten, in wie kurzer Zeit die Werke entstanden waren, und teilten
  • es nachher auch anderen mit. »Das ist ein Talent, o ein großes, wahres
  • Talent! Sehen Sie nur, wie seine Augen glänzen, wenn er spricht. _Il y a
  • quelque chose d'extraordinaire dans toute sa figure!_«
  • Dem Künstler schmeichelte es, solche Reden über sich zu hören. Wenn er
  • in den Journalen öffentlich gelobt und gepriesen wurde, dann freute er
  • sich wie ein Kind, obgleich diese Lobeserhebungen von ihm für bares Geld
  • gekauft worden waren. Er trug ein solches Zeitungsblatt immer mit sich
  • herum und zeigte es gleichsam unabsichtlich all seinen Bekannten und
  • Freunden. Und dies ergötzte ihn aufs höchste, so einfältig und naiv es
  • war. Sein Ruhm wuchs, die Aufträge und Bestellungen mehrten sich; schon
  • fing er an, der immer gleichen Porträts und Gesichter, deren Ausdruck er
  • bereits auswendig kannte, überdrüssig zu werden. Schon malte er ohne
  • große Begeisterung, indem er sich nur noch bemühte, den Kopf auf die
  • Leinewand zu werfen; das übrige überließ er seinen Schülern. Früher
  • suchte er wenigstens noch, seinen Porträts ein neues Moment
  • abzugewinnen, durch eine neue Stellung, durch die Kraft der
  • Pinselführung oder durch gewisse Effekte zu überraschen. Jetzt
  • langweilte ihn auch dies allmählich. Das dauernde Grübeln und Suchen
  • nach Neuem ermüdete seinen Geist. Er _konnte_ es bald auch gar nicht
  • mehr, er hatte dazu auch keine Zeit. Die unregelmäßige Lebensweise und
  • die Gesellschaft, in der er die Rolle eines Lebemanns zu spielen suchte,
  • entfremdeten ihn der wirklichen Arbeit. Seine Pinselführung wurde kalt
  • und stumpf, und erstarrte unmerklich in eintönigen, konventionellen,
  • längst verbrauchten Formen. Die langweiligen, kalten, ewig gepflegten,
  • ledernen oder sozusagen zugeknöpften Gesichter der Beamten, der
  • militärischen wie der zivilen, boten dem Pinsel in der Tat keinen großen
  • Spielraum. Die prächtigen Drapierungen, die starken Bewegungen und
  • Leidenschaften hatte er völlig vergessen. Von künstlerischer
  • Komposition, von dramatischem Leben, von einer erhabenen Steigerung war
  • überhaupt nicht mehr die Rede. Vor seinen Augen schwirrten nichts wie
  • Uniformen, Korsetts und Fräcke, alles Dinge, die einen Künstler kalt
  • lassen und die jede Phantasie ertöten. Selbst die am leichtesten zu
  • erreichenden Vorzüge gingen seinen Arbeiten jetzt ab, trotzdem aber
  • fanden sie immer noch Anerkennung, wenn auch wirklich Kenner und
  • Künstler angesichts seiner letzten Bilder nur mit den Achseln zuckten.
  • Die wenigen, die Tschartkow von früher her kannten, vermochten nicht zu
  • verstehen, wie ein Talent, dessen Stärke sich schon in dem jungen
  • Schüler gezeigt hatte, so zugrunde gehen konnte, und sie bemühten sich
  • vergebens, zu erraten, wie in einem Menschen plötzlich die Begabung
  • erlöschen könne, in demselben Augenblick, wo seine Kräfte erst eben zu
  • voller Entfaltung gekommen waren.
  • Aber der von seinen Erfolgen trunkene Künstler hörte alle diese
  • Äußerungen nicht. Schon begann er zu altern, mit den Jahren bemächtigte
  • sich seiner eine gewisse geistige Schwerfälligkeit, er wurde allmählich
  • immer dicker und ging sichtlich in die Breite. Schon las er in den
  • Zeitungen und Journalen Epitheta wie die folgenden: »Unser verehrter
  • Andrej Petrowitsch!« »Unser hochverdienter ...!« Schon bot man ihm
  • Ehrenämter an, lud ihn zu Prüfungen ein und wählte ihn in verschiedene
  • Komitees, schon trat er, wie es im gesetzteren Alter immer zu geschehen
  • pflegt, entschieden für Raffael und die alten Meister ein, nicht weil er
  • durchaus von ihrem hohen Werte durchdrungen war, sondern nur deshalb, um
  • sie als Angriffswaffe gegen seine jüngeren Kollegen zu benutzen. Schon
  • vergnügte er sich damit, nach Art älterer Herren der ganzen Jugend ohne
  • Ausnahme Sittenlosigkeit oder eine tadelnswerte Geistesrichtung zum
  • Vorwurf zu machen. Schon neigte er sich der Auffassung zu, daß alles in
  • der Welt ganz einfach und wie von selbst vor sich gehe, daß es keine
  • Inspiration gebe und daß alles einem strengen Regiment, der Ordnung und
  • einer monotonen Regelmäßigkeit unterworfen sein müsse, -- mit einem
  • Wort, er war bereits in jene Jahre gekommen, wo aller Sturm und Drang,
  • der überhaupt jemals in einem Menschen pulsiert hat, zu verschwinden
  • beginnt, wo die Töne des zauberhaften Bogens nur gedämpft an die Seele
  • rühren und das Herz nicht mehr mit erschütternden Klängen umkreisen, wo
  • der Kuß der Schönheit keine jungfräulichen Kräfte mehr in Flammen
  • wandelt -- wo sich dafür aber alle verglühten Gefühle dem Klirren des
  • Goldes um so zugänglicher erweisen, immer aufmerksamer auf seine
  • verlockende Musik lauschen, ihr allmählich und unmerklich immer mehr
  • Macht über sich einräumen und sich sanft von ihr einlullen lassen.
  • Der Ruhm kann dem, der ihn gestohlen und nicht verdient hat, keinen
  • Genuß gewähren. Nur den, der seiner würdig ist, erfüllt er ständig mit
  • einem wonnigen Schauder. Und so wandten sich alle seine Empfindungen und
  • Wünsche dem Golde zu. Das Gold wurde ihm Leidenschaft, Ideal,
  • Schreckbild, Genuß und Lebenszweck. In seinen Tischen häuften sich
  • Päckchen von Banknoten an, und wie jeder, dem dieses schreckliche
  • Geschenk zuteil wird, verwandelte er sich nach und nach immer mehr in
  • einen langweiligen, nur dem Golde zugänglichen, törichten Geizhals,
  • einen sinnlosen Sammler, und er war schon auf dem besten Wege, zu einem
  • jener Sonderlinge zu werden, deren es in unserer seelenlosen Welt gar
  • viele gibt. Ein warmblütiger und gütiger Mensch betrachtet sie voll
  • Entsetzen, ihm erscheinen sie als steinerne Särge, die sich vor ihm
  • bewegen und einen leblosen Klumpen anstelle eines Herzens in sich
  • bergen. Aber eine merkwürdige Begebenheit sollte bald sein ganzes Wesen
  • durchrütteln und erschüttern.
  • Eines Tages erblickte er auf seinem Tische ein Schreiben, in dem die
  • Akademie der Künste ihn als ihr hochverehrtes Mitglied um sein
  • Erscheinen und um sein Urteil über ein neues Werk bat, das aus Italien
  • angekommen war und einen dort zur Vervollkommnung weilenden russischen
  • Künstler zum Urheber hatte. Dieser Künstler war ein ehemaliger Freund
  • von ihm, der seit langem die Leidenschaft für die Kunst in sich barg,
  • und sich mit der feurigen Seele eines Fanatikers in seine Arbeit
  • vergraben hatte; er hatte sich von all seinen Freunden und Verwandten,
  • von allen lieben Gewohnheiten losgerissen und war in ein Land geeilt, wo
  • ein herrlicher Himmel eine majestätische Kunst reifen läßt: in das
  • überwältigende Rom, bei dessen Erwähnung eines Künstlers feuriges Herz
  • stets voll und stürmisch zu schlagen pflegt. Dort versenkte er sich wie
  • ein Einsiedler in sein Werk und in ein durch nichts abgelenktes Studium.
  • Ihn kümmerte es wenig, daß sich die Menschen über sein seltsames Wesen
  • aufhielten, daß man seine Unfähigkeit, sich in der guten Gesellschaft zu
  • bewegen, seine Verachtung der konventionellen Formen tadelte und von dem
  • Schaden sprach, den er dem Künstlerstande durch seinen ärmlichen,
  • altmodischen Anzug zufügte. Es war ihm völlig gleichgültig, ob ihm seine
  • Kollegen zürnten oder nicht, er hatte auf alles zugunsten der Kunst
  • verzichtet und hatte ihr alles geopfert. Unermüdlich besuchte er die
  • Galerien und Museen, er konnte stundenlang vor den Werken der großen
  • Meister stehen und deren wundervolle Pinselführung studieren. Er
  • vollendete kein Werk, bevor er sich angesichts dieser großen Vorbilder
  • geprüft und sich aus ihren Werken einen stummen und doch so beredten Rat
  • geholt hatte. An lärmenden Unterhaltungen und Streitigkeiten beteiligte
  • er sich nie, er nahm weder für, noch gegen die Puristen Partei, sondern
  • ließ allen die schuldige Anerkennung zuteil werden, indem er in allem
  • nur das Schöne zu entdecken wußte, bis er sich endlich einzig und allein
  • dem göttlichen Raffael als seinem Lehrmeister überließ, -- wie auch ein
  • großer Dichter, der schon so viele verschiedene Werke voll Anmut und
  • majestätischer Schönheit kennen gelernt hat, zuletzt nur noch Homers
  • Ilias als die überragende Dichtung gelten läßt, nachdem er entdeckt hat,
  • daß in diesem Epos alles enthalten ist, was man von einem Kunstwerk
  • verlangen kann, und daß sich hier alles in höchster Vollkommenheit
  • wiederspiegelt. Und so hatte er sich denn bei dieser beständigen Arbeit
  • an sich selbst eine hervorragende Schaffenskraft, eine machtvolle
  • Schönheit der Gedanken und die hohe Anmut einer schier überirdischen
  • Pinselführung erworben.
  • Als Tschartkow in den Saal eintrat, fand er bereits eine Menge von
  • Besuchern vor, die vor dem Bilde standen. Eine tiefe Stille, wie sie nur
  • selten unter so zahlreichen Kritikern herrscht, empfing ihn diesmal. Er
  • beeilte sich, seinem Gesicht einen bedeutenden Ausdruck und eine
  • tiefsinnige Kennermiene zu geben und trat vor das Bild. Aber, o Gott!
  • was war das, was er da erblickte!
  • Nein, makellos und herrlich wie eine Braut stand das Werk des Künstlers
  • vor ihm. Bescheiden, göttlich, unschuldig und einfach wie das Genie
  • selbst, schien es hoch über allem zu schweben. Es war, als senkten die
  • himmlischen Gestalten, verwundert über so viele auf sie gerichteten
  • Blicke, schamhaft ihre herrlichen Wimpern. Mit einem Gefühl
  • unwillkürlichen Staunens starrten die Eingeweihten die neue, nie
  • gesehene Pinselführung an. Hier schien alles vereinigt zu sein: Die
  • Schulung an Raffael, die sich in der hohen Vornehmheit der Haltung, und
  • die an Corregio, die sich in der vollkommenen Technik verriet. Aber den
  • gewaltigsten Eindruck machte die in der Seele des Künstlers wirkende
  • Schöpferkraft. Jedes kleinste Detail des Gemäldes war von ihr
  • durchdrungen; alles atmete eine strenge Gesetzmäßigkeit und innere
  • Kraft; jedes Ding ließ jene wundervoll schwebende und fließende Rundung
  • der Linien erkennen, die nur der Natur eigen ist und die nur das Auge
  • des schaffenden Künstlers sieht, bei dem Nachahmer und Kopisten aber
  • stets eckig und hart erscheint. Man fühlte ganz deutlich, wie der
  • Künstler alles, was er der äußeren Welt entnommen, in sich, in seiner
  • Seele verschlossen hatte, um es erst später aus dieser geistigen Quelle
  • gleich einem harmonischen, feierlichen Liede hervorsprudeln zu lassen.
  • Und sogar den Uneingeweihten wurde klar, was für ein unermeßlicher
  • Abgrund zwischen einem Kunstwerk und einer einfachen Kopie der Natur
  • gähnt. Es ist unmöglich, jene ungewöhnliche Stille zu schildern, die
  • alle Anwesenden beobachteten, während sie ihre Augen auf das Bild
  • gerichtet hatten. Kein Knistern, kein Laut störte die andächtige
  • Stimmung. Die Wirkung des Bildes hatte sich inzwischen nur noch
  • verstärkt. Strahlend und wie ein unbegreifliches Wunder löste es sich
  • von allem Irdischen los, um sich schließlich ganz in einen Augenblick --
  • die Frucht eines dem Künstler vom Himmel eingegebenen Gedankens -- zu
  • verwandeln, in einen Moment, dem das ganze menschliche Leben nur als
  • Vorbereitung dient. Unwillkürlich wandelte die das Bild umringenden
  • Beschauer das Bedürfnis zu weinen an; es schien, als hätten sich alle
  • Kunstanschauungen, alle dreisten, regellosen und willkürlichen
  • Abweichungen des Geschmacks hier zu einem wortlosen Hymnus auf das
  • göttliche Werk vereinigt.
  • Unbeweglich, mit offenem Munde stand Tschartkow vor dem Bilde, und erst
  • als schließlich doch eine kleine Bewegung durch die Reihen der Besucher
  • und Autoritäten ging, als man sich laut über den Wert des Werkes zu
  • unterhalten begann, als man sich schließlich auch an Tschartkow mit der
  • Bitte wandte, sein Urteil abzugeben, kam er wieder zu sich, versuchte
  • seine gewöhnliche gleichmütige Miene aufzusetzen und war eben im
  • Begriff, ein paar Plattheiten zu äußern, wie man sie wohl von
  • verknöcherten Routiniers zu hören bekommt. Er wollte schon sagen: »Hm,
  • gewiß, man kann dem Maler ja nicht alles Talent absprechen; Talent hat
  • er, das ist unleugbar. Man sieht, daß er etwas ausdrücken will. Was aber
  • die Hauptsache betrifft,« -- und hierauf sollten natürlich einige
  • lobende Worte folgen, die keinem Künstler gut bekommen wären. Aber er
  • führte seine Absicht nicht aus, die Rede erstarb auf seinen Lippen,
  • statt dessen drangen Tränen und Seufzer leidenschaftlich aus seiner
  • Brust hervor, und wie ein Wahnsinniger lief er aus dem Saal.
  • Eine Minute lang stand er regungslos und wie versteinert mitten in
  • seinem prächtigen Atelier, seine ganze Vergangenheit lebte einen
  • Augenblick wieder in ihm auf, als wäre die Jugend zu ihm zurückgekehrt,
  • und als wären die erloschenen Funken seines Talentes in ihm wieder
  • aufgelodert. Die Binde fiel plötzlich von seinen Augen. Gott! wie hatte
  • er die besten Jahre seiner Jugend so unbarmherzig zugrunde richten, die
  • spärliche Flamme, die vielleicht auch in seiner Brust gebrannt hatte,
  • und die sich vielleicht jetzt groß und herrlich entfaltet und vielleicht
  • ebenfalls Tränen des Staunens und der Dankbarkeit entlockt hätte, so
  • plump ersticken können. Wie hatte er sie in sich ertöten, erbarmungslos
  • vernichten können! Es schien, als wären in diesem Augenblicke plötzlich
  • alles Streben und alle Leidenschaften in seiner Seele erwacht, alle
  • Gefühle, die auch sie einmal gekannt hatte ... Er ergriff den Pinsel und
  • trat vor die Leinwand. Ein kalter Schweiß bedeckte seine Stirn; er
  • verwandelte sich völlig in _einen_ einzigen Wunsch und war ganz von
  • _einem_ Gedanken beseelt. Er wollte den gefallenen Engel darstellen.
  • Diese Vorstellung stimmte am besten mit seinem Seelenzustand überein,
  • aber ach, alles was er begann: all seine Figuren, seine Posen, Gruppen
  • und Ideen hatten etwas Gezwungenes und Wirres. Sein Pinsel und seine
  • Phantasie wurden zu sehr von der Gewohnheit gehemmt, und der ohnmächtige
  • Drang, die Schranken und Fesseln, die er sich selber auferlegt hatte, zu
  • zerbrechen, verleitete ihn gleich zu Anfang zu Unrichtigkeiten und
  • Fehlern. Er hatte die ermüdend lange Stufenleiter der nur allmählich zu
  • erwerbenden Kenntnisse und der ersten Grundgesetze der großen
  • zukünftigen Wissenschaft übersprungen. Ein heftiger Verdruß bemächtigte
  • sich seiner, er ließ all' seine letzten Schöpfungen: die seelenlosen
  • Modebilder, die Porträts von Husarenoffizieren, vornehmen Damen und
  • Staatsräten aus seinem Atelier entfernen, sperrte sich allein in sein
  • Zimmer ein, befahl, niemand hereinzulassen und versenkte sich ganz in
  • die Arbeit. Wie ein geduldiger Knabe, wie ein Schüler saß er an seinem
  • Werk; aber ach, wie unbefriedigend und schwächlich war alles, was sein
  • Pinsel schuf. Bei jedem neuen Schritt strauchelte er über die Unkenntnis
  • der elementarsten Regeln; jedes kleinste, unbedeutendste Detail wirkte
  • erkältend auf seinen Eifer und stellte sich seiner Phantasie als
  • unüberbrückbares Hindernis entgegen. Der Pinsel wandte sich
  • unwillkürlich wieder den alten versteinerten Formen zu, die Arme nahmen
  • ihre gewohnte Haltung an, der Kopf wagte es nicht, sich eine
  • ungewöhnliche Wendung zu gestatten; selbst der Faltenwurf des Kleides
  • hatte etwas Schablonenhaftes, wollte sich ihm durchaus nicht fügen und
  • sich nicht an die neue Körperstellung anpassen. Und Tschartkow fühlte
  • es, fühlte es selbst und sah es mit eigenen Augen.
  • »Hatte ich denn wirklich einmal Talent? habe ich mich nicht selbst
  • betrogen?« Mit diesen Worten suchte er seine früheren Werke hervor, die
  • er einst in so reiner Stimmung, so völlig frei von Habsucht und Geldgier
  • in seiner ärmlichen Mansarde auf der abgelegenen Wassilij-Insel, fern
  • von den Menschen geschaffen hatte; damals, als er noch nichts von
  • Überfluß und all den raffinierten Genüssen der Großstadt wußte. Jetzt
  • stand er wieder vor den alten Bildern, betrachtete sie aufmerksam, und
  • sein ganzes früheres Leben voll Not und Entbehrung erstand wieder vor
  • ihm. »Ja ...« sagte er ganz verzweifelt, »ich _hatte_ Talent! wohin ich
  • auch blicke, überall entdecke ich deutliche Spuren davon!«
  • Er blieb stehen und erzitterte plötzlich am ganzen Leibe. Sein Blick
  • begegnete einem Augenpaar, das starr auf ihn gerichtet war. Es war jenes
  • ungewöhnliche Porträt, das er einst in der Schtschukin-Passage gekauft
  • hatte. Die ganze Zeit hindurch hatte es hinten gestanden, von anderen
  • Bildern verdeckt, und so war es ihm völlig aus dem Gedächtnis
  • entschwunden. Jetzt aber, wo alle modernen Porträts und Gemälde, die
  • sein Atelier anfüllten, entfernt waren, blickte es plötzlich zusammen
  • mit den früheren Werken seiner Jugend hervor. Als er sich nun an die
  • sonderbare Geschichte dieses Porträts erinnerte, als er daran dachte,
  • daß dieses merkwürdige Bildnis gewissermaßen die Ursache seiner Wandlung
  • geworden war, daß die große Geldsumme, die ihm auf so wunderbare Weise
  • zuteil geworden, alle die falschen und eitlen Regungen, die sein Talent
  • zugrunde richten sollten, in ihm erwecket hatte, da wurde seine Seele
  • von einem fast sinnlosen Grimm erfaßt, und er ließ das verhaßte Bildnis
  • sofort hinaustragen. Aber die seelische Erregung wollte ihn trotzdem
  • nicht verlassen. All seine Gefühle, ja sein ganzes Wesen waren bis aufs
  • Tiefste aufgerührt, jetzt lernte auch er jene entsetzliche Qual kennen,
  • die nur ganz selten und wie ausnahmsweise in der Natur vorkommt, wenn
  • ein schwaches Talent sich mehr abzuringen versucht, als es zu leisten
  • vermag, und doch den rechten Ausdruck nicht finden kann; jene Qual, die
  • zwar einen Jüngling zu großen Taten spornt, aber den, der schon zu alt
  • ist, um zu träumen, vergebens und fruchtlos mit einem heißen
  • Schaffensdurste peinigt -- jene entsetzliche Qual, die einen Menschen zu
  • grauenhaften Untaten anstiften kann! Ein entsetzlicher, rasender Neid
  • bemächtigte sich seiner. Er wurde gelb vor Ärger, wenn er einem Werke
  • gegenüberstand, das den Stempel des Talentes trug. Er knirschte mit den
  • Zähnen und durchbohrte es mit seinem Blick gleich einem Basilisk. In
  • seiner Seele regten sich höllische Vorsätze, wie sie so leicht kein
  • Mensch ersinnt, und mit einer schier rasenden Energie war er bemüht, sie
  • zur Ausführung zu bringen. Er fing an, alles Beste anzukaufen, was in
  • seiner Kunst produziert wurde. Nachdem er um teures Geld ein Bild
  • erstanden hatte, trug er es behutsam in sein Zimmer, stürzte sich mit
  • der Wut eines Tigers darauf, riß es entzwei, schnitt es in Stücke und
  • zerstampfte es mit frohlockendem Lachen. Das bedeutende Vermögen, das er
  • angehäuft hatte, ermöglichte es ihm, dieses teuflische Bedürfnis zu
  • befriedigen: er riß all seine mit Gold gefüllten Säcke auf und öffnete
  • all seine Truhen. Nie hat es ein so verständnisloses Scheusal gegeben,
  • das so viele herrliche Kunstwerke vernichtet hätte, wie dieser rasende
  • Racheteufel. Auf allen Auktionen, wo er sich zeigte, verzweifelte jeder
  • im voraus daran, sich ein Kunstwerk erwerben zu können, es schien, als
  • hätte der erzürnte Himmel diese entsetzliche Geißel absichtlich in die
  • Welt gesandt, um sie aller Harmonie zu berauben. Diese grauenhafte
  • Leidenschaft ließ ihn in einem schrecklichen Lichte erscheinen. Von
  • ewiger Bosheit sprach sein Angesicht. Ein wütender Welt- und Menschenhaß
  • und eine furchtbare Lebensfeindschaft spiegelten sich in seinen Zügen
  • wieder. Er schien jener leibhaftige furchtbare Dämon zu sein, den uns
  • Puschkin so wunderbar geschildert hat. Nichts als giftgeschwollene Reden
  • und heftige Worte des Tadels entquollen seinem Munde. Er glich einer
  • Harpye, wenn er auf der Straße dahergestürmt kam; alle, selbst seine
  • guten Bekannten, bemühten sich, ihm auszuweichen, wenn sie seiner von
  • ferne ansichtig wurden, und suchten eine solche Begegnung zu vermeiden,
  • ja sie erklärten, ein solches Zusammentreffen genüge schon, um ihnen den
  • ganzen Tag zu vergiften.
  • Zum Glück für die Welt und die Kunst konnte ein solch aufgeregtes und
  • gewalttätiges Leben nicht lange dauern. Die Dimensionen, zu denen seine
  • Leidenschaft anwuchs, waren zu kolossal und übertrieben, als daß ein
  • schwacher Mensch sie auf die Dauer aushalten konnte. Die Wut- und
  • Wahnsinnsanfälle wiederholten sich immer häufiger und gingen schließlich
  • in eine entsetzliche Krankheit über, -- ein furchtbares, von einem
  • heftigen, schnell um sich greifenden Schwindsuchtsanfall begleitetes
  • Fieber ergriff ihn und binnen drei Tagen war nur noch ein Schatten von
  • ihm zurückgeblieben. Dazu kamen noch alle Merkmale eines unheilbaren
  • Irrsinns. Er wütete so um sich, daß ihn oft mehrere Menschen nicht
  • bändigen konnten. Immer wieder tauchten die längst vergessenen
  • lebendigen Augen eines seltsamen Porträts vor ihm auf; und dann verfiel
  • er in ein fürchterliches Toben. Alle Menschen, die sein Bett umstanden,
  • schienen ihm diesen grauenhaften Porträts zu gleichen, und diese
  • Porträts verdoppelten, verdreifachten, vervierfachten sich vor seinen
  • Augen; es kam ihm vor, als wenn alle Wände mit Bildern bedeckt wären,
  • die ihre lebendigen Augen starr und unbeweglich auf ihn gerichtet
  • hielten; schreckliche Porträts blickten von der Decke, vom Boden nach
  • ihm hin, das Zimmer weitete sich aus und dehnte sich bis ins Unendliche,
  • um immer noch mehr von diesen starren und unbeweglichen Augen fassen zu
  • können. Der Arzt, der sich verpflichtet hatte, ihn zu behandeln, und der
  • schon manches über seine seltsame Geschichte gehört hatte, bemühte sich
  • aus aller Kraft, die geheimnisvolle Beziehung zwischen den
  • Wahnvorstellungen, die der Irrsinn erzeugte, und den realen Vorgängen zu
  • ermitteln, er hatte jedoch keinen Erfolg damit. Der Kranke begriff und
  • fühlte nichts als seine Qual, stieß nur entsetzliche Schreie aus und
  • führte ganz unzusammenhängende Reden. Endlich gab er in einem letzten
  • stummen Ausbruch des Schmerzes sein Leben auf. Seine Leiche war
  • schrecklich anzusehen. Von seinen ungeheuren Reichtümern war nichts mehr
  • zu entdecken; als man jedoch die zerstreuten Fetzen und Stücke der
  • großen Kunstwerke fand, deren Wert viele Millionen betrug, da erst
  • verstand man, welch entsetzlichen Gebrauch er von ihnen gemacht hatte.
  • Zweiter Teil
  • Eine Menge von Equipagen, Droschken und Kaleschen stand vor dem Portal
  • eines Hauses, in dem der Nachlaß eines jener reichen Kunstliebhaber
  • versteigert wurde, die einstmals in den Anblick von Zephyren und Kupidos
  • versenkt, ihr ganzes Leben sanft verträumten, ohne eigenes Zutun sich
  • den Ruf von Mäzenen erwarben und treuherzig ihre Millionen
  • verschwendeten, die sie von ihren soliden Vätern geerbt oder sogar
  • früher einmal durch ihre eigene Arbeit erworben hatten. Solche Mäzene
  • gibt es bekanntlich heute nicht mehr, unser neunzehntes Jahrhundert hat
  • schon längst die langweilige Physiognomie eines Bankiers angenommen, der
  • seine Millionen nur in der Gestalt von nüchternen auf dem Papier
  • verzeichneten Zahlenreihen genießt. Eine bunte Menge von Besuchern und
  • Käufern, die von allen Seiten wie die Raubvögel herbeigestürzt waren,
  • erfüllte den großen Saal. Da sah man ganze Scharen von russischen
  • Händlern aus der Passage und sogar von dem Trödelmarkt in blauen
  • deutschen Röcken; ihr Aussehen und ihr Gesichtsausdruck war hier
  • sicherer, freier und fiel nicht durch jene unangenehmere Unterwürfigkeit
  • und Dienstbereitschaft auf, die dem russischen Händler so eigentümlich
  • ist, wenn er die Kunden in seinem Laden bedient. Hier ließen sie sich
  • ruhig gehen, trotzdem sich in demselben Saale viele Aristokraten
  • befanden, vor denen sie an einem andern Orte durch tiefe Bücklinge und
  • Kratzfüße den an den eigenen Stiefeln herbeigetragenen Staub weggefegt
  • hätten. Hier benahmen sie sich ganz ungezwungen, betasteten ohne viel
  • Umstände zu machen, die Bilder und Bücher, um die Güte der Waren
  • festzustellen, und schraubten dreist die Preise, die die gräflichen
  • Kunstkenner für ein Werk boten, in die Höhe. Hier traf man so manchen
  • Repräsentanten jener Menschenklasse, die man auf allen Auktionen findet,
  • und die täglich zu einer Versteigerung gehen, so wie man wohl in ein
  • Wirtshaus geht; hier begegnete man all den vornehmen und
  • aristokratischen Kunstfreunden, die es für ihre Pflicht hielten, keine
  • Gelegenheit zu versäumen, bei der sie ihre Sammlungen vergrößern
  • könnten, und die zwischen 12 und 1 Uhr nichts Besseres zu tun hatten,
  • und endlich fehlte es auch nicht an jenen ehrenwerten Herren, deren
  • Anzüge und Börsen einen recht dürftigen Eindruck machen und die hier
  • täglich ohne jedes eigennützige Ziel erscheinen, einzig und allein zu
  • dem Zwecke, um zu beobachten, wie ein Kauf zustande kommt, -- wer mehr,
  • und wer weniger geben, wer den andern überbieten, und wem endlich der
  • Gegenstand zugesprochen werden wird. Viele Bilder standen ganz regellos
  • durcheinander, dazwischen sah man Möbel und Bücher mit den Initialen des
  • früheren Besitzers, der vielleicht niemals das löbliche Bedürfnis
  • gespürt hatte, in sie hineinzublicken. Da gab es chinesische Vasen,
  • marmorne Tischplatten, neue und alte Möbel mit verschnörkelten Linien,
  • Greifen, Sphinxen und Löwentatzen, Lampen und Kronleuchter _mit_ und
  • _ohne_ Vergoldung: alles war aufeinandergestapelt, und es herrschte hier
  • nicht einmal so viel Ordnung, wie man sie selbst in einem Kunstladen
  • vorzufinden pflegt. Das Ganze stellte sozusagen ein großes Chaos von
  • Kunstwerken dar. Überhaupt ist ja das Gefühl, das wir angesichts einer
  • Versteigerung empfinden, sehr seltsam. Alles mutet einen an wie ein
  • Begräbnis. Der Saal, in dem sie stattfindet, ist stets düster, die mit
  • Möbeln und Bildern verstellten Fenster lassen das Licht nur spärlich
  • hineindringen, das auf den Gesichtern liegende Schweigen und die
  • Grabesstimme des Ausrufers, der mit dem Hammer aufschlägt und zu Ehren
  • der armen, hier auf so sonderbare Weise zusammengeratenen Künste eine
  • Messe liest: alle diese Momente verstecken, wie es scheint, noch das
  • eigentümlich Frostige des Eindrucks. Die Auktion war offenbar im vollen
  • Gange. Ein großer Haufe anständig gekleideter, dicht zusammenstehender
  • Menschen ließ deutliche Spuren seines Interesses und seiner Erregung
  • erkennen. Die Worte »... Rubel! ... Rubel!« die von allen Seiten
  • ertönten, ließen dem Ausrufer keine Zeit, den immer noch wachsenden
  • Preis, der bereits das Vierfache des zu Anfang genannten betrug, zu
  • wiederholen; die herumstehende Menge bemühte sich um ein Porträt, das
  • jeden, der auch nur ein wenig von der Malerei verstand, aufs lebhafteste
  • fesseln mußte. Es trug den sichtbaren Stempel eines Genies. Anscheinend
  • war es schon des öfteren restauriert und erneuert worden, es stellte die
  • dunklen Züge eines mit einem weiten Gewande bekleideten Asiaten dar,
  • dessen Gesicht einen ganz ungewöhnlich eigenartigen Ausdruck hatte. Was
  • jedoch die Umstehenden am meisten in Staunen setzte, das war das
  • intensive Leben, das aus seinen Augen strahlte; je länger man sie
  • betrachtete, um so tiefer schienen sie einem bis ins innerste Innere zu
  • blicken. Diese Eigentümlichkeit, die auffallende Kunstfertigkeit des
  • Malers nahmen die Aufmerksamkeit fast aller in Anspruch. Viele der
  • Bewerber waren bereits zurückgetreten, weil der Preis ganz enorm in die
  • Höhe geschraubt wurde. Lediglich zwei als Kunstliebhaber bekannte
  • Aristokraten waren noch übriggeblieben und wollten durchaus nicht auf
  • die Erwerbung des Gemäldes verzichten. Sie erhitzten sich und hätten
  • wahrscheinlich den Preis bis zum Absurden emporgetrieben, wenn nicht
  • plötzlich einer der Anwesenden sich mit der folgenden Bemerkung an sie
  • gewandt hätte: »Darf ich Sie bitten, Ihren Streit einen Augenblick ruhen
  • zu lassen? Ich habe vielleicht mehr Anrecht auf dieses Porträt als jeder
  • andere!«
  • Diese Worte lenkten sofort die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf den
  • Sprecher; es war ein schlanker Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, mit
  • langen schwarzen Locken. Sein sympathisches Gesicht, das eine gewisse
  • freundliche Sorglosigkeit wiederspiegelte, ließ eine Seele erkennen, die
  • sich von allen aufreibenden Erregungen, die der gesellschaftliche
  • Verkehr mit sich bringt, fernhielt. Seine Kleidung entbehrte aller
  • modischen Übertriebenheiten, jeder seiner Züge deutete auf seinen
  • Künstlerberuf hin. Und in der Tat, es war ein Maler namens B., den viele
  • der Anwesenden persönlich kannten.
