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  Directory : Briefwechsel II, Die Beichte des Dichters, Betrachtungen über die Heilige Liturgie, Jugendschriften, Fragmente
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  • The Project Gutenberg EBook of Sämmtliche Werke 8: Briefwechsel II, Hans
  • Küchelgarten, by Nikolaj Gogol
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  • Title: Sämmtliche Werke 8: Briefwechsel II, Hans Küchelgarten
  • Briefwechsel II / Die Beichte des Dichters / Betrachtungen
  • über die Heilige Liturgie / Jugendschriften / Fragmente
  • / Hans Küchelgarten
  • Author: Nikolaj Gogol
  • Editor: Otto Buek
  • Translator: Ullrich Steindorf
  • Release Date: January 31, 2018 [EBook #56475]
  • Language: German
  • *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 8: ***
  • Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
  • Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was
  • produced from images made available by the HathiTrust
  • Digital Library
  • Nikolaus Gogol
  • Briefwechsel II
  • Nikolaus Gogol
  • Sämmtliche Werke
  • In 8 Bänden
  • Herausgegeben
  • von
  • Otto Buek
  • Band 8
  • München und Leipzig
  • bei Georg Müller
  • 1914
  • Nikolaus Gogol
  • Aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden
  • Zweiter Teil
  • Hans Küchelgarten
  • Deutsch von Ulrich Steindorff
  • München und Leipzig
  • bei Georg Müller
  • 1914
  • An Arkadius Ossipowitsch Rosetti
  • Neapel, im Jahre 1847.
  • Ich weiß nicht, wie ich Ihnen für Ihren Brief und die zahlreichen
  • Mitteilungen danken soll, die er enthält, liebster, bester Arkadij
  • Ossipowitsch. Wenn ich häufiger das Glück hätte, solche Briefe zu
  • erhalten, selbst wenn sie nicht von solch herzlicher Teilnahme und Liebe
  • zu mir erfüllt wären, müßte ich schon längst viel klüger sein, als ich
  • es jetzt bin. Aber was soll ich tun, wenn es mir durchaus nicht gelingen
  • will, jemand in irgendeiner Weise davon zu überzeugen, daß ich wissen
  • muß, was man über mich spricht, daß das die einzige Gelegenheit für mich
  • ist, etwas zu lernen, kurz, daß es einen Menschen gibt, dem man die
  • Wahrheit sagen muß, so hart und bitter sie auch sein mag, und für den
  • selbst die harten und rohen Worte, wie sie nur dem Haß und der
  • Lieblosigkeit entspringen, ein Bedürfnis sind? So war denn auch einer
  • der Gründe, der mich dazu bestimmte, meine Briefe herauszugeben -- das
  • Bedürfnis, zu lernen, und nicht etwa das -- andere zu belehren. Da man
  • jedoch einen Russen nicht anders zum Reden veranlassen kann, als
  • dadurch, daß man ihn erzürnt und ungeduldig macht, so habe ich beinahe
  • mit Vorbedacht eine Reihe von Stellen in den Briefwechsel aufgenommen,
  • die die Menschen durch ihren arroganten Ton verletzen und an ihrer
  • empfindlichsten Stelle treffen mußten.
  • Ich kann Ihnen allen Ernstes versichern: ich leide außerordentlich
  • darunter, daß ich sehr viele Dinge nicht kenne, die ich unter allen
  • Umständen kennen müßte; ich leide darunter, daß ich eigentlich gar nicht
  • weiß, was heutzutage die Menschen aller Berufsarten, Ämter und aller
  • Bildungsstufen in Rußland darstellen. Alles, was ich hierüber bisher
  • unter einem ungeheuren Aufwand von Mühe ermitteln konnte, ist nicht
  • ausreichend, wenn meine »Toten Seelen« das werden sollen, was sie
  • eigentlich sein sollten. Das ist der Grund, weswegen ich so sehr danach
  • dürste, zu erfahren, was die Menschen aller Klassen mit Einschluß der
  • Bedienten und Lakaien über mein gegenwärtiges Buch sagen -- nicht
  • eigentlich im Interesse meines Buches selbst, sondern weil sich der
  • Beurteiler mit seinem Urteil über das Werk am besten charakterisiert.
  • Aus einem solchen Urteil kann ich sofort entnehmen, was er selbst für
  • ein Mensch ist, auf welchem Niveau geistiger Bildung er steht, wie es in
  • seiner Seele aussieht, ob er von Natur ein schlichter und gütiger Mensch
  • oder unwissend und korrumpiert ist. Mein Buch kann mir in gewisser
  • Beziehung als Probierstein dienen, und glauben Sie mir, daß Sie es sich
  • heutzutage an keinem anderen Buche so deutlich zum Bewußtsein bringen
  • können, wie an diesem, was der Russe von heute für ein Mensch ist. Ich
  • kann es nicht leugnen, ich hoffte auf einzelne Leute, die an gewissen
  • Gebrechen leiden, einen wohltätigen Einfluß auszuüben, ich hatte
  • erwartet, daß sich mehr Stimmen zu meinen Gunsten äußern würden, als das
  • wirklich der Fall war, und es war bitter, ja sogar sehr bitter für mich,
  • vieles mitanhören zu müssen. Aber wie danke ich Gott heute dafür, daß es
  • gerade so und nicht anders gekommen ist! Ich sehe mich jetzt
  • unwillkürlich genötigt, viel strenger gegen mich zu sein, ich habe jetzt
  • die Möglichkeit, auch die Menschen weit besser und genauer kennen zu
  • lernen, und bin endlich in der Lage, mir eine richtigere Ansicht von
  • ihnen zu bilden. Was aber den Umstand betrifft, daß meine Persönlichkeit
  • hierbei Schaden gelitten hat (ich muß es Ihnen gestehen; ich brenne noch
  • heute vor Scham, wenn ich daran denke, wie anmaßend ich mich an vielen
  • Stellen ausgedrückt habe: fast à la Chlestakow), so muß man doch immer
  • Opfer bringen. Ich brauchte eine solche öffentliche Ohrfeige, ja ich
  • hatte sie vielleicht nötiger als irgendein anderer. Aber es kommt darauf
  • an, die Gelegenheit zu ergreifen und aus den Umständen Nutzen zu ziehen:
  • Gott hat plötzlich einen ganzen Haufen von Schätzen vor mir
  • ausgeschüttet, so daß ich mit beiden Händen danach greifen muß, wenn ich
  • sie bergen will. Wenn Sie mir etwas wahrhaft Gutes tun wollen, etwas,
  • dessen nur ein Christ fähig ist, dann lesen Sie diese Kostbarkeiten für
  • mich auf, wo Sie sie immer finden mögen. Es wäre Ihnen ein leichtes,
  • sich täglich etwa in Form eines Tagebuches ein paar Aufzeichnungen zu
  • machen wie z. B. die folgenden: »Heute habe ich den und den, die und die
  • Meinung äußern hören; über das Leben dieses Menschen ist folgendes
  • bekannt, er hat einen solchen Charakter« (kurz, Sie könnten mir in
  • flüchtigen Zügen ein Bild von ihm entwerfen). Ist dagegen nichts über
  • ihn bekannt, so schreiben Sie: über sein Leben kann ich nichts in
  • Erfahrung bringen, ich glaube aber, daß er das und das ist; äußerlich
  • macht er einen guten und anständigen (oder unanständigen) Eindruck; er
  • hält seine Hände so; schneuzt sich folgendermaßen; er schnupft Tabak und
  • zwar in folgender Weise; kurz, Sie dürfen keinen Zug vergessen, der
  • Ihnen ins Auge fällt, vielmehr sollen Sie jeden wichtigen ebenso wie
  • jeden geringfügigen Umstand sorgfältig buchen.
  • Glauben Sie mir, das ist keineswegs langweilig. Hierzu bedarf es weder
  • eines bestimmten Planes, noch braucht es in einer bestimmten Ordnung und
  • Reihenfolge zu geschehen: man wirft bloß zwei, drei Zeilen aufs Papier,
  • ehe man daran geht, sich zu waschen. Ich bin sogar überzeugt, daß dies
  • eine angenehme Beschäftigung für Sie sein wird, weil Sie stets das
  • schöne Bewußtsein haben werden, daß Sie das für einen Menschen tun, der
  • Sie inniglich liebt, und dem Sie damit eine Freude bereiten; eine so
  • große Freude, wie sie ein Kind empfindet, das an einem Festtag sein
  • Lieblingsspielzeug zum Geschenk erhält. Was soll ich machen, wenn dies
  • Spielzeug -- das wenigstens von anderen Leuten nur für ein Spielzeug
  • gehalten wird -- in meinen Augen nichts weniger als ein Spielzeug ist;
  • es ist sogar so wenig ein Spielzeug, daß, wenn ich nicht genug von
  • diesen Spielzeugen geschenkt bekomme, aus meinen »Toten Seelen«
  • plötzlich statt lebendiger Menschen meine eigene Nase herausgucken kann
  • und lauter Dinge zum Vorschein kommen können, wie Sie sie in meinem
  • Buche gefunden und die Ihnen so mißfallen haben. Glauben Sie mir: wenn
  • dies Buch nicht erschienen wäre, hätte ich nie jene kunstlose
  • Einfachheit erreicht, die unbedingt in allen weiteren Teilen der »Toten
  • Seelen« herrschen muß, wenn sie jedermann für einen treuen Spiegel des
  • Lebens und nicht für eine Karikatur halten soll. Sie wissen nicht, welch
  • großen Umweg man machen muß, um sich diese Einfachheit anzueignen. Sie
  • wissen nicht, wie hoch diese schlichte Einfachheit steht. Man tut
  • besser, hierüber gar nicht erst zu reden, helfen Sie mir -- das ist
  • alles, was ich zu sagen vermag.
  • Was nun die Veröffentlichung meiner Briefe anbetrifft, so habe ich
  • folgendes beschlossen. Wegen der inhibierten Briefe einen neuen Band
  • herauszugeben -- ist mir unmöglich. Ich habe noch andere Arbeiten vor,
  • die nicht vergessen werden dürfen, und über meine ganze Zeit habe ich
  • schon disponiert; zudem würde ein ganz ähnliches Werk nicht einmal
  • Aufsehen erregen. Ich möchte nur, daß Wjasemski seine Bemerkungen dazu
  • macht und gewisse Korrekturen vornimmt. Dann will ich die Briefe noch
  • einmal durchsehen und verbessern, so daß selbst der schlichteste Zensor,
  • auch ohne daß sie vor eine höhere Instanz zu gelangen brauchten, die
  • Herausgabe gestattet. Glauben Sie mir, man kann alles sagen, wenn man es
  • nur verständig auszudrücken versteht. Der Mißerfolg der besten und
  • hochherzigsten Unternehmungen rührt meist von unserer Ungeschicklichkeit
  • her -- da wir gewöhnlich vergessen, an die kluge Redensart zu denken:
  • »Man muß Wasser in seinen Wein gießen« (Nimm dieselbe Kohlsuppe, aber
  • verdünne sie erst ein wenig). Wenn wir -- statt mit großer Sicherheit
  • und hochmütiger Miene Ratschläge zu erteilen, die wir in dem Tone eines
  • Menschen vorbringen, dem es nie in den Sinn kommt, daß er sich irren
  • könnte -- schlicht und bescheiden unsere Meinung vortragen, können wir
  • sicher sein, daß unsere Gedanken von vielen Lesern beifällig aufgenommen
  • und weiterverbreitet werden. Kurz, was nicht hineingehört, mag
  • fortfallen, das Kluge und Gescheite wird einen anderen Ausdruck finden;
  • wo sich meine eigene Person in aufdringlicher Weise vordrängt, da soll
  • sie nicht nur eins auf die Nase bekommen, sondern da lasse ich auch noch
  • eine solche Stelle einschieben, durch die die vorhergehenden schon
  • gedruckten Sätze einen maßvolleren Ton erhalten. Jedenfalls aber sollen
  • diese Briefe mit in das Buch aufgenommen und nicht besonders
  • veröffentlicht werden. Sie werden dem Buche trotzdem eine höhere
  • Bedeutung verleihen und die Menschen in Rußland an _Rußland_ erinnern
  • und nicht an mich. Dieses Buch darf nicht zum alten Eisen geworfen
  • werden. Obwohl es große Mängel hat, -- es ist nicht auf kurze flüchtige
  • Eindrücke berechnet. Man muß es mehrmals lesen, und das gilt nicht nur
  • für die, die es überhaupt nicht verstanden, sondern auch für die, die es
  • besser verstanden haben als die anderen. In diesem Buche liegen noch
  • Geheimnisse der Seele verborgen, die nicht sofort ergründet werden
  • können. Vieles wird selbst von sehr klugen Leuten gar nicht in dem Sinne
  • genommen, den ich zum Ausdruck bringen wollte. Es wäre sehr schön, wenn
  • die vollständige Ausgabe im September erscheinen könnte. Das Buch wird
  • gekauft werden, man kann nämlich noch einiges hinzufügen, was dazu
  • beitragen könnte, den Leuten (bis zu einem gewissen Grade) eine richtige
  • Ansicht davon beizubringen. Geben Sie diesen Brief auch Pletnew zu
  • lesen. Sie danken mir dafür, daß ich Ihnen (durch die Bemühungen um mein
  • Buch) Gelegenheit gegeben habe, Pletnews herrliche Seele näher kennen zu
  • lernen. Und ich danke Ihnen gleichfalls dafür, daß Sie mir einige
  • Mitteilungen über ihn zukommen ließen, um derentwillen ich ihn heute
  • noch weit mehr liebe und seine Freundschaft noch weit höher schätze als
  • je zuvor. Diese Freundschaft hat mir Gott geschenkt, gleich einem
  • schönen milden Trost, dessen ich in diesen Zeiten so sehr bedarf. Ich
  • kann nicht sagen, mit welcher Freude ich ihn jetzt umarmen, was ich
  • dafür geben würde, wenn ich ihn jetzt sehen, persönlich mit ihm sprechen
  • und ihn an meine Brust drücken könnte. Doch nun umarme ich ihn und Sie
  • aufs herzlichste, mein unschätzbarer Arkadij Ossipowitsch; und indem ich
  • Ihnen vielmals für Ihre lieben Zeilen danke, bleibe ich Ihr
  • Gogol.
  • _P. S._ Ich begreife nicht, warum bisher noch keines von den Büchern
  • eingetroffen ist, die, wie Sie sagen, an mich abgesandt worden sind.
  • Alle andern erhalten durch den Kurier die schönsten Sachen zugestellt;
  • sogar Buchweizengrütze, Wjisiga[1] und Kaviar zu Fischpasteten; nur ich
  • erhalte nichts, nicht einmal ein Zeitungsblättchen.
  • Vergessen Sie nicht, mir den Empfang dieses Briefes zu bestätigen.
  • Senden Sie bitte von nun ab alles nach Frankfurt an Schukowski und zwar
  • senden Sie es durch unsere Botschaft an ihn.
  • [Fußnote 1: Getrocknete Rückensehne vom Stör, die in Rußland zur Füllung
  • von Backwerk verwendet wird. Anm. d. Hersg.]
  • Über den »Zeitgenossen«
  • (Sowremennik)
  • Ein Brief an P. A. Pletnew
  • Den 4. Dez. 1846.
  • Endlich komme ich dazu, mit dir über den »Zeitgenossen« zu sprechen.