  • »Wie seltsam Ihnen auch meine Worte erscheinen mögen,« fuhr er fort, als
  • er die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gerichtet sah, »Sie würden
  • doch vielleicht selbst einsehen, daß ich berechtigt war, sie zu äußern,
  • wenn Sie sich dazu entschließen könnten, eine kleine Geschichte mit
  • anzuhören. Alles bestärkt mich in der Überzeugung, daß gerade dies das
  • Porträt ist, das ich suche.«
  • Eine nur allzu natürliche Neugierde sprach aus allen Gesichtern, und
  • selbst der Ausrufer hielt mit offenem Munde und mit erhobenem Hammer,
  • neugierig und gespannt in seinem Geschäfte inne. Zu Beginn der Erzählung
  • wandten sich die Blicke vieler unwillkürlich dem Porträt zu, um sich
  • nach und nach immer mehr auf den Erzähler zu heften, dessen Bericht
  • immer interessanter und spannender wurde.
  • »Jedem von Ihnen ist doch wohl jener Stadtteil bekannt, den man Kolomna
  • nennt,« begann er. »Hier ist alles anders als in den andern Teilen
  • Petersburgs. Dies Quartal erinnert weder an die Hauptstadt, noch an die
  • Provinz. Wenn man in dies Kolomnaviertel gerät, ist einem fast zumute,
  • als ob einen nach und nach alle jugendlichen Gefühle und Leidenschaften
  • verlassen. Hier hinein fällt kein Zukunftsblick, hier ist alles ruhig
  • und starr und unbeweglich. Hierher flüchtet sich alles, was sich als
  • Niederschlag des Hauptstadtbetriebes absetzt. Hier schlagen inaktive
  • Beamte, Witwen und Personen in bescheidenen Verhältnissen ihr
  • Ruheplätzchen auf, die auf eine Entscheidung des Senats harren und sich
  • daher selbst zu einem fast lebenslänglichen Aufenthalt in diesem
  • Quartier verurteilt haben; hier wohnen verabschiedete Köchinnen, die
  • sich den ganzen Tag hindurch auf den Märkten herumtreiben, stundenlang
  • in dem Kramladen stehen, mit dem Verkäufer schwatzen und sich jeden Tag
  • für fünf Kopeken Kaffee und für vier Kopeken Zucker kaufen, und endlich
  • findet sich hier noch jene Sorte von Leuten, die man am besten mit dem
  • einen Worte »die Aschgrauen« bezeichnen könnte, Menschen, deren Anzug
  • und deren Gesicht, Haare und Augen eine trübe, aschgraue Farbe haben,
  • wie ein Tag, an dem es nicht stürmt und wo die Sonne nicht scheint,
  • sondern wo weder das eine noch das andre stattfindet: ein grauer Nebel
  • hüllt alles ein und nimmt allen Gegenständen ihre scharfen Konturen. Zu
  • ihnen kann man alle abgedankten Logenschließer, Titularräte und
  • Marsjünger mit einem ausgestochenen Auge und dicken aufgedunsenen Lippen
  • rechnen. Lauter Menschen ohne Temperament und ohne jede Leidenschaft,
  • sie gehen stumpfsinnig einher ohne dem, was um sie her passiert, die
  • geringste Aufmerksamkeit zu schenken und schweigen tagelang, ohne an
  • etwas zu denken. In ihren Zimmern sieht es öde und leer aus; oft besteht
  • ihr Mobiliar einzig und allein aus einer Karaffe mit echter russischer
  • Wodka, an der sie den ganzen Tag unaufhörlich nippen, ohne daß sie ihnen
  • ernstlich zu Kopfe steigt, was einem gewöhnlich nur nach einem kräftigen
  • Schluck zustößt, wie ihn sich wohl Sonntags ein junger deutscher
  • Handwerksbursche -- dieser Student der Meschtschanskistraße[14] und
  • alleinige Beherrscher des Bürgersteigs zu gestatten pflegt, --
  • allerdings erst -- wenn Mitternacht vorüber ist.
  • In Kolomna geht es äußerst still zu; nur selten zeigt sich ein Wagen, in
  • dem Schauspieler sitzen, und der dann durch sein donnerndes Gerassel
  • allein die allgemeine Ruhe stört. Hier gibt es nur Fußgänger, so mancher
  • Droschkenkutscher kommt hier oft langsam und ohne Fahrgast dahergefahren
  • oder schleppt etwas Heu für seine struppige Mähre herbei. Eine Wohnung
  • kann man hier schon für fünf Rubel monatlich haben, den Morgenkaffee
  • miteingeschlossen. Witwen, die eine kleine Pension beziehen, gehören
  • hier schon zu den vornehmsten Leuten; das sind Damen von gutem Benehmen,
  • die ihre Zimmer oft fegen und sich mit ihren Nachbarinnen über die
  • teuren Preise des Fleisches und des Kohles unterhalten. Sie haben
  • gewöhnlich eine junge Tochter, ein wortkarges, mitunter recht niedliches
  • Geschöpf, dazu ein garstiges Hündchen und eine Wanduhr mit einem traurig
  • tickenden Pendel. Weiter gibt es hier Schauspieler, denen es ihre Gage
  • nicht gestattet, von Kolomna wegzugehen, ein freies Völkchen, das wie
  • alle Künstler nur dem Genusse lebt. Sie sitzen in ihren Schlafröcken da,
  • und reparieren wohl eine Pistole, kleben aus Pappe allerlei Gegenstände,
  • die man im Hause braucht, spielen mit einem Freunde oder Gast eine
  • Partie Dame oder Karten und verbringen so den ganzen Tag, wobei man
  • jedoch nicht etwa denken darf, daß sie am Abend etwas anderes tun,
  • höchstens daß sie zuweilen noch einen Grog zu sich nehmen. Auf diese
  • Magnaten und Aristokraten von Kolomna folgt schließlich nur noch das
  • gemeinste und verkommenste Pack; es genauer zu bezeichnen, wäre ebenso
  • schwierig, wie die Aufzählung jener zahlreichen Insekten, die in altem
  • Essig keimen. Da gibt es alte Weiber, die beten, alte Weiber, die
  • trinken, und solche, die zugleich beten und trinken, ferner solche, die
  • sich auf völlig unbekannte Weise durchschlagen, und wie emsige Ameisen
  • ganze Haufen alter Lumpen und Wäschestücke von der Kalinkin-Brücke nach
  • dem Trödelmarkte schleppen, um sie dort für fünfzehn Kopeken zu
  • verkaufen; mit einem Worte der elendeste Bodensatz der Menschheit,
  • dessen Lage selbst der menschenfreundlichste Sozialpolitiker kaum zu
  • verbessern vermöchte.
  • [Fußnote 14: Kleinbürgerstraße.]
  • All diese Leute habe ich nur zu dem Zwecke angeführt, um Ihnen zu
  • zeigen, wie oft dieses Volk in die Notlage kommt, eine plötzliche,
  • vorübergehende Hilfe in Anspruch und zu einer Anleihe seine Zuflucht zu
  • nehmen. Und in der Tat findet man unter ihnen auch viele Wucherer, die
  • ihnen gegen ein Pfand und hohe Zinsen kleinere Summen leihen. Diese
  • kleinen Wucherer sind viel herzloser und gefühlloser, als die großen,
  • denn sie entspringen aus der Armut und aus einem seine Lumpen offen zur
  • Schau stellenden Elend, das der reiche und vornehme Wucherer gar nicht
  • kennt, weil er nur mit solchen Kunden zu tun hat, die in einer eleganten
  • Equipage vorfahren, -- und daher erstirbt in ihnen schon früh jedes
  • menschliche Gefühl. Unter diesen Wucherern gab es einen ... aber hier
  • darf ich wohl erwähnen, daß das Geschehnis, welches ich Ihnen erzählen
  • will, in das verflossene Jahrhundert, nämlich in die Regierungszeit der
  • verstorbenen Zarin Katharina II. fällt. Sie können sich vorstellen, daß
  • auch das Äußere Kolomnas und ihr inneres Leben sich seitdem bedeutend
  • verändert haben. Also unter den Wucherern gab es einen, der in jeder
  • Beziehung ein ungewöhnlicher Mensch war. Er hatte sich schon vor langer
  • Zeit in diesem Viertel niedergelassen und trug stets ein weites,
  • asiatisches Gewand. Seine dunkle Gesichtsfarbe deutete auf seine
  • südliche Herkunft hin; welcher Nation er jedoch eigentlich angehörte, ob
  • er ein Inder, Grieche oder Perser war, darüber konnte niemand etwas
  • Bestimmtes aussagen. Der hohe, fast ungewöhnliche Wuchs, das dunkle,
  • magere, verbrannte Antlitz, die seltsame, auffallende Gesichtsfarbe und
  • die großen, feurigen Augen mit den finsteren, buschigen Augenbrauen
  • ließen ihn als eine markante Erscheinung unter allen aschgrauen
  • Bewohnern der Hauptstadt hervortreten. Selbst seine Behausung hatte
  • keine Ähnlichkeit mit den einförmigen Holzbaracken Kolomnas. Er wohnte
  • in einem steinernen Hause, wie sie vormals genuesische Kaufleute zu
  • errichten pflegten. Die Fenster hatten eine unregelmäßige Form, waren
  • alle verschieden groß und mit Riegeln und hölzernen Läden versehen.
  • Dieser Wucherer unterschied sich schon dadurch von seinen Kollegen, daß
  • er jeden seiner Klienten, ob es nun eine alte Bettlerin oder ein
  • verschwenderischer höherer Beamter des Hofes war, mit einer beliebigen
  • Summe zu versehen vermochte. Vor seinem Hause hielten oft elegante
  • Equipagen, aus deren Schlag bisweilen der Kopf einer feinen Weltdame
  • hervorlugte. Man erzählte sich, wie das so gewöhnlich geschieht, daß
  • seine eisernen Truhen mit unermeßlich viel Geld, Diamanten und
  • verschiedenen kostbaren Pfandgegenständen angefüllt seien, daß er aber
  • trotzdem frei von der Habgier gewöhnlicher Wucherer wäre. Er verlieh
  • sein Geld sehr gerne und setzte annehmbare äußerst bequeme
  • Zahlungstermine für seine Kunden an, nur ließ er die Zinsen durch
  • allerhand eigentümliche arithmetische Operationen zu ganz maßlosen
  • Summen anwachsen. So wenigstens urteilte Fama über ihn; was aber am
  • auffälligsten war und auf jeden Fall alle verblüffen mußte, das war das
  • seltsame Schicksal aller derer, die bei ihm Geld borgten. Sie gingen
  • alle auf klägliche Weise zugrunde. Ob es nun aber nur leeres Geschwätz,
  • nur ein sinnloses, abergläubiges Gerede der Menschen oder ein mit
  • Absicht verbreiteter Klatsch war, das blieb unbekannt. Indessen gab es
  • doch einige Fälle, die sich binnen ganz kurzer Zeit vor allen Augen
  • abspielten und die einen tiefen und überwältigenden Eindruck auf die
  • Leute machten. Damals lenkte gerade ein Jüngling aus einer vornehmen
  • aristokratischen Familie, der sich bereits in jenen Jahren im
  • Staatsdienste ausgezeichnet hatte, die Aufmerksamkeit auf sich: ein
  • glühender Verehrer alles Echten und Erhabenen, ein eifriger Förderer
  • menschlicher Geistesarbeit und hoher Kunst, mit einem Worte ein Mensch,
  • der ein wahrhafter Mäzen zu werden versprach. So kam es denn, daß er
  • sehr bald nach seinen Verdiensten von der Zarin selbst ausgezeichnet
  • wurde, die ihm ein mit seinen eigenen Wünschen und Ansprüchen
  • übereinstimmendes bedeutendes Amt und einen Posten anvertraute, auf dem
  • er viel für die Wissenschaften und für alles Gute wirken konnte. Der
  • junge Beamte umgab sich mit Künstlern, Dichtern und Gelehrten. Er wollte
  • allen Arbeit verschaffen und alle nach Kräften fördern. Er gab auf
  • eigene Kosten eine Reihe von nützlichen Werken heraus, verteilte eine
  • Menge von Aufträgen und setzte viele Preise aus; auf diese Weise
  • verausgabte er ungeheuer viel Geld und geriet schließlich in pekuniäre
  • Verlegenheiten. Aber da er ein vornehmer und hochherziger Charakter war,
  • wollte er nicht von seinem Vorhaben abstehen, er suchte überall Anleihen
  • aufzunehmen und wandte sich endlich an den uns schon bekannten Wucherer.
  • Er erhielt auch eine bedeutende Summe von ihm, aber bald darauf ging
  • eine gewaltige Veränderung mit ihm vor: er wurde mit einem Male ein
  • Verfolger und Unterdrücker aller aufstrebenden Geister und Talente. An
  • allem, was ihm vor Augen kam, entdeckte er sofort die schlechten Seiten
  • und deutete jedes harmlose Wort falsch. Um diese Zeit brach gerade die
  • französische Revolution aus, und dieses Ereignis gab ihm plötzlich den
  • Anlaß zu allen möglichen Verdächtigungen und häßlichen Taten, überall
  • fing er an, revolutionäre Umtriebe zu wittern; jedes Ereignis schien ihm
  • eine schlimme Andeutung zu enthalten. Er wurde so argwöhnisch, daß er
  • sich schließlich sogar selbst zu mißtrauen begann; er gab sich zu einer
  • ganzen Reihe abscheulicher und höchst ungerechter Denunziationen her und
  • machte dadurch unzählige Menschen unglücklich. Die Folgen einer solchen
  • Handlungsweise war natürlich die, daß das Gerücht davon bis an den Thron
  • gelangte. Die großmütige Kaiserin war ganz entsetzt und sprach sich in
  • hochherziger Weise, die der schönste Schmuck gekrönter Häupter ist,
  • darüber aus. Ihre Worte sind uns zwar nicht genau überliefert, aber ihr
  • tiefer Sinn prägte sich im Herzen vieler ein. Die Kaiserin bemerkte, es
  • seien gar nicht die monarchischen Regierungen, die die hohen und
  • vornehmen Seelenregungen unterdrückten; in einer solchen Staatsform
  • seien die Werke des Geistes, der Dichtung und der Künste keineswegs
  • verachtet und Verfolgungen ausgesetzt, vielmehr seien die Monarchen ihre
  • natürlichen Protektoren, erst unter _ihrem_ hochherzigen Schutze
  • erstände ein Shakespeare, ein Molière usw., während andererseits ein
  • Dante in seinem republikanischen Vaterlande keine Ruhestätte finden
  • konnte. Wahre Genies entfalteten sich nur in den glänzenden Zeitaltern
  • mächtiger Könige und Königreiche und nicht unter dem Einflusse häßlicher
  • politischer Vorgänge und terroristischer Republiken, die der Welt bis
  • jetzt noch keinen einzigen Dichter geschenkt hätten. Sie erklärte, man
  • müsse die Dichter und Künstler reichlich belohnen und auszeichnen, denn
  • sie schenkten der Seele Ruhe und Frieden und bewahrten sie vor häßlichen
  • Leidenschaften und Empörung; die Gelehrten, die Dichter und alle
  • schaffenden Künstler seien die Perlen und Diamanten in den Kaiserkronen:
  • sie seien der höchste Schmuck, der das Zeitalter eines großen Herrschers
  • kröne und ihm einen herrlichen Glanz verleihe. Während die Kaiserin
  • diese Worte sprach, war sie unendlich schön und göttlich. Ich erinnere
  • mich, daß die alten Leute nicht anders als mit Tränen in Augen davon
  • sprechen konnten. Alle zeigten die lebhafteste Teilnahme für den Fall.
  • Zur Ehre unserer Nation muß hier bemerkt werden, daß sich in dem Herzen
  • eines Russen stets der hochherzige Wunsch regt, die Partei der
  • Bedrückten zu ergreifen. Der hohe Beamte, der das ihm geschenkte
  • Vertrauen zu sehr mißbraucht hatte, wurde gebührend bestraft und seines
  • Amtes enthoben, aber noch eine weit peinigendere Strafe war es für ihn,
  • daß er eine unverhüllte und allgemeine Mißachtung aus den Gesichtern
  • seiner Mitbürger lesen konnte. Es läßt sich kaum beschreiben, wie sehr
  • seine eitle Seele darunter litt. Gekränkter Stolz, betrogener Ehrgeiz,
  • vernichtete Hoffnungen: all diese Empfindungen vereinigten sich zu einer
  • drückenden Qual, und in entsetzlichen Wahnsinnsanfällen riß sein
  • Lebensfaden ab. Noch ein anderer frappanter Fall trug sich gleichfalls
  • vor aller Augen zu. Von den vielen schönen Frauen, an denen unsere
  • nordische Hauptstadt damals nicht arm war, lief besonders _eine_ allen
  • anderen den Rang ab. Sie vereinigte in sich in wunderbarer Weise alle
  • Reize unserer nordischen Schönheit mit denen des Südens; das war ein
  • kostbarer Edelstein, wie man ihn nur selten auf der Welt findet. Mein
  • Vater gestand, niemals in seinem Leben etwas Ähnliches gesehen zu haben.
  • Alle Vorzüge schienen sich in diesem Wesen vereinigt zu haben: Reichtum,
  • Geld und seelische Anmut. An Bewerbern fehlte es natürlich nicht; der
  • interessanteste und hervorragendste unter ihnen aber war ein Fürst R...,
  • ein vornehmer junger Mann von wahrhaft edelem Charakter, wohlgestaltet
  • und von ritterlichem, hochherzigem Wesen, das höchste Ideal aller
  • Frauen, ein richtiger Romanheld und in allem ein echter Grandisson.
  • Fürst R. war leidenschaftlich, ja geradezu wahnsinnig in sie verliebt,
  • und seine Liebe wurde ebenso feurig erwidert. Leider erschien bloß den
  • Verwandten diese Partie als Mesalliance. Die Erbgüter seiner Familie
  • gehörten nämlich nicht mehr ihm, die ganze Familie war in Ungnade
  • gefallen, und der schlechte Zustand seiner Verhältnisse war allgemein
  • bekannt. Plötzlich verläßt der Fürst für eine Zeitlang die Hauptstadt,
  • allem Anscheine nach, um seine Verhältnisse zu regeln, taucht aber bald
  • darauf wieder auf, wobei er einen unglaublichen Prunk und Luxus
  • entfaltete. Seine glänzenden Feste und Bälle machen ihn bald bei Hofe
  • bekannt. Der Vater der Schönen ist ihm wohlgeneigt, und bald darauf
  • findet in der Stadt eine Hochzeitsfeier statt, die überall Aufsehen
  • erregt. Woher diese Veränderung und der ungeheure Reichtum des
  • Bräutigams stammte, darüber konnte freilich niemand genauere Auskunft
  • geben; man tuschelte bloß im geheimen davon, er wäre irgendwelche
  • Abmachungen mit dem rätselhaften Wucherer eingegangen und hätte bei ihm
  • eine größere Anleihe gemacht. Wie dem aber auch war, die Hochzeit
  • beschäftigte die ganze Stadt, und Bräutigam wie Braut erregten den Neid
  • aller Leute. Jedermann wußte, wie heiß und standhaft sie sich geliebt --
  • und was für lange Qualen beide zu erdulden gehabt hatten; überall
  • schätzte man sie wegen ihres edelen Charakters und ihrer hohen Vorzüge.
  • Die leidenschaftlichsten unter den Frauen malten sich schon im voraus
  • die paradiesischen Wonnen aus, die den jungen Ehegatten bevorständen.
  • Und doch kam alles anders. Im Lauf eines einzigen Jahres ging mit dem
  • Gatten eine furchtbare Veränderung vor. Das Gift einer argwöhnischen
  • Eifersucht und Unduldsamkeit schien plötzlich seinen bis dahin vornehmen
  • und makellosen Charakter angefressen zu haben; unerklärliche Launen
  • entstellten sein ganzes Wesen; er wurde ein Tyrann, der seine Frau
  • beständig quälte, und scheute schließlich -- was niemand voraussehen
  • konnte -- nicht einmal vor den unmenschlichsten Taten zurück: er
  • peinigte und schlug seine eigene Gattin. Schon nach einem Jahre war die
  • Frau nicht wieder zu erkennen, sie, die noch unlängst eine so glänzende
  • Erscheinung gewesen war und Scharen von treuen Anbetern und glühenden
  • Verehrern angezogen hatte. Endlich ließ sie -- unfähig, ihr schweres Los
  • noch weiter zu ertragen -- ein Wort über Scheidung fallen, aber der
  • Gatte geriet schon bei dem leisesten Gedanken daran in Wut. In der
  • ersten Erregung drang er mit einem Messer bewaffnet in ihr Zimmer ein,
  • und er hätte sie zweifellos sofort niedergestochen, wenn er nicht
  • überwältigt und festgehalten worden wäre. Ganz außer sich und voller
  • Verzweiflung zückte er sein Messer gegen sich selbst und beschloß sein
  • Leben in schrecklichen Qualen.
  • Außer diesen beiden Fällen, die sich vor den Augen der ganzen Welt
  • abgespielt hatten, wurde noch eine Reihe anderer erzählt, die sich unter
  • den niedren Klassen zutrugen, und die fast alle einen ebenso
  • entsetzlichen Ausgang nahmen. Ehrliche, nüchterne Männer wurden
  • plötzlich zu Trunkenbolden, Gehilfen bestahlen ihre Chefs, ein
  • Droschkenkutscher, der viele Jahre hindurch ehrlich und fleißig gedient
  • hatte, erstach auf einmal einen Fahrgast wegen einiger Pfennige.
  • Natürlich mußten solche Erzählungen, die noch dazu meist sehr
  • ausgeschmückt und übertrieben waren, den einfältigen Bewohnern Kolomnas
  • eine Art unwillkürlichen Grauens einflößen. Niemand zweifelte mehr
  • daran, daß dieser Mann mit der Hölle im Bunde stehe. Man erzählte sich,
  • daß er seinen Kunden Bedingungen stelle, die einem die Haare zu Berge
  • steigen ließen, und die der unglückliche Schuldner nie einem andern
  • mitzuteilen wagte; daß sein Geld eine besondere Anziehungskraft ausübe,
  • von selbst zu glühen anfange und seltsame Merkzeichen an sich trage ...,
  • mit einem Worte, es waren viele unsinnige Gerüchte über ihn im Umlauf.
  • Und so ist es denn auch nicht weiter merkwürdig, daß die ganze
  • Einwohnerschaft Kolomnas, diese ganze Welt armer alter Frauen, kleiner
  • Beamter und untergeordneter Schauspieler, kurz, all dieses elenden
  • Volkes, das wir soeben beschrieben haben, lieber alle Leiden und die
  • höchste Not auf sich nehmen, als den schrecklichen Wucherer um ein
  • Darlehn angehn wollte, es gab sogar arme alte Frauen, die es vorzogen,
  • vor Hunger zu sterben, als ihre Seele zugrunde zu richten. Wenn man dem
  • Wucherer auf der Straße begegnete, wurde man unwillkürlich von einer
  • seltsamen Angst ergriffen. Die Passanten wichen ihm furchtsam aus,
  • drehten sich immer wieder nach ihm um und verfolgten die in der Ferne
  • verschwindende riesenhafte Gestalt noch lange mit ihren Blicken. Schon
  • in seinem Äußern lag so viel Ungewöhnliches, daß jedermann unwillkürlich
  • den Eindruck hatte, es mit einem übernatürlichen Wesen zu tun zu haben.
  • Diese harten, scharf gemeißelten Züge, wie man sie selten bei einem
  • Menschen antrifft, diese glühende, bronzene Gesichtsfarbe, diese dichten
  • buschigen Augenbrauen, die unerträglich schrecklichen Augen, selbst
  • seine weite, bauschige asiatische Kleidung -- alles schien darauf
  • hinzudeuten, daß alle Leidenschaften anderer Menschen vor denen, die
  • dieser Körper in sich barg, verbleichen mußten. Jedesmal, wenn mein
  • Vater ihm begegnete, blieb er unbeweglich stehen und konnte sich bei
  • solch einer Gelegenheit nicht enthalten, laut auszurufen: »Ein Teufel!
  • Ein wahrhaftiger Teufel!« Doch nun muß ich Sie schnell noch mit meinem
  • Vater bekannt machen, der übrigens der eigentliche Held dieser
  • Geschichte ist.
  • Mein Vater war in vielen Beziehungen ein merkwürdiger Mensch. Er war ein
  • seltener Künstler, einer von denen, wie sie nur Rußland aus seinem
  • jungfräulichen Schoße erzeugt, ein Autodidakt, der alle künstlerischen
  • Gesetze und Regeln ohne Lehrer und ohne die Anleitung der Schule ganz
  • aus sich selbst heraus entdeckt hatte, und in dem mächtigen Drange nach
  • ständiger Vervollkommnung, aus Gründen, die ihm vielleicht selbst
  • unbekannt blieben, immer den Weg ging, den ihm sein Instinkt wies: er
  • war eines jener ursprünglichen Wunder, die von den Zeitgenossen nicht
  • selten mit dem verletzenden Beiwort »ungebildeter Mensch« bezeichnet und
  • die durch Angriffe und eigenes Mißgeschick nicht ernüchtert und
  • abgekühlt werden, sondern nur noch neuen Eifer und neuen Drang aus ihnen
  • schöpfen und dann jene Werke innerlich weit hinter sich lassen, die
  • ihnen den oben erwähnten Titel eingebracht haben. Er erkannte in jedem
  • Gegenstand intuitiv die Gegenwart einer Idee; ganz von selbst ging ihm
  • die wahre Bedeutung des Wortes »Historische Malerei« auf, er begriff,
  • warum ein einfacher Zopf, ein schlichtes Porträt von Raffael, Lionardo
  • da Vinci, Tizian oder Correggio einen Anspruch auf diese Bezeichnung
  • hatten, während ein riesiges Gemälde geschichtlichen Inhalts dennoch nur
  • ein Genrebild bleiben konnte, trotz aller Prätensionen des Malers, damit
  • ein großes historisches Gemälde geschaffen zu haben. Sowohl eigene
  • Neigung als innere Überzeugung führten ihn den religiösen Stoffen des
  • Christentums, der höchsten und letzten Stufe des Erhabenen, zu. Er besaß
  • weder Ehrgeiz, noch Empfindlichkeit, Eigenschaften, die leider bei so
  • vielen Künstlern einen wesentlichen Bestandteil ihres Charakters bilden.
  • Dies war eine herbe Persönlichkeit, ein ehrlicher, gerader, beinahe
  • grober Mensch, der sich nach außen durch eine harte Rinde gegen die
  • Umwelt abschloß und innerlich nicht ohne Stolz war, der sich jedoch über
  • seine Mitmenschen zwar stets in schroffer Weise, doch zugleich milde und
  • versöhnlich äußerte. »Wozu soll ich mich nach ihnen richten?« pflegte er
  • gewöhnlich zu sagen; »ich arbeite ja nicht für sie! Ich will meine
  • Bilder ja nicht in einem Salon bewundern lassen! Wer mich versteht, wird
  • mir sicher dankbar sein. Einem Mann aus der vornehmen Gesellschaft kann
  • man es nicht weiter verargen, wenn er nichts von Malerei versteht; dafür
  • versteht er was von Karten, von guten Weinen oder Pferden ... Wozu
  • braucht denn ein großer Herr auch mehr zu wissen? Wenn so ein Mensch
  • erst von allem gekostet hat und sich auf das Geistreicheln verlegt, dann
  • ist er erst recht nicht zu ertragen. _Suum cuique!_ Schuster bleib bei
  • deinen Leisten! Meiner Meinung nach ist ein Mensch, der es offen
  • eingesteht, wo er nicht Bescheid weiß, einem Heuchler vorzuziehen, der
  • so tut, als ob er etwas von Dingen versteht, von denen er gar keine
  • Ahnung hat, und der nur herumpfuscht und andre Leute schädigt.« Er
  • arbeitete schon für den bescheidensten Preis, der ihm nur die Mittel zum
  • Unterhalt seiner Familie und die Möglichkeit zu weiterem Schaffen bot.
  • Auch weigerte er sich niemals, einem andern zu helfen und einem armen
  • Kollegen hilfreich die Hand zu reichen. Er hatte sich den einfachen,
  • frommen Glauben unserer Ahnen erhalten, und das war vielleicht der
  • Grund, daß es ihm so gut gelang, den von ihm gemalten Gesichtern jenen
  • hohen Ausdruck zu verleihen, nach dem so manches große Talent vergebens
  • strebt. Endlich glückte es ihm, durch unausgesetzte Arbeit und rastlose
  • Verfolgung des einmal vorgesteckten Zieles auch die Achtung derer zu
  • erringen, die ihn früher einen ungebildeten Menschen und einen
  • hausbackenen Autodidakten genannt hatten. Er bekam Aufträge, Wandgemälde
  • für Kirchen zu malen, und es fehlte ihm nie an Arbeit. Einmal war er
  • gerade durch solch ein Werk sehr in Anspruch genommen. Ich erinnere mich
  • nicht mehr genau an das Sujet und weiß nur noch, daß auf dem Gemälde der
  • gefallene Engel, der Geist der Finsternis, dargestellt werden sollte.
  • Dieses Problem beschäftigte ihn lange Zeit: Wie würde er ihn malen? In
  • der Person dieses Engels mußte der furchtbare Druck und die Pein, die
  • auf dem Menschen lastet, zum Ausdruck kommen. Hierbei schwebte ihm wohl
  • oft das Bild des rätselhaften Wucherers vor, und er dachte sich
  • unwillkürlich: »Das wäre das rechte Vorbild für meinen Teufel!« Und nun
  • stellen Sie sich selbst vor, wie erstaunt und erschrocken er war, als
  • eines Tages, während er arbeitete, an die Tür seines Ateliers gepocht
  • wurde, und der schreckliche Wucherer bei ihm eintrat. Kein Wunder, daß
  • sein Inneres erbebte, und ein heftiges Zittern seinen ganzen Körper
  • überlief.
  • »Du bist Maler?« fragte er, ohne viel Umstände zu machen, meinen Vater.
  • »Ja, ich bin Maler!« versetzte mein Vater verwirrt und gespannt, was nun
  • folgen würde.
  • »Gut! Dann porträtiere mich! Ich werde vielleicht bald sterben! Kinder
  • habe ich nicht. Aber ich will nicht ganz untergehen, ich will
  • weiterleben. Kannst du mir ein solches Porträt malen, das den vollen
  • Eindruck des Lebens macht?«
  • Mein Vater dachte: »Was kann ich mir Besseres wünschen? Er bietet sich
  • mir selbst als Modell für den Teufel an!« So willigte er denn ein, sie
  • einigten sich über Zeit und Preis, und gleich am nächsten Tage erschien
  • mein Vater mit Pinsel und Palette bei ihm. Der Hof mit den hohen Mauern,
  • die Hunde, die eisernen Tore und Riegel, die bogenförmigen Fenster, die
  • mit merkwürdigen Teppichen bedeckten Truhen und endlich der seltsame
  • Hausherr selbst, der ihm unbeweglich gegenüber saß: all das machte einen
  • eigentümlichen Eindruck auf ihn. Die Fenster waren wie mit Absicht unten
  • so verstellt und verhängt, daß das Licht nur von oben hereindringen
  • konnte. »Hol's der Teufel! wie fein sein Gesicht jetzt beleuchtet ist!«
  • sagte er vor sich hin und fing eifrig an zu arbeiten, wie wenn er
  • befürchtete, daß die günstige Beleuchtung bald verschwinden könne. »Was
  • für eine Kraft in ihm liegt,« wiederholte er leise; »wenn es mir nur zur
  • Hälfte gelingt, ihn so darzustellen, wie er jetzt dasitzt, dann wird er
  • alle meine früheren Arbeiten in den Schatten stellen. Er wird mir
  • wahrhaftig aus der Leinwand herausspringen, wenn ich der Natur auch nur
  • im mindesten treu bleibe. Was für auffallende Züge!« wiederholte er
  • unaufhörlich, indem er noch eifriger arbeitete, und nun sah er selbst,
  • wie schon einige Partien des Gesichts auf der Leinwand erschienen. Aber
  • je mehr er sich ihnen näherte, ein desto stärkeres, ihm selbst
  • unbegreifliches Gefühl der Unruhe und der Furcht überfiel ihn. Trotzdem
  • aber nahm er sich vor, jede kaum merkliche Linie, jeden kleinsten
  • Ausdruck mit peinlicher Genauigkeit zu registrieren. Vor allem
  • beschäftigte er sich mit der Darstellung der Augen; in ihnen lag so viel
  • Kraft, daß man offenbar gar nicht hoffen durfte, ihr tiefstes Wesen auf
  • dem Bilde wiederzugeben. Dennoch hatte er sich fest vorgenommen, um
  • jeden Preis alle, auch die unwesentlichsten Töne und Schattierungen aus
  • ihnen herauszuholen und ihr Geheimnis zu ergründen ... Aber kaum hatte
  • er begonnen, sich in sie zu versenken und zu vertiefen, als ein solch
  • unbegreiflicher Druck, ein solch eigentümlicher Widerwille seine Seele
  • erfaßte, daß er für einige Zeit den Pinsel niederlegen mußte, um erst
  • nach dieser Ruhepause die Arbeit wieder aufzunehmen. Endlich konnte er
  • es nicht länger ertragen; er fühlte, wie sich diese Augen in seine Seele
  • bohrten und eine sonderbare Unruhe in ihr hervorriefen. Am dritten Tage
  • wurde dieses Gefühl noch intensiver. Ihm wurde ganz ängstlich zumute. Er
  • warf den Pinsel in die Ecke und erklärte dem Wucherer mit Nachdruck, er
  • könne ihn unmöglich weiter malen. Da hätte man sehen müssen, welche
  • Veränderung diese Worte in dem schrecklichen Manne hervorriefen. Er warf
  • sich plötzlich vor dem Maler auf die Knie, umklammerte seine Füße und
  • flehte ihn an, das Porträt zu vollenden, er erklärte, daß sein ganzes
  • Schicksal und seine ganze irdische Existenz von diesem Porträt abhingen,
  • schon jetzt habe ja des Künstlers Pinsel seine lebendigen Züge auf der
  • Leinwand festgehalten -- wenn diese Züge genau im Bilde fixiert würden
  • -- werde sein Leben durch eine übernatürliche Macht im Porträt weiter
  • fortbestehen; dann brauche er nicht ganz zu sterben, und er werde der
  • Welt erhalten bleiben. Diese Bitten entsetzten meinen Vater; sie
  • erschienen ihm so ungewöhnlich und frevelhaft, daß er Pinsel und Palette
  • wegwarf und jählings aus dem Zimmer stürzte.