  • »Der Zeitgenosse« war eine schlechte Zeitschrift trotz des
  • vortrefflichen Ziels, das du mit ihm im Auge hattest. Selbst dieses
  • schöne Ziel, um dessentwillen du ihn gegründet hast, war aus der
  • Zeitschrift für niemand klar und deutlich zu erkennen; im Gegenteil,
  • alle Leute fragten betroffen: »Erklären Sie mir bitte, warum und zu
  • welchem Zwecke gibt Pletnew seine Zeitschrift heraus? Was will er damit
  • sagen? Was wollen diese Gemeinplätze in seinem Programm bedeuten, diese
  • vielen Wiederholungen über Unparteilichkeit, seine uneigennützige Liebe
  • zur Kunst, sein Streben nach Wahrheit usw., diese Versprechungen, die
  • jeder Journalist macht und doch keiner hält?« Der magere Inhalt dieser
  • dünnen Büchlein, der leblose, gleichgültige, matte, verwaschene Stil, in
  • dem seine Urteile über alles Moderne gehalten sind, gibt allen ein
  • Rätsel auf: warum heißt die Zeitschrift »Der Zeitgenosse«? Wir wollen
  • ganz offen miteinander sein. Dir fehlt die journalistische Begabung:
  • weder besitzt du genug lebendige jugendliche Begeisterung für alle
  • modernen Bewegungen, noch jene gespannte Neugierde für alle Fragen, die
  • die große Masse unserer Gesellschaft beschäftigen, noch endlich jenen
  • enzyklopädischen Wissensdrang, jenes Streben, alles mit dem gleichen
  • Interesse zu umfassen, was sich auf den Fortschritt des menschlichen
  • Wissens auf allen Gebieten bezieht. Deiner anthologischen Seele ward nur
  • eine hohe Gabe zuteil -- sich an dem Wohlgeruch der herrlichen Blüten,
  • die im Garten der Poesie wachsen, zu ergötzen und die höchsten Regungen
  • der Menschenseele zu verstehen. Der Sänger des »Münnich« und einiger
  • anderer schöner Elegien, die von der Reinheit des Geschmacks und der
  • stillen bescheidenen Seele des Dichters zeugen, hätte die polemische
  • Arena meiden sollen. »Der Zeitgenosse« war selbst unter Puschkin nicht
  • das, was eine rechte Zeitschrift sein soll, obwohl sich Puschkin ein
  • viel positiveres und leichter zu verwirklichendes Ziel gesteckt hatte.
  • Er wollte eine Vierteljahrsschrift nach Art der englischen Zeitschriften
  • schaffen, in der durchdachtere und gründlichere Abhandlungen zum Abdruck
  • kommen sollten als in den Wochen- und Monatsschriften, wo die
  • Mitarbeiter zur Eile gedrängt werden und nicht einmal soviel Zeit haben,
  • das, was sie selbst geschrieben haben, noch einmal durchzusehen.
  • Übrigens war sein Wunsch, eine solche Zeitschrift herauszugeben, nicht
  • allzu lebhaft, und er selbst versprach sich nicht viel Nutzen davon. Als
  • er die Erlaubnis zur Herausgabe der Zeitschrift erhielt, wollte er
  • zuerst sogar zurücktreten. Die ganze Schuld fällt auf mich: ich flehte
  • ihn an, seinen Plan doch auszuführen. Ich versprach ihm meine dauernde
  • Mitarbeit. In meinen Aufsätzen fand er vieles, was einer periodischen
  • Zeitschrift einen lebendigen journalistischen Charakter verleihen
  • konnte, woran es ihm selbst seiner Meinung nach mangelte. Er hatte zu
  • jener Zeit tatsächlich eine solche Reife erlangt und stand schon zu
  • hoch, als daß er noch ein solch jugendliches Gefühl in sich hätte bergen
  • können: meine Seele aber war damals noch jung; ich konnte mir damals
  • noch vieles stark zu Herzen nehmen, was ihn kalt ließ. Mein hartnäckiges
  • Zureden und mein Versprechen, tätig mitzuwirken, überzeugte ihn; aber
  • ich hätte mein Wort doch nicht halten können, selbst wenn er am Leben
  • geblieben wäre. Ich wußte noch nicht, welche Wege mich die Vorsehung
  • führen würde, ich wußte nicht, daß ich einmal alle Kräfte und
  • Fähigkeiten für jede lebendige literarische Betätigung verlieren und
  • lange Zeit für alles absterben würde, was den Menschen von heute bewegt.
  • Nach Puschkins Tode widmetest du dich, aufs tiefste erschüttert durch
  • diesen für alle so schmerzlichen Verlust, der für dich noch weit
  • schmerzlicher war als für alle anderen, mit Eifer der Herausgabe der
  • Zeitschrift. Die Erkenntnis, daß die moderne Gesellschaft verwaist und
  • des Lichts der Poesie beraubt zurückgeblieben und dazu verurteilt sein
  • sollte, nichts wie törichte und unfruchtbare Diskussionen und
  • Streitereien über die Kunst anzuhören, statt sich an den Werken der
  • Kunst _selbst_ zu erfreuen, machte einen starken Eindruck auf dich; und
  • tief betrübt über diese Vereinsamung und Leere, die sich übrigens schon
  • zu Puschkins Zeiten der Gesellschaft bemächtigt hatte, übernahmst du die
  • Redaktion und nun wolltest du mit Gewalt jenes poetische Hellas
  • errichten, das zu Beginn der Puschkinschen Ära ganz von selbst
  • emporgeblüht war. Im Eifer deiner hochherzigen Begeisterung vergaßt du
  • sogar, daß nicht wir die Dinge und die Ereignisse lenken, sondern daß
  • eine höhere Macht jedem Ding seinen Platz anweist. Du merktest nicht
  • einmal, daß du ein Ziel im Auge hattest, das sich durch die Herausgabe
  • periodisch erscheinender Monatsschriften nie und auf keine Weise
  • erreichen ließ. »Der Zeitgenosse« hätte als Zeitschrift nicht einmal
  • dann einen Erfolg gehabt, wenn du alle Eigenschaften eines guten
  • Journalisten in dir vereinigt hättest. Ich muß gestehen, ich kann es mir
  • nicht einmal vorstellen, was das Erscheinen einer neuen Zeitschrift zu
  • einer Notwendigkeit für unsere Epoche machen sollte. Eine solche
  • enzyklopädische Heranbildung und Erziehung des Publikums mit Hilfe einer
  • Zeitschrift ist heute bei weitem kein so dringendes Bedürfnis mehr wie
  • früher. Das Publikum ist schon weit besser vorbereitet. Heute drängt uns
  • alles zu einem konzentrierten Studium; nicht nur die Bedeutsamkeit der
  • modernen Probleme, nein selbst die Hohlheit der modernen Gesellschaft
  • und die oberflächliche Leichtfertigkeit, mit der sie ihre
  • Angelegenheiten behandelt, scheinen den Menschen von heute dazu
  • aufzufordern, strenge Einkehr in sich selbst zu halten, seine Kräfte und
  • seine Fähigkeiten genauer zu prüfen und sich eine Aufgabe, ein Ziel zu
  • wählen, und zwar kein flüchtiges Augenblicksziel, sondern eine
  • lebensvolle, reiche und große Aufgabe, die allein den Fähigkeiten
  • entspricht, die jedem von uns je nach seiner Wesensart schon bei seiner
  • Geburt geschenkt wurden. Keine einzige Zeitschrift vermag heute dem
  • Publikum eine wirklich nahrhafte und substantielle Kost vorzusetzen.
  • »Der Zeitgenosse« sollte gänzlich auf den Namen einer Zeitschrift
  • verzichten; statt in Heftform sollte er wie ehedem in gedrängter
  • Buchform erscheinen und noch mehr als zu Puschkins Zeiten den Charakter
  • eines Almanachs annehmen; er sollte eher etwas Ähnliches darstellen wie
  • die »Blumen des Nordens« des Barons _Delwig_, dem du durch dein
  • Verständnis für den Wohllaut der Poesie und deine Fähigkeit, dich an ihr
  • zu erfreuen und sie intensiv zu genießen, so sehr gleichst. Es ist weit
  • besser, er erscheint bloß dreimal im Jahr zu ganz bestimmten Terminen:
  • das erstemal zu Ostern, als eine heitere Festgabe, das zweitemal zum
  • ersten Oktober, d. h. zu einer Zeit, wo bei uns alles vom Lande und aus
  • der Sommerfrische in den Städten zusammenströmt, und das drittemal zu
  • Neujahr; kurz -- er sollte stets gerade zu solchen Zeiten erscheinen, wo
  • sich alles mit dem größten Heißhunger auf ein neues Buch stürzt. Alles,
  • was im eigentlichen Sinne dieses Worts den Charakter der Journallektüre
  • trägt, muß wegbleiben: alle Berichte über Tagesneuigkeiten, jegliche
  • politischen Nachrichten oder Anzeigen sämtlicher neuen Bücher; höchstens
  • darf der Band einen ernsten kritischen Bericht über die bedeutsamsten
  • Werke enthalten, die während eines Jahrdrittels erschienen sind, und
  • zwar nur einen solchen Bericht, der selbst einen bedeutsamen
  • literarischen Aufsatz darstellt. Der Leser darf nie daran erinnert
  • werden, daß es irgendwelche Streitigkeiten und Parteiungen in der
  • Literatur und daß es etwas wie eine Zeitschriftenpolemik gibt. Nur ganz
  • konzentrierte Artikel, die eine Frage allseitig behandeln und keinerlei
  • Ähnlichkeit mit den übereilten hastigen und fragmentarischen Produkten
  • unserer Zeitschriftenliteratur haben, dürfen aufgenommen werden. Nur die
  • schönsten Blüten unserer modernen literarischen Produktion dürfen hier
  • vereinigt sein. Das aber läßt sich nur in einer Zeitschrift erreichen,
  • die nicht mehr als dreimal jährlich zur Ausgabe gelangt: denn in drei
  • Monaten kann man ganz gut ein Buch zusammenstellen.
  • Unserer Zeit mangelt es Gott sei Dank nicht an Talenten. Der prosaische
  • Teil des Jahrbuchs kann heute viel bedeutsamer und reichhaltiger
  • gestaltet werden als früher. Ich will hier ausdrücklich _die_ modernen
  • Schriftsteller anführen, deren Aufsätze unserm »Zeitgenossen« zur Zierde
  • gereichen würden. Vor allem müssen wir da den Grafen _Sollogub_ nennen,
  • der heute ohne allen Zweifel unser bester Erzähler ist. Niemand darf
  • sich heute einer solchen korrekten, gewandten und eleganten Sprache
  • rühmen wie er. Sein Stil ist treffend, jeder seiner Ausdrücke und jede
  • seiner Wendungen ist prägnant und von einem feinen Anstandsgefühl
  • erfüllt. Er hat einen großen Scharfsinn, Beobachtungsgabe und ist über
  • alles unterrichtet, was heute unsere höheren Gesellschaftskreise
  • beschäftigt. Nur eins mangelt ihm: die Seele dieses Dichters hat sich
  • noch nicht mit einem strengeren ernsteren Inhalt erfüllt, und er ist
  • durch seine inneren Erlebnisse noch nicht darauf hingeführt worden, sich
  • eine ernstere und klarere Ansicht vom Leben zu erwerben. Käme noch solch
  • ein innerliches Erlebnis bei ihm hinzu, dann könnte er ein treuer
  • Schilderer unserer besten Gesellschaftskreise werden; seine Werke würden
  • um mehr als hundert Prozent an Bedeutsamkeit gewinnen. --
  • Gleich nach ihm müssen wir einen anderen Schriftsteller nennen, der sich
  • unter dem fingierten Namen: _Kosak Luganski_ verbirgt. Er ist kein Poet,
  • ihm fehlt die Erfindungsgabe, ja er hat nicht einmal den Wunsch,
  • wahrhaft produktive Schöpfungen hervorzubringen: er sieht stets nur die
  • Sache und betrachtet jedes Ding rein sachlich. Ein starker, durchaus
  • solider Verstand spricht aus jedem seiner Worte, und eine scharfe
  • Beobachtungsgabe und ein angeborener Scharfsinn verleihen seinem Stil
  • eine große Lebendigkeit. Bei ihm ist alles wahr und unmittelbar aus der
  • Natur geschöpft. Er braucht keinen Knoten zu schürzen und ihn dann
  • wieder zu lösen, worüber sich die Romanschreiber so sehr die Köpfe
  • zerbrechen, er braucht nur irgendeine Begebenheit herauszugreifen, die
  • sich in russischen Landen ereignet hat, einen beliebigen Vorgang, den er
  • miterlebt hat und dessen Augenzeuge er war, um daraus eine äußerst
  • interessante Erzählung zu gestalten. Meiner Ansicht nach ist er weit
  • bedeutender als sämtliche Erzähler von großer Erfindungsgabe. Vielleicht
  • bin ich parteiisch in meinem Urteil, weil dieser Schriftsteller mehr als
  • irgendein anderer meinem persönlichen Geschmack und den eigentümlichen
  • persönlichen Forderungen, die ich an einen Erzähler stelle,
  • entgegenkommt; aus jeder Zeile von ihm schöpfe ich Belehrung und neue
  • Kenntnisse, da sie mich das russische Leben und das Wesen unseres Volkes
  • besser kennen lehren; jedoch was mir wohl jeder zugeben wird, ist dies,
  • daß ein solcher Schriftsteller uns allen gerade jetzt sehr nützlich sein
  • kann, ja daß er eine Notwendigkeit für uns ist. Seine Werke sind ein
  • lebendiger und getreuer statistischer Bericht über Rußland. Alles, was
  • er aus seinem umfassenden Gedächtnis schöpft und was er uns in seiner
  • wahrheitsgetreuen Sprache erzählt, wird ein wertvoller Beitrag für
  • deinen Almanach sein.
  • Ich weiß nicht, warum _N. Pawlow_ so gänzlich verstummt ist, ein
  • Schriftsteller, der sich durch seine drei ersten Erzählungen sofort ein
  • Anrecht auf einen Ehrenplatz unter unseren Prosaschriftstellern erworben
  • und sich bloß dadurch geschadet bat, daß er es vorzog, nicht mehr _er
  • selbst_ zu sein, sondern auf den Einfall kam, (in seinen drei neuen
  • Erzählungen) jene neuen Novellisten nachzuahmen, die doch so viel tiefer
  • stehen als er. Er brauchte nur, ohne zu irgendwelchen gewaltsamen
  • poetischen Einfällen oder zu künstlichen mosaikartigen Ausschmückungen
  • des Stils, die seine klare edle Sprache so verunstalten, seine Zuflucht
  • zu nehmen, er brauchte statt dessen nur aufs Geratewohl ein beliebiges
  • psychologisches Phänomen unserer Gesellschaft herauszugreifen und es in
  • seiner treffenden und gescheiten Art wiederzuerzählen, um eine Novelle
  • mit allen Eigenschaften jener strengen klassischen Schöpfungen zu
  • schaffen, die zu den ewigen Vorbildern der Literatur gehören.
  • Mancherlei Vorzüge hat meiner Ansicht nach auch ein Schriftsteller,
  • dessen Werke unter dem Namen _Kulisch_ erscheinen. Sein blühender Stil
  • und seine große Kenntnis der Sitten und Bräuche Kleinrußlands sprechen
  • dafür, daß er ganz vorzüglich dafür geeignet wäre, eine Geschichte
  • dieses Landes abzufassen. Auch hätte er sicherlich in noch höherem Grade
  • die Befähigung, frische und lebensvolle Aufsätze für den Almanach zu
  • schreiben und uns schlicht und einfach von den Sitten und Bräuchen der
  • alten Zeiten zu erzählen, ohne diese Schilderungen in den Rahmen einer
  • Novelle oder einer dramatischen Erzählung hineinzustellen, ganz ähnlich
  • wie uns einstmals _Kornilowitsch_ von dem Zeitalter Peters und von der
  • vorhergehenden Epoche erzählt hat. Sein Roman hat recht interessante
  • Partien, als Ganzes ist er jedoch matt und langweilig; die kostbaren
  • Perlen: sein großes historisches Wissen, die gediegenen Kenntnisse, die
  • über alle Seiten des Werkes verstreut sind, gehen gänzlich verloren,
  • ohne irgendeinen Nutzen zu bringen.
  • Man hat mir gesagt, daß die _Novelle_ bei uns in der letzten Zeit im
  • allgemeinen einen großen Erfolg habe und daß einige junge Schriftsteller
  • eine besondere Neigung zur Beobachtung des wirklichen realen Lebens an
  • den Tag legten. In den Werken, die ich zu lesen Gelegenheit hatte,
  • konnte ich in der Tat eine ähnliche Tendenz konstatieren, obwohl der
  • Aufbau dieser Novellen mir außerordentlich primitiv und ungeschickt
  • vorkam; die Form der Erzählung erschien mir übertrieben und allzu
  • wortreich, und dem Stil mangelte es an der rechten Einfachheit. Aber ich
  • bin überzeugt: wenn in jedem dieser Schriftsteller erst einmal der
  • Mensch, die Persönlichkeit -- und zwar noch vor dem Schriftsteller --
  • zum Durchbruch gekommen ist -- daß sich dann alles andere ganz von
  • selbst ergeben, daß jeder von ihnen eine starke schriftstellerische
  • Eigenart bekunden, und daß keiner dieser Fehler mehr an ihnen zu
  • bemerken sein wird. Ich muß hier noch _des_ Schriftstellers gedenken,
  • der seine literarische Wirksamkeit mit dem Drama »_Der Tod Ljapunows_«
  • begonnen hat. Diesem Drama fehlt es im Aufbau des Ganzen zwar noch an
  • der vollen szenentechnischen und dramatischen Reife, über die nur ein
  • erfahrener Bühnenschriftsteller verfügt, allein es besitzt viele
  • Vorzüge, die in seinem Schöpfer einen Schriftsteller von hervorragender
  • Bedeutung ahnen lassen. Das Vergangene so lebendig miterleben und in
  • einer so lebensvollen Sprache von ihr künden zu können -- das ist eine
  • große Gabe! An seiner Stelle würde ich mich förmlich in die alten
  • Chroniken vergraben, mich ganz an ihnen festsaugen und diese Lektüre
  • keinen Augenblick im Stiche lassen. Ihnen könnte er viele herrliche
  • Stoffe entnehmen. Wer weiß, vielleicht würde ihn eine solche Lektüre auf
  • den vortrefflichen Gedanken bringen, eine wahrheitsgetreue Geschichte
  • der Zeit zu schreiben, die sein Interesse am meisten fesseln würde. Ein
  • echt historisches Werk, aus der Feder eines Schriftstellers, der sich so
  • stark in die historischen Charaktere einzufühlen vermag, ein Werk, das
  • so lebendig und farbig geschrieben ist, ist weit wertvoller als alle
  • historischen Dramen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch etwas von
  • den jungen Schriftstellern sagen, die ihre Laufbahn erst beginnen. Ich
  • wünschte, du suchtest _Prokopowitsch_ auf und könntest ihn dazu
  • veranlassen, doch zur Feder zu greifen und sich im erzählenden Genre zu
  • versuchen. Von allen denen, die mit mir zusammen die Schule besucht
  • haben und zu gleicher Zeit mit mir zu schreiben begannen, zeigte er weit
  • früher als alle anderen ein großes Talent für eine anschauliche
  • Darstellungsweise, getreue Lebensschilderung und eine starke
  • Beobachtungsgabe. Seine Prosa hatte etwas Munteres und Freies; alles kam
  • bei ihm ungezwungen heraus und strömte ihm in reicher Fülle zu; alles
  • gelang ihm ohne große Anstrengung, aus allem schien hervorzugehen, daß
  • er einmal ein äußerst fruchtbarer Romanschriftsteller werden würde. Ich
  • weiß wohl, er ist heute verstummt, er hat den Drang nach einer
  • ausgebreiteten freien Tätigkeit in sich einschlafen lassen, sein
  • Wirkungskreis hat sich verengt, und es liegt kaum noch ein weites Feld
  • für die Beobachtung des Lebens vor ihm. Aber das Leben bleibt überall
  • das gleiche Leben, und je geringer der Raum, je enger der Kreis ist, in
  • dem es sich ausbreiten kann, um so gründlicher und tiefer können wir
  • gerade dies Stück Leben erforschen und durchdringen. Sogar die
  • Geschichte unserer Seele, die unser Erwachen aus einer totenähnlichen
  • Erstarrung zum Gegenstand hat, ein Erwachen, angesichts dessen der
  • Mensch mit Entsetzen auf sein in so tierischer Weise vergeudetes Leben
  • zurückblickt, kann einen herrlichen Stoff für einen Roman abgeben ...
  • Was für ein Festtag wäre das für meine Seele, wenn ich einmal im
  • »Zeitgenossen« eine Novelle fände, unter der sein Name stünde! Was
  • endlich mich selbst angeht, so kann ich nach wie vor kein fleißiger und
  • eifriger Mitarbeiter an deinem »Zeitgenossen« sein. Du hast schon selbst
  • bemerkt, daß man mich nicht einen Schriftsteller im strengen klassischen
  • Sinne nennen kann. Von all den jungen Leuten, die zugleich mit mir und
  • noch während unserer Schulzeit zu schriftstellern begannen, zeigte ich
  • in weit geringerem Grade als alle anderen jene Fähigkeiten, die die
  • notwendigen Vorbedingungen jedes literarischen Schaffens sind. Ich will
  • dir gestehen, daß selbst in meinen frühsten Projekten und in meinen
  • Träumen von einer künftigen Tätigkeit nie der Gedanke an die
  • Schriftstellerlaufbahn auftauchte. Ich wurde fast wie durch einen Zufall
  • darauf gestoßen. Ich hatte einige Beobachtungen über einzelne Seiten des
  • Lebens gemacht, deren ich für meine inneren geistigen Angelegenheiten
  • bedurfte, die mich von jeher aufs lebhafteste beschäftigten, und _sie_
  • gaben den Anlaß dazu, daß ich zur Feder griff und beschloß, dem Leser
  • voreilig alles das mitzuteilen, was ich ihm erst später, d. h. nach
  • Vollendung meiner eigenen Erziehung hätte mitteilen sollen. Ich mußte
  • mir alles unter großen Mühen erringen, was einem geborenen
  • Schriftsteller mühelos zuteil wird. Bis auf den heutigen Tag will es mir
  • nicht gelingen, auch wenn ich mich noch so sehr anstrenge, die rechte
  • Form für meine Sprache und meinen Stil, diese beiden wichtigsten
  • Werkzeuge jedes Schriftstellers, zu finden: bis auf den heutigen Tag
  • sind beide noch so ganz roh und formlos, wie bei keinem Schriftsteller,
  • nicht einmal bei einem von den schlechten, so daß selbst ein Anfänger,
  • ein Schuljunge das Recht hat, sich über mich lustig zu machen. Alles,
  • was ich geschrieben habe, ist nur von psychologischer Bedeutung, kann
  • aber nie als Muster schöner Literatur in Betracht kommen, und ein Lehrer
  • würde sehr unvorsichtig handeln, wenn er seinen Schülern den Rat geben
  • wollte, bei mir zu lernen, wie man schreiben oder wie man die Natur
  • schildern muß: er würde sie dazu anhalten, Karikaturen zu zeichnen. Den
  • Beweis dafür kannst du bei einzelnen jungen und unerfahrenen Nachahmern
  • meiner Manier finden, die gerade durch die Nachahmung weit unter das
  • Niveau ihres eigenen Könnens herabgesunken sind und ihre Selbständigkeit
  • und Eigenart verloren haben. Ich habe nie den Wunsch gehabt, ein Spiegel
  • der Dinge zu sein und die uns umgebende Wirklichkeit, ganz so wie sie
  • ist, in mir widerzuspiegeln -- ein Streben, von dem ein Dichter während
  • seines ganzen Lebens gespornt wird und das nur mit seinem eigenen Tode
  • zur Ruhe kommt. Ich kann auch heute nur von solchen Dingen reden, die in
  • einer nahen Beziehung zu meiner Seele stehen. Wenn ich also einmal das
  • Gefühl habe, daß jemand meiner offenherzigen aufrichtigen Meinung bedarf
  • und daß meine Worte einer Menschenseele den inneren Frieden zu geben
  • vermögen, dann sollst du einen Aufsatz von mir für deinen »Zeitgenossen«
  • erhalten; wenn nicht -- so wirst du keinen bekommen, und deswegen darfst
  • du mir nicht zürnen.
  • Ich habe hier auch keinen von unseren heutigen Prosaschriftstellern
  • erwähnt, die teils selbst mit der Herausgabe von Zeitschriften
  • beschäftigt sind, teils an Schöpfungen abstrakteren Charakters arbeiten,
  • die ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, Schriftsteller, die
  • weder die Möglichkeit noch Muße genug haben, an deinem »Zeitgenossen«
  • mitzuarbeiten. -- Diese sollst du gar nicht erst bemühen. Bei dieser
  • Gelegenheit muß ich dich ein wenig ausschelten. Du bist im Unrecht, wenn
  • du vielen Literaten Verständnislosigkeit und mangelnde Teilnahme für
  • deine Zeitschrift vorgeworfen und dies auf ihre Gleichgültigkeit gegen
  • die gemeinsame Sache, ihre mangelnde Liebe zur Kunst, ihre Geldgier usw.
  • zurückgeführt hast. Ein jeder Mensch ist mit irgendeiner eigenen inneren
  • Angelegenheit beschäftigt; in der Seele eines jeden geht etwas vor, gibt
  • es Erlebnisse, die ihn von der Mitarbeit an der allgemeinen, gemeinsamen
  • Sache abziehen; und man kann absolut nicht verlangen, daß ein anderer
  • sein eigenes Interesse einem Lieblingsgedanken von uns und unseren
  • Zielen zum Opfer bringen soll, denen wir nachzustreben entschlossen
  • sind. Gott weist jeglichem seinen Weg an, der immer ein ganz anderer ist
  • wie der, den ein anderer Mensch zurücklegen muß, und man darf nicht alle
  • Menschen mit derselben Elle messen. Daher mußt du selbst die ablehnende
  • Antwort und die Weigerung eines Menschen respektieren, auch dann noch,
  • wenn er den Grund nicht angeben will, weshalb er keinen Beitrag für den
  • »Zeitgenossen« zu liefern vermag. Sei zufrieden mit dem, was man dir
  • gibt. Wenn bloß die von mir namhaft gemachten Autoren dir Beiträge
  • liefern werden, so würde dies allein schon vollauf genügen. Aber ich
  • weiß, daß auch noch andere, die ich nicht genannt habe, dir welche zur
  • Verfügung stellen werden. Im Gegensatz zu den Menschen, die heute über
  • einen Mangel an talentvollen Schriftstellern klagen, finde ich, daß es
  • gegenwärtig weit mehr Talente gibt als je zuvor. Sie haben nur ihren Weg
  • noch nicht gefunden. Keiner von ihnen hat es bisher verstanden, _er
  • selbst_ zu sein, und das ist der Grund, warum man sie nicht bemerkt;
  • indessen viele von ihnen werden schon von diesem Wunsch gequält, obwohl
  • sie noch nicht wissen, wie sie ihn befriedigen sollen. Das Streben,
  • seine eigene Bestimmung kennen zu lernen, ist heutzutage der wunde
  • Punkt, an dem viele begabte Leute kranken. Das ist der wahre eigentliche
  • Grund der Trägheit und Tatenlosigkeit auf literarischem Gebiet.
  • Der poetische Teil des »Zeitgenossen« kann gleichfalls sehr reichhaltig
  • gestaltet werden, trotzdem im heutigen Publikum der Geschmack an der
  • Poesie erloschen zu sein scheint; Gott sei Dank lebt der Patriarch
  • unserer Poesie noch, -- noch hat uns der Himmel ja _Schukowski_
  • erhalten. Zum Dank für sein reines, makelloses Leben darf _er_ sich
  • allein unter uns allen noch im Greisenalter einer wahren Jugendfrische
  • erfreuen und jugendliche Kraft zu neuen poetischen Taten in sich fühlen.
  • Seine jetzigen Arbeiten sind weit ernster und bedeutsamer als seine
  • früheren. Man darf ihn nicht nach jenen Verserzählungen und Märchen
  • beurteilen, die in der letzten Zeit im »Zeitgenossen« zum Abdruck
  • gekommen sind. Sie konnten und sollten auch keinen Eindruck auf das
  • Publikum machen, und es ist kein Wunder, daß das Publikum, das jedes
  • neue Werk an seinen eigenen geistigen Bedürfnissen mißt und in ihm eine
  • Antwort auf sein unruhiges Fragen und Sehnen sucht, diese Gedichte für
  • eine »_Kinderei_« von Schukowski erklärt hat. Sie waren tatsächlich für
  • kleine Kinder geschrieben. Diese Märchen und Erzählungen hätten in Form
  • eines besonderen Buches unter dem Titel _»Eine Gabe für die Kinder« von
  • Schukowski_, erscheinen sollen. Es war ein Fehler von ihm, sie einer
  • Zeitschrift einzusenden. Ich habe ihm dies schon damals gesagt und ihm
  • geraten, entweder gar nichts oder doch nur etwas einzusenden, was dem
  • Empfinden eines erwachsenen Menschen entspricht. Jetzt aber weiß ich,
  • daß er dir für den Almanach einige von den Perlen überlassen wird, die
  • tief im Inneren seiner Seele gereift sind, in der sich während der
  • letzten Zeit soviel Herrliches ereignet hat. Noch leben Gott sei Dank
  • zwei andere von unseren erstklassigen Dichtern: Fürst Wjasemski und
  • Jasykow. Sie können den »Zeitgenossen« mit neuen Tönen bereichern, wie
  • man sie von ihnen noch nicht vernommen hat -- mit Tönen, die aus einem
  • gequälten, gepreßten Herzen hervorströmen, mit Liedern, die aus der
  • Seele selbst kommen, einer Seele, die sich bereits mit dem strengen
  • Gehalt der Poesie erfüllt hat.
  • Die jüngeren von unseren Dichtern, die erst in jüngster Zeit aufgetreten
  • sind und die ich hier nicht mit Namen nenne, haben zwar bisher nur eine
  • gewisse Begabung für eine wohllautende, leichte und elegante Verskunst
  • an den Tag gelegt, aber noch nicht gezeigt, daß sie echte und wahre
  • Gefühle besitzen, allein auch sie können poetische Saiten anschlagen,
  • die unserem Empfinden näher liegen. Die Poesie ist die reine
  • Manifestation, die Offenbarung der Seele und nicht ein künstliches
  • Erzeugnis oder Produkt des menschlichen Wollens; die Poesie ist die
  • Wahrheit der Seele und kann daher allen in gleicher Weise zugänglich und
  • verständlich sein. Die Schöpferkraft, die Dichtergabe ist eine sehr hohe
  • Gabe und wird nur den universellen Genies verliehen, die nur ganz selten
  • auf der Erde erscheinen; für einen anderen ist es gefährlich, diesen Weg
  • zu betreten. Selbst von den erstklassigen Talenten sanken viele unter
  • ihr eigenes Niveau herab, wenn sie sich in die Sphäre der reinen
  • Erdichtung wagten, während sogar geringe Talente sich hoch über sich
  • selbst erhoben, wenn sie durch ihre eigenen seelischen Erlebnisse dazu
  • veranlaßt wurden, lediglich die reine nackte Wahrheit ihres geistigen
  • Erlebens darzustellen. Die Zeit rückt immer näher, wo der Drang nach
  • einer inneren Seelenbeichte immer lebhafter und lebhafter werden wird.