  • Der Gedanke an dieses Ereignis beunruhigte ihn die ganze Nacht und den
  • ganzen Tag hindurch; am andern Morgen ließ ihm der Wucherer durch eine
  • Frau, das einzige Wesen, das bei ihm diente, das Porträt zustellen. Sie
  • erklärte ihm ohne alle Umschweife, daß ihr Herr das Bild nicht haben
  • wolle, nichts dafür bezahlen werde und es ihm daher zurücksende. Am
  • Abend desselben Tags erhielt er die Kunde von dem Tode des Wucherers,
  • und die Nachricht, daß er demnächst nach dem Brauche seiner Religion
  • beigesetzt werden solle. Dies alles erschien ihm höchst unerklärlich und
  • seltsam, zu alledem aber machten sich von diesem Moment an in seinem
  • Charakter gewisse Veränderungen bemerkbar. Er litt unter einer
  • merkwürdigen Erregtheit und Ruhelosigkeit, deren Ursache er selbst nicht
  • begreifen konnte, ja er tat bald darauf etwas, was wohl niemand von ihm
  • erwartet hätte. Seit einer gewissen Zeit lenkten die Arbeiten eines
  • seiner Schüler die Aufmerksamkeit eines kleinen Kreises von Kennern und
  • Liebhabern auf sich; mein Vater hatte sein Talent immer anerkannt und
  • eine tiefe Neigung für ihn gefaßt. Jetzt aber wurde er plötzlich von
  • einem häßlichen Neid gegen ihn ergriffen. Die allgemeine Sympathie, die
  • sich in den Unterhaltungen über ihn äußerte, wurde meinem Vater ganz
  • unerträglich. Endlich erfuhr er zu seinem großen Verdruß, daß sein
  • Schüler den Auftrag erhalten hatte, ein Bild für eine erst vor kurzem
  • vollendete prachtvolle Kirche zu malen. Das versetzte ihn in eine
  • furchtbare Wut. »Ich werde diesem Grünschnabel doch nicht den Triumph
  • gönnen!« rief er aus. »Nein, mein Lieber, du hoffst zu früh, die Alten
  • in den Staub zu ziehen! Gott sei Dank, noch fühle ich genug Kraft in
  • mir! Wir wollen doch abwarten, wer den andern zuerst in den Staub
  • zieht!« Und der biedere, in seinem Kerne grundehrliche Mann wandte sich
  • allen möglichen Ränken und Schleichwegen zu, die er bisher stets
  • verabscheut hatte, und brachte es endlich auch so weit, daß um den
  • Auftrag für das Kirchenbild ein allgemeiner Wettbewerb ausgeschrieben
  • wurde, an dem sich natürlich auch andere Künstler beteiligten durften.
  • Hierauf schloß er sich in seinem Atelier ein und machte sich eifrig an
  • die Arbeit. Es schien, als ob sich seine ganzen Kräfte und seine ganze
  • Persönlichkeit auf dieses Gemälde konzentriert hätten, und in der Tat
  • kam so eins seiner besten Werke zustande. Niemand zweifelte daran, daß
  • ihm die Palme zufallen würde. Die Bilder wurden der Jury eingereicht,
  • aber alle anderen Werke verhielten sich zu diesem wie die Nacht zum
  • Tage. Plötzlich jedoch machte einer der anwesenden Kunstrichter -- wenn
  • ich nicht irre, ein Geistlicher -- eine Bemerkung, die alle überraschte.
  • »In dem Bilde dieses Künstlers offenbart sich wirklich ein starkes
  • Talent,« meinte er, »aber den Gesichtern geht der fromme, heilige
  • Ausdruck ab. Es liegt vielmehr etwas Dämonisches in diesen Augen, als
  • hätte eine böse Macht die Hand des Künstlers geführt.« Alle blickten
  • hin, und in der Tat, die Wahrheit dieser Worte ließ sich nicht
  • bestreiten. Mein Vater stürzte auf sein Bild los, wie um diese
  • verletzende Bemerkung selbst auf ihre Berechtigung hin zu prüfen, aber
  • er gewahrte mit Entsetzen, daß er allen seinen Gestalten die Augen des
  • Wucherers verliehen hatte. Sie blickten ihn so teuflisch und vernichtend
  • an, daß er selbst unwillkürlich schauderte. Das Bild wurde abgelehnt,
  • und er mußte zu seinem unbeschreiblichen Ärger erfahren, daß die Palme
  • seinem Schüler zufiel. Es läßt sich unmöglich beschreiben, in welcher
  • Wut und Raserei er nach Hause zurückkehrte. Er hätte beinahe meine
  • Mutter geschlagen, er warf die Kinder hinaus, zerbrach Pinsel und
  • Staffeleien, riß das Porträt des Wucherers von der Wand, ließ sich ein
  • Messer geben und wollte Feuer im Kamin entzünden, um das Bild -- nachdem
  • er es in Stücke geschnitten hätte -- zu verbrennen. Aber bei diesem
  • Vorhaben wurde er durch die Ankunft eines Freundes überrascht, der
  • soeben in das Zimmer getreten war. Dieser Freund war gleich ihm ein
  • Maler, ein lustiger Bursche, der stets mit sich zufrieden war, sich
  • nicht mit weitliegenden Plänen abgab und alle Arbeiten, die ihm unter
  • die Hand kamen, fröhlich in Angriff nahm, um sich nach deren Beendigung
  • noch fröhlicher ans Schlemmen und Zechen zu machen.
  • »Was hast du da? Was willst du verbrennen?« fragte er ihn, indem er an
  • das Porträt herantrat. »Aber ich bitte dich, das ist ja eines deiner
  • besten Werke! Das ist ja der Wucherer, der erst kürzlich gestorben ist!
  • Ja, das ist ein vollkommenes Kunstwerk! Den hast du nicht bloß
  • vorzüglich getroffen, du bist ihm sozusagen in die Augen
  • hineingekrochen! So lebhaft haben sie ja nicht einmal geblickt, als er
  • noch am Leben war, wie hier bei dir!«
  • »Ich möchte gern sehen, wie sie mich aus dem Feuer anblicken werden!«
  • sagte mein Vater, während er eine Bewegung machte, um das Porträt in den
  • Kamin zu schleudern. »Halt, um Gottes willen,« fiel der Freund ein und
  • hielt ihn am Arme fest. »Gib es doch lieber mir, wenn es dir so lästig
  • ist!« Mein Vater sträubte sich anfangs, gab aber schließlich nach, und
  • der lustige Kerl schleppte -- höchst erfreut über diese Erwerbung -- das
  • Porträt mit sich fort.
  • Nachdem er fortgegangen war, fühlte sich mein Vater mit einem Male
  • ruhiger, als wäre ihm mit der Entfernung des Porträts eine Last vom
  • Herzen gefallen. Er wunderte sich selbst über seinen Zorn, seinen Neid
  • und die offenkundige Wandlung in seinem Charakter. Er dachte lange über
  • seine Tat nach, war in tiefster Seele betrübt und sagte mit innerem Gram
  • zu sich selbst: »Nein! Diese Strafe hat mir Gott auferlegt! Es war
  • wohlverdient, daß mein Bild zurückgewiesen wurde; es war ja nur zu dem
  • Zwecke geschaffen, um meinen Genossen zu vernichten. Ein teuflisches
  • Gefühl des Neides hat meinen Pinsel geführt, daher mußte sich auch ein
  • teuflisches Gefühl in dem Bilde wiederspiegeln.« Sofort suchte er seinen
  • ehemaligen Schüler auf, umarmte ihn stürmisch, bat ihn um Verzeihung und
  • bemühte sich -- soweit es ihm möglich war -- seine Schuld wieder gut zu
  • machen. Von nun ab war er wieder friedlich bei der Arbeit wie ehedem,
  • aber jetzt konnte man immer ein tiefes Sinnen in seinen Zügen bemerken.
  • Er betete häufiger, er war viel schweigsamer als früher und drückte sich
  • nicht mehr so schroff über die Menschen aus. Selbst das herbe Äußere
  • seines Wesens schien sich verloren zu haben. Bald darauf aber ereignete
  • sich etwas, was ihn noch tiefer erschütterte. Er hatte seinen Freund,
  • der sich das Porträt von ihm ausgebeten hatte, schon seit längerer Zeit
  • nicht gesehen und sich schon mehrmals vorgenommen, ihn zu besuchen, da
  • erschien dieser selbst eines Tages plötzlich in seinem Atelier. Nachdem
  • beide ein paar gleichgültige Worte gewechselt hatten, sagte der Freund:
  • »Du hattest nicht so ganz unrecht, Bruder, als du das Porträt verbrennen
  • wolltest! Mag es der Teufel holen; es hat etwas Schreckliches an sich!
  • Ich glaube an keine Hexerei, aber man mag sagen, was man will! -- ich
  • glaube, der Böse sitzt darin.«
  • »Wieso?« fragte mein Vater.
  • »Seitdem ich es bei mir aufgehängt habe, liegt es auf mir wie ein
  • furchtbarer Druck ... als ob ich jemand ermorden wollte. Zeit meines
  • Lebens wußte ich nicht, was Schlaflosigkeit heißt, jetzt aber habe ich
  • nicht nur diesen Zustand kennen gelernt, ich habe auch solche Träume ...
  • d. h. ich weiß selbst nicht recht, ob es nur Träume sind oder noch
  • irgend etwas anders: wie wenn mich ein böser Geist erwürgen will ... und
  • immer spukt der verfluchte Alte im Zimmer herum. Mit einem Worte, ich
  • kann dir meinen Zustand gar nicht schildern. Niemals ist mir so etwas
  • passiert. Ich bin all diese Tage wie ein Wahnsinniger herumgelaufen ...
  • Eine entsetzliche Angst verfolgte mich, immer wartete ich auf etwas
  • Furchtbares, ich fühlte, wie ich zu niemand ein fröhliches und
  • aufrichtiges Wort sagen konnte, stets schien es mir, als würde ich
  • beobachtet und bespitzelt. Erst nachdem ich das Porträt meinem Neffen
  • geschenkt habe, der es sich selbst von mir erbeten hat, ist mir's, als
  • wenn mir ein Stein vom Herzen gefallen wäre. Mit einem Schlage wurde mir
  • wieder froh zumute, so wie du mich hier vor dir siehst! Wahrhaftig,
  • Freund, da hast du aber einen schönen Teufel geschaffen!«
  • Mein Vater lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit auf diese Erzählung
  • und fragte schließlich: »Und jetzt ist das Porträt bei deinem Neffen?«
  • »Ach was! Bei meinem Neffen ... Der hielt es ja auch nicht aus!«
  • versetzte der Spaßvogel. »Des Wucherers eigene Seele scheint in dieses
  • Porträt hinübergewandert zu sein. Er springt aus dem Rahmen, spaziert in
  • dem Zimmer herum -- und was mein Neffe sonst noch darüber erzählt, geht
  • über jede Beschreibung. Ich würde ihn tatsächlich für verrückt halten,
  • hätte ich nicht fast ganz das Gleiche erlebt. Er hat das Porträt an
  • irgend einen Kunstfreund verkauft, aber auch dieser konnte es nicht
  • aushalten und hat es seinerseits wieder einem andern aufgehalst.«
  • Diese Worte machten einen tiefen Eindruck auf meinen Vater. Er versank
  • in tiefes Grübeln, wurde melancholisch und gelangte endlich zur
  • Überzeugung, daß sein Pinsel dem Teufel als Werkzeug gedient hatte, daß
  • das Leben des Wucherers tatsächlich zum Teil auf das Porträt
  • übergegangen war, und daß es jetzt die Menschen beunruhige, ihnen
  • dämonische Empfindungen einflöße, Künstler vom rechten Wege abbringe,
  • häßliche Anwandlungen von Neid erzeuge usw. Drei Unglücksfälle, die sich
  • unmittelbar darauf ereigneten: der plötzliche Tod seiner Frau, seiner
  • Tochter und seines kleinen Sohnes, erschütterten ihn aufs tiefste, er
  • hielt sie für eine Strafe des Himmels und entschloß sich, aus dem
  • weltlichen Leben zu scheiden.
  • Gleich nach Vollendung meines neunten Jahres ließ er mich in die
  • Kunstschule eintreten und zog sich selbst nach Erledigung seiner
  • geschäftlichen Angelegenheiten in ein einsames Kloster zurück, wo er
  • bald die Mönchskutte anlegte. Dort setzte er alle Brüder durch seine
  • asketische Lebensführung und durch die strenge Beobachtung aller
  • Klostersatzungen in Erstaunen. Als der Prior erfahren hatte, daß er ein
  • Maler sei, trug er ihm auf, für die Klosterkirche das Bild ihres
  • Heiligen zu malen. Aber der fromme und demütige Bruder erklärte
  • entschieden, daß er unwürdig sei, den Pinsel zu führen, weil er ihn
  • entweiht habe, und daß er seine Seele zuerst durch harte Arbeit und
  • schwere Opfer reinigen müsse, um wieder würdig zu sein, eine solche
  • Arbeit zu übernehmen. Zwingen wollte man ihn nicht. Er versuchte es für
  • seine Person -- soweit dies möglich war -- die strengen Satzungen des
  • Klosterlebens noch zu verschärfen; schließlich genügte ihm jedoch auch
  • dieses nicht mehr, es erschien ihm nicht hart genug. Er erbat sich den
  • Segen des Priors, verließ das Kloster und zog sich in eine völlige
  • Einsamkeit zurück. Er baute sich aus Baumzweigen eine Hütte, nährte sich
  • nur von rohen Wurzeln, trug Steine von einer Stelle zur andern, stand
  • von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang mit gen Himmel erhobenen Armen da,
  • murmelte beständig Gebete -- mit einem Worte, er erlegte sich alle nur
  • möglichen Geduldsproben und Prüfungen auf, für die man nur in den
  • Lebensbeschreibungen der Heiligen Beispiele finden kann. So peinigte er
  • einige Jahre hindurch seinen Körper und stärkte ihn gleichzeitig mit
  • Hilfe der belebenden Kraft des Gebetes. Endlich erschien er eines Tages
  • wieder in dem Kloster und sprach entschlossen zum Prior: »Jetzt bin ich
  • bereit! Wenn es Gott gefällt, werde ich meine Arbeit vollenden.«
  • Der Gegenstand, den er darstellen wollte, war die Geburt Jesu. Ein
  • ganzes Jahr verbrachte er bei seiner Arbeit, ohne seine Zelle zu
  • verlassen, wobei er sich nur notdürftig durch kärgliche Nahrung am Leben
  • erhielt und ununterbrochen betete. Als diese Zeit vorüber war, war das
  • Bild fertig. Es war ein Wunderwerk der Malerei geworden. Hier muß ich
  • bemerken, daß weder die Brüder, noch der Prior viel von der Malerei
  • verstanden, aber alle waren über die ungewöhnliche Reinheit und
  • Heiligkeit der Gestalten aufs höchste erfreut. Eine göttliche Demut und
  • Milde in den Zügen der heiligen Gottesmutter, die sich über ihr Kind
  • beugt, ein tiefes Sinnen in den Augen des göttlichen Kindes, das schon
  • etwas von der Zukunft zu erkennen scheint, ein feierliches Schweigen der
  • von dem göttlichen Wunder überwältigten Könige, die vor dem Kinde knien,
  • und endlich eine überirdische, unbeschreibliche Stille, die über dem
  • ganzen Bilde lag: dies alles verband sich zu einer so harmonischen Kraft
  • und Macht der Schönheit, daß der Eindruck ein geradezu zauberischer,
  • magischer war. Alle Brüder stürzten vor dem neuen Bilde auf die Knie,
  • und der gerührte Prior sprach: »Wahrlich! Es ist nicht möglich, daß ein
  • Mensch nur mit Hilfe menschlicher Kunst ein solches Bild zu schaffen
  • vermochte; eine höhere, heilige Kraft hat deinen Pinsel geführt; des
  • Himmels Segen ruhte auf deinem Werke!«
  • Um diese Zeit schloß ich mein Studium in der Akademie ab, ich erhielt
  • die goldene Medaille und mit ihr eröffnete sich mir die frohe Aussicht
  • auf eine Kunstreise nach Italien, den schönsten Traum eines
  • zwanzigjährigen Künstlers. Ich hatte nur noch die Pflicht, mich von
  • meinem Vater, von dem ich seit zwölf Jahren getrennt lebte, zu
  • verabschieden. Ich muß gestehen, daß sein Bild längst aus meiner
  • Erinnerung geschwunden war. Ich hatte einiges über die Strenge und
  • Heiligkeit seines Lebens gehört und bereitete mich schon im voraus
  • darauf vor, das herbe Äußere eines durch das ewige Fasten und Wachen
  • abgemagerten und vertrockneten Anachoreten zu erblicken, für den nichts
  • auf der Welt existiert, als seine Zelle und seine Gebete. Aber wie war
  • ich erstaunt, als ich mich plötzlich einem herrlichen, göttlichen Greise
  • gegenüber befand! In seinem Gesichte spiegelte sich auch nicht die
  • geringste Ermattung oder Müdigkeit, es strahlte vielmehr von der
  • Klarheit und Helligkeit einer himmlischen Freude. Ein schneeweißer Bart
  • und ganz dünne, fast ätherische Haare von der gleichen silbrigen Farbe
  • bedeckten malerisch seine Brust und die Falten seiner schwarzen Kutte,
  • und reichten bis zu dem Stricke herab, der sein ärmliches Mönchsgewand
  • umgürtete. Am meisten jedoch wunderte ich mich darüber, aus seinem Munde
  • Gedanken und Worte über die Kunst zu vernehmen, die ich sicherlich noch
  • lange in meiner Seele bewahren werde. Und ich wünschte aufrichtig, daß
  • ein jeder meiner Kollegen ein Gleiches tue.
  • »Ich habe auf dich gewartet, mein Sohn,« sagte er, während er mich
  • segnete; »dir steht ein Weg bevor, den du von nun an dein ganzes Leben
  • hindurch beschreiten wirst. Dein Weg ist rein, irre nicht von ihm ab. Du
  • hast Talent, Talent aber ist die kostbarste Gabe Gottes. Richte es also
  • nicht zugrunde. Erforsche, studiere alles was du siehst! Mache alles
  • deinem Pinsel dienstbar! Doch strebe stets danach, in jedem Ding die
  • innere Idee zu entdecken, und vor allem das tiefe Geheimnis der
  • Schöpfung zu ergründen. Selig ist der Auserwählte, der es enthüllt hat.
  • Für ihn gibt's in der Natur kein gemeines Motiv. Im Geringen und Kleinen
  • bleibt der wahrhaft schöpferische Künstler ebenso erhaben wie im Großen.
  • Das Verächtliche wirkt nicht mehr verächtlich, weil es von der
  • herrlichen Seele des Schöpfers durchleuchtet wird und einen hohen
  • Ausdruck erhält, indem es durch das reinigende Feuer seines Geistes
  • hindurchgeht. Die Kunst läßt den Menschen das zukünftige himmlische
  • Paradies ahnen; schon aus diesem Grunde steht sie höher als alles
  • andere. Und wie die feierliche Ruhe jede weltliche Erregung, wie das
  • Schaffen die Zerstörung, wie der Engel -- bloß durch die reine Unschuld
  • seiner lichten Seele -- all die unzählbaren Kräfte und stolzen
  • Leidenschaften des Satans übertrifft, so steht erhaben über allem, was
  • es auf der Welt gibt, das hohe Werk der Kunst! Ihr sollst du alles zum
  • Opfer bringen, sie mußt du lieben mit dem ganzen Feuer deiner Seele,
  • nicht mit der Inbrunst, die die irdische Wollust entfacht, sondern mit
  • einer stillen himmlischen Begeisterung; ohne sie ist der Mensch nicht
  • imstande, sich über die Erde zu erheben und die hohe wunderbare Harmonie
  • zu erzeugen, die den Frieden in unser Herz gießt. Denn um die ganze Welt
  • zu dieser Besänftigung und Versöhnung zu bringen, steigt ja ein edles
  • Kunstwerk zu uns vom Himmel herab. Daher erregt es nie Unfrieden und
  • Empörung in der Seele, sondern strebt ewig, gleich einem wundersam
  • klingenden Gebet, zu Gott empor. Freilich gibt es Augenblicke, finstere
  • Augenblicke ...« Er hielt inne und ich sah, wie sich plötzlich sein
  • klares Antlitz verdüsterte, als hätte eine Wolke es beschattet. »Ich
  • hatte ein Erlebnis ...« fuhr er fort, »bis auf den heutigen Tag ist mir
  • nicht klar, was jene rätselhafte Gestalt bedeutete, deren Porträt ich
  • damals gemalt habe. Es war wie eine teuflische Erscheinung. Ich weiß,
  • die Welt leugnet die Existenz des Teufels, und daher will auch ich nicht
  • über ihn sprechen. Ich will nur sagen, daß ich jenen Mann nur mit einem
  • heftigen Widerwillen gemalt habe. Ich arbeitete ohne jede Freude und
  • Liebe an meinem Werk. Ich mußte mich mit Gewalt zur Arbeit zwingen. Ich
  • suchte mein inneres Gefühl zu betäuben und der Natur treu zu bleiben.
  • Das war kein Kunstwerk, das ich schuf, und daher sind auch die
  • Empfindungen, die sich beim Anblick dieses Bildes aller Menschen
  • bemächtigen, wild und rebellisch; es sind Gefühle der Unruhe, die es
  • erzeugt, und keine Offenbarungen hoher Kunst, weil der Künstler auch in
  • der Wiedergabe der Leidenschaft die edle Ruhe bewahrt. Ich habe gehört,
  • daß dieses Porträt von Hand zu Hand geht und überall quälende,
  • peinigende Eindrücke erregt, daß es im Künstler Gefühle des Neides, des
  • dumpfen Hasses gegen seine Genossen und den bösen Trieb zur Verfolgung
  • und Unterdrückung entfache. Möge der Allerhöchste dich vor solchen
  • Leidenschaften bewahren! Es gibt nichts Entsetzlicheres als sie. Es ist
  • besser, alle Leiden eines Gehetzten und Verfolgten auf sich zu nehmen,
  • als einem andern auch nur das geringste Unrecht zuzufügen. Rette die
  • Reinheit deiner Seele! Wem ein Talent geschenkt ward, dessen Seele muß
  • reiner und edler sein, denn die der andern. Jenen wird vieles verziehen
  • werden, ihm aber nichts. Den, der sein Haus in einem festlichen Gewande
  • verläßt, braucht nur ein vorüberfahrender Wagen ein wenig mit Kot zu
  • bespritzen, und schon umringen ihn hunderte von Leuten, zeigen mit den
  • Fingern auf ihn und spotten über seine Nachlässigkeit, während ein
  • anderer von unten bis oben beschmutzt sein kann, ohne daß es die Menge
  • bemerkt; er trägt einen gewöhnlichen Alltagsrock, und da fällt es eben
  • nicht weiter auf.«
  • Nach diesen Worten segnete er und umarmte er mich. Niemals in meinem
  • Leben fühlte ich mich so erhoben wie an diesem Tage. Mit tiefer
  • Ehrfurcht und einem Gefühle seltener Bewunderung, das mehr war, als
  • einfache Kindesliebe, schmiegte ich mich an seinen Busen und küßte seine
  • herabhängenden, silberweißen Haare.
  • Eine Träne glänzte in seinen Augen. »Erfülle mir noch eine Bitte, lieber
  • Sohn,« sagte er beim Abschied zu mir. »Vielleicht gelingt es dir einmal,
  • das Porträt zu entdecken, von dem ich dir erzählt habe. Du wirst es
  • sofort an den ungewöhnlichen Augen und an ihrem unnatürlichen Ausdruck
  • erkennen. Solltest du es finden, so gelobe mir, es zu vernichten.«
  • Sie können selbst beurteilen, ob es mir nach alledem noch möglich war,
  • ihm dieses heilige Versprechen zu verweigern. Ich schwur ihm hoch und
  • heilig, seine Bitte zu erfüllen. Fünfzehn Jahre lang vermochte ich
  • nicht, irgend etwas zu entdecken, was der Beschreibung meines Vaters
  • auch nur im geringsten entsprach, als mir plötzlich bei dieser Auktion
  • ....«
  • Der Künstler vollendete den Satz nicht; er richtete sein Auge auf die
  • Wand, um das Porträt noch einmal zu prüfen, und alle, die ihm mit
  • Spannung zugehört hatten, taten instinktiv dasselbe, wie er; aller Augen
  • suchten das geheimnisvolle Porträt. Aber zum allgemeinen Erstaunen war
  • es plötzlich von der Wand verschwunden. Ein leises Gemurmel und
  • Geflüster durchlief die Menge, doch plötzlich eilte wie ein Lauffeuer
  • das Wort: Gestohlen! durch den Saal. Offenbar war es jemand gelungen,
  • während die Zuhörer gespannt auf den Erzähler lauschten, das Bild zu
  • entwenden, und noch lange nachher blieben die Zuhörer im Zweifel, ob sie
  • diese merkwürdigen Augen wirklich gesehen hatten, oder ob es nur ein
  • Traum gewesen war: ein Traum, der ihre von der Betrachtung der alten
  • Gemälde ermüdeten Augen getäuscht hatte, um gleich darauf für immer zu
  • verschwinden.
  • Anhang zum zweiten Teil
  • Varianten zum zweiten Teil der »Toten Seelen«.
  • Der zweite Band der »Toten Seelen« wurde im Jahre 1840 begonnen, allein
  • das Werk blieb Fragment. Von der ursprünglichen Fassung dieses zweiten
  • Teiles hat sich nur ein einziges Heft mit dem ersten Entwurfe eines
  • Kapitels erhalten. 1842 arbeitete Gogol nach seinen ersten
  • Aufzeichnungen einen neuen Entwurf aus und schrieb ihn sauber ab. Es ist
  • jedoch nicht bekannt, aus wieviel Kapiteln er bestand. Von dieser
  • Fassung haben sich vier Hefte erhalten. Noch im selben Jahre 1842
  • beginnt Gogol den ins Reine geschriebenen Text aufs neue umzuarbeiten
  • und entwirft in diesen Heften: »ein Chaos, aus dem der Kosmos der >Toten
  • Seelen< hervorgehen soll«. Dies ist der Text, den wir unserer Ausgabe
  • des zweiten Bandes zugrunde gelegt haben. Der vollständige Text dieser
  • Fassung ist nicht auf uns gekommen, er wurde Juni und Juli 1845 vom
  • Autor verbrannt. Wir führen in diesem Anhang die wichtigsten Varianten
  • der ursprünglichen Fassung an. Sie bilden eine wichtige Ergänzung zum
  • vorliegenden Text und sind geeignet, dem Leser einen tieferen Einblick
  • in die Idee und den Grundplan des ganzen Werkes, vorzüglich aber des
  • unvollendeten zweiten Teiles zu vermitteln.
  • _Der Herausgeber._
  • * * * * *
  • 1. Wir haben unserem Text auch die _letzten_ Verbesserungen und
  • Ergänzungen mit eingefügt, die zum Teil über den Zeilen, zum Teil auf
  • dem linken Rande der Seite nachgetragen waren. Das folgende Stück ist
  • mehrfach verändert und umgestaltet worden. Der ursprüngliche Text hatte
  • nach seiner ersten Umarbeitung folgende Fassung erhalten:
  • Ob solche Charaktere _geboren_ werden -- oder ob sie allmählich dazu
  • werden, was sie sind -- diese Frage läßt sich nicht beantworten. Wir
  • wollen daher lieber zuerst die Geschichte seiner Kindheit und seiner
  • Erziehung erzählen -- und den Leser selbst urteilen lassen. Der Direktor
  • der Schule, in welcher Tentennikow erzogen wurde, war ein ganz
  • außerordentlicher Mann: Alexander Petrowitsch besaß die Gabe, das Wesen
  • eines Menschen durch eine Art Instinkt zu erraten. Es gab kein Kind,
  • das, wenn es einen Streich begangen hatte, nicht selbst zu ihm ging, um
  • ihm alles zu beichten. Aber mehr noch. Wenn der kleine Wildfang ihn
  • verließ, dann ließ er nicht etwa die Nase hängen, sondern er ging
  • erhobenen Hauptes von ihm hinaus, mit dem festen Entschluß, wieder gut
  • zu machen, was er verbrochen hatte. In den Vorwürfen, die Alexander
  • Petrowitsch seinen Schülern machte, lag etwas Ermutigendes und
  • Kräftigendes: nach ihm war der Ehrgeiz die eigentliche Triebfeder, die
  • die menschlichen Fähigkeiten zur Entwickelung und zur Reife bringt, und
  • daher war er vor allem darauf bedacht, diesen Trieb zu erwecken.
  • Alexander Petrowitsch sprach nie vom Betragen der Kinder. Statt dessen
  • pflegte er zu sagen: »Ich verlange Verstand und nichts anderes von
  • meinen Schülern. Wer darnach strebt, seinen Verstand auszubilden, der
  • denkt nicht an dumme Streiche; diese verschwinden dann ganz von selbst.«
  • Man warf ihm vor, er ließe den Begabten gar zu viel Freiheit und erlaube
  • ihnen, sich über die weniger Begabten lustig zu machen und sie sogar zu
  • kränken. Hierauf pflegte er zu entgegnen: »Was soll ich machen? Ich habe
  • nun einmal eine Vorliebe für die Klugen und ich will, daß alle es sehen
  • sollen.« Er hielt es auch für notwendig, vor allem ....
  • 2. In der Gesamtausgabe der Werke Gogols, die 1867 unter der Redaktion
  • von Th. W. Tschishow erschienen ist, hat diese Stelle folgenden
  • Wortlaut: »Dieser wunderbare Lehrer machte einen tiefen Eindruck auf den
  • Knaben. Andrei Iwanowitschs feuriges und von Ehrgeiz erfülltes Herz
  • pochte noch lange bei dem Gedanken, daß er zu den Auserwählten gehören
  • werde, die den zweiten Lehrgang durchmachen durften. Und in der Tat mit
  • sechzehn Jahren hatte Tentennikow seine Genossen so weit überholt, daß
  • er als einer der Tüchtigsten in die oberste Klasse versetzt wurde. Er
  • selbst wollte kaum an dies große Glück glauben.«
  • 3. Variante der andern Fassung.
  • Als er klein war, war er ein gescheiter und begabter Knabe gewesen, bald
  • lebhaft und ausgelassen, bald träumerisch und nachdenklich. War es ein
  • glücklicher oder unglücklicher Zufall -- genug er kam in eine Schule,
  • deren Direktor trotz einiger Schwächen und Eigenheiten, ein in seiner
  • Art ungewöhnlicher Mensch war. Alexander Petrowitsch besaß die Gabe, das
  • Wesen und die Eigenart russischer Charaktere richtig herauszufühlen und
  • zu erkennen; und er wußte, welche Sprache man mit ihnen sprechen muß.