  • Selbst die, die nicht einmal daran denken, daß sie Dichter sein könnten,
  • werden Töne wahrer Poesie erklingen lassen; viele herrliche Blumen,
  • viele kostbare Schätze werden dir von allen Seiten für deinen
  • »Zeitgenossen« zufließen. Du selbst, der du die Leier schon längst
  • beiseitegelegt und vergessen, der du es schon lange nicht mehr versucht
  • hast, ihr einen Ton zu entlocken, du selbst wirst von neuem zu ihr
  • greifen. Du hast doch sicherlich in dieser Zeit auch nicht wenig
  • schmerzliche Augenblicke und manchen Kummer erlebt, von dem niemand
  • etwas erfahren hat; auch _deine_ Seele wurde sicherlich von dem
  • Verlangen verzehrt, sich jemand mitzuteilen und sich auszusprechen, sie
  • hat sicherlich nach einem Freunde gesucht, der Verständnis für all ihre
  • Bitternisse hätte; da sie ihn nicht finden konnte, hat sie sich
  • sicherlich an jenes uns allen verwandte und vertraute Wesen gewandt, das
  • es allein versteht, den Trauernden und Bekümmerten liebevoll an seinen
  • Busen zu ziehen, jenes Wesen, an das sich schließlich alles wendet, was
  • da lebt. Nun denn, so denke an alle diese Augenblicke, sowohl an die des
  • Kummers, wie an die der höheren Tröstung, die auf dich herabgesandt
  • wurde; nun denn, so finde einen Ausdruck für sie, stelle sie recht und
  • wahrhaft dar, wie du sie erlebt hast. Die Tränen der Rührung und die
  • innigsten Gefühle eines dankbaren Herzens werden dir dabei zu Hilfe
  • kommen und es dir ermöglichen, sie mit solcher Kraft zum Ausdruck zu
  • bringen, wie dies selbst ein großer, alle Zauberkünste der Dichtung
  • beherrschender Poet, der jedoch den wahren Schmerz noch nicht kennen
  • gelernt hat, nie vermöchte. Dann wird der »Zeitgenosse« seinen Namen
  • rechtfertigen, aber freilich in einem anderen -- höheren Sinne: er wird
  • allen höchsten Augenblicken, allen höchsten Empfindungen der russischen
  • Schriftsteller und Menschen Genüge tun. Dann wird er sich auch dem
  • eigentlichen Ziele weit mehr nähern, das deinem Geiste unklar und
  • entfernt vorschwebte; er wird alle Schriftsteller zu einem ästhetischen
  • Bund voll herrlicher brüderlicher Liebe vereinen. In ganz Rußland
  • vermagst nur du so ein Wagnis zu unternehmen und eine solche Zeitschrift
  • zu schaffen, weil du allein den Gedanken an sie fortwährend in dir
  • genährt hast; nur du hast keine pekuniären Interessen im Auge gehabt und
  • an keinen Lohn für deine Arbeit gedacht; nur du hast ganz unbewußt eine
  • reine, kindliche Liebe zur Kunst in dir gehegt, die dich unseren besten
  • Dichtern entfremdete und die die Kunst zu deiner eigensten,
  • vertrautesten Herzens- und Familienangelegenheit machte. Folglich kann
  • auch nur dir eine solche Zeitschrift anvertraut werden. Sie muß glänzend
  • ausgestattet sein; sie muß eine in jeder Beziehung kostbare und
  • wertvolle Gabe darstellen: der Druck muß so schön und vornehm wie nur
  • möglich, die Bücher müssen mit den schönsten Stichen und Vignetten, die
  • bei uns in Rußland hergestellt werden können, geschmückt sein (damit
  • mußt du russische Graveure beauftragen und keine Ausländer heranziehen).
  • Das Format der Bände mußt du nicht zu groß wählen, es sollte nur ein
  • wenig größer sein als das der »Blüten des Nordens«, kurz, das Werk muß
  • seinem inneren Wert und seiner äußeren Ausstattung nach den Eindruck
  • eines kostbaren Gegenstandes machen. Das alles aber vermagst nur du zu
  • bewerkstelligen; denn da du nicht die Absicht hast, die Einkünfte davon
  • für deine eigenen Bedürfnisse und deinen Unterhalt zu verbrauchen,
  • kannst du alles darauf verwenden, das Werk möglichst schön auszustatten
  • und hierdurch unseren armen Künstlern, die häufig bitteres Elend leiden
  • müssen, Gelegenheit geben, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
  • Und nun gehe, wenn alles, was ich dir hier gesagt habe, deinen Beifall
  • hat, in Gottes Namen an die Arbeit, stelle zunächst einmal das erste
  • Buch des »Zeitgenossen« zusammen und sorge dafür, daß es am kommenden
  • Osterfeste des Jahres 1847 erscheinen kann; meinen Brief kannst du als
  • ersten Aufsatz, als Programm oder als Einleitung zu dem Bande abdrucken.
  • Vorher aber gib ihn allen denen zu lesen, von denen du einen Aufsatz
  • haben möchtest. So matt und flüchtig er auch geschrieben sein mag, ich
  • bin trotzdem davon überzeugt, daß ein jeder, der ihn lesen wird, mit dir
  • und mir darin übereinstimmen wird, daß ein solches Werk eine
  • Notwendigkeit für Rußland ist, und er wird dir sicherlich die beste
  • seiner Arbeiten zur Verfügung stellen. In den Zeitungen brauchst du es
  • nur mit wenigen Worten anzukündigen und zwar brauchst du nur zu
  • erwähnen, -- daß vom »Zeitgenossen« dreimal im Jahre, zu den oben
  • angeführten Terminen, je ein Band erscheinen werde; füge nur noch die
  • Namen der Autoren hinzu, deren Aufsätze zum Abdruck kommen sollen -- das
  • wird vollständig genügen. Alles übrige -- der Gehalt und die Bedeutung
  • der Aufsätze sowie die Pracht und Schönheit der Ausstattung -- mag für
  • jeden Leser eine angenehme Überraschung sein.
  • Die Beichte des Dichters
  • Alle sind sich darüber einig, daß noch nie ein Buch soviel Aufsehen
  • gemacht und zu so verschiedenen Meinungen und Deutungen Anlaß gegeben
  • hat, wie die »Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden«. Und was
  • das merkwürdigste ist, was bisher vielleicht in der Literatur noch
  • niemals passiert ist, der Gegenstand dieses Geredes und dieser Kritiken
  • war nicht das Buch selbst, sondern sein Autor. Jedes Wort wurde mit
  • Mißtrauen und Argwohn analysiert, und alle Leute wetteiferten
  • miteinander, die wahre Quelle aufzudecken, aus der es herstammte. An dem
  • lebenden Körper eines noch lebenden Menschen wurde jene furchtbare
  • anatomische Sektion vollzogen, bei der selbst ein Mensch von starker
  • Konstitution in kalten Schweiß ausbricht. So erschütternd und kränkend
  • jedoch für einen vornehm denkenden und anständigen Menschen viele von
  • diesen Schlüssen und Folgerungen auch sein mochten, ich nahm dennoch
  • alle die schwachen Kräfte, über die ich verfügte, zusammen, ich
  • beschloß, alles zu ertragen, mir dies Erlebnis wie einen Wink von oben
  • zunutze zu machen -- und strenge Einkehr in mich selbst zu halten. Auch
  • hierüber habe ich nie eine Meinung, einen Rat, einen Tadel oder einen
  • Vorwurf geringgeachtet und verschmäht, denn ich überzeugte mich mit der
  • Zeit immer mehr, daß, wenn der Mensch einmal alle jene empfindlichen
  • Saiten in sich vernichtet hat, die ihn zum Zorn und Ärger geneigt
  • machen, und wenn er sich erst einmal die Fähigkeit erworben hat, alles
  • ruhig anzuhören, er dann jene Stimme der rechten Mitte vernehmen muß,
  • die sich als Resultat ergibt, wenn man alle einzelnen Stimmen
  • zusammenfügt und die Extreme auf beiden Seiten in Erwägung zieht, kurz,
  • ich meine jene Stimme der rechten Mitte, von der es heißt: »Volkes
  • Stimme -- Gottes Stimme« und nach der alle suchen. Aber obwohl viele
  • Vorwürfe, die gegen mich gerichtet wurden, meiner Seele wirklich heilsam
  • waren, diese Stimme der Mitte konnte ich diesmal nicht vernehmen, und
  • ich vermag nicht zu sagen, welche Wendung die Sache genommen und welches
  • Urteil man über mein Buch zu fällen beschlossen hat. Wenn ich die Summe
  • von alledem ziehe, so sind im ganzen drei verschiedene Meinungen laut
  • geworden: nach der _ersten_ Ansicht ist mein Buch das Produkt eines
  • unerhörten Hochmuts, das Werk eines Menschen, der sich eingebildet hat,
  • er stünde hoch über allen seinen Lesern, habe ein Anrecht, von ganz
  • Rußland gehört und beachtet zu werden, und verfüge über die Kraft und
  • die Fähigkeit, die ganze Gesellschaft zu reformieren; nach der _zweiten_
  • Ansicht ist dies Buch zwar das Werk eines guten, aber betörten Menschen,
  • der auf Abwege geraten ist und dem das Lob und der Beifall zu Kopfe
  • gestiegen sind; der Autor habe sich gar zu sehr an seinen Vorzügen
  • berauscht, seine Begriffe haben sich verwirrt, und so sei er vom rechten
  • Wege abgekommen; nach der Ansicht der _dritten_ endlich ist dies Buch
  • das Werk eines Christen, der die Dinge im rechten Lichte sieht und jeder
  • Sache ihren richtigen Platz anweist. Unter jeder Partei, die eine dieser
  • Ansichten vertritt, befinden sich gleichermaßen gescheite und
  • aufgeklärte Leute, wie auch gläubige Christen. Folglich kann keine der
  • Ansichten, die sicherlich alle einen Teil der Wahrheit enthalten, --
  • _völlig_ wahr sein. Am richtigsten wäre es noch, dies Buch einen treuen
  • Spiegel des Menschen zu nennen. Dieses Buch hat das zum Inhalt, was in
  • jedem Menschen verborgen liegt: vor allem das Streben nach dem Guten,
  • dem das Buch selbst entsprungen, und das in jedem Menschen lebendig ist,
  • wenn er erst einmal erfahren hat, was das Gute ist; ferner eine
  • aufrichtige Erkenntnis seiner Fehler und daneben eine hohe Einschätzung
  • seiner Vorzüge; ein ehrliches Verlangen, von andern Menschen zu lernen,
  • und daneben die feste Überzeugung, daß auch die anderen viel von ihm
  • lernen können; Demut und Bescheidenheit, daneben aber auch Stolz, ja
  • vielleicht sogar ein gewisser Demutsstolz; Vorwürfe wider andere Leute
  • wegen solcher Dinge, an denen man selbst zu Fall gekommen ist und für
  • die man noch weit heftigere Vorwürfe verdiente -- kurz alles, was man in
  • der Seele jedes Menschen finden kann, nur mit dem Unterschiede, daß hier
  • alle Formen und Konventionen abgestreift sind, und daß alles, was der
  • Mensch in seinem Inneren verschließt, nach außen gekommen ist, sowie
  • ferner mit dem Unterschied, daß sich dies alles in weit wilderer und
  • lauterer Weise äußert und förmlich zum Himmel schreit, eben wie in einem
  • Schriftsteller, in dem sich alles, was seine Seele erfüllt, nach außen
  • und ans Licht drängt; es tritt allen Leuten viel klarer und deutlicher
  • vor Augen, eben wie bei einem Menschen, dem größere Gaben und
  • Fähigkeiten verliehen sind als anderen Leuten. Kurz, dies Buch ist nur
  • ein Beweis für die ewige Wahrheit der Worte des Apostels Paulus, der da
  • gesagt hat: der ganze Mensch ist eine einzige Lüge.
  • Zu diesem Schluß jedoch, der sich vielleicht der Wahrheit am meisten
  • nähert, ist niemand gekommen, weil der feierliche Ton des Buches und
  • seine ungewohnte Sprache alle mehr oder weniger verwirrt hat und niemand
  • das richtige Verhältnis zu ihm finden ließ. Als ich dies Buch schrieb,
  • stand ich unablässig unter dem Druck einer Todesfurcht, die mich während
  • der ganzen Zeit meines Krankseins verfolgte, selbst dann noch, als ich
  • mich außer jeder Gefahr befand. So kam es, daß ich ganz unmerklich in
  • einen mir sonst ganz fremden Ton verfiel, der einem noch lebenden
  • Menschen durchaus nicht ansteht. In meiner Angst, ich könnte vielleicht
  • das Werk nicht mehr vollenden, das während zehn Jahren alle meine
  • Gedanken beschäftigte, beging ich die Unvorsichtigkeit, schon im voraus
  • von solchen Dingen zu reden, die ich durch das Leben der Helden eines
  • epischen, erzählenden Kunstwerks hätte beweisen sollen. So verwandelten
  • sich meine Gedanken in eine recht unpassende Predigt, die sich im Munde
  • eines Autors sehr seltsam ausnimmt, in eine Anzahl mystischer,
  • unverständlicher Stücke, die keinen Zusammenhang mit den anderen Briefen
  • hatten. Dazu kam schließlich noch der völlig verschiedene Ton dieser
  • Briefe, die an Menschen von ganz verschiedenem Wesen und Charakter
  • gerichtet und zu verschiedenen Zeiten und in ganz entgegengesetzten
  • geistigen und seelischen Stimmungen geschrieben waren. Die einen von
  • ihnen waren in einer Zeit verfaßt, als ich selbst zu meiner Erziehung
  • des Tadels und der Rüge bedurfte, mir solche Rügen von anderen erbat und
  • forderte und sie daher auch anderen erteilte; andere Briefe wieder waren
  • zu einer Zeit geschrieben, als ich die Empfindung hatte, daß ich die
  • Vorwürfe für mich selbst aufsparen und in meinen an andere Leute
  • gerichteten Reden nur die brüderliche Liebe zum Worte kommen lassen
  • sollte: so geschah es, daß häufig Milde und Schärfe fast dicht
  • nebeneinander standen. Ferner sind viele Aufsätze, die für das Buch
  • bestimmt waren, die einen Zusammenhang zwischen einzelnen Stücken
  • herstellen und vieles näher erklären sollten, nicht aufgenommen worden.
  • Dazu kommt schließlich noch meine dunkle Sprache und Unfähigkeit, mich
  • auszudrücken, -- zwei Eigentümlichkeiten eines noch nicht ganz
  • ausgereiften und fertigen Schriftstellers --; das alles trug dazu bei,
  • mehr als einen Leser zu verwirren und zu zahllosen falschen Schlüssen
  • und Folgerungen Anlaß zu geben. Meinen Hochmut glaubte man gerade in
  • solchen Sätzen zu entdecken, die vielleicht ganz anderen Motiven
  • entsprungen waren; wo aber wirklicher Hochmut aus meinen Worten sprach,
  • da bemerkte man ihn nicht; man nannte _das_ Selbstverkleinerung, was
  • nichts weniger als Selbstverkleinerung war. Aber was die Hauptsache ist,
  • es gab keine zwei Menschen, die innerlich übereinstimmten, sowie sie an
  • die Analyse der einzelnen Teile dieses Buches herangingen, was einzelne
  • zu der sehr richtigen Bemerkung veranlaßte, daß ein jeder in der
  • Beurteilung meines Buches mehr seine eigene Denkungsart, als die meine,
  • als den Charakter meines Buches zum Ausdruck brachte. Es versteht sich
  • von selbst, daß die Schuld ganz -- auf meiner Seite ist. So kränkend
  • daher auch all diese Angriffe und Verdächtigungen seiner persönlichen
  • moralischen Qualitäten für einen Menschen sein mögen, in dem noch nicht
  • jedes Ehrgefühl erstorben ist, -- ich habe kein Recht, jemand deswegen
  • anzuklagen.