  • Nie ließ ein Kind die Nase hängen, wenn es von ihm fortging; im
  • Gegenteil, selbst wenn es einen strengen Verweis erhalten hatte, fühlte
  • es sich gestärkt und ermutigt und von dem glühenden Wunsche beseelt,
  • seinen Fehler oder sein Vergehen wieder gut zu machen. Die Schar der
  • Zöglinge dieses Mannes war äußerlich so lebhaft, unartig und mutwillig,
  • sodaß man sie für ein ungezügeltes Korps von Freischärlern hätte halten
  • können; aber das wäre eine Täuschung gewesen; die Macht _eines_ Menschen
  • hielt dieses ganze Korps zusammen. Es gab keinen Schelm oder Wildfang,
  • der nicht selbst zum Direktor gekommen wäre, um ihm all seine Streiche
  • und Untaten zu beichten. Die feinsten Regungen ihrer Seele waren ihm
  • bekannt und vertraut. Sein Tun und Lassen war in jeder Hinsicht
  • ungewöhnlich. Er erklärte, man müsse im Menschen vor allem das Ehrgefühl
  • wecken -- er nannte den Ehrgeiz die Kraft, die den Menschen
  • vorwärtstreibt --, ohne diesen Trieb zu entbinden, sei es unmöglich,
  • einen Menschen zur Tätigkeit zu spornen. Manche Unarten und Streiche
  • ließ er den Kindern hingehen, und machte gar nicht den Versuch, sie zu
  • unterdrücken: in diesem Überdenstrangschlagen der Kinder sah er den
  • Beginn der Entwickelung ihrer seelischen Regungen. Er bedurfte dessen,
  • um zu erforschen, was im Kinde verborgen lag. So beobachtet ein kluger
  • Arzt ruhig die vorübergehenden Anfälle des Kranken oder einen Ausschlag,
  • der sich plötzlich auf der Haut zeigt, und er bekämpft sie nicht,
  • sondern untersucht und betrachtet sie aufmerksam, um um so sicherer zu
  • erkennen, was in des Menschen Innern vorgeht.
  • Die Zahl seiner Lehrer war nicht sehr groß: in den meisten Fächern
  • unterrichtete er selbst, und man muß gestehen, er verstand es, ohne
  • Pedanterie und weitläufige Terminologie, ohne jene großartigen
  • Anschauungen und Perspektiven, mit denen junge Professoren viel Staat zu
  • machen pflegen, das eigentliche Wesen, die Seele einer Wissenschaft in
  • wenigen Worten wiederzugeben, so daß auch die ungereiften Geister es
  • sofort begriffen, warum sie dieses Wissen nötig hatten. Er behauptete,
  • das was der Mensch am meisten brauche, sei die Wissenschaft des Lebens;
  • wenn er sich erst diese angeeignet habe, dann werde er schon selbst
  • begreifen und einsehen, womit er sich in erster Linie beschäftigen
  • müsse.
  • Diese Wissenschaft hatte er zum Gegenstand eines besonderen Lehrfaches
  • erhoben, an dem nur die Bevorzugtesten teilnehmen durften. Die
  • Unbegabten entließ er schon nach Beendigung der ersten Klasse, worauf
  • sie gleich in den Staatsdienst eintraten. Er war nämlich der Ansicht,
  • daß man sie nicht zuviel quälen und plagen dürfe; es sei schon genug,
  • wenn man geduldige und fleißige Arbeiter aus ihnen mache, die einen
  • gegebenen Auftrag genau und pünktlich zur Ausführung bringen, und sich
  • ohne Hochmut, Überhebung und einen allzu weiten Horizont in ihrer Sphäre
  • bewegen könnten. »Mit den Klugen und Begabten dagegen muß ich mir viel
  • Mühe geben,« pflegte er oft zu sagen. Und hier, beim Unterricht dieses
  • Gegenstandes wurde Alexander Petrowitsch ein völlig anderer Mensch; er
  • erklärte schon in den allerersten Stunden, bisher habe er von seinen
  • Schülern nichts wie gesunden Menschenverstand gefordert, nun aber werde
  • er von ihnen einen höheren Verstand verlangen -- nicht jene Art von
  • Verstand, die dazu gehört, um einen Dummkopf zu hänseln oder lächerlich
  • zu machen, sondern jene, die es über sich zu gewinnen vermag, jegliche
  • Beleidigung zu ertragen, dem Toren zu vergeben und sich stets zu
  • beherrschen. Hier erst verlangte er das von seinen Schülern, was andre
  • schon von Kindern fordern. Das war es, was er eine höhere Art von
  • Verstand nannte: In jeder Lebenslage in Schmerz, Bitternis und
  • Enttäuschung jene hohe Ruhe zu bewahren, -- die das dauernde Besitztum
  • jedes Menschen sein sollte -- das war es, was er Verstand nannte. Aber
  • Alexander Petrowitsch zeigte bei dieser Gelegenheit auch, daß er die
  • Wissenschaft vom Leben wirklich kannte. Von allen Wissenschaften wählte
  • er nur die aus, welche geeignet waren, aus dem Menschen einen tüchtigen
  • Bürger seines Landes zu machen. Der größte Teil der Vorlesungen bestand
  • darin, daß der Lehrer den Schülern erzählte, was den Menschen in allen
  • Berufsarten und auf allen Stufen des Staatsdienstes und privater
  • Betätigung erwarte. Alle Bitternisse und Enttäuschungen, alle
  • Hindernisse, die sich vor dem Menschen auf seinem Lebenswege erheben,
  • alle Verführungen und Versuchungen, die ihm bevorstehen, führte er ihnen
  • nackt und ungeschminkt vor Augen, und er verheimlichte nichts von ihnen.
  • Nichts war ihm fremd, wie wenn er selbst alle Berufe und Ämter kennen
  • gelernt hätte. Mit einem Wort, die Zukunft, wie er sie den Schülern
  • ausmalte, war keineswegs rosig. Und seltsam! sei es nun, daß der Ehrgeiz
  • in ihnen so stark angeregt war, sei es, daß im Auge dieses merkwürdigen
  • Pädagogen etwas aufblitzte und leuchtete, das dem Jüngling ein
  • beständiges »Vorwärts« zuzurufen schien -- dieses herrliche Wort,
  • welches im russischen Volke solche Wunder wirkt, -- genug, die jungen
  • Leute fingen sogleich selbst an, die Schwierigkeiten und Fährnisse
  • aufzusuchen, und dürsteten darnach, sich überall da tätig und wirksam zu
  • zeigen, wo es ein Hindernis zu überwinden, wo es galt, einen hohen Mut
  • und Seelenstärke an den Tag zu legen. Es kam etwas Nüchternes und
  • Vernünftiges in ihr Leben hinein. Alexander Petrowitsch stellte
  • allerhand Versuche und Prüfungen mit ihnen an, und sorgte dafür, daß
  • ihnen bald durch sie selbst, bald seitens ihrer eigenen Kameraden
  • schwere Kränkungen widerfuhren; als sie es aber merkten, wurden sie noch
  • vorsichtiger. Der Erfolg dieses Lehrganges war nicht sehr bedeutend. Die
  • wenigen Jünglinge jedoch, die ihn vollständig absolvierten, waren
  • abgehärtete Männer geworden, die gewissermaßen im Pulverdampf gestanden
  • hatten. Im Dienste wußten sie sich auf dem exponiertesten Posten zu
  • halten, während viele, die weit klüger waren, als sie, es nicht lange
  • aushielten, wegen kleiner persönlicher Unannehmlichkeiten den Dienst
  • quittierten oder, ahnungslos wie sie waren, in die Hände von Gaunern und
  • Erpressern gerieten. Dagegen verharrten die Zöglinge des Alexander
  • Petrowitsch nicht nur fest auf ihren Posten, sondern verstanden es auch,
  • gereift durch Menschen- und Seelenkenntnis, einen hohen sittlichen
  • Einfluß noch auf die schlechten und unehrlichen Menschen auszuüben.
  • 4. In dem von Tschishow herausgegebenen Text der »Toten Seelen« findet
  • sich folgende Variante dieser Stelle:
  • »An die Stelle Alexander Petrowitschs trat ein gewisser Fjodor
  • Iwanowitsch, ein gutmütiger und eifriger Mann, der jedoch eine ganz
  • andre Ansicht vertrat als jener. In dem freien Sichgehenlassen der
  • Kinder der oberen Klasse witterte er etwas wie Unerzogenheit und
  • Zügellosigkeit. Daher ging er sogleich daran, allerlei äußere
  • Vorschriften und Regeln aufzustellen, er verlangte, daß die jungen Leute
  • während der Stunde die äußerste Stille bewahren und niemals anders als
  • paarweise spazieren gehen sollten; ja er wollte sogar die Distanz
  • zwischen zwei Paaren mit dem Metermaße abmessen. Die Schüler mußten, des
  • schöneren Anblicks wegen, nach der Größe und nicht nach ihren
  • Fähigkeiten auf den Schulbänken Platz nehmen, so daß die Dummen die
  • fettesten Bissen erhielten und -- die Klugen sich mit den Knochen
  • begnügen mußten. Dies erregte Unzufriedenheit, und alles murrte laut,
  • als der neue Direktor wie mit Absicht im Gegensatz zu seinem Vorgänger
  • erklärte, daß er keinen Wert auf die Begabung und die Fortschritte der
  • Schüler in den Wissenschaften lege, vor allem auf ein gutes Betragen
  • sehe, und daß er einen Knaben, der schlecht lerne, aber ein gutes
  • Betragen habe, noch immer einem gescheiten Schlingel vorziehe. Aber
  • gerade das, wonach er so eifrig strebte, sollte Fjodor Iwanowitsch nicht
  • erreichen.«
  • 5. Variante der andern Fassung.
  • Unterdessen aber wartete seiner ein andres Schauspiel. Das ganze Gut
  • hatte von der Ankunft erfahren und sich vor der Freitreppe des
  • herrschaftlichen Hauses versammelt. Bauernkittel, Bärte von jeder nur
  • möglichen Form: spatenförmige, schaufelförmige, keilförmige, rote,
  • blonde, silberweiße ... bedeckten den Platz. Die Bauern schrieen aus
  • voller Kehle: »Bist du endlich da Väterchen? Wir haben so lange auf dich
  • gewartet!« Unter den etwas ferner stehenden kam es zu einer Prügelei,
  • weil jeder sich in die vorderen Reihen durchdrängen wollte. Ein altes,
  • welkes Mütterchen, das wie eine getrocknete Birne aussah, wand sich
  • zwischen den Beinen der andern durch, ging auf ihn zu, schlug die Hände
  • zusammen und quiekte: »Du mein liebes Rotznäschen! Nein, wie mager du
  • bist. Die verfluchten Deutschen haben dich, scheint's, halbtot gequält!«
  • -- »Fort mit dir, Alte!« riefen ihr all die Schaufel-, Spaten- und
  • Spitzbärtigen zu: »drängt sich da vor, das krumme Gestell!« Einer von
  • ihnen ließ hier noch ein Wörtchen folgen, bei dem nur ein russischer
  • Bauer sich das Lachen verbeißen kann. Der Herr aber hielt es nicht aus
  • und lachte laut auf, und doch war er gerührt bis in die tiefste Seele.
  • »So viel Liebe! Und wofür nur?« dachte er. »Dafür, daß ich sie nie
  • gesehen, mich nie um sie gekümmert habe! Von heut ab aber geb ich euch
  • das Versprechen, eure Mühen und Arbeiten mit euch zu teilen! Ich will
  • all meine Kräfte anspannen und euch helfen, das zu werden, was ihr sein
  • solltet, wozu euch eure eigenste gute und prächtige Natur bestimmt hat,
  • -- eure Liebe zu mir soll nicht vergeblich gewesen sein, ich will euer
  • wahrhafter Vater werden!«
  • Und Tentennikow ging ganz ernstlich an die Verwaltung und
  • Bewirtschaftung des Gutes. Er sah sofort, daß sein Verwalter wirklich
  • ein altes Weib und ein Narr war mit allen schlechten Eigenschaften eines
  • Verwalters; d. h. er führte zwar sorgfältig Rechnung über Hühner und
  • Eier, über Hanf und Leinwand, welche von den Bauernfrauen geliefert
  • wurden, aber er hatte keine Ahnung von der Getreideernte und Aussaat,
  • und zu alledem war er sehr argwöhnisch und fürchtete sich vor jedem
  • Bauern, weil er glaubte, er stelle ihm nach dem Leben. Tentennikow jagte
  • den dummen Verwalter davon und nahm sich einen andern, einen
  • energischen, forschen Mann; er ging über die nebensächlichen Dinge
  • hinweg und richtete sein Augenmerk auf das Wesentliche, er setzte den
  • Erbzins herab, verringerte die Fronarbeit, ließ den Bauern mehr Zeit,
  • für sich selbst zu arbeiten, und glaubte, nun würde alles ganz
  • vortrefflich weitergehen. Er interessierte sich für alles, erschien
  • selbst auf den Feldern, auf der Tenne, auf der Korndarre, in den Mühlen,
  • am Landungsplatz und war beim Laden und bei der Abfertigung der Barken
  • und Kähne zugegen.
  • »Ja, ja, der ist schnellfüßig!« sagten die Bauern und kratzten sich
  • hinter den Ohren, denn sie waren bei dem langen Weiberregiment des
  • früheren Verwalters allesamt in Trägheit und Müßiggang verfallen. Aber
  • das dauerte nicht lange.
  • 6. Variante der andern Fassung.
  • Bisweilen sieht wohl ein Mensch etwas Ähnliches im Traume und dann
  • träumt er sein ganzes Leben lang davon, (die Wirklichkeit versinkt ihm
  • für alle Zeiten) und er ist zu nichts mehr zu brauchen. Ihr Name war
  • Ulinka. Sie hatte eine merkwürdige Erziehung genossen. Sie war von einer
  • englischen Gouvernante erzogen worden, die kein Wort Russisch verstand.
  • Ihre Mutter war schon früh gestorben, und ihr Vater hatte keine Zeit,
  • sich viel um sie zu kümmern. Übrigens konnte es bei seiner unsinnigen
  • Liebe zu seiner Tochter nicht anders kommen, als daß er sie verwöhnte.
  • Es ist außerordentlich schwer ein Bild von ihr zu geben. Sie hatte etwas
  • Lebendiges wie das Leben selbst. Sie war eigentlich mehr lieblich als
  • schön und gütig als klug; sie war schlanker und ätherischer als ein
  • klassisches Frauenbildnis. Man hätte unmöglich sagen können, welches
  • Land ihr seinen Stempel aufgedrückt habe, denn man hätte nicht so leicht
  • ein ähnliches Profil und ähnliche Gesichtszüge finden können, es sei
  • denn auf antiken Kameen. Da sie in voller Freiheit aufgewachsen war, war
  • alles an ihr eigenartig und urwüchsig. Wenn jemand gesehen hätte, wie
  • ein plötzlicher Zorn strenge Falten in ihre herrliche Stirne grub, und
  • wie sie sich leidenschaftlich mit ihrem Vater stritt, er hätte glauben
  • können, dies sei das launischste Geschöpf von der Welt. Aber sie wurde
  • nur dann zornig, wenn sie davon hörte, daß ein anderer ungerecht oder
  • grausam behandelt worden war. Wie schnell jedoch wäre dieser Zorn
  • verschwunden, wenn sie denselben Menschen, dem sie zürnte, im Unglück
  • gesehen hätte. Wie hätte sie ihm da ihren Geldbeutel zugeworfen, ohne
  • darüber nachzudenken, ob dies klug oder dumm sei, wie hätte sie ihr
  • Kleid in Stücke gerissen, um ihn zu verbinden, wenn er verwundet gewesen
  • wäre.
  • 7. Variante der andern Fassung.
  • »O nein, Exzellenz,« fiel hier Tschitschikow ein, indem er sich an
  • Ulinka wandte. »Als Christen müssen wir gerade solche Menschen lieben.«
  • Und er fuhr gleich darauf mit einem verschmitzten Lächeln zum General
  • gewendet fort: »Kennen Sie vielleicht die Geschichte, Exzellenz: Lieb'
  • uns so schwarz, wie wir sind, wenn wir weiß und sauber sind, wird uns
  • jeder lieb haben.«
  • »Nein, ich kenne sie nicht.«
  • »Oh, das ist eine sehr verzwickte Geschichte,« sprach Tschitschikow noch
  • immer verschmitzt lächelnd. »Auf dem Gute des Fürsten Guksowski, den
  • Eure Exzellenz sicherlich kennen ...«
  • »Nein, ich habe nicht das Vergnügen.«
  • »Lebte einmal ein Verwalter, ein junger Deutscher, Exzellenz. Eines
  • Tages mußte er wegen der Rekrutenaushebung usw. nach der Stadt fahren.
  • Natürlich mußten die Richter tüchtig geschmiert werden. Übrigens
  • gewannen sie ihn gleichfalls lieb und nahmen ihn sehr freundlich auf.
  • Einmal war er bei ihnen zum Mittag eingeladen, und da sagte er denn
  • unter anderem: >Nun, meine Herren? Wollen Sie _mir_ nicht auch einmal
  • die Ehre geben und mich auf dem Gute des Fürsten besuchen?< >Gern<,
  • sagen sie. >Wir kommen<. Kurze Zeit darauf hatte das Gericht auf einem
  • der Güter des Grafen Trechmetjew eine Untersuchung vorzunehmen. Eure
  • Exzellenz kennen doch wohl den Grafen ...?«
  • »Nein, ich habe nicht die Ehre.«
  • »Die Untersuchung selbst fand nun freilich nicht statt, dafür aber
  • kehrten sie im Wirtschaftsgebäude, beim alten gräflichen Ökonomen ein,
  • und da wurden dann drei Tage und drei Nächte lang ununterbrochen Karten
  • gespielt. Die Teemaschine und der Punsch wurden natürlich überhaupt
  • nicht abgetragen. Bald war es dem Alten indessen zu viel, und, um sie
  • los zu werden, sagte er zu ihnen: >Warum sucht ihr denn nicht diesen
  • Deutschen, den Verwalter des Fürsten, auf? Er wohnt ja gar nicht weit
  • von hier.< -- >Ei, das ist eine Idee,< schreien sie, setzen sich
  • halbbetrunken, unrasiert und verschlafen wie sie sind in ihre Wagen, und
  • fort geht es zu dem Deutschen. -- Dieser aber hatte sich gerade
  • verheiratet, Exzellenz: mit einem jungen subtilen Fräulein aus einem
  • Pensionat (Tschitschikow versuchte die Subtilität mimisch auszudrücken).
  • Sie saßen gerade zusammen beim Tee und dachten an nichts Schlimmes -- da
  • öffnet sich plötzlich die Tür -- und die ganze Gesellschaft stürmt
  • herein.«
  • »Ich kann mir die Situation denken -- die sind mir aber auch gut!«
  • bemerkte der General.
  • »Der Verwalter war ganz erschrocken und sagt: >Was wünschen Sie?<
  • >He!< rufen sie. >Bist du so einer?< Und bei diesen Worten veränderten
  • sich plötzlich ihre Gesichter und ihre Mienen. >Wir kommen in einer
  • offiziellen Angelegenheit. Wieviel Schnaps brennt ihr hier auf dem Gute!
  • Her mit den Kassenbüchern!< Der versucht Einwände zu machen. >Hollah. Wo
  • sind die Zeugen!< Sie lassen ihn packen, schleppen ihn gebunden in die
  • Stadt, und der brave Deutsche muß anderthalb Jahr in der
  • Untersuchungshaft schmachten.«
  • »Schöne Geschichte!« sagte der General.
  • Ulinka schlug vor Schreck die Hände zusammen.
  • »Seine Frau suchte sich überall für ihn zu verwenden,« fuhr
  • Tschitschikow fort. »Aber was kann eine junge, unerfahrene Frau
  • ausrichten? Noch gut, daß sich ein paar brave Leute fanden, die ihr den
  • Rat gaben, die Sache auf dem Wege des Vergleichs aus der Welt zu
  • schaffen. So kam er denn schließlich mit zweitausend Rubeln und einem
  • Mittagessen davon. Während dieses Mittagessens nun, als alle bereits ein
  • wenig angeheitert waren, und er gleichfalls, sagen sie plötzlich zu ihm:
  • >Schämtest du dich denn gar nicht, uns so zu behandeln? Du wolltest uns
  • durchaus geschniegelt und gebügelt, rasiert und im Frack vor dir sehen:
  • Nein Verehrtester, lieb uns so schwarz wie wir sind, wenn wir weiß und
  • sauber sind, wird uns jeder lieb haben.<«
  • Der General lachte laut auf. Ulinka seufzte schmerzlich.
  • »Ich verstehe nicht, wie Sie lachen können, Papa!« sagte sie schnell,
  • und edler Zorn verdunkelte ihre herrliche Stirn ... »So eine gemeine
  • Handlung, für die man sie, ich weiß nicht wohin, schicken sollte ...«
  • »Liebes Kind, ich verteidige sie ja gar nicht,« sagte der General, »aber
  • was soll ich machen, wenn ich es so lächerlich finde. Wie sagten Sie
  • gleich: Liebe uns so weiß wie ...«
  • »So schwarz ... Exzellenz,« verbesserte ihn Tschitschikow.
  • »Lieb uns so schwarz wie wir sind, wenn wir weiß sind, wird uns jeder
  • lieb haben. Ha, ha, ha, ha ...« Und der ganze Körper des Generals
  • schüttelte sich vor Lachen. Die Schultern, welche einstmals
  • Achselklappen getragen hatten, bebten, als ob sie auch noch heute mit
  • Achselklappen geschmückt wären.
  • Tschitschikow lachte gleichfalls kurz auf, stimmte sein Gelächter jedoch
  • aus Achtung vor dem General mehr auf den Laut e ab: »he, he, he, he.«
  • Und sein Körper begann sich gleichfalls vor Lachen zu schütteln, nur
  • seine Schultern bebten nicht, denn sie trugen keine dicken
  • Achselklappen.
  • »Dieser unrasierte Gerichtshof mag schön ausgesehen haben!« rief der
  • General aus und fuhr fort zu lachen.
  • »Ja, Exzellenz, ein drei Tage langes Wachen ohne Schlaf -- -- das ist so
  • gut wie gefastet: sie sahen sehr mitgenommen aus, sehr mitgenommen!«
  • sagte Tschitschikow und fuhr fort, zu lachen.
  • 8. Variante der andern Fassung.
  • »Ich errichte auch keine besonderen Gebäude zu diesem Zwecke. Ich
  • besitze keine großartigen Prachtbauten mit Säulen und Giebeln, ich
  • verschreibe mir keine Meister und Handwerker aus dem Auslande, vor allem
  • aber würde ich nie einen Bauern seiner natürlichen Tätigkeit: der
  • Landwirtschaft entziehen; in meinen Fabriken wird nur während einer
  • Hungersnot gearbeitet, und auch dann beschäftige ich nur zugewanderte
  • Arbeiter, die sich damit ihren Lebensunterhalt verdienen. Ich habe eine
  • ganze Menge solcher Fabriken, Verehrtester. Jedermann sollte sich erst
  • einmal genauer auf seinem Gute umsehen, dann würde er bemerken, daß sich
  • jeder Lappen noch zu was verwenden läßt, und daß man aus jedem Plunder
  • noch einen Gewinn herausschlagen kann, so daß man ihn schließlich sogar
  • wegwirft und sagt: »Fort damit! Ich brauche dich nicht!«
  • »Das ist wirklich erstaunlich!« sagte Tschitschikow ganz ergriffen. »Im
  • höchsten Grade erstaunlich! Das wunderbarste aber ist, daß jeglicher
  • Plunder noch Gewinn bringen kann!«
  • »Hm! Das ist es nicht allein!« Skudronshoglo schloß seine Rede nicht:
  • die Galle hatte sich in ihm angesammelt, und er mußte seinen Zorn an
  • seinen Gutsnachbarn auslassen. »Da ist noch so ein gescheiter Kopf! --
  • Was denken Sie wohl, was der für ein Gebäude errichtet hat. Ein Asyl für
  • Arme; einen steinernen Palast -- auf dem Lande! Ein christliches Werk!
  • Wenn der Mensch sich durchaus nützlich machen und hilfsbereit erweisen
  • will, dann mag er doch dem Bauern helfen, seine Schuldigkeit zu tun und
  • ihn nicht daran hindern, seine Pflicht als Christenmensch zu erfüllen.
  • Hilf dem Sohne, seinen kranken Vater pflegen, und laß es nicht zu, daß
  • er sich ihn vom Leibe schafft. Verhilf ihm dazu, daß er seinen Bruder
  • und seinen Nächsten bei sich im Hause aufnehmen kann, gib ihm die Mittel
  • dazu, unterstütze ihn aus allen Kräften, und ziehe dich nicht von ihm
  • zurück, sonst wird er seine christlichen Pflichten vollkommen vergessen.
  • Wohin man blickt, lauter Don Quixotes! _Zweihundert Rubel_ jährlich
  • kommt _ein_ Mensch dem Armenhause zu stehen! Mit diesem Gelde will ich
  • auf meinem Gute ganze _zehn_ Menschen ernähren!« Skudronshoglo war sehr
  • zornig und spie vor Wut aus.
  • Tschitschikow interessierte sich nicht für das Armenhaus: er wollte
  • durchaus die Rede darauf bringen, daß jeder Plunder Gewinn bringen kann.
  • Aber Skudronshoglo war sehr zornig, die Galle regte sich lebhaft in ihm,
  • und seine Rede strömte unaufhaltsam fort.
  • »Und dann gibt es da noch einen andern Don Quixote: einen Don Quixote
  • der Aufklärung! Der baut überall Schulen! In der Tat, gibt es etwas
  • Nützlicheres für den Menschen als die Kenntnis der Sprache und Schrift?
  • Was aber macht _er_? Jetzt kommen die Bauern aus den Dörfern und klagen
  • mir: >Was sind denn das für Zustände, Väterchen! Unsere Söhne sind ganz
  • aufsässig geworden, sie wollen uns gar nicht mehr bei der Arbeit helfen,
  • wollen alle Schreiber werden -- man braucht aber doch gar nicht so viele
  • Schreiber -- einer ist schon genug!< So weit ist es also schon
  • gekommen!«
  • Tschitschikow interessierte sich auch nicht für die Schulen, jedoch
  • Platonow griff diese Frage auf und bemerkte: »Dabei kann man aber doch
  • nicht stehen bleiben, daß wir _jetzt_ keine Schreiber brauchen. Wir
  • müssen auch an unsere Nachkommen denken.«
  • »Ach laß doch, Bruder! Laß doch das Klügeln! Was wollt Ihr nur mit Euren
  • Nachkommen! Alle Menschen glauben, sie seien Genies, wie Peter der
  • Große. Achtet doch lieber darauf, was vor Eurer Nase vorgeht, und denkt
  • nicht immer an Eure Nachkommen; sorgt lieber dafür, daß Eure Bauern
  • wohlhabend und reich werden, und daß sie Zeit behalten, auch etwas zu
  • lernen, wenn sie Lust dazu haben; stellt Euch nicht mit dem Stocke in
  • der Hand vor sie hin und schreit sie nicht an: >Du mußt in die Schule
  • gehen, ob du willst oder nicht!< Weiß der Teufel, womit die Leute
  • heutzutage anfangen! Nein, bitte, hören Sie mal, ich fordere Sie auf,
  • selbst zu urteilen.« Hier rückte Skudronshoglo näher an Tschitschikow
  • heran und nahm ihn sozusagen gründlich ins Gebet, um ihn recht tief in
  • die Sache einzuweihen, d. h. er packte ihn beim Knopfloch seines
  • Frackes: »Sagen Sie, was kann klarer sein? Die Bauern sind doch dazu da,
  • damit Sie sie in ihrem Beruf und Stand unterstützen und fördern. Worin
  • aber besteht dieser? Was ist denn die Beschäftigung der Bauern? Doch
  • wohl der Ackerbau, die Landwirtschaft? Nun, so sorgen Sie auch dafür,
  • daß er ein tüchtiger Landwirt wird. Das ist doch klar. Nicht? Nein, da
  • finden sich gescheite Köpfe, die erklären: >Aus diesem Zustande muß er
  • herausgeführt werden. Sein Leben ist zu primitiv und einfach: er soll
  • auch etwas von dem Luxus kosten.< Daß ihr selbst infolge dieses Luxus
  • lauter Waschlappen und keine Menschen mehr seid und, weiß der Teufel, an
  • was für neuen Krankheiten leidet, und daß es bald keinen
  • achtzehnjährigen Bengel mehr geben wird, der nicht schon von allem
  • gekostet hat -- der keine Zähne im Munde und keine Haare mehr auf dem
  • Kopfe hat, -- daran denkt ihr nicht und wollt auch noch andre Leute
  • anstecken! Gott sei Dank, daß wir wenigstens noch einen gesunden Stand
  • besitzen, der noch nichts von all diesen Finessen weiß! Dafür müßten wir
  • Gott ewig dankbar sein. Jawohl, einen Landwirt achte ich weit höher als
  • einen andern Menschen. Gott gäbe, daß alle Menschen Ackerbau trieben!«
  • »Sie sind also der Ansicht, es sei am vorteilhaftesten, Landwirt zu
  • werden?« fragte Tschitschikow.
  • »Ich meine, es ist vernünftiger und ehrenhafter und nicht vorteilhafter.
  • Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot erwerben -- das ward
  • uns allen gesagt, und nicht umsonst. Es ist durch eine jahrhundertlange
  • Erfahrung bewiesen, daß die Landwirtschaft die Sitten verbessert und
  • veredelt. Wo der Ackerbau die Grundlage des gesellschaftlichen Lebens
  • bildet, da herrscht Wohlstand und Überfluß! Da gibt es keine Armut und
  • keinen Luxus, sondern Gesundheit und Zufriedenheit. Es ist dem Menschen
  • gesagt: Erwirb dir dein Brot, arbeite .. da gibt es nichts zu klügeln!
  • Ich sage zum Bauern: >Es ist ganz gleich, für wen du dich mühst: für
  • mich, für dich, für deinen Nachbarn ... die Hauptsache ist, daß du
  • arbeitest. Bei der Arbeit bin ich dein erster Gehilfe. Hast du kein
  • Vieh, nun wohl -- da ist ein Pferd, eine Kuh, ein Wagen. Ich bin bereit,
  • dir alles zu geben, nur sei fleißig und arbeite! Für mich wäre es der
  • Tod, wenn dein Haushalt in Unordnung geriete und wenn ich Armut und
  • Mißwirtschaft um mich sehe. Ich dulde keinen Müßiggang: ich bin bei dir,
  • damit du arbeitest.< Hm. Man glaubt, man könne seine Einkünfte durch
  • Fabriken und industrielle Unternehmungen vermehren! Denken Sie doch
  • lieber erst daran, daß jeder Ihrer Bauern wohlhabend werde, dann werden
  • Sie ganz von selbst reich werden, auch ohne Fabriken und all diese
  • dummen Erfindungen.« ...
  • 9. Variante der andern Fassung.
  • »So ein Esel!« dachte Tschitschikow. »Solch eine Tante würde ich hegen
  • und pflegen, wie eine Amme ihr Kind.«
  • »Wissen Sie, so eine Unterhaltung ist doch recht trocken!« sagte
  • Chlobujew. »He, Kirjuschka! Bring schnell noch eine Flasche Champagner.«
  • »Nein, nein, ich kann nicht mehr trinken,« fiel hier Platonow ein.
  • »Ich auch nicht,« sagte Tschitschikow, und beide weigerten sich
  • kategorisch, weiter zu trinken.
  • »Nun, so versprechen Sie mir wenigstens, daß Sie mich in der Stadt
  • besuchen werden. Am 8. Juni gebe ich ein kleines Diner für die
  • Honoratioren der Stadt.«
  • »Wie!« rief Platonow aus. »Jetzt, wo Sie so gut wie ruiniert sind, geben
  • Sie Diners?«
  • »Was soll ich machen? Ich kann nicht anders, das ist halt meine
  • Pflicht,« versetzte Chlobujew. »Sie haben mich doch auch eingeladen.«
  • 10. Vor diesem Worte sind in der vorliegenden Fassung zwei Seiten
  • herausgeschnitten. Wir führen hier die entsprechende Stelle aus der
  • andern Fassung an:
  • »Die Sache ist eigentlich ein großer Unsinn. Er hat nicht genug Land,
  • und da hat er sich eben ein fremdes Stück Brachland angeeignet, d. h. er
  • rechnete darauf, daß niemand es braucht, und daß die Besitzer nicht
  • drauf achten werden ... bei uns aber versammeln sich schon seit vielen
  • Jahren die Bauern gerade an dieser Stelle, um dort Johannisnacht zu
  • feiern. Daher bin ich noch eher bereit, ihm ein anderes und sogar
  • besseres Stück Land abzutreten, als dieses. Jede alte Sitte ist mir
  • heilig.«
  • »Sie würden ihm also unter Umständen ein anderes Stück Land abgeben?«
  • »Ja, d. h. wenn er nicht so mit mir verfahren wäre, aber ich glaube, er
  • will die Gerichte anrufen. Meinetwegen, wir wollen doch sehen, wer den
  • Prozeß gewinnt. Nach dem Plan ist es freilich nicht vollkommen klar,
  • aber ich habe genug Zeugen, lauter alte Leute, die noch am Leben sind,
  • und sich sehr gut erinnern, wem das Land gehört hat.«
  • »Hm!« dachte Tschitschikow. »Wie ich sehe, seid ihr alle beide
  • raffinierte Kerls.« Und er fügte laut hinzu: »Mir scheint, diese Sache
  • läßt sich friedlich beilegen. Alles hängt davon ab, ob sich jemand
  • findet, der zwischen Ihnen vermitteln kann .. Schriftl....«
  • Damit schließt die 96. Seite der Handschrift; die folgenden zwei Seiten
  • sind verloren gegangen. In der ersten Ausgabe des zweiten Bandes der
  • »Toten Seelen« hat S. P. Schewyrew folgende Bemerkung zu dieser Stelle
  • gemacht: Hier fehlt eine größere Partie, in der wahrscheinlich erzählt
  • wird, wie Tschitschikow zum Gutsbesitzer Lenitzyn fährt. Der Her.
  • »... daß es auch für Sie selbst sehr vorteilhaft wäre z. B. alle toten
  • Seelen auf meinen Namen zu übertragen, d. h. ich meine alle die toten
  • Bauern auf Ihrem Gute, die noch in den Revisionslisten stehen. Dann
  • könnte ich auch die Steuern für sie bezahlen. Um aber kein Ärgernis zu
  • geben, könnten wir _pro forma_ einen Kaufkontrakt aufsetzen, ganz so,
  • als ob sie noch am Leben wären.«
  • »Da haben wir's!« dachte Lenitzyn: »das ist aber eine höchst merkwürdige
  • Geschichte.« Er schob sogar seinen Stuhl ein wenig zurück, denn er
  • befand sich in der höchsten Verlegenheit.
  • »Ich zweifele nicht im mindesten daran, daß Sie hierüber mit mir
  • einverstanden sein werden,« fuhr Tschitschikow fort, »denn das ist eine
  • ganz ähnliche Sache, wie die, welche wir soeben besprochen haben. Sie
  • bleibt natürlich ganz unter uns -- wir sind doch gesetzte und
  • vernünftige Leute, und es kann daher gar kein Ärgernis geben.«
  • Was war zu machen? Lenitzyn befand sich in einer äußerst peinlichen
  • Situation. Er hatte durchaus nicht voraussehen können, daß die von ihm
  • noch vor wenigen Minuten geäußerte Ansicht so schnell in die Tat
  • umgesetzt werden könnte. Dieser Vorschlag kam ihm vollkommen unerwartet.
  • Selbstverständlich konnte für niemand etwas Schädliches daraus
  • entstehen: jeder Gutsbesitzer hätte, wenn es darauf angekommen wäre,
  • ebensogut Hypotheken auf diese Seelen aufgenommen, wie auf die
  • lebendigen, dem Staat konnten also keinerlei Verluste daraus entstehen;
  • der ganze Unterschied bestand bloß darin, daß sie jetzt in _einer_ Hand
  • vereinigt sein würden, während sie sich im andern Falle in vielen
  • befunden hätten. Trotzdem aber hatte er seine Bedenken. Er war ein
  • Mensch, der sich streng an die Gesetze hielt und ein Geschäftsmann im
  • guten Sinne war. Er hätte sich nie bestechen lassen und für Geld eine
  • schlechte Sache vertreten. Diesmal aber war er unschlüssig, denn er
  • wußte nicht recht, wie er von diesem Fall denken, wie er ihn bezeichnen
  • sollte: handelte es sich hier um ein sauberes oder um ein unsauberes
  • Geschäft? Hätte sich ein andrer mit einem solchen Vorschlag an ihn
  • gewandt, dann hätte er sagen können: »Ach Unsinn, das sind Torheiten!
  • Ich will doch nicht mehr Puppen spielen und alberne Streiche machen!«
  • Aber der Gast gefiel ihm so sehr, es bestanden zwischen ihnen so viele
  • Berührungspunkte in bezug auf ihre Anschauungen über die Fortschritte
  • der Aufklärung und der Wissenschaften, wie konnte er ihm da etwas
  • abschlagen? Lenitzyn befand sich in einer überaus verzwickten Lage.
  • In diesem Augenblick trat die Hausfrau, die junge Gattin Lenitzyns ins
  • Zimmer, wie um ihn aus dieser verzweifelten Situation zu erlösen. Sie
  • war bleich und mager wie alle Petersburger Damen und ebenso
  • geschmackvoll gekleidet wie diese. Ihr folgte die Amme auf dem Fuße, die
  • ein Kind auf den Armen trug, die jüngste Frucht der jungen Ehe.
  • Tschitschikow ging natürlich sofort auf die Dame zu und begrüßte sie
  • aufs liebenswürdigste. Aber ganz abgesehen hiervon, schon die Geste mit
  • der er ihr entgegentrat und dabei den Kopf anmutig auf die Seite neigte,
  • genügte vollkommen, um sie ganz für sich einzunehmen. Dann eilte er auf
  • das Kind zu, welches zwar im ersten Augenblick laut zu schreien begann,
  • sich aber sehr schnell wieder beruhigte, als Tschitschikow ein paar
  • freundliche Worte sagte, ihm A--u, A--u zurief, mit den Fingern
  • schnippte und ihm seine Uhrkette mit dem Carneolpetschaft zeigte.
  • Schließlich wurde es so zutraulich, daß es sich von Tschitschikow ruhig
  • auf die Hände nehmen und hoch in die Luft heben ließ, ja, es begann
  • sogar fröhlich zu lachen, was auch das Elternpaar höchlich erfreute.
  • Aber war es nun das Vergnügen, welches das Kindchen verspürte, oder
  • etwas andres, genug es passierte ihm plötzlich etwas sehr Unangenehmes.
  • Frau Lenitzyn schrie laut auf: »Ach Gott, ach Gott, er wird Ihnen noch
  • den ganzen Frack verderben!«
  • Tschitschikow warf einen Blick auf den Ärmel seines neuen Frackes und
  • war aufs höchste erschrocken. Der ganze Ärmel war hin: »Wenn dich doch
  • der Teufel holte, verdammter Schelm!« murmelte er ärgerlich vor sich in.
  • Der Hausherr, die Hausfrau und die Amme eilten schleunigst davon, um
  • kölnisches Wasser zu holen; hierauf liefen sie von allen Seiten auf ihn
  • zu und begannen seinen Frack zu waschen und zu scheuern.
  • »Das macht nichts, das macht wirklich nichts,« sagte Tschitschikow: »Was
  • kann einem denn ein unschuldiges Kind antun?« Zugleich aber dachte er
  • sich: »Und wie geschickt er das gemacht hat, der kleine Teufel! Ein
  • goldenes Alter!« bemerkte er, als er endlich ganz trocken war, und ein
  • freundliches Lächeln erhellte aufs neue seine Züge.
  • »Tatsächlich,« versetzte der Hausherr, der sich gleichfalls mit einem
  • freundlichen Lächeln an Tschitschikow wandte, »was gibt es Schöneres als
  • das Kindesalter. Man hat keine Sorgen, man denkt nicht an die Zukunft
  • ...«
  • »Ja, mit einem Kinde würde ich sofort tauschen,« entgegnete
  • Tschitschikow.
  • »Sofort!« sagte Lenitzyn.
  • Ich glaube indes, daß beide schwindelten. Wenn man ihnen im Ernst einen
  • solchen Tausch angeboten hätte, sie wären sofort zu Kreuze gekrochen. Es
  • ist doch auch wirklich kein Vergnügen, bei der Amme auf dem Arme zu
  • sitzen und fremde Fräcke zu ruinieren.
  • Die junge Frau, die Amme und das Kind hatten sich entfernt, denn auch
  • der Kleine bedurfte einer gründlichen Reinigung: er hatte nicht nur
  • Tschitschikow beglückt, sondern auch sich selbst nicht ganz vergessen.
  • Übrigens nahm dieser scheinbar so unwesentliche Vorfall den Hausherrn
  • noch mehr für Tschitschikow ein. Und in der Tat, wie konnte er einem so
  • angenehmen und höflichen Gast etwas abschlagen, einem Gaste, der so
  • freundlich gegen seinen Kleinen gewesen war, und seine Güte noch dazu so
  • großmütig mit seinem Frack bezahlen mußte. Lenitzyn dachte nämlich:
  • »Warum sollte ich seine Bitte eigentlich nicht erfüllen, wenn er es doch
  • so sehr wünscht ...«
  • 11. Variante der andern Fassung.
  • Um dieselbe Zeit lag Tschitschikow in seinem persischen mit Gold
  • bordierten Schlafrock auf dem Sofa und verhandelte mit einem
  • vorüberreisenden Schmuggler jüdischer Abstammung, der das Russische mit
  • einem deutschen Akzent sprach; vor ihnen lagen ein Stück feinste
  • holländische Leinwand, die Tschitschikow gekauft hatte, um sich neue
  • Hemden machen zu lassen, und zwei Pappschachteln mit Seife von
  • allererster Qualität (es war dieselbe Seife, die er sich ehemals während
  • seines Dienstes im Raziwillschen Zollamt zu halten pflegte, und die
  • tatsächlich die Kraft besaß, den Wangen eine geradezu unerhörte Reinheit
  • und Zartheit zu verleihen). Während nun Tschitschikow mit Kennerblick
  • all diese für jeden gebildeten Menschen so überaus notwendigen
  • Gegenstände einkaufte, hörte man draußen das Gerassel eines
  • heranrollenden Wagens. Die Fensterscheiben erklirrten, und gleich darauf
  • betrat Seine Exzellenz Alexei Iwanowitsch Lenitzyn das Zimmer.
  • »Exzellenz, was sagen Sie zu dieser Leinwand und zu dieser Seife, und
  • wie gefällt Ihnen dies Ding hier, das ich mir gestern angeschafft habe?«
  • Mit diesen Worten setzte Tschitschikow eine mit Gold und Glasperlen
  • verzierte Kappe auf und präsentierte sich seinem Gast mit einem Anstand
  • und einer Würde, die der des persischen Schahs nicht viel nachgegeben
  • hätte.
  • Aber Seine Exzellenz antwortete nichts und sagte nur:
  • »Ich muß Sie dringend in einer Angelegenheit sprechen.« Man sah es ihm
  • an, daß er sehr erregt war. Der ehrenwerte Kaufmann mit dem deutschen
  • Akzent wurde sofort hinausbefördert, und beide Freunde blieben allein.
  • »Wissen Sie, was passiert ist? Eine schöne Geschichte! Es hat sich noch
  • ein zweites Testament gefunden, das die alte Dame vor fünf Jahren
  • gemacht hat. Darin verschreibt sie die Hälfte ihrer Güter dem Kloster
  • und die andre Hälfte ihren beiden Adoptivtöchtern. Das ist alles.«
  • Tschitschikow war ganz erschrocken.
  • »Aber dies Testament gilt doch nicht, es hat doch nichts zu bedeuten; es
  • hat durch das zweite seine Rechtskraft verloren!«
  • »Es steht aber im zweiten Testament nichts davon drin, daß das erste
  • dadurch annulliert wird.«
  • »Das versteht sich ganz von selbst: das letzte stößt alle vorhergehenden
  • um. Das bedeutet nichts! Das erste Testament hat keine Gültigkeit. Ich
  • kenne den Willen der Verstorbenen sehr gut. Ich war doch zugegen, als es
  • aufgesetzt wurde. Wer hat es unterschrieben, wer waren die Zeugen?«
  • »Es ist nach allen Regeln beim Gericht attestiert. Als Zeugen fungierten
  • die Assessoren a. D. Burmilow und Chawanow.«
  • »Das ist schlimm, sehr schlimm!« dachte Tschitschikow. »Dieser Chawanow
  • soll ein ehrlicher Mensch sein. Burmilow ist ein alter Tartüffe, der
  • liest Sonntags in der Kirche aus der Bibel vor. -- Ach was, Unsinn,
  • Unsinn,« fuhr er laut fort, denn er fühlte sich wieder mutig und
  • entschlossen. »Das weiß ich besser: ich war zugegen, als die Alte starb.
  • Ich muß das doch besser wissen als andre Leute. Ich bin bereit, die
  • Sache zu beschwören.«
  • Diese Worte und diese Entschlossenheit beruhigten Lenitzyn ein wenig.
  • Er war sehr aufgeregt und fragte sich schon, ob Tschitschikow nicht am
  • Ende das Testament gefälscht haben könnte (er hätte es sich freilich
  • nicht einmal vorstellen können, daß die Sache sich so verhalte, wie sie
  • sich in Wahrheit verhielt). Jetzt machte er sich Vorwürfe wegen seines
  • Argwohnes. Tschitschikows Bereitwilligkeit, alles zu beschwören, war ein
  • offenkundiger Beweis, daß er .... Wir wissen freilich nicht, ob Pawel
  • Iwanowitsch wirklich den Mut gehabt hätte, einen Eid darauf abzulegen,
  • jedenfalls aber hatte er den Mut, es zu behaupten.
  • Tschitschikow ließ sofort den Wagen vorfahren und begab sich zu seinem
  • Rechtsanwalt. Dieser Rechtsanwalt war ein außerordentlich geschickter
  • und erfahrener Mann. Er befand sich schon seit fünfzehn Jahren im
  • Anklagezustand, aber er verstand es, seine Maßregeln so gut zu treffen,
  • daß es unmöglich war, ihn seines Amtes zu entsetzen. Jedermann wußte,
  • daß er es für seine Heldentaten hundertfach verdient hatte, in die
  • Strafkolonien verschickt zu werden. Er wurde der schlimmsten Dinge
  • verdächtigt, aber es wollte nie gelingen, zwingende Beweise gegen ihn
  • aufzubringen. Der Mann war tatsächlich mit einem geheimnisvollen
  • Schimmer umgeben, man hätte ihn sicher für einen Zauberer erklärt, wenn
  • unsere Erzählung in einem unaufgeklärten Zeitalter gespielt hätte.
  • Der Rechtsanwalt setzte Tschitschikow durch seinen fettigen Schlafrock
  • in Erstaunen, der in einem krassen Gegensatz zu den schönen
  • Mahagonimöbeln, der goldenen, mit einer Glasglocke bedeckten Stutzuhr,
  • dem Armleuchter, der durch die Tüllhülle hindurchschimmerte und zu der
  • ganzen Umgebung stand, denn diese trug den deutlichen Stempel einer
  • weltmännischen europäischen Bildung.
  • Tschitschikow ließ sich jedoch durch den skeptischen Blick des
  • Rechtsanwalts keineswegs aus der Fassung bringen, sondern klärte ihn
  • über die schwierige Sachlage auf und ließ die verlockende Aussicht auf
  • seinen Dank und seine Erkenntlichkeit für den ihm erteilten Rat und
  • Beistand vor ihm erstehen.
  • Der Rechtsanwalt spielte dagegen auf die Unzuverlässigkeit aller
  • irdischen Dinge und Güter an und deutete Tschitschikow gegenüber in
  • zarter Weise an, daß eine Taube auf dem Dache wenig gilt, und ein
  • Sperling in der Hand ihm lieber sei.
  • Was war da zu machen? Man mußte ihm schon den Sperling in die Hand
  • drücken. Die skeptische Kühle unseres Philosophen verschwand sofort, und
  • es stellte sich heraus, daß er der beste Mensch von der Welt und ein
  • äußerst angenehmer Gesellschafter war, der selbst Tschitschikow, was die
  • Schönheit und weltmännische Gewandtheit der Umgangsformen anbelangte,
  • wenig nachgab.
  • »Machen wir doch lieber nicht so viel Umstände -- Sie haben sich wohl
  • das Testament gar nicht ordentlich angesehn; es wird sicher noch irgend
  • eine Bemerkung oder eine Notiz darin stehen. Nehmen Sie es lieber für
  • einige Zeit an sich. Eigentlich ist es ja verboten, solche Objekte mit
  • sich nach Hause zu nehmen, aber wenn man die Beamten ordentlich darum
  • angeht ... Ich für meinen Teil werde meinen ganzen Einfluß aufbieten.«
  • »Ich verstehe,« dachte Tschitschikow und versetzte: »In der Tat, ich
  • kann mich nicht mehr genau darauf besinnen, ob es nicht doch eine Notiz
  • enthielt -- es ist fast so, als ob ich das Testament gar nicht selbst
  • aufgesetzt hätte.«
  • »Das Beste ist, Sie sehen selbst nach. Übrigens können Sie ganz ruhig
  • sein,« fuhr er gutmütig fort. »Machen Sie sich jedenfalls keine Sorgen,
  • selbst wenn es noch schlimmer kommt. Verzweifeln Sie niemals, es gibt
  • keine solche Sache, die sich nicht wieder gut machen ließe. Sehen Sie
  • doch mich an. Ich bin immer ruhig. Was man auch gegen mich unternehmen
  • mag, ich lasse mich nicht in meiner Gemütsruhe stören.« Und in der Tat,
  • das Gesicht unseres Philosophen ließ nicht die geringste Bewegung
  • erkennen, so daß Tschitschikow lange ...
  • »Natürlich ist das das wichtigste,« versetzte er. »Aber Sie werden mir
  • doch zugestehen, daß es Verhältnisse geben kann, Gefahren und
  • Nachstellungen seitens der Feinde, und so verzwickte Lagen, daß man
  • darüber seine Geistesgegenwart verlieren muß.«
  • »Glauben Sie mir, das wäre kleinmütig,« entgegnete der Philosoph sehr
  • ruhig und freundlich. »Achten Sie vor allem darauf, daß die Sache auf
  • dem Aktenwege erledigt wird, und daß es keine mündlichen
  • Auseinandersetzungen gibt. Sobald Sie jedoch bemerken, daß es zum
  • Klappen kommt, und daß die Entscheidung herannaht, -- dann dürfen Sie
  • sich nicht etwa rechtfertigen oder verteidigen, sondern Sie müssen
  • einfach mit neuen Tatsachen herausrücken.«
  • »Man muß also ...«
  • »Die Sache möglichst verwickeln -- das ist alles,« versetzte der
  • Philosoph, »sie mit neuen, nicht zur Sache gehörigen Details
  • komplizieren, die auch noch andre Leute in die Affäre hineinziehen. Man
  • muß die Fäden durcheinander wirren -- das ist das ganze Geheimnis. Mögen
  • doch die Petersburger Beamten sehen, wie sie damit fertig werden!«
  • wiederholte er, indem er Tschitschikow sehr vergnügt ansah, so wie ein
  • Lehrer seinen Schüler, wenn er ihm ein besonders interessantes Kapitel
  • aus der russischen Grammatik erklärt.
  • »Ja, es ist gut, wenn man solche Details findet, mit denen man die Augen
  • anderer Leute umnebeln kann!« sagte Tschitschikow, indem er den
  • Philosophen gleichfalls mit Vergnügen betrachtete, wie ein Schüler, der
  • die interessante Stelle aus der Grammatik, die ihm sein Lehrer erklärt,
  • schon begriffen hat.
  • »Sie werden sich schon finden! Glauben Sie mir, daß Sie sich finden
  • werden: wenn man sich nur häufig genug darin übt, dann wird auch der
  • Kopf allmählig erfinderischer. Vor allem aber bedenken Sie, daß man
  • Ihnen dabei helfen wird. Wenn die Sache recht kompliziert ist, dann
  • finden viele Leute ihren Vorteil dabei: man braucht immer mehr Beamte,
  • und diese wollen ihrerseits immer mehr Gehalt haben. Mit einem Wort, man
  • muß nur recht viele Leute an der Sache interessieren. Es macht nichts,
  • wenn ein paar Unschuldige mit hineingezogen werden: sie müssen sich
  • rechtfertigen, auf die Anklagen antworten, sich loskaufen usw. Da gibt's
  • eben was zu verdienen. Glauben Sie mir: sowie die Umstände wirklich
  • kritisch werden, muß man zuallererst daran denken, die ganze Affäre
  • recht verwickelt zu machen. Und das läßt sich so gut bewerkstelligen,
  • daß sich bald niemand mehr auskennt. Warum bin ich immer so ruhig? Weil
  • ich genau weiß: wenn meine Sache schief geht, dann ziehe ich alle
  • miteinander in sie hinein: den Gouverneur, den Vizegouverneur, den
  • Polizeimeister, den Kassierer -- ich lasse keinen frei ausgehen. Ich
  • kenne ihre Verhältnisse ganz genau; ich weiß, ob einer dem andern zürnt,
  • ob er sich über ihn ärgert und ihm etwas Böses gönnt. Meinetwegen mögen
  • sie sich nachher aus der Affäre ziehen. Unterdessen aber können andere
  • Leute etwas dabei verdienen. Man kann eben nur im trüben Wasser krebsen
  • gehn. Sie warten ja alle zusammen darauf, daß nur ein möglichst großer
  • Wirrwarr entsteht.« Hier sah der Jurist und Philosoph Tschitschikow
  • wiederum so vergnügt an, wie ein Lehrer seinen Schüler, dem er ein noch
  • weit interessanteres Kapitel aus der russischen Grammatik erklärt.
  • »Nein, dieser Mann ist tatsächlich ein Weiser,« dachte Tschitschikow und
  • verabschiedete sich in der besten und vergnügtesten Laune vom
  • Rechtsanwalt.
  • Er fühlte sich wieder vollständig beruhigt, daher warf er sich mit einer
  • nachlässigen Sicherheit in die weichen Kissen seiner Equipage, befahl
  • Seliphan das Verdeck herabzulassen und setzte sich bequem im Polster
  • zurecht, ganz wie ein Husarenoberst a. D. oder Herr Wyschnepokromow in
  • eigener Person. Als er _zum_ Rechtsanwalt fuhr, hatte er das Verdeck
  • schließen lassen und sogar seine Füße tief in die Lederdecke gehüllt,
  • jetzt dagegen schlug er ein Bein über das andre, und wandte allen
  • Vorübergehenden sein lächelndes Gesicht zu, das unter dem keck auf das
  • Ohr gerückten neuen Seidenhut nur so vor Heiterkeit strahlte. Seliphan
  • erhielt den Befehl, die Richtung nach dem Tuchmarkt zu nehmen. Die
  • einheimischen und zugereisten Kaufleute standen an ihren Ladentüren und
  • grüßten ihn ehrerbietig; Tschitschikow erwiderte seinerseits ihren Gruß
  • nicht ohne ein gewisses Selbstbewußtsein. Viele von ihnen kannte er
  • schon; andre waren zwar erst vor kurzem angekommen, doch waren auch sie
  • ganz entzückt von dem gewandten und sicheren Wesen und den feinen
  • Manieren des fremden Herrn, und bewillkommneten ihn daher wie einen
  • alten Bekannten. In der Stadt Tfuslawlew gab es fast immer eine Messe;
  • war der Pferde- und Getreidemarkt zu Ende, dann kamen die Luxuswaren für
  • die vornehmeren und gebildeteren Herrschaften an die Reihe. Die
  • Kaufleute, die per Axe angereist kamen, rechneten damit, per Schlitten
  • nach Hause zurückzukehren.
  • »Bitte hierher, treten Sie gefälligst ein,« rief ihm ein Kaufmann von
  • der Ladentüre aus entgegen. Er trug einen deutschen Rock, der in Moskau
  • verfertigt war, und verbeugte sich mit selbstgefälliger Höflichkeit.
  • Sein Haupt war entblößt, und er schwenkte mit der einen Hand seinen Hut,
  • während er mit der andern leicht über sein rundes Kinn strich. Hierbei
  • suchte er seinem Gesicht einen ausnehmend feinen und gebildeten Ausdruck
  • zu geben.
  • Tschitschikow trat in den Laden: »Lassen Sie sehen, was Sie für Stoffe
  • haben, Verehrtester.«
  • Der vornehme Kaufmann hob sofort das Brett, das die zwei Ladentische
  • verband, in die Höhe, schaffte sich so einen Durchgang und stand
  • sogleich dienstbereit da, indem er seinen Waren den Rücken und dem
  • Käufer sein Gesicht zuwendete. In dieser Stellung begrüßte er entblößten
  • Hauptes und den Hut respektvoll lüftend, noch einmal seinen Gast. Dann
  • setzte er den Hut auf, stützte sich mit beiden Händen auf den
  • Ladentisch, beugte sich etwas vor und sagte: »Was für Stoffe wünschen
  • Sie? Englische Manufakturwaren? oder ziehen Sie unsere vaterländischen
  • Produkte vor?«
  • »Ich wünsche einen russischen Stoff,« versetzte Tschitschikow, »aber von
  • der allerbesten Sorte, einen sogenannten englischen.«
  • »Und welche Farben finden Ihren Beifall?« fragte der Kaufmann, der sich
  • noch immer in der angenehmsten Weise auf seinen beiden Händen
  • balancierte.
  • »Haben Sie einen glänzenden dunkelen oder oliven- oder flaschengrünen
  • Stoff, wenn möglich mit einer preißelbeerfarbenen Nuance?«
  • »Ich kann Ihnen das Versprechen geben, daß Sie die allerbeste Sorte
  • erhalten werden, was Besseres werden Sie auch in beiden Hauptstädten
  • nicht finden,« versetzte der Kaufmann und schickte sich an, den Stoff zu
  • holen. Er warf die Rolle gewandt auf den Tisch, rollte sie von hinten
  • auf und hielt den Stoff ans Licht. »Ein wunderbares Farbenspiel! Das
  • Allermodernste, etwas für den erlesensten Geschmack!« Und in der Tat,
  • der Stoff glänzte wie Seide. Der Kaufmann hatte mit feinem Instinkte
  • erkannt, daß ein Kenner der Tuchsorten vor ihm stand und daher wollte er
  • erst gar nicht mit einem Stoff zu zehn Rubel pro Meter anfangen.
  • »Hm, nicht übel,« bemerkte Tschitschikow, nachdem er das Tuch flüchtig
  • gemustert hatte. »Aber wissen Sie was, Verehrtester, zeigen Sie mir
  • lieber gleich die Sorte, die Sie zuletzt vorlegen; und dann: haben Sie
  • keinen mit einem Stich ins Rote?«
  • »Ich verstehe: Sie wollen genau so eine Farbe, wie sie heute modern zu
  • werden beginnt. Da habe ich einen Stoff von allererster Qualität. Ich
  • mache Sie darauf aufmerksam, daß er sehr teuer ist, aber wie gesagt:
  • dafür ist es auch die allerbeste Sorte.«
  • Die Rolle fiel von oben herab. Der Kaufmann rollte sie mit noch größerer
  • Geschwindigkeit auseinander und fing sie am andern Ende auf. Diesmal war
  • es ein echter Seidenstoff; er zeigte ihn Tschitschikow, jedoch so, daß
  • dieser nicht nur die Möglichkeit hatte, ihn gründlich zu besichtigen,
  • sondern sogar zu betasten und zu beriechen. Und er fügte nur kurz hinzu:
  • »Navarinosche Rauchfarbe mit Feuerglanz.«
  • 12. Variante der andern Fassung.
  • Man einigte sich über den Preis. Ein eisernes Metermaß maß Tschitschikow
  • gleich einem Zauberstabe in wenigen Augenblicken den Stoff für Frack und
  • Hosen zu. Dann machte der Kaufmann einen kleinen Einschnitt mit der
  • Schere, riß das Tuch mit beiden Händen der ganzen Breite nach
  • auseinander und verbeugte sich, nachdem diese Operation vollendet war,
  • in außerordentlich feiner und liebenswürdiger Weise vor Tschitschikow.
  • Das Zeug wurde hierauf zusammengerollt und geschickt in Papier
  • gewickelt. Hierauf wurde eine dünne Schnur herumgeschlungen und das
  • Paket war fertig. Tschitschikow wollte schon in die Tasche greifen, aber
  • da fühlte er, wie eine zarte Hand seine Taille angenehm umschlang, und
  • seine Ohren vernahmen die Worte: »Was kaufen Sie hier ein,
  • Verehrtester.«
  • »Ah, welch glückliches Zusammentreffen!« rief Tschitschikow aus.
  • »Ja, es ist ein glücklicher Zufall, der uns hier zusammenführt,« hörte
  • er die Stimme desselben Mannes sagen, der seine Taille umschlungen
  • hatte. Es war Wyschnepokromow. »Ich wollte schon achtlos an dem Laden
  • vorübergehn, da sehe ich plötzlich ein bekanntes Gesicht -- einem
  • solchen Vergnügen kann man sich doch unmöglich entziehen. Ja, ja, dies
  • Jahr sind die Stoffe weit schöner. Es ist eine wahre Schande. Früher
  • konnte man beim besten Willen nichts Vernünftiges bekommen. Ich hätte
  • gern vierzig Rubel bezahlt ... meinetwegen sogar fünfzig, wenn ich nur
  • etwas Gutes bekommen hätte. Was mich anbelangt, so will ich entweder das
  • Allerbeste oder lieber gar nichts haben. Nicht wahr?«
  • »Sehr richtig!« versetzte Tschitschikow. »Wozu quält man sich so, wenn
  • man nicht auch was Gutes haben soll?«
  • 13. Variante der andern Fassung.
  • Der alte Mann begrüßte alle Anwesenden und wandte sich direkt an
  • Chlobujew: »Entschuldigen Sie, aber ich sah von weitem, wie Sie in den
  • Laden traten, und da entschloß ich mich, Ihnen nachzugehen und Ihre Zeit
  • ein wenig in Anspruch zu nehmen. Wenn Sie nachher frei sind und an
  • meinem Hause vorüberkommen, dann seien Sie doch so freundlich, einen
  • Augenblick bei mir einzutreten. Ich habe mit Ihnen zu sprechen.«
  • Chlobujew versetzte: »Sehr gern, Afanassij Wassiljewitsch.«
  • Der alte Herr verabschiedete sich und ging hinaus. »Mir wirbelt's
  • förmlich im Kopfe,« sagte Tschitschikow »wenn ich daran denke, daß
  • dieser Mensch ganze zehn Millionen hat. Das ist einfach unmöglich!«
  • »Ja, das gehört sich in der Tat nicht,« bemerkte Wyschnepokromow; »die
  • Kapitale sollten nicht in der Hand Einzelner konzentriert sein. Das ist
  • ein Gegenstand, über den in Europa sehr viel geschrieben wird. Wenn du
  • Geld hast, mußt du es auch mit den andern teilen: mache Geschenke, gib
  • Bälle, entwickele einen wohltätigen Luxus, bei dem die Arbeiter und
  • Handwerker etwas verdienen.«
  • »Das kann ich gar nicht verstehen!« wiederholte Tschitschikow. »Zehn
  • Millionen! Und dabei lebt er wie ein gewöhnlicher Bauer! Hol's der
  • Teufel, was kann man nicht alles mit zehn Millionen anfangen! Da kann
  • man ein Leben beginnen. Nur Fürsten und Generäle sollten bei mir
  • verkehren!«
  • »Jawohl,« bemerkte der Kaufmann, »das ist in der Tat keine gebildete
  • Art. Wenn ein Kaufmann Ehrenbürger ist, dann ist er eben nicht mehr
  • Kaufmann sondern gewissermaßen schon Negoziant. Dann muß ich mir auch
  • eine Loge im Theater halten, und kann meine Tochter doch keinem
  • einfachen Oberst mehr zur Frau geben. Nein, dann müßte schon mindestens
  • ein General kommen, einem andern geb ich sie einfach nicht. Was ist mir
  • ein Oberst? Und mein Essen bestellte ich beim Konditor und nicht bei
  • einer gewöhnlichen Köchin ...«
  • »Da ist doch jedes Wort überflüssig!« sagte Wyschnepokromow. »Mit zehn
  • Millionen kann man vieles anfangen. Geben Sie mir nur die zehn
  • Millionen, Sie sollen schon sehen, was ich damit beginne!«
  • »Nein,« dachte Tschitschikow: »bei _dir_ wären die zehn Millionen
  • schlecht aufgehoben. Wenn ich dagegen ein solches Sümmchen hätte, ich
  • wüßte sie in der Tat gut anzulegen.«
  • »Ja, wenn ich zehn Millionen besäße,« dachte Chlobujew, »dann wäre ich
  • nicht so töricht wie früher, ich würde sie nicht so sinnlos vergeuden.
  • Nachdem man so schreckliche Erfahrungen gemacht hat, kennt man den Wert
  • jeder Kopeke. Ja, jetzt würde ich es ganz anders anfangen ...« Aber
  • gleich darauf wurde er nachdenklich und legte sich innerlich die Frage
  • vor: »Würde ich das Geld jetzt wirklich vernünftiger anlegen?« dann
  • machte er eine hoffnungslose Gebärde und fügte hinzu: »Kein Gedanke! Ich
  • glaube, ich würde es ebenso ausgeben wie früher.« Damit verließ er den
  • Laden und begab sich zu Murasow, höchst gespannt darauf, was dieser ihm
  • mitzuteilen habe.
  • »Ich erwartete Sie!« sagte Murasow, als er Chlobujew eintreten sah.