  • Ich muß hier noch ein paar flüchtige Bemerkungen über eine Frage machen,
  • die nicht mit meinen moralischen Qualitäten zusammenhängt. Ich war
  • äußerst erstaunt, wenn gescheite und kluge Leute Anstoß an Worten
  • nahmen, die doch völlig klar waren, wenn sie sich an zwei, drei Stellen
  • klammerten und Schlüsse aus ihnen zogen, die in absolutem Gegensatz zu
  • dem Geist des ganzen Werkes standen. Aus zwei, drei Worten, die an einen
  • Gutsbesitzer gerichtet waren, dessen sämtliche Bauern Landwirte und von
  • schweren Sorgen und Arbeiten in Anspruch genommen sind, den Schluß zu
  • ziehen, daß ich gegen die Volksbildung zu Felde ziehe -- das erschien
  • mir äußerst sonderbar, um so mehr als ich mich ein halbes Leben lang mit
  • dem Gedanken getragen habe, ein wahrhaft nützliches Buch für das
  • einfache Volk zu schreiben, und nur deswegen davon abstand, weil ich das
  • Gefühl hatte, man müsse sehr klug sein, um zu wissen, was man dem Volk
  • in erster Linie vorsetzen müsse. Solange es jedoch noch keine so
  • gescheiten Bücher gibt, wollte es mir so erscheinen, als ob das
  • lebendige Wort der Diener der Kirche mehr Nutzen bringen könne und ein
  • stärkeres Bedürfnis für die Bauern darstelle, als alles, was ihnen
  • unsereiner, d. h. ein Schriftsteller, zu sagen vermag. Soweit meine
  • Erinnerung reicht, bin ich stets für die Volksbildung eingetreten; aber
  • es schien mir so, als ob es besser wäre, ehe man für die Bildung des
  • Volkes sorgt, erst einmal für die Bildung der Menschen zu sorgen, die in
  • engstem Verkehr mit dem Volke stehen, worunter das Volk oftmals zu
  • leiden hat. Und endlich kam es mir so vor, als ob jener niedere wenig
  • zahlreiche, heute jedoch an Zahl immer zunehmende Stand von Leuten, die
  • aus dem Bauernstande hervorgehen, die allerhand kleine Stellen besetzen,
  • denen es trotz ihrer allerdings geringen Bildung an der rechten
  • moralischen Grundlage fehlt, und die daher überall nur Schaden stiften,
  • weil sie bestrebt sind, auf Kosten der armen Leute zu leben, -- es kam
  • mir so vor, als ob dieser Stand weit mehr Anspruch auf unsere Beachtung
  • hätte als der Bauernstand.
  • Dieser Stand schien mir weit mehr der Bücher zu bedürfen, die der Feder
  • kluger Schriftsteller entstammten, d. h. solcher Schriftsteller, die
  • Verständnis für ihre Pflichten haben und daher imstande sind, sie auch
  • jenen Leuten klarzumachen. Unser mit Ackerbau beschäftigter Bauer
  • dagegen schien mir stets weit sittlicher zu sein als die anderen Leute
  • und weniger als andere der Belehrung durch die Schriftsteller zu
  • bedürfen. Nicht weniger erstaunt war ich, als man aus einer Stelle
  • meines Buches, wo ich sage, daß die gegen mich gerichteten Kritiken viel
  • Wahres enthalten, den Schluß zog, ich spräche meinen Werken jegliche
  • Vorzüge ab und stimmte nicht mit den Kritikern überein, die sich zu
  • meinen Gunsten geäußert haben[2]. Ich erinnere mich sehr gut und habe es
  • keineswegs vergessen, daß meine geringen Vorzüge und Verdienste Anlaß zu
  • sehr bedeutsamen Kritiken gegeben haben, die ewige Denkmäler der
  • Kunstliebe bleiben werden und die dazu beigetragen haben, in den Augen
  • des Publikums den Wert und die Bedeutung dichterischer Werke zu erhöhen.
  • Aber es hätte sich doch nicht geschickt, wenn ich selbst von meinen
  • Vorzügen gesprochen hätte; ja und warum hätte ich das auch tun sollen?
  • Ich habe von den Fehlern gesprochen, die mir als Literaten anhaften,
  • weil eine psychologische Frage, die das Hauptthema meines Buches bildet,
  • Anlaß dazu bot. Wie kann man nur so etwas nicht verstehen! Nicht weniger
  • seltsam berührte es mich -- daß man daraus, daß ich die
  • Grundeigenschaften unseres russischen Wesens so stark betont und
  • hervorgehoben habe, den Schluß zog, ich leugnete die Notwendigkeit der
  • europäischen Bildung und hielt es für überflüssig, daß sich ein Russe
  • über den ganzen schweren Weg, auf dem die Menschheit sich zur
  • Vollkommenheit emporarbeitet, unterrichte. Früher sowohl als auch jetzt
  • war ich immer der Meinung, ein russischer Bürger müsse über die
  • europäischen Angelegenheiten unterrichtet sein. Aber ich war auch immer
  • überzeugt, daß, wenn man über diesem sehr löblichen glühenden Interesse
  • für die Fragen des Auslandes seine eigenen Grundlagen vergißt, eine
  • solche Kenntnis der ausländischen Dinge nicht zu unserem Wohl
  • ausschlagen, unsere Gedanken nur zerstreuen und verwirren, ihnen eine
  • falsche Richtung geben könne, statt sie in sich zu sammeln und zu
  • konzentrieren. Ich war von jeher davon überzeugt und bin es noch heute,
  • daß wir unser russisches Wesen sehr gut und sehr gründlich kennen lernen
  • müssen, und daß wir nur durch eine solche Kenntnis ein Gefühl dafür
  • bekommen können, was wir aus Europa entlehnen und uns aneignen sollen,
  • denn Europa selbst kann uns das nicht sagen. Mir ist es stets
  • vorgekommen, als ob wir, noch ehe wir etwas Neues bei uns einführen, das
  • Alte -- nicht nur oberflächlich sondern gründlich und in seiner Wurzel
  • -- kennen lernen müßten; denn sonst kann selbst die wohltätigste
  • Entdeckung der Wissenschaft nicht mit Erfolg angewendet werden. In
  • dieser Absicht habe ich in erster Linie von dem Alten gesprochen.
  • [Fußnote 2: Auf mein Testament hätte man sich nicht berufen dürfen: in
  • einem solchen beurteilt man sich sehr streng, weil man sich rüstet, vor
  • das Angesicht _Des_ Richters zu treten, vor Dem kein Mensch bestehen
  • kann.]
  • Kurz, alle diese einseitigen Folgerungen gescheiter Leute, die ich
  • überdies gar nicht für einseitig gehalten hatte, dieses Deuteln und am
  • Worte Hängenbleiben, statt sich an den Sinn und Geist des Buches zu
  • halten, beweisen mir nur, daß niemand sich bei der Lektüre meines Buches
  • in einer ruhigen Gemütsstimmung befand; daß sich schon ein bestimmtes
  • Vorurteil herausgebildet hatte, noch ehe das Buch erschienen war, und
  • daß jedermann es bereits von einem festen vorher eingenommenen
  • Standpunkt betrachtete; so kam es, daß alle nur das bemerkten, was sie
  • in ihrem Vorurteil bestärkte und reizte, und an allem vorübergingen, was
  • geeignet war, dies Vorurteil zu zerstören und den Leser zu beruhigen.
  • Diese seltsame Gereiztheit hatte einen so hohen Grad erreicht, daß sie
  • sogar alle Gesetze des Anstandes außer acht ließ, die man bisher einem
  • Schriftsteller gegenüber noch zu beobachten pflegte. Man sagte es dem
  • Verfasser beinahe ins Gesicht, daß er verrückt geworden sei, und man
  • empfahl ihm allerlei Rezepte gegen seine geistige Zerrüttung. Ich kann
  • nicht leugnen, daß es mich noch mehr betrübt hat, wenn ebenfalls
  • gescheite und nicht einmal sehr erregte und gereizte Leute öffentlich in
  • der Presse erklären, mein Buch enthalte nichts Neues, und wenn es etwas
  • Neues darin gäbe, so sei es nicht wahr, sondern unrichtig und unwahr.
  • Das erschien mir sehr hart. Wie es sich auch immer damit verhalten möge,
  • das Buch enthielt meine Seelenbeichte, es war der Erguß meines Herzens
  • und meines Inneren. Noch bin ich nicht öffentlich für einen ehrlosen
  • Menschen erklärt worden, dem man kein Vertrauen schenken darf. Ich kann
  • Fehler machen, ich kann mich irren wie jeder Mensch, ich kann eine
  • Unwahrheit sagen, wie ja der ganze Mensch -- eine einzige Lüge ist; aber
  • alles, was meinem Herzen und meiner Seele entströmt ist, eine Lüge zu
  • nennen -- das ist zu hart. Das ist ebenso ungerecht wie die Behauptung,
  • daß mein Buch nichts Neues enthalte. Die Bekenntnisse eines Menschen,
  • der mehrere Jahre ganz für sein inneres Ich gelebt hat, nur mit sich
  • selbst beschäftigt war, der sich selbst zu erziehen versucht hat wie
  • einen Schüler, um sich einen wenn auch späten Ersatz für die in seiner
  • Jugend verlorene Zeit zu schaffen, der überdies den andern Menschen
  • nicht völlig gleicht, sondern gewisse Eigenschaften besitzt, die ihm
  • allein angehören -- die Bekenntnisse eines solchen Menschen können
  • unmöglich so gar nichts Neues enthalten. Wie dem aber auch sei, in einer
  • Angelegenheit, an der die Seele beteiligt ist, darf man kein so
  • entscheidendes Urteil fällen. Einem solchen Fall gegenüber wird selbst
  • der tiefste Seelenkenner nachdenklich werden müssen. In Angelegenheiten,
  • die die Seele betreffen, ist es sogar schwierig, über einen gewöhnlichen
  • Menschen zu richten. Es gibt Dinge, die sich der kühlen Erwägung, dem
  • Räsonnement eines Menschen entziehen, selbst wenn dieser noch so klug
  • sein sollte, und die man nur in solchen Augenblicken und in einer
  • solchen Seelenstimmung versteht, wo unsere eigene Seele das Bedürfnis zu
  • einer Aussprache, zu einer Beichte hat, wo sie Verlangen trägt, in sich
  • zu gehen und nicht über andere, sondern über sich selbst Gericht zu
  • halten. Kurz, die große Sicherheit, mit der diese Urteile gefällt
  • wurden, schien mir von dem großen Selbstvertrauen des Urteilenden zu
  • zeugen -- von seinem stolzen Vertrauen auf seine Vernunft und die
  • Überlegenheit seiner Ansicht. Ich sage das hier nicht deswegen, um
  • jemand zu tadeln, sondern nur, um darauf hinzuweisen, wie wir bei jedem
  • Schritt Gefahr laufen, in denselben Fehler zu verfallen, den wir soeben
  • erst bei einem unserer Brüder gerügt haben; wie wir, indem wir einem
  • anderen sein hochmütiges Selbstvertrauen zum Vorwurf machen, zugleich
  • durch unsere eigenen Worte einen Beweis für unseren eigenen Hochmut und
  • unser Selbstvertrauen liefern; wie wir, während wir einem anderen
  • Intoleranz vorwerfen, zugleich selbst unduldsam und kleinlich werden.
  • Jedenfalls zeugt es von einer vornehmen Gesinnung, wenn jemand den Mut
  • hat, dies einzugestehen, und sich nicht schämt, öffentlich und vor allen
  • Leuten zu erklären, er habe sich geirrt. Aber genug davon. Nicht um
  • meine moralischen Qualitäten zu verteidigen, erhebe ich hier meine
  • Stimme. Nein, ich halte es lediglich für meine Pflicht, auf eine Frage
  • zu antworten, die fast einstimmig von seiten sämtlicher Leser aller
  • meiner früheren Werke an mich gerichtet worden ist -- auf die Frage
  • nämlich: warum ich jene literarische Gattung und jene Sphäre aufgegeben
  • habe, die ich einmal in Besitz genommen hatte und die ich beherrschte,
  • über die ich fast Herr war, und warum ich mich einem neuen, mir fremden
  • Genre zuwandte.
  • Um auf diese Frage zu antworten, habe ich mich entschlossen, offenherzig
  • und in möglichster Kürze die ganze Geschichte meiner literarischen
  • Tätigkeit zu erzählen, um einem jeden Gelegenheit zu geben, mich
  • gerechter zu beurteilen. Der Leser soll sehen können, ob ich die Sphäre
  • meines Schaffens wirklich gewechselt und ob ich auf eigene Verantwortung
  • zu grübeln und klügeln begonnen habe, in der Absicht, meinem Schaffen
  • eine andere Richtung zu geben; man wird anerkennen müssen, daß sich an
  • meinem Schicksal wie an allen anderen Dingen der Eingriff Dessen
  • offenbart, Der über die Welt gebietet, und zwar nicht immer so, wie
  • _wir_ dies wünschen, und gegen Den der Mensch nicht anzukämpfen vermag.
  • Vielleicht wird meine treuherzige Geschichte wenigstens etwas davon
  • erklären, was vielen in meinem vor kurzem veröffentlichten Buche als ein
  • so unlösliches Rätsel erscheint. Wenn dies der Fall sein sollte, so
  • würde mich das aufrichtig freuen, weil diese ganze merkwürdige
  • Angelegenheit mich sehr mürbe und müde gemacht hat, und weil es mir nach
  • diesem Wirbelsturm von Mißverständnissen sehr schwer ums Herz ist.
  • Ich kann nicht mit voller Bestimmtheit sagen, ob der Schriftstellerberuf
  • mein eigentlicher Beruf ist. Ich weiß nur das eine: daß in den Jahren,
  • als ich über meine Zukunft nachzudenken begann (und ich begann schon
  • sehr früh über meine Zukunft nachzudenken, d. h. zu einer Zeit, als alle
  • meine Altersgenossen nur ans Spielen dachten), daß mir damals der
  • Gedanke, ich könnte Schriftsteller werden, nie in den Sinn kam, obwohl
  • es mir immer so schien, daß ich noch einmal ein berühmter Mann werden
  • könnte, daß mir ein großes weites Wirkungsfeld offen stände und daß ich
  • einmal etwas für das allgemeine Wohl leisten würde. Ich dachte einfach,
  • ich würde mich empordienen und dies alles würde mir durch den
  • Staatsdienst gelingen. Daher hatte ich in meiner Jugend eine sehr starke
  • Neigung für den Staatsdienst. Mein Kopf war beständig davon erfüllt, und
  • alles, was ich tat und womit ich mich beschäftigte, tat ich im Hinblick
  • darauf. Meine ersten Versuche, meine ersten dichterischen Experimente,
  • in denen ich es während der letzten Schuljahre zu einer gewissen
  • Fertigkeit brachte, hatten fast alle einen ernsten und lyrischen
  • Charakter. Weder ich selbst, noch meine Schulkameraden, die sich mit mir
  • in der Schriftstellerei versuchten, dachten je daran, daß ich einmal ein
  • komischer und satirischer Autor werden könnte, obwohl ich trotz meiner
  • melancholischen Naturanlage oft zum Scherzen aufgelegt war und sogar
  • andere Leute mit meinen Späßen belästigte, und obgleich sich schon in
  • meinen frühesten Urteilen über die Menschen eine gewisse Fähigkeit,
  • bestimmte charakteristische Eigenheiten sowie gröbere und feinere und
  • komische Charakterzüge, die von anderen nicht bemerkt werden, zu
  • entdecken, bemerkbar machte. Man sagte, ich verstünde es, -- ich möchte
  • nicht sagen, die Menschen _nachzuäffen_ oder zu parodieren, -- sondern
  • sie zu _erraten_, d. h. zu erraten, was ein Mensch in dieser oder jener
  • Situation sagen würde, unter völliger Wahrung seiner Anschauungsweise,
  • seiner Denkart sowie seiner Art, sich auszudrücken. Aber ich brachte
  • dies alles nicht zu Papier, ja ich dachte gar nicht einmal daran, daß
  • ich diese Fähigkeit noch einmal verwerten würde.
  • Die heitere fröhliche Stimmung, die sich in den ersten Schriften, die
  • von mir im Druck erschienen, bemerkbar machte, hatte ihren Grund in
  • einem gewissen seelischen Bedürfnis. Ich hatte oft unter Anfällen einer
  • mir selbst völlig unerklärlichen Melancholie zu leiden, die vielleicht
  • eine Folge meines krankhaften Zustandes war. Um mich zu zerstreuen,
  • dachte ich mir die komischsten Dinge aus, die sich nur ersinnen lassen.
  • Ich stellte mir komische Personen und Charaktere vor, die ich völlig aus
  • dem Kopfe erfand, und versetzte sie in Gedanken in die komischsten
  • Situationen, ohne mir viele Sorgen zu machen, wozu das gut sei und was
  • für einen Nutzen das haben könne. Es war die Jugend in mir, die mich
  • dazu veranlaßte, die Jugend, der ja noch keinerlei Fragen durch den Kopf
  • gehen. Das ist der Ursprung meiner ersten Werke, die die einen
  • ebensosehr zu einem sorglosen naiven Lachen reizten, wie mich selbst,
  • während sich andere erstaunt fragten, wie einem vernünftigen Menschen
  • nur solche Torheiten einfallen konnten. Vielleicht hätte diese
  • Lustigkeit allmählich und zugleich mit dem Bedürfnis nach Zerstreuung
  • aufgehört, ebenso wie meine schriftstellerische Tätigkeit. Allein
  • Puschkin veranlaßte mich, diese Sache ernster anzusehen. Er hatte mich
  • schon längst dazu zu überreden gesucht, ich sollte ein großes Werk in
  • Angriff nehmen, und als ich ihm einmal den kurzen Entwurf einer kleinen
  • Szene vorlas, der jedoch einen weit stärkeren Eindruck auf ihn machte,
  • als alles, was ich ihm bis dahin vorgelesen hatte, sagte er zu mir: »Wie
  • ist es nur möglich, daß Sie bei dieser Fähigkeit, den Charakter eines
  • Menschen zu erraten und durch wenige Züge ganz vor einem erstehen zu
  • lassen, wie er leibt und lebt, -- wie ist es nur möglich, daß Sie sich
  • bei dieser Fähigkeit nicht entschließen, ein großes Werk zu schreiben!
  • Das ist einfach eine Sünde!« Hierauf hielt er mir meine schwächliche
  • Konstitution und meine körperlichen Gebrechen vor, die meinem Leben früh
  • ein Ziel setzen könnten; er führte das Beispiel des Cervantes an, der
  • zwar bereits früher ein paar ausgezeichnete, vortreffliche Erzählungen
  • verfaßt hatte, jedoch niemals _die_ Stelle unter den Schriftstellern
  • einnehmen würde, die er heute inne hat, wenn er sich nicht entschlossen
  • hätte, den Don Quijote zu schreiben, und schließlich trat er mir sein
  • eigenes Sujet ab, aus dem er eine Art Poem hatte machen wollen und das
  • er, wie er mir sagte, keinem anderen außer mir überlassen hätte. Dieser
  • Stoff waren »Die toten Seelen«. (Die Idee zum »Revisor« stammt
  • gleichfalls von ihm.) Diesmal wurde auch ich ernstlich nachdenklich --
  • um so mehr, als ich bereits in die Jahre zu kommen begann, wo man sich
  • bei jeder Tat, die man vollbringen will, ganz von selbst die Frage
  • vorlegt: warum und zu welchem Zweck willst du dies tun? Ich erkannte,
  • daß ich in meinen Werken sinnlose Scherze trieb und spottete, ohne
  • eigentlich zu wissen, wozu ich das tat. Wenn man schon spottet, so ist
  • es doch besser, man lacht und spottet kraftvoll und über Dinge, die
  • wirklich den allgemeinen Spott verdienen. Im »Revisor« wollte ich alles
  • Schlechte und Häßliche, das es in Rußland gibt, soweit es mir damals
  • bekannt war, zusammentragen und anhäufen, alle Mißbräuche, die an allen
  • den Stellen und in allen den Fällen vorkommen, wo gerade Gerechtigkeit
  • und Redlichkeit vom Menschen verlangt werden, und dies alles auf einmal
  • verspotten. Die Wirkung war bekanntlich eine furchtbare, erschütternde.
  • Durch das Gelächter hindurch, das sich mir noch nie mit einer solchen
  • Gewalt entrungen hatte, vernahm der Leser etwas wie Kummer und Schmerz.
  • Ich selbst fühlte, daß mein Lachen nicht mehr das Lachen von ehedem war,
  • daß ich in meinen Werken nicht mehr derselbe sein konnte, der ich früher
  • war, und daß das Bedürfnis, mich durch harmlose heitere Szenen zu
  • zerstreuen, zugleich mit meinen jungen Jahren verschwunden war. Nach dem
  • Revisor empfand ich mehr denn je das Bedürfnis, ein umfassendes Werk zu
  • schreiben, das mehr enthielt als lediglich Dinge, über die man lachen
  • mußte. Puschkin fand, daß der Stoff der »Toten Seelen« sich gerade darum
  • so gut für mich eignete, weil er eine vortreffliche Gelegenheit bot,
  • ganz Rußland in Gesellschaft des Helden nach allen Richtungen zu
  • durchqueren und eine ganze Reihe völlig verschiedener Charaktere an uns
  • vorüberziehen zu lassen. Ich ging ans Werk und fing an zu schreiben,
  • ohne mir einen detaillierten Plan ausgearbeitet und ohne mir darüber
  • Rechenschaft gegeben zu haben, was für ein Mensch mein Held eigentlich
  • sein mußte. Ich dachte mir einfach, daß der komische Plan, mit dessen
  • Durchführung Tschitschikow beschäftigt war, mir schon von selbst die
  • Idee zu allerhand verschiedenen Personen und Charakteren eingeben und
  • daß die Spott- und Lachlust, die sich in mir regte, schon von selbst
  • eine Reihe von komischen Momenten und Phänomenen erzeugen würde, die ich
  • mit rührenden Elementen mischen wollte. Aber bei jedem Schritt, den ich
  • tat, mußte ich mir die Frage vorlegen: welchen Sinn? welchen Zweck hat
  • das? was soll dieser Charakter zum Ausdruck bringen? was hat diese
  • Erscheinung zu bedeuten? Es fragt sich nun: was soll man tun, wenn sich
  • einem derartige Fragen aufdrängen? Soll man sie verscheuchen? Ich
  • versuchte es damit; allein da erstanden Fragen vor mir, denen ich mich
  • nicht zu entziehen vermochte. Da ich nichts von einer Nötigung empfand,
  • meinen Helden gerade zu solch einem Menschen und zu keinem anderen zu
  • machen, konnte ich auch keine Liebe für die Aufgabe empfinden, ihn
  • darzustellen. Im Gegenteil, ich empfand etwas wie Ekel davor: alles kam
  • gewaltsam und gezwungen heraus, und sogar das, worüber ich lachte,
  • wirkte traurig und deprimierend.
  • Ich sah mit voller Klarheit ein, daß ich nicht mehr ohne einen ganz
  • bestimmten und klaren Plan zu schreiben vermochte, daß ich mir erst
  • selbst den Zweck meines Werks völlig deutlich machen, mir über seinen
  • wirklichen Nutzen und seine Notwendigkeit klar werden müßte, was erst
  • den Dichter mit einer starken und wahren Liebe für sein Werk erfüllt,
  • die alles belebt und ohne die die Arbeit nicht vorwärtsschreitet --
  • kurz, daß der Autor das Gefühl und die Überzeugung haben muß: indem er
  • an seinem Werk arbeite, erfülle er gerade _die_ Pflicht, die seine
  • irdische Bestimmung ausmache, und für die ihm alle seine Gaben und
  • Fähigkeiten verliehen seien, und indem er diese Pflicht erfülle, diene
  • er zugleich seinem Staate, wie wenn er tatsächlich im Staatsdienst
  • stünde. Der Gedanke an den Staatsdienst verließ mich nie. Ehe ich den
  • Schriftstellerberuf wählte, wechselte ich mehrmals meine Tätigkeit und
  • meine Stellung, um zu erfahren, für welchen Beruf ich mich am besten
  • eignete, aber ich war weder mit dem Dienst noch mit mir selbst, noch mit
  • denen zufrieden, die meine Vorgesetzten waren. Ich wußte damals noch
  • nicht, wie viel mir dazu fehlte, um dem Staate so dienen zu können, wie
  • ich ihm dienen wollte. Ich wußte damals nicht, daß man dazu jede
  • persönliche Empfindlichkeit, Eitelkeit und Selbstüberhebung in sich
  • besiegen müsse und keinen Augenblick vergessen dürfe, daß man seine
  • Stellung nicht um seines persönlichen Glückes, sondern um des Wohles
  • vieler solcher willen innehat, die da unglücklich werden würden, wenn
  • ein edler Mann seinen Posten im Stiche läßt, und daß man allen
  • persönlichen Kummer und alle Kränkungen vergessen müsse. Ich wußte
  • damals noch nicht, daß der, der Rußland wahrhaft und ehrlich dienen
  • will, sehr viel Liebe für sein Vaterland besitzen muß, eine Liebe, die
  • alle anderen Gefühle in sich aufgesogen hat, daß man sehr viel Liebe für
  • den Menschen im allgemeinen besitzen und ein wahrhafter Christ im vollen
  • Sinn dieses Wortes sein muß. Daher ist es auch kein Wunder, wenn ich,
  • der ich diese Eigenschaften nicht besaß, auch meinen Dienst nicht so
  • ausüben konnte, wie ich es wollte, obwohl ich tatsächlich förmlich
  • darauf brannte, meinem Lande ehrlich zu dienen. Sowie ich jedoch fühlte,
  • daß ich dem Staate auch als Schriftsteller zu dienen vermag, gab ich
  • alles andere auf: meine früheren Stellen, Petersburg, die Gesellschaft,
  • die meinem Herzen nahestehenden Freunde, ja sogar Rußland, um in der
  • Fremde und in der Einsamkeit fern von allen Menschen zu erwägen, wie ich
  • es durchführen, wie ich mein Werk so gestalten, wie ich mit ihm den
  • Beweis liefern könnte, daß ich gleichfalls ein Bürger meines Vaterlandes
  • gewesen bin, und daß ich ihm hatte dienen wollen. Je mehr ich über mein
  • Werk nachdachte, um so mehr fühlte ich, daß ich die Charaktere nicht auf
  • gut Glück wählen durfte, wie sie sich mir gerade darboten, sondern nur
  • solche Menschen darstellen mußte, an denen sich unsere wahren
  • wesenhaften russischen Charakterzüge am stärksten und deutlichsten
  • offenbarten. Ich wollte in meinem Werk vor allem jene höheren Züge der
  • russischen Natur darstellen, die noch nicht von allen richtig
  • eingeschätzt werden, sowie ferner und in erster Linie jene gemeinen und
  • niedrigen Charaktereigenschaften, die von allen noch nicht genügend
  • verlacht und gegeißelt werden. Ich wollte nur die hervorstechendsten
  • charakteristischen psychologischen Phänomene zusammentragen und meine
  • Beobachtungen über die Menschen zusammenfassen, die ich seit langen
  • Jahren insgeheim gemacht hatte und die ich nur noch nicht dem Papier
  • hatte anvertrauen wollen, da ich mir bewußt war, noch nicht die rechte
  • Reife erworben zu haben; denn diese Beobachtungen konnten, richtig
  • dargestellt, viel zur Enträtselung mancher Seiten unseres Lebens
  • beitragen, kurz -- ich wollte, daß dem Leser bei der Lektüre meines
  • Buches der russische Mensch, mit all seinen reichen mannigfaltigen Gaben
  • und Fähigkeiten, die _ihm_ allein im Unterschiede von den anderen
  • Völkern verliehen waren, aber auch mit der ganzen großen Menge von
  • Fehlern, die ihm gleichfalls im Unterschied von den anderen Völkern
  • eigen sind, vor Augen treten sollte. Ich glaubte, die lyrische Kraft,
  • von der ich einen genügenden Vorrat besaß, würde mir helfen, diese
  • Vorzüge so darzustellen, daß der Russe von einer heißen Liebe zu ihnen
  • entbrennen würde, und die Gewalt des Lachens, von der ich gleichfalls
  • einen genügenden Vorrat mein eigen nannte, würde es mir ermöglichen,
  • seine Fehler und Mängel in so leuchtenden Farben zu schildern, daß den
  • Leser ein tiefer Haß gegen sie erfassen würde, selbst wenn er sie in
  • sich selbst entdecken sollte. Aber ich fühlte zugleich, daß ich dies
  • alles nur dann vollbringen könnte, wenn ich mir selbst völlig darüber
  • klar geworden war, was nun die wirklichen Vorzüge unseres Wesens und
  • welches seine wahren Mängel und Fehler sind. Man muß sich beides genau
  • überlegen und es gegeneinander abschätzen, man muß es sich ganz
  • klarmachen, um nicht eine unserer Schwächen in eine Tugend zu verwandeln
  • und nicht zugleich mit unseren Fehlern auch unsere Vorzüge dem Gelächter
  • preiszugeben. Ich wollte meine Kraft nicht unnütz vergeuden. Seitdem man
  • mir vorwarf, ich spottete nicht nur über die Fehler, sondern über die
  • Menschen, die gewisse Schwächen haben, im allgemeinen, und nicht nur
  • über den _ganzen_ Menschen, sondern auch über seine Stellung und das
  • Amt, das er innehat (was mir nie auch nur in Gedanken eingefallen ist),
  • da sah ich ein, daß man sehr vorsichtig mit dem Spott umgehen müsse --
  • um so mehr, da er ansteckend wirkt; ein witziger Mensch braucht nur
  • irgendeine Seite einer Sache ins Lächerliche zu ziehen, damit die
  • Dümmsten und Stumpfsinnigsten sofort über deren sämtliche Seiten lachen.
  • Kurz, es wurde mir so klar wie der Satz: zwei mal zwei ist vier, daß ich
  • nicht eher an die Arbeit gehen durfte, als bis ich mir ganz genau
  • darüber klar geworden war, worin das Hohe und das Gemeine, worin die
  • Vorzüge und die Mängel unseres russischen Wesens bestehen; um sich
  • jedoch über das russische Wesen klar zu werden, muß man zunächst die
  • menschliche Natur und die Seele des Menschen im allgemeinen kennen
  • lernen: ohne dies wird man nie den richtigen Standpunkt finden, von dem
  • aus einem die Vorzüge und Mängel eines jeden Volkes deutlich sichtbar
  • werden.
  • Seit dieser Zeit wurden der Mensch und die Seele des Menschen mehr denn
  • je Gegenstand meines Studiums. Ich wandte mich für eine Zeitlang
  • gänzlich von der Gegenwart ab: ich hatte vor allem das Interesse, jene
  • ewigen Gesetze kennen zu lernen, die den Menschen und die Menschheit im
  • allgemeinen beherrschen. Die Werke der Gesetzgeber, der Seelenforscher
  • und Erforscher der menschlichen Natur wurden von nun ab meine Lektüre.