  • »Bitte, kommen Sie doch in mein Zimmer.« Und er führte Chlobujew in das
  • Stübchen, welches der Leser bereits kennen gelernt hat. Selbst ein
  • Beamter, der jährlich nur 700 Rubel Gehalt bezieht, könnte in keinem
  • schlichteren und unscheinbareren Stübchen hausen.
  • »Sagen Sie bitte, Ihre Verhältnisse haben sich doch gebessert? Ich
  • glaube, Ihre Tante hat Ihnen etwas hinterlassen?«
  • »Was soll ich Ihnen sagen, Afanassij Wassiljewitsch? Ich weiß nicht, ob
  • sich meine Verhältnisse wirklich gebessert haben. Ich habe bloß fünfzig
  • Bauern und dreißigtausend Rubel geerbt; damit muß ich einen Teil meiner
  • Schulden bezahlen, und dann behalte ich so gut wie nichts übrig. Was
  • aber die Hauptsache ist, die Geschichte mit diesem Testament ist nicht
  • ganz sauber. Es sind da allerhand Betrügereien vorgekommen, Afanassij
  • Wassiljewitsch! Ich will Ihnen alles erzählen, Sie werden sich wundern,
  • was für Dinge in der Welt passieren. Dieser Tschitschikow ...«
  • »Erlauben Sie, Peter Petrowitsch, bevor wir von diesem Tschitschikow
  • reden, möchte ich zuerst von Ihnen selber sprechen. Sagen Sie mir bitte,
  • wieviel Geld hätten Sie wohl nötig, um wieder in geordnete Verhältnisse
  • hineinzukommen? Was denken Sie wohl?«
  • »Um meine Verhältnisse zu ordnen, und ein ganz bescheidenes Leben
  • beginnen zu können -- dazu brauche ich mindestens hunderttausend Rubel,
  • wenn nicht noch mehr.«
  • »Nun und wenn Sie dieses Geld hätten, was würden Sie dann wohl
  • anfangen?«
  • »Ich würde mir eine kleine Wohnung mieten und mich der Erziehung meiner
  • Kinder widmen, ich kann doch nicht mehr in den Staatsdienst eintreten.
  • Ich bin ja zu nichts mehr zu gebrauchen.«
  • »Warum sind Sie zu nichts zu gebrauchen?«
  • »Ja was könnte ich denn beginnen? Sagen Sie selbst, ich kann doch nicht
  • wieder als Bureauschreiber anfangen. Sie vergessen, daß ich Familie
  • habe. Ich bin schon über die Vierzig, leide an Kreuzschmerzen und bin
  • träge und müde geworden. Und eine bessere Stelle werde ich doch nicht
  • erhalten; dazu bin ich zu schlecht angeschrieben. Ich muß Ihnen übrigens
  • gestehen, ich würde auch keine Stellung annehmen, wo es was zu verdienen
  • gibt. Ich bin zwar ein schlechter Kerl und ein Spieler, aber
  • Geldgeschenke würde ich nicht nehmen. Alles andre, nur nicht dies. Mit
  • diesem Krasnonossow und Samosistow würde ich mich nicht vertragen.«
  • »Verzeihen Sie, aber ich kann trotzdem nicht begreifen, wie man leben
  • kann, wenn man kein Ziel, wenn man keinen Weg vor Augen hat; man kann
  • doch nicht weiterfahren, wenn man keinen Boden unter den Füßen hat; man
  • kann doch das Wasser nicht ohne Kahn durchschiffen. Das Leben ist eben
  • eine Reise. Entschuldigen Sie, Peter Petrowitsch, aber die Leute, von
  • denen Sie da reden, haben doch wenigstens einen Weg vor sich, sie sind
  • tätig und arbeiten zum mindesten. Freilich sind sie vom rechten Wege
  • abgekommen, wie das uns sündigen Menschen wohl passieren kann; aber wir
  • wollen hoffen, daß sie sich wieder zurecht finden werden. Wer nur
  • vorwärts marschiert, -- _muß_ schließlich das Ziel erreichen, man
  • braucht die Hoffnung nicht aufzugeben, daß er wieder auf den rechten Weg
  • hinauskommt. Wie aber soll einer den Weg finden, der müßig dahinlebt.
  • Der Weg kommt doch nicht selbst zu uns.«
  • »Glauben Sie mir, Afanassij Wassiljewitsch, ich fühle, wie recht Sie
  • haben .... aber ich sage Ihnen, in mir ist jeder Trieb zur Tätigkeit
  • erstorben. Ich sehe nicht, daß ich noch jemandem in der Welt von Nutzen
  • sein könnte. Ich fühle, ich bin nichts wie ein unnützer Holzklotz.
  • Früher, als ich noch jünger war, da schien es mir, daß alles vom Gelde
  • abhänge, daß, wenn ich bloß ein paar Hunderttausende in der Hand hätte,
  • ich alle Menschen glücklich machen könnte. Ich wollte arme Künstler
  • unterstützen, Bibliotheken einrichten, allerhand nützliche Institutionen
  • gründen und Sammlungen anlegen. Ich bin nicht ohne Geschmack und weiß,
  • daß ich das Geld besser zu verwenden wüßte, als die meisten reichen
  • Leute, die nichts Vernünftiges zuwege bringen. Jetzt sehe ich jedoch,
  • daß auch dies eitel ist und wenig Wert hat. Nein, Afanassij
  • Wassiljewitsch, ich tauge nichts mehr, gar nichts mehr, das können Sie
  • mir glauben. Ich bin zu nichts mehr fähig.«
  • 14. Hier schließt der Text des späteren Entwurfs. Die neuere Fassung
  • dieser Stelle hängt in der Handschrift nicht mit der ursprünglichen
  • zusammen. Daher mußte der ursprüngliche Text bis zu der Stelle
  • reproduziert werden, die keiner weiteren Überarbeitung unterzogen wurde.
  • Variante der andern Fassung.
  • »Hören Sie, Peter Petrowitsch, Sie gehen doch auch in die Kirche, um zu
  • beten; ich weiß es, Sie versäumen keine Früh- noch Abendmesse. Sie
  • stehen nicht gern früh auf, und doch tuen Sie es und gehen -- schon um 4
  • Uhr zum Gottesdienst, wenn noch alle Leute schlafen.«
  • »Das ist etwas ganz andres, Afanassij Wassiljewitsch. Das tue ich um
  • meines Seelenheiles willen, denn ich bin überzeugt, daß ich damit mein
  • müßiges Leben mindestens ein klein wenig wieder gut mache. So
  • widerwärtig ich mir selbst bin, ein so schlechter Kerl ich auch sein
  • mag, ich hoffe doch, daß ein demütiges Gebet und eine gewisse
  • Selbstüberwindung Gott wohlgefällig sind. Ich will Ihnen gestehen, ich
  • bete ohne Glauben, aber ich bete dennoch. Ich fühle bloß, daß es einen
  • Herrn gibt, von dem alles abhängt; so erkennt auch das Pferd und das
  • Vieh seinen Herrn, der über sie gebietet.«
  • »Sie beten also zu dem, dem Sie wohlgefällig sein wollen, weil Sie um
  • das Heil Ihrer Seele besorgt sind, und das gibt Ihnen Kraft und
  • veranlaßt Sie so früh aufzustehen. Glauben Sie mir, wenn Sie mit
  • derselben Energie Ihrem Berufe nachgehen wollten, wie Sie Ihm dienen, zu
  • dem Sie beten, Sie würden bald eine Tätigkeit finden, und kein Mensch in
  • der Welt könnte Ihre Begeisterung dämpfen.«
  • »Afanassij Wassiljewitsch. Ich muß wiederholen, das ist was ganz andres.
  • Im ersten Falle sehe ich doch, daß ich handele. Ich sage Ihnen, ich bin
  • bereit, in ein Kloster zu gehen, ich will die schwersten Lasten tragen,
  • die man mir auferlegt, und die härtesten Arbeiten tun, denn dort werde
  • ich wissen, für wen ich mich mühe. Da brauche ich nicht nachzudenken und
  • zu grübeln. Dort bin ich überzeugt, daß die für mich Rechenschaft
  • ablegen werden, die mir sagen, was ich zu tun habe. Dort habe ich mich
  • zu unterwerfen, und ich weiß, daß ich mich Gott unterwerfe.«
  • »Ja, aber warum denken Sie denn in weltlichen Dingen nicht ebenso? Wir
  • sollen doch auch in der Welt _Gott_ dienen und keinem andern. Und wenn
  • wir einem andern dienen, so tuen wir es auch nur deswegen, weil wir
  • überzeugt sind, daß Gott selbst es so will; ohne das könnten wir
  • niemandem dienen. Was sind denn all unsere Gaben und Fähigkeiten, die
  • bei jedem anders geartet sind? Das sind doch nur Werkzeuge unseres
  • Gottesdienstes: in Worten oder Taten. Sie können doch nicht ins Kloster
  • gehen; Sie sind an die Welt gewöhnt und haben Familie!«
  • Murasow schwieg. Auch Chlobujew sagte kein Wort.
  • »Sie glauben also, Sie könnten Ihr Leben auf eine feste Grundlage
  • stellen und von nun ab vernünftiger und sparsamer wirtschaften, wenn Sie
  • zweihunderttausend Rubel hätten?«
  • »Das heißt, ich würde wenigstens eine Tätigkeit haben, der ich gewachsen
  • bin -- ich würde mich der Erziehung meiner Kinder widmen, und ich hätte
  • die Möglichkeit, ihnen tüchtige Lehrer zu halten.«
  • »Soll ich Ihnen etwas sagen, Peter Petrowitsch! Nach zwei Jahren werden
  • Sie wieder ganz tief in Schulden stecken, wie in einem Netz.«
  • Chlobujew schwieg eine Weile still und sagte dann gedehnt: »Aber nach
  • den Erfahrungen, die ich ....«
  • »Ach, da ist doch kein Wort zu verlieren!« fiel Murasow ein. »Sie haben
  • ein gutes Herz, Ihre Freunde werden zu Ihnen kommen und Sie um Geld
  • bitten -- Sie werden es ihnen ja doch nicht abschlagen können; wenn Sie
  • einen armen Mann sehen, werden Sie ihm helfen; wenn ein Freund zu Ihnen
  • kommt, werden Sie ihn recht gut bewirten wollen und sich jeder
  • menschenfreundlichen Regung hingeben. Ihren Vorteil und das Rechnen aber
  • werden Sie dabei vergessen. Und schließlich lassen Sie mich Ihnen noch
  • in aller Aufrichtigkeit das eine sagen: Sie sind ja garnicht imstande,
  • Ihre Kinder gut zu erziehen. Seine Kinder kann nur ein Vater erziehen,
  • der seine Pflicht schon erfüllt hat. Und Ihre Frau ... sie hat ja ein
  • gutes Herz ... aber sie ist selbst nicht so erzogen, um Kinder erziehen
  • zu können. Ich frage mich sogar -- Sie entschuldigen mich doch, Peter
  • Petrowitsch -- ob es Ihren Kindern nicht am Ende schaden könnte, stets
  • mit Ihnen zusammen zu sein!«
  • Chlobujew war nachdenklich geworden; er prüfte sich in Gedanken nach
  • allen Richtungen und hatte schließlich das Gefühl, daß Murasow nicht
  • ganz unrecht hatte.
  • »Wissen Sie was, Peter Petrowitsch! Überlassen Sie mir Ihre Kinder und
  • die Ordnung Ihrer Verhältnisse, verlassen Sie Ihre Familie und Ihre
  • Kinder, ich will schon für sie sorgen. Ihre Verhältnisse sind doch
  • gewissermaßen so, daß Sie ganz in meiner Hand sind; Sie sind doch nahe
  • am Verhungern. Hier gilt es einen Entschluß zu fassen. Kennen Sie Iwan
  • Potapytsch?«
  • »Gewiß, und ich verehre ihn sehr, trotzdem er in einer Joppe
  • herumläuft.«
  • »Iwan Potapytsch war Millionär, seine Töchter heirateten lauter Beamte,
  • und er lebte wie ein Fürst. Aber er machte Bankrott -- und da blieb ihm
  • eben nichts andres übrig, als ein gewöhnlicher Kommis zu werden. Es
  • wurde ihm wirklich nicht leicht, aus einer einfachen Schüssel zu essen,
  • _ihm_, der an silberne Teller gewöhnt war, und die Hände wollten nicht
  • recht arbeiten, denn sie hatten es nicht gelernt. Sehen Sie, jetzt
  • könnte Iwan Potapytsch wieder aus silbernen Schüsseln essen, aber nun
  • will er es selbst nicht. Er hat sich wieder genug zusammengespart, aber
  • er sagt: >Nein, Afanassij Wassiljewitsch, jetzt diene ich nicht mehr mir
  • selber, sondern _Gott_. Ich mag jetzt nichts mehr um meiner selbst
  • willen tun. Ich gehorche Ihnen, weil ich Gott gehorchen will und nicht
  • den Menschen, und da Gott nur durch den Mund der besten Menschen zu uns
  • spricht. Sie sind klüger als ich, und daher bin nicht ich dafür
  • verantwortlich, sondern Sie.< -- Sehen Sie, so denkt Iwan Potapytsch,
  • und doch ist er, wenn ich ehrlich sein soll, viel, viel klüger als ich.«
  • »Afanassij Wassiljewitsch, ich will ja gern Ihre Überlegenheit
  • anerkennen ... ich will gern Ihr Diener sein, und alles tun, was Sie
  • wollen, ich gebe mich ganz in Ihre Hände. Aber legen Sie mir keine Last
  • auf, die ich nicht tragen kann: ich bin kein Potapytsch, und ich sage
  • Ihnen, daß ich zu nichts Gutem mehr tauge.«
  • »Ich werde Ihnen nichts auferlegen, Peter Petrowitsch, aber da Sie doch
  • nun einmal Gott dienen wollen -- da haben Sie ein Gott wohlgefälliges
  • Werk! Es wird hier eine Kirche gebaut, das Geld dazu muß durch
  • freiwillige Spenden frommer Menschen aufgebracht werden. Leider fehlt es
  • an Mitteln, sie müssen durch eine Sammlung herbeigeschafft werden.
  • Ziehen Sie einen einfachen Pelz an -- Sie sind doch jetzt ein schlichter
  • Mensch -- ein verarmter Edelmann -- und so gut wie ein Bettler, was
  • brauchen Sie sich zu schämen? -- nehmen Sie das Kassenbuch in die Hand,
  • besteigen Sie einen einfachen Bauernwagen und besuchen Sie alle Städte
  • und Dörfer der Umgegend. Der Archierei[15] wird Ihnen seinen Segen geben
  • und Ihnen das Kassenbuch aushändigen. Nehmen Sie es und ziehen Sie mit
  • Gott!«
  • [Fußnote 15: Erzpriester.]
  • Peter Petrowitsch war sehr erstaunt über die völlig neue Tätigkeit, die
  • ihm hier vorgeschlagen wurde. Er war doch immerhin ein Mann von altem
  • Adel und sollte sich jetzt in einem Bauernwagen durchrütteln lassen und
  • mit dem Buche durch Städte und Dörfer ziehen, um Geld für die Kirche zu
  • sammeln! Aber er konnte nicht mehr zurück, er konnte sich der Sache
  • nicht mehr entziehen. War es doch ein von Gott gewolltes Werk!
  • »Sie überlegen noch?« fragte Murasow, »Sie werden damit einen doppelten
  • Dienst leisten: Gott und mir.«
  • »Ihnen?«
  • »Das will ich Ihnen gleich sagen. Sie werden in Gegenden kommen, wo ich
  • noch nicht war, und werden dort an Ort und Stelle alles erfahren: wie
  • die Bauern leben, wo die Leute reicher sind, wo sie Not leiden, und wie
  • überall die Verhältnisse liegen. Ich will Ihnen gestehen, ich liebe die
  • Bauern von ganzem Herzen, vielleicht deshalb, weil ich selbst von Bauern
  • abstamme. Die Sache ist nämlich die, es haben sich da schlimme Dinge
  • unter ihnen verbreitet. Allerhand Herumtreiber und Sektierer suchen sie
  • zu verführen und gegen die Obrigkeit aufzureizen, und wenn ein Mensch
  • Not leidet, dann lehnt er sich so leicht auf. Als ob es eine so schwere
  • Sache ist, einen Menschen unzufrieden zu machen, der sich in einer
  • bedrängten Lage befindet. Aber das ist es ja gerade, die Hilfe und
  • Strafe darf nicht von unten kommen. Es wäre schlimm, wenn man sich sein
  • Recht mit den Fäusten erkämpfen wollte, daraus kann nichts Gutes
  • entstehen; dabei haben nur die Diebe und Räuber den Vorteil. Sie sind
  • ein kluger Mensch, Sie werden alles gründlich studieren und in Erfahrung
  • bringen, wo ein Mensch wirklich Not leidet, wo andre ihn bedrücken, und
  • wo sein eigner unruhiger Charakter die Schuld trägt. Und dann, wenn Sie
  • wiederkommen, werden Sie mir alles ganz genau erzählen. Ich will Ihnen
  • auf jeden Fall eine kleine Summe mitgeben, die Sie unter die verteilen
  • mögen, die wirklich und unschuldigerweise Not leiden. Es wird auch gut
  • sein, wenn Sie sie mit Worten trösten und es ihnen recht klar machen, es
  • sei Gottes Wille, daß wir unsere Bürde ohne Murren tragen, zu ihm beten,
  • wenn wir unglücklich sind und nicht toben, uns nicht auflehnen und uns
  • nicht selbst zu unserem Rechte verhelfen. Mit einem Worte, reden Sie
  • ihnen gut zu, ohne sie gegen jemand aufzuwiegeln, und lehren Sie sie,
  • ihr Los geduldig ertragen. Wo Sie aber Haß und Zorn gegen jemand finden,
  • da nehmen Sie all Ihre Kräfte zusammen.«
  • »Afanassij Wassiljewitsch! Das Amt, das Sie mir übertragen wollen, ist
  • ein heiliges Amt,« sagte Chlobujew. »Dies ist ein heiliges Werk!
  • Bedenken Sie, wen Sie damit betrauen. Man kann es nur einem Menschen
  • übertragen, der selbst gewissermaßen einen heiligen Lebenswandel führt,
  • der es versteht, andern Leuten zu verzeihen.«
  • »Ich sage ja auch nicht, das Sie dies _alles_ ausführen sollen, tuen
  • Sie, was möglich ist, was in Ihren Kräften steht. Die Sache ist die: Sie
  • werden trotzdem mit einem großen Wissensschatz und einer großen
  • Ortskenntnis zurückkehren, Sie werden genau über die Lage der
  • betreffenden Provinzen orientiert sein. Ein Beamter würde dem Bauern nie
  • persönlich gegenübertreten, und auch der Bauer würde nicht aufrichtig
  • gegen ihn sein. Sie aber, der Sie zu ihm kommen, um Beiträge für die
  • Kirche zu sammeln, -- Sie werden überall einen Einblick gewinnen in die
  • Lage des kleinen Mannes, in den Hausstand des Kaufmanns usw., Sie werden
  • Gelegenheit haben, jeden genau nach allem auszufragen. Ich sage Ihnen
  • das, weil der Generalgouverneur solche Leute wie Sie gerade jetzt
  • besonders nötig hat, und Sie können, ganz abgesehen von den
  • bureaukratischen Titeln, eine Stellung erhalten, wo Sie vielen Nutzen
  • stiften werden.«
  • »Gut denn! Ich will's versuchen, ich will all meine Kräfte anspannen und
  • mir die größte Mühe geben,« sagte Chlobujew. Man hörte es seiner Stimme
  • an, daß er wieder Mut und Kraft schöpfte, und er erhob wieder tapfer das
  • Haupt, wie ein Mensch, den eine neue Hoffnung belebt. »Ich sehe, daß
  • Gott Ihnen die rechte Einsicht geschenkt hat. Sie verstehen manche Dinge
  • weit besser, als wir kurzsichtigen Leute.«
  • »Doch nun möchte ich Sie endlich fragen: Was ist es mit Tschitschikow,
  • und von welcher Angelegenheit sprachen Sie vorhin?« sagte Murasow.
  • »Ach Gott, von Tschitschikow kann ich Ihnen geradezu unerhörte Dinge
  • erzählen. Was der alles anstellt ... Wissen Sie auch, Afanassij
  • Wassiljewitsch, daß das Testament gefälscht ist! Das echte Testament hat
  • sich gefunden. Darnach sind die Pflegetöchter die Erbinnen des ganzen
  • Gutes.«
  • »Was sagen Sie? Und wer hat das falsche Testament hergestellt?«
  • »Das ist es ja eben. Es ist eine ganz schmutzige Geschichte. Man sagt:
  • Tschitschikow sei der Verfasser; das Testament sei erst nach dem Tode
  • der Testantin unterschrieben: man hätte ein Weib gefunden, die man
  • verkleidet habe, und die es anstelle der Verstorbenen unterschrieben
  • hat. Mit einem Wort eine ganz häßliche und skandalöse Affäre. Man hat
  • Verdacht, daß auch noch andere Beamte daran beteiligt sind. Man spricht
  • schon überall davon, und der Generalgouverneur soll bereits davon Kunde
  • haben. Man sagt, es seien über tausend Klagen von den verschiedensten
  • Seiten eingelaufen. Die Freier machen sich jetzt schon an Marja
  • Jeremejewna; zwei Beamte liegen sich ihretwegen in den Haaren. Eine
  • widerwärtige Geschichte, Afanassij Wassiljewitsch.«
  • »Ich habe noch garnichts davon gehört, aber die Sache wird sicherlich
  • nicht ganz sauber sein. Ich muß gestehen, daß dieser Pawel Iwanowitsch
  • Tschitschikow mir eine höchst rätselhafte Persönlichkeit ist,« sagte
  • Murasow.
  • »Ich habe meinerseits auch eine Klage eingereicht, um daran zu erinnern,
  • daß es noch einen rechtmäßigen Erben gibt ...«
  • »Mögen sie sich meinetwegen alle miteinander in den Haaren liegen,«
  • dachte Chlobujew, als er sich von Murasow verabschiedet hatte. --
  • »Afanassij Wassiljewitsch ist nicht dumm. Er wird sich die Sache wohl
  • überlegt haben, als er mir diesen Auftrag gab. Ich muß ihn eben erfüllen
  • -- das ist das Ganze.« Und er fing schon an, an seine Reise zu denken,
  • während Murasow noch immer in Gedanken wiederholte: »Ein höchst
  • rätselhafter Mensch dieser Pawel Iwanowitsch Tschitschikow! Wer mit
  • dieser Willenskraft und dieser Ausdauer auf ein edles Ziel hinarbeitete!
  • ...«
  • * * * * *
  • Nachdem Gogol 1845 das Manuskript des zweiten Teiles der toten Seelen
  • verbrannt hatte, ging er sogleich an die Ausarbeitung eines neuen
  • Planes. Anfang März 1846 war schon ein Teil des zweiten Bandes fertig.
  • In den folgenden Jahren wurde die Arbeit unter mehreren größeren
  • Unterbrechungen fortgesetzt. Juni 1849 las Gogol Frau A. O. Smirnow
  • mehrere Kapitel der _neuen_ Fassung vor. Arnoldi, der einige Male bei
  • diesen Vorlesungen zugegen war, gibt den Inhalt des von ihm Gehörten
  • folgendermaßen wieder (vergl. Kap. 1 und 2 unserer Ausgabe):
  • »Soweit ich mich erinnere, begann es (das erste Kapitel des zweiten
  • Teils) ein wenig anders; es war überhaupt weit sorgfältiger
  • durchgearbeitet, obwohl der Inhalt derselbe war. Dieses Kapitel schloß
  • mit dem Gelächter des Generals Betrischtschew. Hierauf folgte ein
  • zweites Kapitel, in dem ein Tag im Hause des Generals beschrieben wird.
  • Tschitschikow blieb zum Mittagessen da. An dem Diner nahmen außer Ulinka
  • noch zwei Personen teil: eine Engländerin, die die Rolle einer
  • Gouvernante spielte, und ein Spanier oder Portugiese, der seit
  • unvordenklichen Zeiten und ohne angebbaren Grund auf dem Gute
  • Betrischtschews wohnte. Die Engländerin war eine ältere Jungfrau, ein
  • farbloses, ziemlich häßliches Wesen mit einer großen schmalen Nase und
  • sehr lebhaften Augen. Sie hielt sich kerzengerade, konnte tagelang
  • schweigen und ließ nur ihre Augen mit dem dumm-fragenden Blick beständig
  • nach allen Seiten schweifen. Der Portugiese hieß, soweit ich mich
  • erinnere: Expanton, Chsitendon oder so ähnlich; aber ich weiß bestimmt,
  • daß alle Dienstboten des Generals ihn bloß »Eskadron« nannten. Er
  • schwieg auch fortwährend, mußte jedoch nach dem Essen eine Partie Schach
  • mit dem General spielen. Während des Diners passierte nichts
  • Außerordentliches. Der General war lustig und scherzte mit
  • Tschitschikow, der einen großen Appetit entwickelte. Ulinka war
  • nachdenklich, ihr Gesicht belebte sich bloß, wenn die Rede auf
  • Tentennikow kam. Nach dem Essen spielte der General eine Partie Schach
  • mit dem Spanier und wiederholte andauernd, während er eine Figur
  • vorschob: »Lieb uns so weiß wie«, worauf Tschitschikow ihn beständig
  • verbesserte: »So schwarz, Exzellenz.« »Ja, ja,« sagte der General, »lieb
  • uns so schwarz, wie wir sind, weiß würde uns der Herrgott selbst lieb
  • haben.« Nach fünf Minuten versprach er sich jedoch abermals und fing
  • wieder an: »Lieb uns so weiß wie«. -- Tschitschikow verbesserte ihn aufs
  • neue, und der General wiederholte noch einmal: »Lieb uns so schwarz wie
  • wir sind, wenn wir weiß und sauber wären, würde uns auch der Herrgott
  • lieb haben.« Nachdem der General mehrere Partieen mit dem Spanier
  • gespielt hatte, schlug er Tschitschikow vor, ein paar Partieen mit ihm
  • zu spielen, und auch hier wußte sich Tschitschikow äußerst geschickt aus
  • der Affäre zu ziehen. Er spielte sehr gut, bedrängte und setzte den
  • General mit seinen Zügen in Verlegenheit, verlor aber schließlich doch
  • die Partie: der General war sehr zufrieden, daß er einen so starken
  • Spieler wie Tschitschikow besiegt hatte, und gewann ihn noch mehr lieb.
  • Beim Abschied bat er ihn, sobald als möglich wiederzukehren, und auch
  • Tentennikow mitzubringen. Als Tschitschikow wieder zu Tentennikow kam,
  • erzählte er ihm, wie traurig Ulinka sei, wie sehr der General es
  • bedauere, daß er ihn gar nicht mehr bei sich sähe, wie der General sein
  • Benehmen aufrichtig bereue und sogar bereit sei, ihm zuerst einen Besuch
  • abzustatten und ihn um Verzeihung zu bitten, nur um das Mißverständnis
  • aus der Welt zu schaffen. Das war natürlich alles erfunden. Aber
  • Tentennikow, der sterblich in Ulinka verliebt war, freute sich
  • selbstverständlich, einen Vorwand zu haben und erklärte, wenn die Sache
  • sich so verhalte, werde er es nicht dazu kommen lassen und noch morgen
  • zum General fahren, um ihm mit seinem Besuch zuvorzukommen.
  • Tschitschikow billigt diesen Entschluß, und beide verabreden sich, am
  • folgenden Tage zum General Betrischtschew zu fahren. Am Abend desselben
  • Tages gesteht Tschitschikow Tentennikow, daß er den General
  • angeschwindelt und ihm erzählt habe, daß Tentennikow eine Geschichte der
  • Generäle schreibe. Dieser versteht nicht, wozu Tschitschikow so etwas
  • gesagt habe, und weiß nicht, was er machen soll, wenn der General auf
  • diese Geschichte zu sprechen kommen sollte. Tschitschikow erklärt ihm,
  • er wisse eigentlich selbst nicht, wie ihm dieses Wort entschlüpft sei,
  • aber es sei nun einmal nicht mehr zu ändern, und er bittet ihn, wenn er
  • durchaus nicht lügen könne, doch wenigstens still zu schweigen und die
  • Sache nicht geradezu abzuleugnen, um _ihn_ -- Tschitschikow nicht vor
  • dem General zu kompromittieren. Hierauf fahren beide nach dem Gute des
  • Generals. Tentennikow begrüßt den General und Ulinka, und man setzt sich
  • zum Mittagessen. Die Beschreibung dieses Diners war meiner Ansicht nach
  • die schönste Stelle im zweiten Bande. Der General saß in der Mitte,
  • rechts von ihm Tentennikow, links Tschitschikow, neben Tschitschikow
  • Ulinka, neben Tentennikow der Spanier und zwischen dem Spanier und
  • Ulinka -- die Engländerin. Der General war sehr zufrieden, daß er sich
  • wieder mit Tentennikow ausgesöhnt hatte, und mit einem Menschen plaudern
  • konnte, der eine Geschichte der vaterländischen Generäle schrieb.
  • Tentennikow war glücklich, weil Ulinka ihm gegenübersaß, mit der er von
  • Zeit zu Zeit einen Blick wechselte. Ulinka war gleichfalls glücklich,
  • weil der Geliebte wieder zu ihnen zurückgekehrt war, und der Vater die
  • alten guten Beziehungen zu ihm wiederhergestellt hatte, und auch
  • Tschitschikow war sehr zufrieden mit seiner Rolle als Mittler in dieser
  • reichen und vornehmen Familie. Die Engländerin ließ ihre Augen frei nach
  • allen Seiten schweifen, der Spanier betrachtete seinen Teller und erhob
  • seinen Blick nur dann, wenn ein neues Gericht aufgetragen wurde. Er
  • suchte sich den besten Bissen aus, und ließ ihn nicht aus den Augen,
  • während die Schüssel längs der Tafel die Runde machte, oder bis sich
  • jemand des guten Bissens bemächtigt hatte. Nach dem zweiten Gange
  • brachte der General das Gespräch auf Tentennikows Werk und erwähnte das
  • Jahr 1812. Tschitschikow zitterte vor Angst und wartete gespannt auf die
  • Antwort. Aber Tentennikow zog sich gewandt aus der Affäre. Er erwiderte,
  • es sei nicht seine Aufgabe, eine Geschichte des Feldzuges, der einzelnen
  • Schlachten und der Personen zu schreiben, die in diesem Kriege eine
  • Rolle gespielt hätten, das Jahr 1812 sei nicht durch die Taten Einzelner
  • bemerkenswert, es gäbe auch ohne ihn genug Geschichtsschreiber, die
  • diese Epoche behandelt hätten, aber man müsse diese Zeit von einer
  • andern Seite ansehen; was sie besonders auszeichne, sei dies, daß das
  • ganze Volk sich wie ein Mann erhoben habe, um das Vaterland zu
  • verteidigen; alle Intrigen, alle kleinlichen Interessen und
  • Leidenschaften seien für eine Zeitlang verstummt; alle Stände hätten
  • sich in dem einen Gefühl der Vaterlandsliebe vereint, jeder wäre bereit
  • gewesen, sein Letztes dahinzugeben und alles für die gemeinsame Sache
  • aufzuopfern. Das sei das Große an diesem Kriege, und das wäre es, was er
  • wohl in einem leuchtenden Bilde festhalten möchte: all diese vielen
  • unbeachteten Heldentaten und diese geheimen und großen Opfer eines
  • Volkes! Tentennikow sprach lange und mit Begeisterung; er war in diesem
  • Augenblick völlig durchdrungen von glühender Liebe zu seinem russischen
  • Vaterlande. Betrischtschew hörte ihm ganz entzückt zu; zum erstenmal
  • hörte er ein so lebendiges, warmes Wort. Eine Träne rollte ihm wie ein
  • reiner Diamant den Schnurrbart hinunter. In diesem Moment war der
  • General sehr schön. Und Ulinka? Sie hing förmlich mit den Augen an
  • Tentennikow, sie schien jedes seiner Worte gierig einzuschlürfen; wie
  • eine herrliche Musik berauschten sie diese Reden, sie liebte, sie war
  • stolz auf ihn. Der Spanier betrachtete seinen Teller noch aufmerksamer
  • als früher und die Engländerin sah alle Anwesenden mit einem dummen und
  • verständnislosen Blick an. Als Tentennikow geendigt hatte, blieb alles
  • eine Zeitlang stumm, alle waren aufs tiefste erschüttert ...