  • Mich begann alles zu interessieren, worin sich eine gewisse
  • Menschenkenntnis und eine Kenntnis der Menschenseele offenbarte, von dem
  • Wissen eines Weltmannes bis zu dem eines Anachoreten und Einsiedlers,
  • und auf diesem Wege sah ich mich ganz unmerklich und beinahe ohne daß
  • ich selbst wußte, wie dies geschah, zu Christus geführt, denn ich sah,
  • daß er der Schlüssel zur Seele des Menschen war, und daß noch kein
  • Seelenkenner sich je auf jene Höhe der Seelenkenntnis erhoben hatte, die
  • er erreicht hat. Ich prüfte alles mit dem Verstande nach und überzeugte
  • mich so davon, was anderen durch den Glauben völlig klar ist und was ich
  • bisher nur dunkel und unbestimmt geahnt hatte. Und zu demselben Ergebnis
  • brachte mich die Analyse meiner eigenen Seele: ich sah mit
  • mathematischer Klarheit ein, daß man auf Grund von Vorstellungen unserer
  • Einbildungskraft nicht über die höheren Regungen und Gefühle des
  • Menschen reden und schreiben könne; man muß wenigstens etwas davon in
  • sich selbst tragen -- kurz, man muß zuvor selbst besser werden. Das mag
  • sehr sonderbar erscheinen, besonders denen, die in ihrer Jugend eine
  • gründliche und umfassende Bildung genossen haben. Ich muß jedoch sagen,
  • daß ich in der Schule eine recht schlechte Erziehung erhalten hatte, und
  • daher ist es kein Wunder, daß der Gedanke, ich müßte noch etwas lernen,
  • sich mir erst in reiferem Alter aufdrängte. Ich begann mein Studium mit
  • so elementaren Büchern, daß ich mich geradezu schämte, anderen Menschen
  • zu verraten, womit ich mich beschäftigte, ja, ich suchte es vor ihnen zu
  • verheimlichen. Ich begann nunmehr nicht so sehr beim Studium von Büchern
  • -- als vielmehr bei meinen einfachen sittlichen Übungen auf mich zu
  • achten, wie ein Lehrer auf seinen Schüler, und ich betrachtete mich
  • selbst als Lehrling. Ich habe auch etwas von diesen Experimenten, die
  • ich an mir selbst vollzog, in das Buch meiner Briefe aufgenommen, nicht
  • etwa, um damit zu prahlen (ich wüßte auch nicht, womit man hier prahlen
  • könnte!), sondern in der allerbesten Absicht: vielleicht konnte jemand
  • Nutzen daraus ziehen. Ich war fest davon überzeugt, daß viele gleich mir
  • eine schlechte Schulbildung genossen haben, plötzlich zur Besinnung
  • kommen und den ehrlichen Wunsch fassen konnten, das Verlorene
  • nachzuholen und wieder gutzumachen. Ich hatte oft gehört, daß viele sich
  • darüber beklagten, sie könnten sich nicht mehr von ihren schlechten
  • Gewohnheiten befreien, trotz des heißesten Wunsches, sie loszuwerden.
  • Ich nahm dies also in mein Buch auf, nachdem ich es, so gut es ging, dem
  • übrigen angepaßt hatte, aber ich nahm es erst auf, nachdem ich mich
  • durch die Erfahrung davon überzeugt hatte, daß sich manches davon
  • verschiedenen Personen, die ich kannte, heilsam erwiesen hatte. Denen
  • jedoch, die es mir zum Vorwurf machen, daß ich mein ganzes Innere zur
  • Schau gestellt habe, kann ich erwidern, daß ich immerhin noch kein
  • Mönch, sondern ein Schriftsteller bin. Ich habe in diesem Falle so
  • gehandelt, wie alle Schriftsteller, die ausgesprochen haben, was ihre
  • Seele bedrückte. Wenn Karamsin während seiner schriftstellerischen
  • Tätigkeit ein ähnliches Erlebnis gehabt hätte, er hätte es sicherlich in
  • derselben Weise zum Ausdruck gebracht. Aber Karamsin hatte in der Jugend
  • eine gute Erziehung genossen. Er eignete sich erst die Bildung an, die
  • dazu gehört, um ein Mensch und ein Bürger zu sein, ehe er als
  • Schriftsteller auftrat. Mir ging es anders. Ich konnte mir nicht denken,
  • daß jemand daran Anstoß nehmen könnte, wenn ich öffentlich erklärte, ich
  • strebte danach, besser zu sein als ich bin. Ich finde nichts Anstößiges
  • dabei, daß ein Mensch sich qualvoll danach sehnt und im Angesichte aller
  • Menschen von dem Verlangen, vollkommen zu sein, verzehrt wird, wenn doch
  • selbst Gottes Sohn vom Himmel zu uns herabgestiegen ist, um uns zu
  • sagen: »Seid vollkommen wie unser Vater im Himmel!«
  • Was endlich den Vorwurf anbelangt, daß ich in meinem Buch, nur um mit
  • meiner Demut und Bescheidenheit zu prahlen, eine Selbstverkleinerung an
  • den Tag gelegt hätte, die schlimmer sei als jeder Stolz und Hochmut, so
  • muß ich darauf erwidern, daß bei mir weder von Selbstverkleinerung noch
  • Demut die Rede ist. Wer solches aus meinem Buche herausgelesen hat, hat
  • sich durch die Ähnlichkeit gewisser Kennzeichen und Merkmale täuschen
  • lassen. Ich kam mir in der Tat widerwärtig vor, aber nicht etwa aus
  • Demut, sondern weil sich in meinem Geiste mit der Zeit immer deutlicher
  • das Ideal des schönen Menschen herausarbeitete, jenes herrliche Vorbild
  • des Menschen, wie er sich hier auf Erden darstellen sollte, und wenn ich
  • daran dachte, so ergriff mich jedesmal ein Ekel vor mir selbst. Das aber
  • ist nicht Demut, sondern eher ein Gefühl, das ein neidischer Mensch hat,
  • wenn er sieht, daß ein anderer einen besseren und schöneren Gegenstand
  • in Händen hält, als er selbst, den seinen wegwirft und nichts mehr von
  • ihm wissen will. Dazu hatte ich das Glück gehabt, während meines Lebens,
  • besonders aber während der letzten Zeit, einige Menschen kennen zu
  • lernen, deren geistige und seelische Qualitäten mir so groß erschienen,
  • daß meine eigenen daneben verblaßten, und ich zürnte mir immerfort, weil
  • ich das nicht besaß, was andere besaßen. Man hätte also höchstens das
  • Recht, meinen mißgünstigen und neidischen Charakter im allgemeinen
  • verantwortlich zu machen und anzuklagen.
  • Aber ich will zu meiner Lebensgeschichte zurückkehren. Eine Zeitlang
  • waren also der Gegenstand meiner Studien nicht Rußland und die Menschen
  • in Rußland, sondern der Mensch und die menschliche Seele im allgemeinen.
  • Alles führte mich in dieser Zeit auf die Erforschung der Gesetze unserer
  • Seele hin: mein eigener Seelenzustand und endlich auch die äußeren
  • Verhältnisse, über die wir keine Macht haben und die mich jedesmal gegen
  • meinen Willen veranlaßten, mich wieder meinem Gegenstand zuzuwenden,
  • sowie ich ihn einmal verlassen hatte. Mehrmals griff ich zur Feder, weil
  • man mir den Vorwurf machte, ich täte nichts; ich wollte mich gewaltsam
  • dazu zwingen, etwas zu schreiben, sei es nun eine kleine Erzählung oder
  • irgendeinen literarischen Essay, aber ich vermochte durchaus nichts zu
  • produzieren. Alle meine Anstrengungen endigten meist mit Unwohlsein,
  • schweren Leiden und schließlich sogar mit solchen Anfällen, die mich
  • dazu nötigten, jede Beschäftigung für lange Zeit gänzlich aufzugeben.
  • Was sollte ich tun? War ich etwa schuld daran, daß ich nicht imstande
  • war, nochmals zu wiederholen, was ich schon einmal in jüngeren Jahren
  • gesagt und geschrieben hatte? Als ob es im Menschenleben einen doppelten
  • Frühling gibt! Und wenn jeder Mensch beim Übergang aus einem Lebensalter
  • in das andere unvermeidlich eine solche Verwandlung durchmachen muß,
  • warum soll allein der Schriftsteller eine Ausnahme davon machen? Ist
  • denn der Schriftsteller nicht auch nur ein Mensch? Ich wich nicht von
  • meinem Wege ab. Ich verfolgte meinen Pfad immer weiter. Ich behielt
  • immer denselben Gegenstand im Auge: das Objekt meines Studiums war --
  • das Leben, und nichts anderes. Ich suchte das Leben, so wie es in
  • Wirklichkeit ist, und nicht etwa so, wie es sich in den Träumen unserer
  • Phantasie darstellt, und so fand ich schließlich Den, Der die Quelle des
  • Lebens ist. Seit meiner frühsten Jugend hatte ich eine leidenschaftliche
  • Vorliebe dafür, den Menschen zu beobachten, seine Seele aus seinen
  • feinsten Zügen und Regungen, die die Menschen nicht beachten, abzulesen,
  • -- und so wurde ich zu Ihm geführt, Der allein die Seele ganz
  • durchschaut und mit Dessen Hilfe allein ich zu einer vollständigen
  • Kenntnis der Seele gelangen konnte. Ich beruhigte mich nicht eher, als
  • bis ich die Lösung einiger eigener Fragen, die sich auf mich selbst
  • bezogen, gefunden hatte; und erst, als ich mir über einige Hauptfragen
  • im klaren war, konnte ich wieder an mein Werk gehen, dessen erstes Buch
  • bis heute noch ein Rätsel darstellt; denn es spiegelt zum Teil noch
  • jenen Übergangszustand, in dem sich meine Seele befand, als sie noch
  • nicht alles von sich abgestoßen hatte, was sich einmal von mir ablösen
  • sollte.
  • Sowie dieser Zustand in mir überwunden und mein Verlangen nach
  • Erkenntnis des Menschen im allgemeinen befriedigt war, begann sich in
  • mir der lebhafte Wunsch zu regen, Rußland näher kennen zu lernen. Ich
  • knüpfte Bekanntschaften mit Menschen an, von denen ich etwas lernen und
  • von denen ich erfahren konnte, was in Rußland vorgeht; ich suchte
  • erfahrene Männer der Praxis aus allen Ständen kennen zu lernen, die alle
  • Mißbräuche und Machenschaften in Rußland kannten. Ich wollte
  • Bekanntschaft mit Menschen aus allen Ständen machen und von jedem etwas
  • erfahren. Jeder Beamte, jeder Mensch, der irgendeine Beschäftigung
  • hatte, erschien mir interessant. Vor allem aber wollte ich mir einen
  • genauen Begriff von jedem Beruf, jedem Stand, jeder Stellung und jedem
  • Amt im Staate bilden. Mir erschien das als eine Notwendigkeit für jeden
  • Schriftsteller, der Menschen aus allen Berufen schildert. Wenn man nicht
  • einen Begriff von der ganzen Pflicht und allen Aufgaben des Menschen,
  • den man schildern will, in seinem Kopfe hat, wird es einem nie gelingen,
  • den Menschen wahrheitsgetreu, richtig und so darzustellen, daß sich die
  • Lebenden daraus eine Lehre ziehen, daß sie daraus etwas lernen können.
  • Deshalb knüpfte ich einen Briefwechsel mit solchen Leuten an, die mir
  • irgendwelche Tatsachen mitteilen konnten. Die übrigen bat ich, flüchtige
  • Porträts und Charakterskizzen von Leuten für mich herzustellen, und zwar
  • von den ersten besten, denen sie auf ihrem Wege begegneten. Das alles
  • brauchte ich nicht deshalb, weil ich keine genügende Anzahl von
  • Charakteren oder keinen Helden im Kopfe gehabt hätte; daran hatte ich
  • keinen Mangel; diese Figuren entsprangen mir in meiner Phantasie aus
  • einer weit vollständigeren und umfassenderen Erkenntnis der menschlichen
  • Natur, als ich sie jemals gehabt hatte; ich brauchte diese Tatsachen
  • ganz einfach, so wie ein Künstler, der ein großes Gemälde, eine eigene
  • Komposition malt, nach der Natur gemalte Skizzen braucht. Er überträgt
  • diese Skizzen nicht auf sein Bild, sondern hängt sie ringsum an den
  • Wänden auf, um sie beständig vor Augen zu haben, und um nie einen
  • Verstoß gegen die Natur, gegen die Zeit oder Epoche zu begehen, die er
  • sich für die Darstellung ausersehen hat. Ich habe nie etwas rein aus der
  • Phantasie geschöpft und erzeugt, ich besaß nie diese Fähigkeit. Mir
  • glückte immer nur das, was ich aus dem wirklichen Leben und aus
  • Tatsachen schöpfte, die mir bekannt waren. Einen Menschen erraten konnte
  • ich nur dann, wenn ich mir seine äußere Gestalt bis auf die feinsten
  • Einzelheiten vorstellen konnte. Ich habe nie ein Porträt im Sinne einer
  • bloßen Kopie entworfen. Ich habe ein solches Porträt stets erschaffen,
  • ich erschuf es durch Nachdenken, mit Überlegung und nicht in der reinen
  • Phantasie. Je mehr Dinge ich in Erwägung zog, um so wahrer und treuer
  • ward das, was ich schuf. Ich mußte weit mehr wissen als jeder andere
  • Schriftsteller, denn ich brauchte nur ein paar Einzelheiten zu übersehen
  • oder nicht zu berücksichtigen -- damit das Unwahre und Unrechte der
  • Darstellung weit deutlicher in die Augen sprang als bei einem anderen.
  • Dies vermochte ich niemand klarzumachen, und daher erhielt ich fast
  • niemals solche Briefe, wie ich sie brauchte. Alle wunderten sich und
  • konnten es nicht begreifen, daß ich all diese Kleinigkeiten und
  • Torheiten wissen wollte, während ich doch eine Phantasie besaß, die
  • selbst schaffen und produzieren konnte. Allein meine Phantasie hat mich
  • bisher noch mit keinem einzigen hervorragenden Charakter beschenkt und
  • kein einziges Ding produziert, das mein Auge nicht irgendwo in der Natur
  • entdeckt hätte.
  • Ich habe ein paar Briefe an einige Gutsbesitzer und an verschiedene
  • Beamte in den Briefwechsel mit meinen Freunden aufgenommen (von diesen
  • Briefen ist die große Mehrzahl nicht zum Abdruck gekommen); das habe ich
  • jedoch nicht etwa deswegen getan, damit alle mir zustimmen, sondern
  • gerade deswegen, damit man mich durch Anführung einzelner anekdotischer
  • Züge widerlegen sollte. Derartige Einwände von praktischen und
  • erfahrenen Leuten sind für mich deswegen so wichtig, weil sie mir die
  • Sache selbst näher bringen und mir einen tieferen Einblick in das innere
  • Wesen Rußlands gewähren. Aber man hatte kein Interesse an den Dingen,
  • die jeden Russen etwas angehen, so wenig wie für die Fragen unseres
  • inneren Lebens, statt dessen beschäftigte man sich mit meiner
  • Persönlichkeit und schrieb ganze Bogen darüber voll, ob ich ein Recht
  • habe, mich in solche Angelegenheiten hineinzumengen. Ich richtete um
  • dieselbe Zeit einen Aufruf an alle Leser der »Toten Seelen« -- der nicht
  • sehr taktvoll und recht ungeschickt war. Ich wußte sehr gut, daß viele
  • sich über ihn lustig machen würden, aber ich war fest entschlossen,
  • jeden Spott zu ertragen, wenn ich bloß mein Ziel erreichte. Ich glaubte,
  • daß vielleicht fünf oder sechs Leser meine Bitte _so_ erfüllen würden,
  • wie ich es wünschte. Ich verlangte gar nicht, daß man die Fehler der
  • »Toten Seelen« verbessern sollte: ich hoffte mich unter diesem Vorwande
  • bloß in den Besitz von einigen privaten Aufzeichnungen oder Erinnerungen
  • an einzelne Charaktere und Personen, mit denen der eine oder der andere
  • während seines Lebens zusammengetroffen war, sowie von Berichten über
  • solche Vorfälle zu setzen, von denen ein Hauch ausgeht, der uns an
  • Rußland gemahnt. Ich weiß, daß wir uns alle schwer aufraffen können und
  • daß wir träge sind und nicht recht arbeiten wollen, daher wird es fast
  • jedem von uns schwer, aus seiner Erinnerung zu schöpfen; ich dachte
  • jedoch, die Lektüre der »Toten Seelen« würde die Menschen aufrütteln,
  • besonders wenn sie dabei immer Papier und Bleistift bei der Hand hätten.