  • Tschitschikow, der gern auch etwas sagen wollte, brach zuerst das
  • Schweigen. »Ja,« bemerkte er, »1812 herrschte eine furchtbare Kälte!« --
  • »Es handelt sich hier gar nicht um die Kälte,« sagte der General und sah
  • ihn sehr streng an. Tschitschikow wurde verlegen. Der General reichte
  • Tentennikow die Hand und dankte ihm herzlich; aber Tentennikow war ganz
  • selig, denn er las Beifall und Anerkennung in Ulinkas Augen, die
  • Geschichte der Generäle war vergessen. Der Tag verlief still und
  • angenehm für alle Beteiligten. -- An die nun folgende Anordnung der
  • Kapitel kann ich mich nicht mehr genau erinnern, ich weiß nur noch, daß
  • Ulinka sich nach diesem Vorfall entschloß, mit ihrem Vater ernstlich
  • über Tentennikow zu sprechen. Eines Abends, kurz vor dieser
  • entscheidenden Unterhaltung, besuchte sie das Grab ihrer Mutter um
  • Stärkung in einem Gebet zu finden. Nach dem Gebet betrat sie das Zimmer
  • ihres Vaters, kniete vor ihm nieder und bat ihn um seine Einwilligung zu
  • ihrer Verlobung mit Tentennikow; der General schwankte lange, gab jedoch
  • schließlich seine Zustimmung. Tentennikow wurde herbeigerufen und
  • erfuhr, daß der General einverstanden sei. Dieses geschah einige Tage
  • nach dem Friedensfest. Als Tentennikow die Einwilligung erhalten hatte,
  • ließ er Ulinka einen Augenblick allein und lief ganz außer sich vor
  • Glück in den Garten. Er mußte mit sich allein sein. Das Glück
  • überwältigte ihn! ... Hier folgten bei Gogol zwei herrliche lyrische
  • Seiten. -- Ein heißer Sommertag -- um die Mittagszeit. Tentennikow sitzt
  • in dem dichten schattenreichen Garten, und rings um ihn herum herrscht
  • eine tiefe heilige Stille. Dieser Garten war wunderbar geschildert;
  • jedes Zweiglein war beschrieben: die glühende Mittagshitze in der Luft,
  • die Grillen im Grase, die vielen schwärmenden Insekten, und endlich
  • Tentennikows Gefühle, des glücklich Liebenden und Wiedergeliebten! --
  • Ich erinnere mich lebhaft, daß diese Beschreibung so wundersam, so
  • voller Kraft, Farbe und Poesie war, daß mir das Herz vor Erregung stille
  • stand. Gogol las vorzüglich! -- Im Übermaß seines Gefühls weinte
  • Tentennikow vor Glück und Seligkeit, und er schwor sich, sein ganzes
  • Leben seiner Braut zu widmen. In diesem Moment erschien Tschitschikow am
  • Ende der Allee. Tentennikow umarmt und dankt ihm: »Sie sind mein
  • Wohltäter, Ihnen verdanke ich all mein Glück, wie kann ich Ihnen nur
  • danken. Mein Leben wäre zu wenig für solch einen Dienst.« Sofort kommt
  • Tschitschikow eine Idee: »Ich habe nichts für Sie getan, das ist ein
  • bloßer Zufall,« antwortet er, »ich bin sehr erfreut, aber Sie können
  • sich sehr leicht dankbar erweisen.« »Wodurch, wodurch?« ruft
  • Tentennikow, »sprechen Sie es aus, schnell, und es ist geschehen.« Hier
  • erzählt ihm Tschitschikow von seinem angeblichen Onkel, und daß er 300
  • Bauern brauche, wenn auch bloß auf dem Papiere. »Aber warum müssen sie
  • denn unbedingt tot sein?« fragt Tentennikow, der nicht recht versteht,
  • was Tschitschikow eigentlich will. »Ich werde Ihnen _pro forma_ all
  • meine 300 Seelen verschreiben, und Sie können unseren Vertrag Ihrem
  • Onkel zeigen; nachher, wenn Sie Ihr Gut erhalten haben, können wir ja
  • den Kontrakt wieder vernichten.« Tschitschikow ist ganz sprachlos vor
  • Erstaunen. »Wie? Und Sie fürchten sich nicht vor solch einem Schritt ...
  • Sie fürchten sich gar nicht, daß ich Sie betrügen und Ihr Vertrauen
  • mißbrauchen könnte?« Aber Tentennikow läßt ihn nicht ausreden. »Was?«
  • ruft er aus, »ich sollte _Ihnen_ mißtrauen, dem ich mehr verdanke als
  • mein Leben.« Hier umarmen sie sich, und die Sache war abgemacht.
  • Tschitschikow schlief an diesem Abend süß ein. Am andern Tage fand im
  • Hause des Generals eine große Beratung statt, wie man den Verwandten die
  • Verlobung mitteilen solle; ob es sich schriftlich erledigen ließe, oder
  • ob jemand die Nachricht persönlich hinbringen solle. Betrischtschew war
  • offenbar sehr unruhig und machte sich Sorgen, wie die Fürstin Sjusjukina
  • und seine andern vornehmen Verwandten dieses Ereignis aufnehmen würden,
  • Tschitschikow wußte sich auch hier wieder nützlich zu erweisen: er
  • machte dem General den Vorschlag, ihn, Tschitschikow, zu sämtlichen
  • Verwandten zu schicken, um sie durch ihn von der Verlobung Ulinkas und
  • Tentennikows benachrichtigen zu lassen. Natürlich hatte er dabei wieder
  • das Geschäft mit den toten Seelen im Auge. Sein Vorschlag wurde mit Dank
  • angenommen. »Ich kann mir nichts Besseres wünschen,« dachte der General,
  • »er ist ein gescheiter Kopf und hat gute Manieren; er wird es verstehen,
  • den Leuten die Sache mit der Verlobung so plausibel zu machen, daß alle
  • zufrieden sein werden.« Der General bot Tschitschikow seinen
  • zweisitzigen, im Auslande verfertigten Wagen an, und Tentennikow stellte
  • ihm noch ein viertes Pferd zur Verfügung. Tschitschikow sollte sich
  • schon nach wenigen Tagen auf den Weg machen. Von da ab sahen ihn alle im
  • Hause des Generals als einen ihrer Angehörigen, als einen Freund des
  • Hauses an. Nachdem er zu Tentennikow zurückgekehrt war, ließ er sofort
  • Seliphan und Petruschka rufen und erklärte ihnen, sie sollten sich zur
  • Abreise rüsten. Seliphan war bei Tentennikow ganz träge und faul
  • geworden, er glich kaum noch einem Kutscher mehr, und die Pferde blieben
  • ganz ohne Pflege und Aufsicht. Petruschka aber stellte fortwährend den
  • Bauernmädchen nach. Als jedoch der leichte und beinahe neue Wagen des
  • Generals eintraf, und Seliphan hörte, daß er nun auf dem breiten
  • Kutschbock sitzen und vier Pferde lenken werde, da erwachten wieder all
  • seine Kutscherinstinkte, er betrachtete die Equipage mit großer
  • Aufmerksamkeit, mit Kennerblick und verlangte von den Knechten des
  • Generals allerhand Reserveschrauben und Schlüssel, wie sie überhaupt
  • nicht existieren. Auch Tschitschikow dachte mit Vergnügen an seine Reise
  • und malte sich schon aus, wie er sich auf den weichen Polstern
  • ausstrecken, und wie das vierte Pferd seinen federleichten Wagen schnell
  • wie der Wind dahintragen werde.«
  • Auf wieviel Kapitel der hier wiedergegebene Inhalt verteilt war, hat
  • Arnoldi nicht genau angegeben: er bemerkt hierzu: »Dies ist alles, was
  • Gogol in meiner Gegenwart vom zweiten Bande vorgelesen hat. Meiner
  • Schwester hat er, wie ich glaube, _neun_ Kapitel vorgelesen« [Rußkij
  • Westnik (Russischer Bote) 1862, Januarheft, Seite 74-79]. Die
  • Umarbeitung der Niederschrift fand gleichzeitig mit der Arbeit an der
  • Fortsetzung der Dichtung statt. Im Januar 1850 waren »eigentlich nur
  • zwei bis drei Kapitel« vollständig fertig.
  • Gegen Ende 1851 oder im Anfang des Jahres 1852 las Gogol Schewyrew die
  • beiden letzten Kapitel des zweiten Bandes der »Toten Seelen« vor. Alles,
  • was er von diesem Teil in dem Zeitraum von 1845 bis 1852
  • niedergeschrieben hatte, hat er selbst wenige Tage vor seinem Tode
  • verbrannt.
  • Anhang zu den Novellen
  • _Der Mantel._ Der Plan zu dieser Novelle stammt aus dem Jahre 1834. Der
  • erste Entwurf aus dem Jahre 1839; vollendet wurde sie 1841, und 1842 für
  • die erste Ausgabe der gesammelten Werke neu bearbeitet, wo diese
  • Erzählung zum ersten Male abgedruckt ist.
  • * * * * *
  • _Die Nase._ Diese Novelle wurde 1832 begonnen und in ihrer ersten
  • Fassung die für den Moskowski Nabljudatel (Moskauer Beobachter) bestimmt
  • war, Anfang März 1835 vollendet. 1836 wurde sie noch einmal für den
  • Puschkinschen »Sowremennik« (»Der Zeitgenosse«) umgearbeitet, wo sie im
  • dritten Bande erschienen ist. Die Freigabe durch die Zensur erfolgte
  • 1836. Auf Verlangen des Zensors mußte folgende Stelle des Manuskripts
  • vor der Drucklegung im »Zeitgenossen« umgearbeitet werden:
  • »Er eilte in die Kirche und drängte sich durch eine Reihe alter
  • Bettlerinnen hindurch, deren Köpfe so tief in allerhand Tüchern und
  • Lappen steckten, daß man von ihren Gesichtern nichts sah, als die beiden
  • Augen. Wie herzlich hatte er oft über sie gelacht, heute aber schritt er
  • an ihnen vorbei und betrat die Halle. Die Kirche war nur schwach
  • besucht, die Mehrzahl der Beter stand vorne am Eingange in der Türe.
  • Kowaljew war so erregt und verstimmt, daß er es nicht über sich gewann,
  • zu beten. Er suchte »die Nase«, suchte sie in allen Winkeln und sah den
  • Herrn endlich etwas abseits in einer Ecke stehen. Die Nase hatte ihr
  • Gesicht ganz in einem hohen Stehkragen versteckt und betete mit dem
  • Ausdruck tiefster Andacht. »Unter welchem Vorwande soll ich mich ihm
  • bloß nähern?« dachte Kowalew. »Er ist gekleidet, wie ein vornehmer Herr,
  • und noch dazu Staatsrat.« Er stellte sich neben ihn und hustete ein
  • paarmal laut, aber die Nase verharrte in ihrer andächtigen Stellung und
  • beugte sich immerfort tief bis zur Erde. »Geehrter Herr!« sagte Kowalew,
  • indem er sich selbst Mut zuzusprechen suchte: »Geehrter Herr!« »Was ist
  • Ihnen gefällig?« entgegnete jener, indem er sich umdrehte. -- »Ich finde
  • es sehr seltsam, mein Herr, ... Mir scheint, Sie sollten wissen, wo Ihr
  • Platz ist ... und plötzlich finde ich Sie ... hier ... in der Kirche.
  • Sie müssen selbst zugeben, daß ...«
  • »Ich verstehe nicht, was Sie sagen wollen. Bitte erklären Sie sich
  • deutlicher.« »Wie soll ich es ihm nur klar machen?« dachte Kowalew,
  • faßte jedoch wieder Mut und begann: »Ich will natürlich ... Übrigens bin
  • ich ... Ohne Nase herumzulaufen ... Sie müssen doch zugeben, in meiner
  • Lage ist das höchst peinlich. Ich bin doch kein Hökerweib, das an der
  • Woskressenskibrücke sitzt und geschälte Apfelsinen feilbietet ... _Die_
  • braucht freilich keine Nase ... Aber ein Mann, der Ansprüche auf einen
  • Gouverneursposten hat ... und sie ganz ohne Zweifel erfüllt sehen wird
  • ... Ich weiß wirklich nicht, mein Herr.« -- Hierbei zuckte der Major mit
  • den Achseln. »Verzeihen Sie. Wenn man diese Sache vom Standpunkt des
  • Ehr- und Pflichtbewußtseins betrachtet, dann müssen Sie doch selbst
  • einsehen ...« »Ich verstehe kein Wort,« versetzte die Nase, »bitte
  • drücken Sie sich etwas deutlicher aus.«
  • »Mein Herr,« sagte Kowalew ernst und würdig. »Ich weiß nicht, wie ich
  • Ihre Worte auffassen soll ... Die Sache liegt doch wohl _sehr_ klar ...
  • oder Sie wollen bloß nicht ... _Sie sind doch meine Nase_, meine
  • _eigene_ Nase!« Die Nase sah den Major an und runzelte die Stirn.
  • »Sie befinden sich in einem Irrtum, mein Herr! Ich stehe völlig
  • selbständig da. Nebenbei bemerkt kann es zwischen uns keine näheren
  • Beziehungen geben. Nach den Knöpfen Ihrer Interimsuniform zu urteilen,
  • dienen Sie im Senat oder doch im Justizministerium, während ich in der
  • wissenschaftlichen Branche tätig bin.« Kowalew befand sich in der
  • größten Verlegenheit und war ganz verwirrt. »Was soll ich machen?«
  • dachte er. Doch in diesem Augenblick vernahm er in der Nähe das
  • angenehme Rauschen einer Damenrobe. Eine ältere, ziemlich umfangreiche
  • Dame, die in einem üppigen Spitzenkleide steckte, welches einige
  • Ähnlichkeit mit einem gothischen Bau hatte, betrat die Kirche. Sie wurde
  • begleitet von einer jüngeren und schlankeren Dame in einem Kleide, das
  • sich in schönen Falten um ihre schlanke Gestalt legte, und mit einem
  • Strohhut, der so leicht und zart war, wie eine Meringentorte. Hinter
  • beiden stand ein großer Herr mit einem mächtigen Backenbart und einem
  • ganzen Dutzend Kragen; er war eben im Begriff seine Tabaksdose zu öffnen
  • und wollte gerade eine Prise nehmen. Kowalew näherte sich der Gruppe,
  • ordnete den Batistkragen seines Vorhemdes, sowie die Berlocken an seiner
  • Uhrkette und wendete mit einem lächelnden Seitenblick seine
  • Aufmerksamkeit der duftigen Dame zu, die sich gleich einer
  • Frühlingsblume leicht vornüberbeugte und ihr Händchen mit den weißen
  • durchsichtigen Fingern an die Stirne führte. Das Lächeln, welches auf
  • Kowalews Lippen schwebte, wurde immer breiter und intensiver, als ihm
  • unter dem Hut ein Teil ihres Kinns und ihrer Wange entgegenleuchtete.
  • Aber plötzlich sprang er zurück, wie wenn er sich an einem glühenden
  • Eisen verbrannt hätte; er erinnerte sich, daß er in seinem Gesicht
  • anstelle der Nase nur eine glatte Fläche hatte, und Tränen entströmten
  • seinem Auge. Er drehte sich um um dem Herrn offen zu erklären, er trage
  • bloß die Maske eines Staatsrats, während er in Wahrheit ein Betrüger und
  • ein Lump sei; tatsächlich sei er nichts _andres_ als seine _eigene_
  • Nase. Aber die Nase war bereits verschwunden, sie hatte wahrscheinlich
  • schon einen bedeutenden Vorsprung gewonnen und stattete wieder irgend
  • jemandem einen Besuch ab. Kowalew verließ die Kirche. Das Wetter war
  • wundervoll, heiter und sonnig; auf dem Newski-Prospekt wimmelte es nur
  • so von Menschen. Ein wahrer Sturzbach von Damen flutete durch die
  • Straße. Dort kam ihm schon ein guter Bekannter entgegen, der Hofrat ...«
  • Eine bedeutende Umarbeitung erfuhr auch die folgende Stelle der
  • ursprünglichen Fassung: »Der ehrenwerte Beamte hörte ihn mit
  • vielsagender Miene an und fuhr fort, das vor ihm liegende Geld zu
  • zählen, von dem er 2 Rubel 33 Kopeken, die er für das Inserat erhalten
  • hatte, beiseite legte. Zu beiden Seiten standen allerhand alte Weiber,
  • Kommis, Hausburschen und Kutscher, jeder mit Zetteln in der Hand. In dem
  • einen Zettel wurde angekündigt, es sei ein tüchtiger nüchterner Kutscher
  • von guter Führung abzugeben; in dem andern wurde eine noch wenig
  • gebrauchte Equipage feilgeboten, die aus der Zeit Peters des Großen
  • stammte und keine heile Schraube mehr hatte. Der eine hatte ein gesundes
  • Mädchen von neunzehn Jahren abzugeben, die als Wäscherin gedient hatte,
  • aber auch bei andern häuslichen Arbeiten zu verwenden war, der jedoch
  • schon mehrere Zähne fehlten; ein anderer suchte eine solide Droschke zu
  • verkaufen, der nur eine Feder mangelte, oder einen jungen wilden
  • Apfelschimmel von 17 Jahren; dort wurden ein Posten frisch aus London
  • eingetroffener Rüben und Radieschensamen, und dort wieder sogenannte
  • indische Radieschen ausgeboten, eine schöne Villa mit allen
  • Bequemlichkeiten, zwei Pferdeställen und einem Platz, wo man sehr gut
  • einen Garten anlegen konnte. Ferner wurde der Verlust eines Geldbeutels
  • bekannt gegeben und dem ehrlichen Finder eine anständige Belohnung in
  • Aussicht gestellt, oder es wurden Käufer für alte Sohlen gesucht, wobei
  • die Reflektanten aufgefordert wurden, sich zu einer bestimmten Stunde
  • zur Versteigerung einzufinden. Das Zimmer, in dem sich alle diese Leute
  • aufhielten, war klein, vollgeraucht und die Luft in ihm war so dumpf und
  • dick, daß man sie mit dem Messer schneiden konnte, denn die russischen
  • Bauern haben die merkwürdige Eigentümlichkeit, die Luft bedeutend zu
  • verdichten, und wo einmal vier Hausknechte in roten Hemden und ein
  • Kutscher zusammenkommen, da kann man ruhig eine Axt in der Luft
  • aufhängen. Zum Glück konnte der Kollegien-Assessor nichts davon riechen,
  • er hielt sich ja ein Taschentuch vors Gesicht und dann befand sich ja
  • auch seine Nase Gott weiß wo.« --
  • Das von den Worten »Gleich, gleich« bis zum Schluß des zweiten Kapitels
  • reichende Stück ist eine spätere Bearbeitung des ursprünglichen weit
  • einfacheren Textes. In dem ersten Manuskript lautete diese Stelle
  • folgendermaßen:
  • »Gleich, gleich! -- Zwei Rubel dreiundvierzig Kopeken ... einen Rubel
  • sechzig Kopeken!« sagte der grauhaarige Herr, während er den alten
  • Weibern und den Hausburschen ihre Zettel ins Gesicht warf. »Und was
  • wünschen Sie?« fragte er endlich, indem er sich an Kowalew wandte.
  • »Ich möchte ganz besonders darum bitten ...,« sagte Kowalew: »es ist
  • eine unerhörte Gaunerei oder Betrügerei passiert -- ich kann der Sache
  • noch immer nicht auf den Grund kommen. Ich bitte Sie nur, in die Zeitung
  • einrücken zu lassen, daß derjenige, der diesen Schurken dingfest macht,
  • eine ausreichende Belohnung erhalten soll.«
  • »Hm, darf ich Sie um Ihren Familiennamen bitten?«
  • »Kowalew, -- Kollegien-Assessor Kowalew, Sie brauchen übrigens bloß zu
  • schreiben: ein Mann vom Range eines Majors ...«
  • »Ja und wer ist denn eigentlich der Flüchtling? Ist er einer Ihrer
  • Leibeigenen?«
  • »O nein, keineswegs ein Leibeigener! Das wäre noch keine so große
  • Gemeinheit. Nein es ist eine ... Nase.«
  • »Hm, was für ein merkwürdiger Name! Und hat Sie denn dieser Herr Nase um
  • eine große Summe bestohlen?«
  • »Eine _Nase_ ... das heißt, Sie verstehen mich falsch. Meine -- meine
  • eigene Nase ist ganz spurlos verschwunden. Der Teufel selbst hat sich
  • einen Scherz mit mir erlaubt. -- Und nun fährt diese Nase als Herr
  • verkleidet durch die Stadt und hält alle Leute zum Narren ... Ich möchte
  • Sie nun bitten, eine Annonce in die Zeitung einrücken zu lassen, daß
  • jeder, der den Kerl abfassen sollte, ihn mir persönlich vorführen möge
  • -- diesen Gauner, diesen Hundesohn ... Entschuldigen Sie bitte, ich muß
  • husten, mein Hals ist ganz trocken. Ich bringe kaum noch ein Wort
  • heraus.«
  • Der Beamte wurde nachdenklich, was man aus seinen fest
  • zusammengekniffenen Lippen schließen konnte.
  • »Nein, eine solche Annonce kann ich nicht aufnehmen,« sagte er
  • schließlich nach längerem Stillschweigen.
  • »Wie? Warum nicht?«
  • »So. Die Zeitung würde ihren Ruf aufs Spiel setzen. Da könnte jeder
  • kommen und anzeigen, daß ihm seine Nase oder seine Lippen ausgerückt
  • seien ... Man spricht schon ohnedies, daß soviel falsche Gerüchte
  • verbreitet und soviel Torheiten gedruckt werden.«
  • »Ja, wenn mir aber doch meine Nase wirklich abhanden gekommen ist!«
  • »Wenn sie Ihnen abhanden gekommen ist, so ist das Sache des Arztes. Man
  • sagt, es gibt Menschen, die Ihnen Nasen von beliebiger Form ansetzen
  • können. Übrigens scheinen Sie mir ein Schalk zu sein, Sie machen wohl
  • gern einen Scherz.«
  • »Ich schwöre Ihnen bei allem was mir heilig ist. Bei Gott ich lüge
  • nicht! Soll ich es Ihnen zeigen?«
  • »Aber ich bitte Sie, warum wollen Sie sich unnütz bemühen,« fuhr der
  • Beamte fort, indem er eine Prise nahm. »Übrigens, wenn es Ihnen nicht zu
  • viel Umstände macht, so würde ich mir die Sache doch ganz gern ansehen,«
  • fügte er mit einem neugierigen Blick hinzu.
  • Der Kollegien-Assessor zog das Taschentuch weg.
  • »In der Tat, das ist sehr merkwürdig,« sagte der Beamte, »das sieht
  • genau so aus, wie ein frisch gebackener Eierkuchen. Die Fläche ist ja
  • geradezu unglaublich glatt und eben.«
  • »Nun, was sagen Sie jetzt! Also bitte lassen Sie die Annonce sofort
  • einrücken.«
  • »Ich könnte sie schließlich einrücken lassen. Das wäre ja eine
  • Kleinigkeit, nur kann ich nicht sehen, daß Ihnen ein großer Vorteil
  • daraus erwachsen würde. Wenn Sie es durchaus wünschen, daß die Sache
  • bekannt wird, so teilen Sie die Geschichte doch einem Schriftsteller
  • mit, einem Mann, der eine gewandte Feder führt, der könnte den Fall als
  • ein interessantes Naturspiel beschreiben und den Artikel in der »Biene
  • des Nordens« veröffentlichen, (hier nahm er wieder eine Prise) zum
  • Nutzen und zur Belehrung aller jungen Leute, die sich mit den
  • Wissenschaften beschäftigen (hierbei wischte er sich die Nase ab), oder
  • überhaupt zur Unterhaltung und zur allgemeinen Erbauung.«
  • Der Kollegien-Assessor war völlig verzweifelt und niedergeschlagen. Er
  • warf einen Blick auf ein vor ihm liegendes Zeitungsblatt und den
  • Vergnügungsanzeiger; schon wollte ein Lächeln sein Gesicht verklären,
  • als er den Namen einer hübschen Schauspielerin las, und seine Hand griff
  • mechanisch nach der Tasche -- sie suchte nach einem blauen Schein, denn
  • nach Kowalews Ansicht mußten Personen vom Range eines Stabsoffiziers
  • mindestens im Parkett sitzen. Aber der Gedanke an seine Nase schnitt wie
  • ein scharfes Messer in sein Herz. Der arme Kowalew machte sich also auf
  • und begab sich von einem unerträglichen Schmerz gequält zum
  • Polizeikommissar, der ein großer Freund von Süßigkeiten war; sein ganzer
  • Flur und sein ganzes Eßzimmer war mit Zuckerhüten vollgestellt, die ihm
  • die Kaufleute aus einer besonderen Freundschaft für ihn verehrt hatten.
  • Die Köchin zog dem Polizeibeamten gerade seine großen Stulpenstiefel
  • aus, sein Degen und seine ganze Kriegsrüstung hingen schon friedlich in
  • der Ecke; sein dreijähriges Söhnchen machte sich bereits mit dem
  • mächtigen Dreimaster zu schaffen, und der Kommissar war eben im Begriff,
  • sich nach den Strapazen des kriegerischen Lebens den Genüssen des
  • Friedens hinzugeben. Da trat Kowalew bei ihm ein, gerad als jener sich
  • bequem auf dem Sofa ausstrecken wollte, seinen Mund zu einem kräftigen
  • Gähnen verzog und sagte: »So, nun leg' ich mich auf zwei Stunden hin;
  • ich werde ein feines Schläfchen tun.« Daher kann man sich vorstellen,
  • wie ungelegen ihm der Besuch des Kollegien-Assessors kam, und ich weiß
  • nicht, ob er, auch wenn er ihm einige Pfund Tee oder ein paar Meter Tuch
  • mitgebracht hätte, viel freundlicher empfangen worden wäre.
  • Der Kommissar war ein großer Freund der Künste und aller
  • Manufakturgegenstände überhaupt, trotzdem er oft behauptete, es gäbe
  • nichts Angenehmeres als eine Staatsbanknote: »Sie braucht nur wenig
  • Platz, läßt sich bequem in die Tasche stecken, und wenn man sie fallen
  • läßt, geht sie nicht entzwei.«
  • Der Polizeikommissar empfing Kowalew ziemlich kühl und trocken. Er
  • erklärte, daß die Zeit nach dem Essen nicht der geeignete Moment für
  • amtliche Nachforschungen sei; die Natur selbst weise darauf hin, daß der
  • Mensch, wenn er sich satt gegessen habe, der Ruhe pflegen müsse, (woraus
  • deutlich hervorgeht, daß der Polizeikommissar ein Philosoph war); einem
  • anständigen Menschen könne es nie passieren, daß ihm die Nase abgerissen
  • werde, und es laufen in der Welt genug Majore herum, die nicht einmal
  • ihre Unterhosen sauber zu halten wissen, und sich in allerhand
  • unanständigen Lokalen herumtreiben.
  • Diese Worte trafen unseren Helden mitten ins Herz! Man muß nämlich
  • wissen, daß Kowalew eine äußerst empfindliche Natur war. Er konnte alles
  • verzeihen, was man über ihn sagte, nur keinen Verstoß gegen die seiner
  • amtlichen Würde gebührende Achtung. Er war der Ansicht, daß man auch in
  • den Theaterstücken wohl eine Bemerkung über die höheren Offiziere
  • durchlassen könne, aber niemals ein Wort, das sich gegen die
  • _Stabs_offiziere richtet. Der Empfang des Polizeikommissars brachte ihn
  • derartig aus der Fassung, daß er empört den Kopf schüttelte, die Hände
  • weit ausstreckte und würdevoll ausrief: »Ich muß gestehen, daß ich auf
  • solche beleidigende Äußerungen nichts zu erwidern habe ...« Und damit
  • ging er hinaus.
  • Der Major kehrte mehr tot als lebendig nach Hause zurück; nach all
  • diesen seelischen Erschütterungen wußte er kaum noch, ob er auf seinen
  • Füßen stehe oder nicht. Er warf sich müde in einen Lehnstuhl und brach,
  • nachdem er sich ein wenig ausgeruht hatte, in bittere Klagen aus: »Mein
  • Gott, mein Gott! Womit habe ich bloß ein solches Unglück verdient? Hätte
  • ich noch eine Hand oder einen Fuß verloren, wären mir meine beiden Ohren
  • abhanden gekommen -- es wäre noch immer leichter zu ertragen, aber ein
  • Mensch ohne Nase -- das ist ein Ding, das man nehmen und zum Fenster
  • hinauswerfen möchte. Hätte man sie mir noch abgeschnitten, oder wäre ich
  • selbst schuld daran -- aber so ganz ohne Grund zu verschwinden! Weiß
  • Gott, das ist doch zu unwahrscheinlich! Vielleicht schlafe ich bloß, und
  • ich habe dies alles nur geträumt.« -- Und der Kollegien-Assessor kniff
  • sich mit dem Finger ins Fleisch, sodaß er vor Schmerz beinahe laut
  • aufgeschrieen hätte. »Nein, hol's der Teufel, ich schlafe nicht!« Er
  • stand ganz leise auf, näherte sich vorsichtig dem Spiegel, kniff die
  • Augen erst ein wenig zu und blickte dann plötzlich hinein: »Wer weiß,
  • vielleicht hatte er doch noch eine Nase!« aber er sprang sogleich wieder
  • vom Spiegel zurück und murmelte: »Weiß der Teufel! Die reinste
  • Karikatur!«
  • Und in der Tat, der Fall war wirklich ganz unmöglich und völlig
  • unwahrscheinlich; man hätte ihn wirklich für einen Traum halten müssen,
  • wenn er nicht tatsächlich passiert wäre und sich nicht eine ganze Menge
  • von völlig einwandfreien Beweisen dafür gefunden hätte. Der Major
  • überlegte lange Zeit, wer wohl hier der Schuldige sein möchte; und kam
  • schließlich zum Resultat, daß noch am ehesten eine Witwe, die Gattin
  • eines verstorbenen Stabsoffiziers, die Schuld an seinem Unglück treffe.
  • Diese wünschte nämlich, daß der Major ihre Tochter heiraten solle, und
  • er hatte ihr auch in der Tat die Cour geschnitten, war aber zugleich
  • einer deutlichen Erklärung stets aus dem Wege gegangen. Als ihm jedoch
  • die Witwe offen mitteilte, daß sie ihm gern ihre Tochter zur Frau geben
  • würde, da trat er den Rückzug an und sagte, er sei noch zu jung und
  • müsse noch gegen fünf Jahre dienen, um die runde Zahl von zweiundvierzig
  • Jahren zu erreichen. Sicherlich hatte sich die Witwe an ihm rächen
  • wollen, sich daher entschlossen, ihn zu verstümmeln, und ein paar alte
  • Hexen gegen ihn aufgehetzt, wahrscheinlich aber hatte auch sie selbst
  • mit dabei geholfen.
  • Während er noch über diese Dinge nachgrübelte, hörte er plötzlich im
  • Vorzimmer eine fremde Stimme: »Wohnt hier der Kollegienassessor
  • Kowalew?«
  • »Bitte treten Sie ein. Der Kollegienassessor ist zu Hause!« sagte er,
  • indem er vom Stuhl aufsprang und die Türe öffnete. Es war der
  • Polizeikommissar, der am Ende der Isaksbrücke gestanden hatte, ein Mann
  • von sehr würdigem Äußeren.
  • »Ich glaube, Sie beliebten, Ihre Nase zu verlieren.«
  • »In der Tat!«
  • »Sie ist soeben angehalten worden.«
  • »Was sagen Sie« rief der Major hocherfreut aus. »Auf welche Weise ist
  • das geschehen?«
  • »Durch einen sehr merkwürdigen Zufall. Man hat sie fast im Moment ihrer
  • Abreise angehalten. Sie hatte schon ihren Platz im Postwagen
  • eingenommen, um nach Riga zu fahren. Der Paß war schon längst
  • ausgestellt und lautete auf einen Schuldirektor in Tambow. Das
  • Merkwürdigste jedoch ist, daß ich sie selber für einen Herrn gehalten
  • habe, aber ich hatte zum Glück meine Brille mitgenommen; so setzte ich
  • sie denn auf und erkannte sogleich, daß es nur eine Nase war. Ich bin
  • nämlich kurzsichtig, und wie Sie jetzt vor mir stehen, unterscheide ich
  • weder Nase noch Bart oder sonst etwas. Meine Schwiegermutter, die Mutter
  • meiner Frau, sieht auch fast gar nichts.«
  • Kowalew war außer sich vor Freude: »Wo ist sie, wo? Ich laufe sofort
  • hin!«
  • »Seien Sie ganz ruhig, ich weiß, daß Sie sie brauchen, ich habe sie
  • deshalb gleich mitgebracht. Das Seltsamste ist, daß der Hauptschuldige
  • an der ganzen Sache ein Lump von Barbier aus der Wosnessenski-Straße
  • ist, der zurzeit schon in Polizeigewahrsam sitzt. Ich habe ihn schon
  • lange in Verdacht, daß er ein Dieb und ein Trunkenbold ist; erst vor
  • drei Tagen hat er im Gostinny Dwor ein halbes Dutzend Knöpfe gestohlen.
  • Ihre Nase ist gänzlich unversehrt.« Mit diesen Worten steckte der
  • Polizeikommissar seine Hand in die Tasche und holte die Nase heraus, die
  • in ein Stück Papier eingewickelt war.
  • »Ja, das ist sie!« rief Kowalew ganz selig aus. »Das ist sie wirklich.
  • Wollen Sie eine Tasse Tee mit mir trinken?«
  • »Mit dem größten Vergnügen, aber es ist mir leider unmöglich. Ich bin
  • sehr beschäftigt. Die Lebensmittel sind jetzt so teuer geworden. Meine
  • Schwiegermutter, d. h. die Mutter meiner Frau, wohnt auch bei mir im
  • Hause. Und dann habe ich noch Kinder. Der Älteste berechtigt zu den
  • schönsten Hoffnungen, das ist wirklich ein recht intelligenter Bursche,
  • mir fehlen nur leider die Mittel, ihm eine gute Erziehung zu geben.«
  • Kowalew begriff die Anspielung, nahm einen roten Zettel vom Tisch und
  • drückte ihn dem Polizeikommissar in die Hand, dieser machte einen
  • Kratzfuß und ging zur Tür hinaus; fast im selben Augenblick hörte
  • Kowalew seine Stimme auf der Straße, wo er einem dummen Bauern, der mit
  • seiner Fuhre auf den Boulevard geraten war, eine kräftige Mahnung in
  • Form einer Ohrfeige erteilte. Der Kollegienassessor kam endlich wieder
  • zu sich, denn die Freude hatte ihm alle Besinnung geraubt ... »Gott sei
  • Dank, jetzt habe ich doch wieder eine Nase! Nun will ich sie mir aber
  • auch wieder ansetzen.« Mit diesen Worten versuchte er es, sie an ihren
  • alten Platz zu bringen, aber zu seinem Erstaunen mußte er bemerken, daß
  • die Nase durchaus nicht haften bleiben wollte. »Nun sitz doch fest, du
  • Rindvieh!« sagte er zu ihr, aber die Nase war ganz dumm und fiel immer
  • wieder auf den Tisch, sowie er sie losließ. Das Gesicht des Majors
  • verzerrte sich krampfhaft. »Sollte sie wirklich nicht haften bleiben?«
  • sprach er erschrocken. Aber die Nase fiel tatsächlich auf den Tisch.
  • »Ach Gott, ach Gott! Ja, wie kann sie denn auch festsitzen? Ich habe ja
  • ganz vergessen, daß, wenn sie einmal abgeschnitten ist, man sie doch gar
  • nicht wieder ansetzen kann.«
  • Unterdessen hatte sich das Gerücht von diesem außerordentlichen Ereignis
  • in der ganzen Residenz verbreitet, und natürlich, wie das zu geschehen
  • pflegt, nicht ohne viele Zutaten und Ausschmückungen. Um diese Zeit
  • standen gerade alle Gemüter unter dem Eindruck übernatürlicher Vorgänge:
  • erst kurz vorher hatten Experimente mit dem tierischen Magnetismus das
  • ganze Publikum beschäftigt. Dazu war die Geschichte mit den tanzenden
  • Stühlen in der Stallhofstraße noch in jedermanns Gedächtnis, und es war
  • daher kein Wunder, daß man sich bald darauf zu erzählen begann, die Nase
  • des Kollegienassessors Kowalew gehe jeden Tag pünktlich um drei Uhr auf
  • dem Newski-Prospekt spazieren. Eine Menge von Neugierigen strömte dort
  • jeden Tag zusammen. Dieses Ereignis bildete das besondere Entzücken all
  • jener eleganten Müßigänger, die bei keiner Gesellschaft fehlen, und die
  • es sich zur Pflicht machen, die Damen zu unterhalten und zum Lachen zu
  • bringen. Die Sache kam ihnen sehr gelegen, da ihr Vorrat an Neuigkeiten
  • zurzeit völlig erschöpft war. Aber es gab doch auch viele, die sehr
  • ungehalten über diese Klatschereien waren, und ein Herr mit einem Stern
  • erklärte ganz empört, er begreife nicht, wie in einem aufgeklärten
  • Jahrhundert solche falsche und abgeschmackte Gerüchte entstehen könnten;
  • ja er wunderte sich, daß die _Regierung_ diesen Vorgängen nicht mehr
  • Beachtung schenkte. Dieser Herr gehörte augenscheinlich zu jener
  • Menschenklasse, die es für wünschenswert hält, daß die Regierung sich in
  • alle Angelegenheiten mische, selbst in die alltäglichen Zwistigkeiten
  • der Ehegatten.
  • Der arme Kollegienassessor hatte von all diesen Gerüchten Kunde
  • bekommen, obwohl ich nicht sagen kann, auf welche Weise, denn er verließ
  • fast niemals sein Zimmer. -- Er befahl, niemand vorzulassen, ließ sich
  • nirgends sehen, nicht einmal im Theater, und wenn selbst die tollste
  • Posse gegeben wurde; er spielte nicht einmal mehr eine Partie Boston,
  • mied sogar Herrn Jaryschkin, der sein Busenfreund war, und magerte im
  • Laufe eines Monats derartig ab, daß er bald mehr einer Leiche als einem
  • lebendigen Menschen glich ...
  • Übrigens war all das, was hier beschrieben ist, nur ein Traum des
  • Majors. Als er wieder erwachte, geriet er so außer sich vor Freude, daß
  • er wie toll aus seinem Bette sprang, zum Spiegel lief, und als er sich
  • überzeugt hatte, daß alles am rechten Flecke saß, im bloßen Hemde durch
  • das Zimmer zu hüpfen begann. Er führte sogar einen ganzen Tanz auf, der
  • eine Art Mischung aus einer Française und einer polnischen Mazurka
  • darstellte. Und als sein Diener Iwan den Kopf durch die Tür steckte, um
  • zu sehen, was sein Herr treibe, da rief der Major ihm zu: »Mach, daß du
  • hinaus kommst! Worüber wunderst du dich?« Nach einer Minute aber warf er
  • sich aufs Bett, richtete sich jedoch gleich wieder auf und schrie: »He,
  • Iwan!« -- »Was wünschen der gnädige Herr?« -- »Hat nicht ein Mädel -- so
  • ein hübsches, nettes Mädel nach dem Major Kowalew gefragt?« -- »Nein,
  • gnädiger Herr!« -- »Hm,« sagte der Major Kowalew und blickte lächelnd in
  • den Spiegel.«
  • Gogol hat »Die Nase« _noch einmal_ für die _erste_ Gesamtausgabe seiner
  • Werke umgearbeitet und ihr dort einen andern _Schluß_ gegeben. Im
  • Sowremennik (»Zeitgenossen«) von Puschkin lautet dieser Schluß
  • folgendermaßen:
  • »Da geschah etwas ganz Merkwürdiges und Unerklärliches. Plötzlich befand
  • sich die Nase des Majors wieder an ihrem alten Platze. Dies geschah im
  • Anfang Mai, ich kann jedoch nicht genau sagen, ob es am fünften oder
  • sechsten Mai war. Als der Major frühmorgens erwachte, nahm er den
  • Spiegel zur Hand und bemerkte, daß die Nase sich ganz, wie es sich
  • gehörte, zwischen den beiden Wangen des Majors befand. Höchst erstaunt
  • ließ er den Spiegel auf den Boden fallen und befühlte die Nase mehrmals
  • mit der Hand, denn er war nicht sicher, ob es auch wirklich eine Nase
  • sei. Aber da er sich überzeugte, daß es in der Tat nichts anders als
  • seine höchsteigene Nase war, sprang er aus dem Bett und absolvierte im
  • Zimmer einen Tanz, der eine Mischung aus einer Française und einem
  • russischen Trepak darstellte. -- Dann ließ er sich anziehen, wusch sich
  • und rasierte sich das Kinn, das bereits eine große Ähnlichkeit mit einer
  • Bürste angenommen hatte, mit der man sich bequem die Kleider bürsten
  • konnte. -- Und schon nach wenigen Minuten sah man den Kollegienassessor
  • auf dem Newski-Prospekt herumspazieren, wo er lustig einherschritt und
  • fröhliche Blicke auf alle Passanten warf; viele sahen ihn sogar im
  • Gostinny Dwor ein schmales Ordensband kaufen, zu welchem Zwecke dies
  • jedoch geschah -- das hätte freilich niemand sagen können, denn er besaß
  • gar keinen Orden.
  • Eine äußerst merkwürdige Geschichte! Ich kann sie absolut nicht
  • verstehen. Und was soll das alles? Was hat es für einen Zweck? Ich bin
  • überzeugt, daß weit mehr als die Hälfte davon ganz unwahrscheinlich ist.
  • Es kann nicht sein; es ist völlig unmöglich, daß eine Nase ganz allein
  • in einer Uniform in der Stadt herumfährt -- und noch dazu als ein Mann
  • von dem hohen Range eines Staatsrats! Und konnte denn Kowalew wirklich
  • nicht begreifen, daß man nicht durch die Zeitung nach einer Nase suchen
  • darf? Ich meine das nicht in dem Sinne, daß eine Annonce eine sehr teure
  • Sache ist. Das sind alles Kleinigkeiten. Ich gehöre gar nicht zu den
  • geizigen und habgierigen Leuten. Aber das ist unschicklich, das ist ganz
  • ungehörig und geht nun einmal nicht. Eine Absurdität und weiter nichts!
  • -- Und dann dieser Barbier Iwan Jakowlitsch! Wozu mußte er so plötzlich
  • auftauchen und dann wieder verschwinden, ohne daß man weiß, warum und zu
  • welchem Zweck. -- Ich gestehe, ich kann es absolut nicht begreifen, wie
  • ich selbst so etwas schreiben konnte? Ich begreife überhaupt nicht, wie
  • ein Autor sich solch ein Sujet wählen kann! Wozu soll das führen?
  • Welchen Zweck kann das haben? Was beweist diese Erzählung? Nein -- ich
  • verstehe es nicht, ich verstehe es ganz und gar nicht. -- Freilich ...
  • die Phantasie ist keinen Gesetzen unterworfen, und dann passieren doch
  • in der Welt auch wirklich viele ganz unerklärliche Dinge: wie aber
  • verhält es sich mit diesem Fall? -- Warum mußte die _Nase_ von Kowalew
  • ... und warum mußte Kowalew _selbst_ ...? Nein, ich verstehe es nicht,
  • ich verstehe es durchaus nicht. Die Sache erscheint mir so unerklärlich,
  • daß ich ... Nein, das läßt sich einfach nicht verstehen!«
  • _Das Porträt._ Der erste Entwurf dieser Novelle erschien in Gogols
  • »Arabesken«, 1841 wurde sie in Rom umgearbeitet. Die neue Fassung ist
  • frühestens im März 1837 begonnen. 1842 wurde sie noch einmal
  • durchgesehen und korrigiert und am 17. März dieses Jahres Pletnew
  • eingesandt, der sie im »Sowremennik« (Der Zeitgenosse) Band XXVI Nr. 3
  • abdruckte. Die Freigabe durch die Zensur erfolgte am 30. Juni 1842. 1851
  • nahm der Verfasser für die zweite Auflage seiner »Werke« noch einige
  • unbedeutende stilistische Veränderungen vor.
  • * * * * *
  • Druck von Mänicke & Jahn, Rudolstadt.
  • Anmerkungen zur Transkription
  • Verweise auf Varianten im Text des zweiten Teils der Toten Seelen
  • (im Anhang) sind mit Nummern in runden Klammern gekennzeichnet.
  • Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten. Auch
  • Variationen in der Transliteration der russischen Namen wurden nicht
  • verändert.
  • Zwei offensichtliche Übertragungsfehler wurden ebenfalls unverändert
  • belassen. Auf Seite 71 sagt der General zu Tschitschikow: »Dir die
  • toten Seelen abzukaufen?« Im Original heißt es hingegen richtig: »zu
  • überlassen«, da ja der General der Besitzer der Bauern ist. Auf Seite
  • 171 hat Chlobujew nicht »fünfzigtausend Bauern«, sondern wie im Original
  • »fünfzig Bauern« geerbt.
  • Offensichtliche Fehler wurden, teilweise unter Zuhilfenahme des
  • russischen Originaltextes, korrigiert wie hier aufgeführt
  • (vorher/nachher):
  • [S. 25]:
  • ... Ohren Kopf kratzten. Aber das dauerte nicht lange.(5) Der ...
  • ... Ohren am Kopf kratzten. Aber das dauerte nicht lange.(5) Der ...
  • [S. 28]:
  • ... dann ließ er es fast ganz an der früheren Aufmerkksamkeit ...
  • ... dann ließ er es fast ganz an der früheren Aufmerksamkeit ...
  • [S. 28]:
  • ... auffangen, wenn sie sich allenthaben im Himmel und ...
  • ... auffangen, wenn sie sich allenthalben im Himmel und ...
  • [S. 46]:
  • ... wie jeder Bauer heißt, wer mit diesen und jenem verwandt ...
  • ... wie jeder Bauer heißt, wer mit diesem und jenem verwandt ...
  • [S. 49]:
  • ... und die Lage der Ställe außerordenlich bequem. ...
  • ... und die Lage der Ställe außerordentlich bequem. ...
  • [S. 60]:
  • ... ergreifen wollten, vertbeugte sich mit bewundernswürdiger ...
  • ... ergreifen wollten, verbeugte sich mit bewundernswürdiger ...
  • [S. 70]:
  • ... »Und fährt er noch spazieren? Macht er Besuche. ...
  • ... »Und fährt er noch spazieren? Macht er Besuche? ...
  • [S. 70]:
  • ... Ist er noch gut auf den Beinen!« ...
  • ... Ist er noch gut auf den Beinen?« ...
  • [S. 79]:
  • ... »Sagen Sie, wie steht es mit dem Gute Ihres Vaters!« ...
  • ... »Sagen Sie, wie steht es mit dem Gute Ihres Vaters?« ...
  • [S. 79]:
  • ... »Ich weiß, was Sie jetzt denken?« sagte Petuch. ...
  • ... »Ich weiß, was Sie jetzt denken!« sagte Petuch. ...
  • [S. 80]:
  • ... Alexyascha. ...
  • ... Alexascha. ...
  • [S. 82]:
  • ... sehne? Wenn mich doch jemand ein bischen ärgern ...
  • ... sehne? Wenn mich doch jemand ein bißchen ärgern ...
  • [S. 89]:
  • ... weitere lößten sie ab, und laut schwoll an und ergoß sich ...
  • ... weitere lösten sie ab, und laut schwoll an und ergoß sich ...
  • [S. 89]:
  • ... zu jagen, saßen Nikoloscha und Alexascha stumm da und ...
  • ... zu jagen, saßen Nikolascha und Alexascha stumm da und ...
  • [S. 92]:
  • ... herein!« dachte Tschitschikow. »Da ist der Brantweinpächter ...
  • ... herein!« dachte Tschitschikow. »Da ist der Branntweinpächter ...
  • [S. 92]:
  • ... meiner Schwester und von meinen Schwager verabschieden.« ...
  • ... meiner Schwester und von meinem Schwager verabschieden.« ...
  • [S. 92]:
  • ... erste hier in der Gegend. Er bezieht Einkünft im Werte ...
  • ... erste hier in der Gegend. Er bezieht Einkünfte im Werte ...
  • [S. 96]:
  • ... konnte Tchitschikow nur die Spuren eines echt weiblichen ...
  • ... konnte Tschitschikow nur die Spuren eines echt weiblichen ...
  • [S. 97]:
  • ... in einem Jacke von Kamelhaaren kam auf das Haus
  • zugeschritten. ...
  • ... in einer Jacke von Kamelhaaren kam auf das Haus
  • zugeschritten. ...
  • [S. 99]:
  • ... »Ich habe dir's schon gesagt, Ich lasse nicht mit mir ...
  • ... »Ich habe dir's schon gesagt, ich lasse nicht mit mir ...
  • [S. 100]:
  • ... kannte auch keine andere Sprache außer der russichen. ...
  • ... kannte auch keine andere Sprache außer der russischen. ...
  • [S. 103]:
  • ... er an davon zu erzählen, wieviel Mühe es ihm gekostet ...
  • ... er an davon zu erzählen, wieviel Mühe es ihn gekostet ...
  • [S. 103]:
  • ... Tschitschikow sah ihn aufmerksam ins Gesicht, hörte ...
  • ... Tschitschikow sah ihm aufmerksam ins Gesicht, hörte ...
  • [S. 107]:
  • ... steht zu ihrer Verfügung. Tuen Sie, als ob Sie zu ...
  • ... steht zu Ihrer Verfügung. Tuen Sie, als ob Sie zu ...
  • [S. 111]:
  • ... daß man sich von den französischer Invasion und dem ...
  • ... daß man sich von der französischen Invasion und dem ...
  • [S. 124]:
  • ... Der andere lächelte, fühlte er doch selbst, daß Tschischitkow ...
  • ... Der andere lächelte, fühlte er doch selbst, daß Tschitschikow ...
  • [S. 134]:
  • ... »Und was wollen Sie dann anfangen!« ...
  • ... »Und was wollen Sie dann anfangen?« ...
  • [S. 140]:
  • ... die einem Geld kosten? -- Aber glauben Sie nur nicht, ...
  • ... die einen Geld kosten? -- Aber glauben Sie nur nicht, ...
  • [S. 142]:
  • ... und töchrichtes Zeug plapperte. Die Damen zogen sich ...
  • ... und törichtes Zeug plapperte. Die Damen zogen sich ...
  • [S. 153]:
  • ... Name war Wassillij. ...
  • ... Name war Wassilij. ...
  • [S. 162]:
  • ... den Fingern, zeigte ihm ein reizendes Karnealsiegel, ...
  • ... den Fingern, zeigte ihm ein reizendes Karneolsiegel, ...
  • [S. 162]:
  • ... »Das dich doch der Teufel holte, kleiner Satan!« ...
  • ... »Daß dich doch der Teufel holte, kleiner Satan!« ...
  • [S. 163]:
  • ... für ihre Güte auch einen kleinen Dienst zu leisten. Ich ...
  • ... für Ihre Güte auch einen kleinen Dienst zu leisten. Ich ...
  • [S. 171]:
  • ... Betrügereien vorgekommen, Alfanassij Wassiljewitsch! ...
  • ... Betrügereien vorgekommen, Afanassij Wassiljewitsch! ...
  • [S. 179]:
  • ... wurde, ihn davon in Kenntnis setzte, das die Sache ...
  • ... wurde, ihn davon in Kenntnis setzte, daß die Sache ...
  • [S. 206]:
  • ... zu nehmen.« ...
  • ... zu nehmen?« ...
  • [S. 217]:
  • ... »Es versteht sich von selbst, deß der Hauptschuldige ...
  • ... »Es versteht sich von selbst, daß der Hauptschuldige ...
  • [S. 218]:
  • ... gehabt hätten, dann durften sie sich nicht durch den Stolz
  • und ...
  • ... gehabt hätten, dann durften Sie sich nicht durch den Stolz
  • und ...
  • [S. 218]:
  • ... und ihr eigenes Ich zum Opfer bringen. Ich hätte Ihre ...
  • ... und Ihr eigenes Ich zum Opfer bringen. Ich hätte Ihre ...
  • [S. 227]:
  • ... im Kalender ein anderes Blatt auf und legten den Finger ...
  • ... im Kalender ein anderes Blatt auf und legte den Finger ...
  • [S. 237]:
  • ... Petrowitsch war ein Individium, das schielte, pockennarbig ...
  • ... Petrowitsch war ein Individuum, das schielte, pockennarbig ...
  • [S. 256]:
  • ... so eine Sache machen wollen, dann ist es wirlich so ...
  • ... so eine Sache machen wollen, dann ist es wirklich so ...
  • [S. 279]:
  • ... sein imponierendes Äußere warf: »Welch ein Charakter!« ...
  • ... sein imponierendes Äußeres warf: »Welch ein Charakter!« ...
  • [S. 290]:
  • ... Aber hier hüllt plötzlich ein undurchdringles Dunkel ...
  • ... Aber hier hüllt plötzlich ein undurchdringliches Dunkel ...
  • [S. 291]:
  • ... ebene und glatte Fäche! Voller Schrecken ließ Kowalew ...
  • ... ebene und glatte Fläche! Voller Schrecken ließ Kowalew ...
  • [S. 298]:
  • ... Weise und einen Teil der Wange bemerkte, die in ...
  • ... Weiße und einen Teil der Wange bemerkte, die in ...
  • [S. 307]:
  • ... Der Major lies sich, wie man sieht, sogar zu einer ...
  • ... Der Major ließ sich, wie man sieht, sogar zu einer ...
  • [S. 315]:
  • ... Kowalew begann, das Vorgefallene zu überbedenken, ...
  • ... Kowalew begann, das Vorgefallene zu überdenken, ...
  • [S. 323]:
  • ... und über alle folgenden Ereignisse ist wieder nichs bekannt. ...
  • ... und über alle folgenden Ereignisse ist wieder nichts bekannt. ...
  • [S. 327]:
  • ... Und der Mojor Kowalew zeigte sich, als ob nichts ...
  • ... Und der Major Kowalew zeigte sich, als ob nichts ...
  • [S. 335]:
  • ... an und zeigte ihnen mit einer großen Geste sein Laden. ...
  • ... an und zeigte ihnen mit einer großen Geste seinen Laden. ...
  • [S. 343]:
  • ... für das vollkommenste und vollendeste Kunstwerk ...
  • ... für das vollkommenste und vollendetste Kunstwerk ...
  • [S. 344]:
  • ... mit jenen hohen Genuß zu tun, den die Seele angesichts ...
  • ... mit jenem hohen Genuß zu tun, den die Seele angesichts ...
  • [S. 344]:
  • ... Messer bewaffnet, einen Menschen nahn, in der Erwartung, ...
  • ... Messer bewaffnet, einem Menschen nahn, in der Erwartung, ...
  • [S. 347]:
  • ... begann der Alte, die Rollen zu öffnen, aus denen ihn ...
  • ... begann der Alte, die Rollen zu öffnen, aus denen ihm ...
  • [S. 348]:
  • ... Die Brust war wie eigeschnürt, wie wenn sie den letzten ...
  • ... Die Brust war wie eingeschnürt, wie wenn sie den letzten ...
  • [S. 364]:
  • ... ist, als in denen Tizians. Kennen Sie Monsieur Nohl!« ...
  • ... ist, als in denen Tizians. Kennen Sie Monsieur Nohl?« ...
  • [S. 385]:
  • ... stimmte am besten mit seinen Seelenzustand überein, ...
  • ... stimmte am besten mit seinem Seelenzustand überein, ...
  • [S. 399]:
  • ... eigentümliche arithmetrische Operationen zu ganz ...
  • ... eigentümliche arithmetische Operationen zu ganz ...
  • [S. 403]:
  • ... Vater gestand, niemals in seinen Leben etwas Ähnliches ...
  • ... Vater gestand, niemals in seinem Leben etwas Ähnliches ...
  • [S. 438]:
  • ... »So schwarz ... Exzellenz,« verbesserte ihm Tschitschikow. ...
  • ... »So schwarz ... Exzellenz,« verbesserte ihn Tschitschikow. ...
  • [S. 458]:
  • ... hineinzukommen. Was denken Sie wohl?« ...
  • ... hineinzukommen? Was denken Sie wohl?« ...
  • [S. 475]:
  • ... umgearbeitet worden: ...
  • ... umgearbeitet werden: ...
  • [S. 476]:
  • ... versetzte die Nase, »bitten drücken Sie sich etwas deutlicher ...
  • ... versetzte die Nase, »bitte drücken Sie sich etwas deutlicher ...
  • [S. 480]:
  • ... seinen fest zusammengekniffen Lippen schließen konnte. ...
  • ... seinen fest zusammengekniffenen Lippen schließen konnte. ...
  • End of the Project Gutenberg EBook of Sämmtliche Werke 2: Die Toten Seelen
  • II / Novellen, by Nikolaj Gogol
  • *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 2: DIE ***
  • ***** This file should be named 54263-8.txt or 54263-8.zip *****
  • This and all associated files of various formats will be found in:
  • http://www.gutenberg.org/5/4/2/6/54263/
  • Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
  • Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was
  • produced from images made available by the HathiTrust
  • Digital Library.
  • Updated editions will replace the previous one--the old editions will
  • be renamed.
  • Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright
  • law means that no one owns a United States copyright in these works,
  • so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United
  • States without permission and without paying copyright
  • royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part
  • of this license, apply to copying and distributing Project
  • Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm
  • concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark,
  • and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive
  • specific permission. If you do not charge anything for copies of this
  • eBook, complying with the rules is very easy. You may use this eBook
  • for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports,
  • performances and research. They may be modified and printed and given
  • away--you may do practically ANYTHING in the United States with eBooks
  • not protected by U.S. copyright law. Redistribution is subject to the
  • trademark license, especially commercial redistribution.
  • START: FULL LICENSE
  • THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
  • PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK
  • To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
  • distribution of electronic works, by using or distributing this work
  • (or any other work associated in any way with the phrase "Project
  • Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full
  • Project Gutenberg-tm License available with this file or online at
  • www.gutenberg.org/license.
  • Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project
  • Gutenberg-tm electronic works
  • 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
  • electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
  • and accept all the terms of this license and intellectual property
  • (trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
  • the terms of this agreement, you must cease using and return or
  • destroy all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your
  • possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a
  • Project Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound
  • by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the
  • person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph
  • 1.E.8.
  • 1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be
  • used on or associated in any way with an electronic work by people who
  • agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
  • things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
  • even without complying with the full terms of this agreement. See
  • paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
  • Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this
  • agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm
  • electronic works. See paragraph 1.E below.
  • 1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the
  • Foundation" or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection
  • of Project Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual
  • works in the collection are in the public domain in the United
  • States. If an individual work is unprotected by copyright law in the
  • United States and you are located in the United States, we do not
  • claim a right to prevent you from copying, distributing, performing,
  • displaying or creating derivative works based on the work as long as
  • all references to Project Gutenberg are removed. Of course, we hope
  • that you will support the Project Gutenberg-tm mission of promoting
  • free access to electronic works by freely sharing Project Gutenberg-tm
  • works in compliance with the terms of this agreement for keeping the
  • Project Gutenberg-tm name associated with the work. You can easily
  • comply with the terms of this agreement by keeping this work in the
  • same format with its attached full Project Gutenberg-tm License when
  • you share it without charge with others.
  • 1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
  • what you can do with this work. Copyright laws in most countries are
  • in a constant state of change. If you are outside the United States,
  • check the laws of your country in addition to the terms of this
  • agreement before downloading, copying, displaying, performing,
  • distributing or creating derivative works based on this work or any
  • other Project Gutenberg-tm work. The Foundation makes no
  • representations concerning the copyright status of any work in any
  • country outside the United States.
  • 1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:
  • 1.E.1. The following sentence, with active links to, or other
  • immediate access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear
  • prominently whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work
  • on which the phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the
  • phrase "Project Gutenberg" is associated) is accessed, displayed,
  • performed, viewed, copied or distributed:
  • This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
  • most other parts of the world at no cost and with almost no
  • restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it
  • under the terms of the Project Gutenberg License included with this
  • eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the
  • United States, you'll have to check the laws of the country where you
  • are located before using this ebook.
  • 1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is
  • derived from texts not protected by U.S. copyright law (does not
  • contain a notice indicating that it is posted with permission of the
  • copyright holder), the work can be copied and distributed to anyone in
  • the United States without paying any fees or charges. If you are
  • redistributing or providing access to a work with the phrase "Project
  • Gutenberg" associated with or appearing on the work, you must comply
  • either with the requirements of paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 or
  • obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg-tm
  • trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or 1.E.9.
  • 1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
  • with the permission of the copyright holder, your use and distribution
  • must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any
  • additional terms imposed by the copyright holder. Additional terms
  • will be linked to the Project Gutenberg-tm License for all works
  • posted with the permission of the copyright holder found at the
  • beginning of this work.
  • 1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
  • License terms from this work, or any files containing a part of this
  • work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.
  • 1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
  • electronic work, or any part of this electronic work, without
  • prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
  • active links or immediate access to the full terms of the Project
  • Gutenberg-tm License.
  • 1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
  • compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including
  • any word processing or hypertext form. However, if you provide access
  • to or distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format
  • other than "Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official
  • version posted on the official Project Gutenberg-tm web site
  • (www.gutenberg.org), you must, at no additional cost, fee or expense
  • to the user, provide a copy, a means of exporting a copy, or a means
  • of obtaining a copy upon request, of the work in its original "Plain
  • Vanilla ASCII" or other form. Any alternate format must include the
  • full Project Gutenberg-tm License as specified in paragraph 1.E.1.
  • 1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
  • performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
  • unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.
  • 1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
  • access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works
  • provided that
  • * You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
  • the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
  • you already use to calculate your applicable taxes. The fee is owed
  • to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he has
  • agreed to donate royalties under this paragraph to the Project
  • Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments must be paid
  • within 60 days following each date on which you prepare (or are
  • legally required to prepare) your periodic tax returns. Royalty
  • payments should be clearly marked as such and sent to the Project
  • Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in
  • Section 4, "Information about donations to the Project Gutenberg
  • Literary Archive Foundation."
  • * You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
  • you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
  • does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
  • License. You must require such a user to return or destroy all
  • copies of the works possessed in a physical medium and discontinue
  • all use of and all access to other copies of Project Gutenberg-tm
  • works.
  • * You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of
  • any money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
  • electronic work is discovered and reported to you within 90 days of
  • receipt of the work.
  • * You comply with all other terms of this agreement for free
  • distribution of Project Gutenberg-tm works.
  • 1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project
  • Gutenberg-tm electronic work or group of works on different terms than
  • are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing
  • from both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and The
  • Project Gutenberg Trademark LLC, the owner of the Project Gutenberg-tm
  • trademark. Contact the Foundation as set forth in Section 3 below.
  • 1.F.
  • 1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
  • effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
  • works not protected by U.S. copyright law in creating the Project
  • Gutenberg-tm collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm
  • electronic works, and the medium on which they may be stored, may
  • contain "Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate
  • or corrupt data, transcription errors, a copyright or other
  • intellectual property infringement, a defective or damaged disk or
  • other medium, a computer virus, or computer codes that damage or
  • cannot be read by your equipment.
  • 1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
  • of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
  • Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
  • Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
  • Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
  • liability to you for damages, costs and expenses, including legal
  • fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
  • LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
  • PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
  • TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
  • LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
  • INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
  • DAMAGE.
  • 1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
  • defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
  • receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
  • written explanation to the person you received the work from. If you
  • received the work on a physical medium, you must return the medium
  • with your written explanation. The person or entity that provided you
  • with the defective work may elect to provide a replacement copy in
  • lieu of a refund. If you received the work electronically, the person
  • or entity providing it to you may choose to give you a second
  • opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If
  • the second copy is also defective, you may demand a refund in writing
  • without further opportunities to fix the problem.
  • 1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
  • in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO
  • OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT
  • LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
  • 1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
  • warranties or the exclusion or limitation of certain types of
  • damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
  • violates the law of the state applicable to this agreement, the
  • agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
  • limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
  • unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
  • remaining provisions.
  • 1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
  • trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
  • providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in
  • accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
  • production, promotion and distribution of Project Gutenberg-tm
  • electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
  • including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
  • the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
  • or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
  • additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
  • Defect you cause.
  • Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
  • Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
  • electronic works in formats readable by the widest variety of
  • computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
  • exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
  • from people in all walks of life.
  • Volunteers and financial support to provide volunteers with the
  • assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
  • goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
  • remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
  • Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
  • and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
  • generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
  • Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
  • Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
  • www.gutenberg.org
  • Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
  • The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
  • 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
  • state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
  • Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
  • number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
  • Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
  • U.S. federal laws and your state's laws.
  • The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
  • mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
  • volunteers and employees are scattered throughout numerous
  • locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
  • Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
  • date contact information can be found at the Foundation's web site and
  • official page at www.gutenberg.org/contact
  • For additional contact information:
  • Dr. Gregory B. Newby
  • Chief Executive and Director
  • gbnewby@pglaf.org
  • Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
  • Literary Archive Foundation
  • Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
  • spread public support and donations to carry out its mission of
  • increasing the number of public domain and licensed works that can be
  • freely distributed in machine readable form accessible by the widest
  • array of equipment including outdated equipment. Many small donations
  • ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
  • status with the IRS.
  • The Foundation is committed to complying with the laws regulating
  • charities and charitable donations in all 50 states of the United
  • States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
  • considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
  • with these requirements. We do not solicit donations in locations
  • where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
  • DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
  • state visit www.gutenberg.org/donate
  • While we cannot and do not solicit contributions from states where we
  • have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
  • against accepting unsolicited donations from donors in such states who
  • approach us with offers to donate.
  • International donations are gratefully accepted, but we cannot make
  • any statements concerning tax treatment of donations received from
  • outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
  • Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
  • methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
  • ways including checks, online payments and credit card donations. To
  • donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
  • Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.
  • Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
  • Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
  • freely shared with anyone. For forty years, he produced and
  • distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
  • volunteer support.
  • Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
  • editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
  • the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
  • necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
  • edition.
  • Most people start at our Web site which has the main PG search
  • facility: www.gutenberg.org
  • This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
  • including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
  • Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
  • subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.