  • Ich gab meine Adresse an und bat darum, daß nur die mir in ihren Briefen
  • solche Fälle mitteilen möchten, die sie selbst nicht in der Presse
  • veröffentlichen wollten, im allgemeinen aber hielt ich es für weit
  • nützlicher, sie überall bekanntzumachen. Es kam mir sogar so vor, als ob
  • eine solche Verbreitung von Kenntnissen über Rußland in Form von
  • lebendigen Tatsachen gerade gegenwärtig eine dringende Notwendigkeit
  • sei, denn in unserer Zeit, die man nicht ohne Grund eine Übergangszeit
  • nennt, macht sich bei allen Menschen und auf allen Gebieten ein Streben
  • bemerkbar, überall zu verbessern, zu reformieren, alles umzugestalten,
  • ja dem Übel mit allen Mitteln energisch zu Leibe zu gehen. Ich glaubte,
  • daß wir heute mehr denn je bemüht sein müssen, alles herauszustellen und
  • ans Licht zu bringen, was im Inneren Rußlands vorgeht, damit wir ein
  • Gefühl dafür bekommen, aus was für einer Menge verschiedener Elemente
  • der Grund und Boden besteht, auf dem wir alle unsere Saat ausstreuen
  • wollen; da aber wäre es wirklich besser, wenn wir uns erst einmal
  • ordentlich umsähen und uns die Sache überlegten, bevor wir so über die
  • Dinge aburteilen, wie dies heute alle Leute tun. Ich hegte die geheime
  • Hoffnung, daß die Lektüre der »Toten Seelen« viele auf die Idee bringen
  • würde, Aufzeichnungen über sich selbst zu machen, und daß viele dazu
  • veranlaßt werden könnten, in sich zu gehen, weil auch im Autor während
  • der Zeit, als er die »Toten Seelen« schrieb, eine solche Wendung nach
  • Innen stattgefunden hatte. Ich glaubte, es könnte einem Menschen, der
  • bereits den Gipfel seines Lebens erstiegen hat, von dem der Weg nur noch
  • abwärts gehen kann, und der von dem Gedanken beunruhigt wird, sein Leben
  • sei nutzlos verstrichen und er habe nur wenig für das allgemeine Wohl
  • und sein Land geleistet, lebhafter zum Bewußtsein kommen, daß er durch
  • eine getreue und lebendige Darstellung der Menschen, Charaktere und
  • Ereignisse seiner Zeit die jungen Leute, die erst im Beginn ihrer
  • Wirksamkeit stehen, mit Rußland bekannt machen und sie damit in schöner
  • Weise für seine Untätigkeit entschädigen, ja mehr als entschädigen kann.
  • Ein junger Mann aber, der seine Laufbahn erst eben beginnt, dessen
  • Anteilnahme für alle Dinge noch nicht erkaltet ist, der daher noch einen
  • frischen lebendigen Blick besitzt und der alles mit starkem Interesse
  • verfolgt, könnte die heutige Zeit so darstellen, wie sie dem Auge des
  • Jünglings erscheint. Kurz, ich dachte wie ein Kind; ich täuschte mich in
  • manchen Leuten: ich glaubte, daß in einem Teil meiner Leser noch ein
  • Funke von Liebe lebte. Ich wußte damals noch nicht, daß mein Name nur
  • deshalb so populär ist, weil er einzelnen Leuten die Möglichkeit und das
  • Recht zu geben schien, anderen etwas vorzuwerfen und sich gegenseitig
  • übereinander lustig zu machen. Ich glaubte, daß viele durch mein
  • Gelächter hindurch das Gute in meiner Natur, in meinem Ich erkennen, das
  • ja gar nicht aus böser Absicht lachte oder spottete. Aber ich erhielt
  • keine Aufzeichnungen zugeschickt, trotz meiner Aufforderung, und in den
  • Zeitschriften erwiderte man mir nur mit Hohn und Spott. Ich führe dies
  • alles nur deswegen an, um zu beweisen, daß ich alle meine Kräfte
  • angespannt habe, um meinem Berufe treu zu bleiben, daß ich über alle nur
  • möglichen Mittel nachgesonnen habe, die meine Arbeit fördern könnten,
  • ich ließ es mir keinen Augenblick auch nur einfallen, meinen
  • Schriftstellerberuf aufzugeben. Bei dieser Gelegenheit muß ich übrigens
  • erwähnen, daß viele ihr Erstaunen darüber geäußert haben, daß ich ein
  • solches Bedürfnis nach Daten über Rußland habe und dabei selbst fern von
  • Rußland im Auslande bleibe, diese Leute haben es sich nicht überlegt,
  • daß ich, ganz abgesehen von meinem leidenden Zustand, der für mich einen
  • Aufenthalt in einem warmen Klima nötig machte, gerade eine solche
  • Entfernung von Rußland brauchte, um mit meinen Gedanken um so intensiver
  • in Rußland verweilen zu können. Für die, die mir das nicht nachzufühlen
  • vermögen, will ich mich hier näher erklären, obwohl es mir etwas schwer
  • wird, hier alles darzulegen, was die Eigenheit meines Wesens ausmacht.
  • Fast alle Schriftsteller, denen es nicht an jeglicher _schöpferischen_
  • Begabung fehlt, besitzen eine Fähigkeit, die ich die Einbildungskraft
  • nennen will -- eine Fähigkeit, die darin besteht, sich Gegenstände, die
  • einem nicht gegenwärtig sind, so lebhaft vorzustellen, wie wenn sie uns
  • unmittelbar vor Augen stünden. Diese Fähigkeit ist nur dann in uns
  • wirksam, wenn wir uns von den Gegenständen entfernen, die wir
  • beschreiben wollen. Das ist der Grund, weswegen die Dichter sich
  • gewöhnlich solche Epochen zum Gegenstand wählen, die bereits hinter uns
  • liegen, und sich in die Vergangenheit versenken. Indem die Vergangenheit
  • uns von allem, was um uns ist, loslöst, versetzt sie unsere Seele in
  • eine stille ruhige Stimmung, wie sie zur Arbeit erforderlich ist. Ich
  • hatte keine Vorliebe für die Vergangenheit. Mein Gegenstand war die
  • Gegenwart und das Leben in unserer heutigen Welt, vielleicht deswegen,
  • weil mein Geist stets eine Vorliebe für das Wesentliche und Faßliche und
  • für einen greifbaren Nutzen hatte. Mit den Jahren wurde mein Wunsch, ein
  • moderner Schriftsteller zu werden, immer lebhafter. Aber ich sah
  • zugleich ein, daß man, wenn man das gegenwärtige Leben schildern will,
  • nicht beständig in jener erhabenen und ruhigen Stimmung verharren
  • konnte, deren man bedarf, um ein großes und formvollendetes Werk
  • hervorzubringen. Das Gegenwärtige ist viel zu lebendig, es bewegt einen
  • und regt einen zu sehr auf; die Feder des Schriftstellers wird ganz
  • unmerklich und ohne daß man es fühlt, von einer satirischen Anwandlung
  • erfaßt. Dazu sieht man, wenn man selbst mitten unter den Leuten weilt
  • und mehr oder weniger mit ihnen zusammenarbeitet, nur _die_ Menschen vor
  • sich, die sich in unserer Nähe befinden: die ganze Masse, die Menge
  • sieht man nicht, denn man kann nicht alles übersehen. Ich fing also an,
  • darüber nachzugrübeln, wie ich mich den anderen Leuten entziehen und
  • einen solchen Standpunkt einnehmen konnte, von dem ich die ganze Masse
  • und nicht nur _die_ Menschen zu sehen vermochte, die neben mir standen
  • -- wie ich mich so vom Gegenwärtigen entfernen konnte, daß es sich für
  • mich gewissermaßen in Vergangenheit verwandelte. Meine erschütterte
  • Gesundheit und einige kleine Unannehmlichkeiten, die noch dazu kamen und
  • die ich heute mit Leichtigkeit ertragen hätte, mit denen ich dagegen
  • damals noch nicht fertig zu werden vermochte, veranlaßten mich dazu, das
  • Ausland aufzusuchen. Ich habe mich nie nach fremden Ländern hingezogen
  • gefühlt, ich habe nie eine leidenschaftliche Vorliebe für sie gehabt.
  • Auch besaß ich nichts von jener dunklen Neugierde, wie sie Menschen
  • verzehrt, die nach starken Eindrücken dürsten. Aber seltsam! schon
  • während meiner Kinderjahre, selbst während meiner Schulzeit und damals,
  • als ich immer nur an den Staatsdienst und keinen Augenblick daran
  • dachte, daß ich Schriftsteller werden könnte, kam es mir immer so vor,
  • als ob ich dazu bestimmt sei, in meinem Leben noch einmal irgendein
  • großes Opfer zu bringen, und daß ich gerade, um meinem Vaterlande zu
  • dienen, gezwungen sein würde, mich in der Ferne darauf vorzubereiten und
  • zu erziehen. Ich wußte nicht, _wie_ das geschehen würde, noch wozu das
  • nötig sei; ich dachte auch gar nicht darüber nach, ich sah mich jedoch
  • so lebendig vor mir, sah, wie ich mich in einem fremden Lande in
  • Sehnsucht nach meinem Vaterlande verzehre, ja dies Bild verfolgte mich
  • so häufig, daß es mich ganz traurig machte. Vielleicht war das nur jene
  • unbegreifliche poetische Sehnsucht, die auch Puschkin manchmal
  • beunruhigte und ihn veranlaßte, fremde Länder aufzusuchen, lediglich um,
  • wie er sich ausdrückt,
  • Mich unterm Himmel Afrikas
  • Nach Rußlands trüben Gaun zu sehnen.
  • Wie dem auch sein mag, dieser unwillkürliche Drang in mir war so stark,
  • daß noch keine fünf Monate seit meiner Ankunft in Petersburg vergangen
  • waren, als ich bereits ein Schiff bestieg, da ich nicht die Kraft hatte,
  • diesem mir selbst so unbegreiflichen Gefühl zu widerstehen. Der Plan und
  • der Zweck meiner Reise waren sehr verschwommen. Ich wußte nur das eine,
  • daß ich sicherlich nicht _deswegen_ auf Reisen ging, um mich an fremden
  • Ländern zu erfreuen, sondern um schwere Leiden durchzukosten, ganz als
  • ob ich ahnte, daß ich erst jenseits von Rußland den wahren Wert meines
  • Vaterlandes erkennen und mich fern von ihm mit Liebe zu ihm erfüllen
  • würde. Kaum befand ich mich auf See, auf einem fremden Schiffe und unter
  • fremden Leuten (das Schiff war ein englischer Dampfer, auf dem sich
  • keine Menschenseele aus Rußland befand), so wurde mir traurig zumute;
  • ich sehnte mich so sehr nach meinen Freunden und den Kameraden meiner
  • Kindheit, die ich verlassen und die ich stets innig geliebt hatte, daß
  • ich, noch ehe ich das feste Land betreten hatte, schon an die Rückreise
  • dachte. Ich blieb nicht länger als drei Tage im Auslande, und obwohl
  • mich die Neuheit der Gegenstände reizte, beeilte ich mich, auf demselben
  • Dampfer nach Hause zurückzukehren, aus Furcht, daß es mir später
  • vielleicht nicht mehr gelingen könnte, den Weg nach Hause
  • zurückzufinden. Von da ab gab ich mir das Wort, überhaupt nicht mehr an
  • fremde Länder zu denken -- und während der ganzen Zeit meines
  • Petersburger Aufenthaltes, d. h. während voller sieben Jahre kam mir
  • nicht der Gedanke an eine Reise in ein fremdes Land, bis der Zustand
  • meiner Gesundheit, einige schmerzliche Erlebnisse und endlich mein
  • Bedürfnis nach Einsamkeit mich dazu nötigten, Rußland zu verlassen.
  • Zweimal bin ich nachher wieder nach Rußland zurückgekehrt, einmal sogar,
  • um für immer dort zu bleiben. Ich glaubte, jetzt, wo mich ein solches
  • Verlangen erfaßt hatte, mir über alles klar zu werden, würde es mir
  • bestimmt gelingen, vieles in Erfahrung zu bringen. Aber, ist es nicht
  • merkwürdig? Mitten im Herzen Rußlands, sah ich beinahe nichts von
  • Rußland selbst. Alle Menschen, denen ich begegnete, sprachen mit großer
  • Vorliebe davon, was in Europa vorgeht, und dagegen redeten sie nie
  • davon, was in Rußland passiert. Ich erfuhr nur, was man im englischen
  • Klub treibt, und noch einiges andere, was ich schon von selbst wußte. Es
  • ist bekannt, daß jeder von uns seinen eigenen Kreis von nahen Bekannten
  • hat, und daher ist es sehr schwer für ihn, andere Leute, die nicht dazu
  • gehören, kennen zu lernen, erstlich schon deswegen, weil er sich
  • verpflichtet fühlt, möglichst häufig mit den ihm nahestehenden Menschen
  • zusammen zu sein, und ferner, weil ein Kreis von Freunden schon an und
  • für sich so viel Angenehmes hat, daß man sehr viel Selbstaufopferung
  • besitzen muß, um sich ihm zu entziehen. Alle Menschen, die ich kennen
  • lernte, teilten mir immer nur fertige Schlüsse und Folgerungen und nicht
  • bloß schlichte Tatsachen mit, auf die es mir gerade ankam. Überhaupt
  • bemerkte ich, daß eine gewisse Veränderung in den Köpfen und in den
  • Gedanken der Leute vorgegangen war. Jedermann betrachtete die Sache mit
  • einem weit philosophischeren Blick, als man dies jemals früher zu tun
  • pflegte; man wollte stets den geheimsten Sinn und die tiefste Bedeutung
  • einer jeden Sache ergründen: ein Motiv, eine Regung, die darauf
  • hindeutete, daß die Gesellschaft einen mächtigen Schritt vorwärts
  • gemacht hatte. Andererseits entsprang hieraus eine gewisse Übereilung,
  • mit der man sogleich die Schlüsse und Konsequenzen zog und nach zwei bis
  • drei Tatsachen über das Ganze urteilte; man übersah völlig, daß damit
  • noch nicht alle Dinge und nicht alle Seiten einer Sache in Betracht und
  • in Erwägung gezogen waren. Ich bemerkte, daß sich beinahe jeder in
  • seinem Kopfe seine eigene Vorstellung über Rußland gebildet hatte, und
  • das war der Anlaß zu fortwährenden Streitigkeiten. Ich aber brauchte
  • etwas ganz anderes: ich brauchte jene einfachen Unterhaltungen, wie sie
  • noch früher in den alten Zeiten üblich waren, wo jeder bloß das
  • erzählte, was er in seinem Leben gesehen und gehört hatte, und wo ein
  • Gespräch mehr einer Anekdotensammlung als einer Diskussion glich. Das
  • brauchte ich gerade deswegen, weil ich unwillkürlich selbst von dieser
  • hastigen Sucht, sofort übereilte Schlüsse und Folgerungen aus allem zu
  • ziehen -- dieser allgemeinen Tendenz unserer Zeit --, angesteckt war.
  • Noch mehr aber mußte ich mich über unsere Provinz wundern. Dort hörte
  • man nicht einmal den Namen »Rußland« aussprechen. Wie mir schien, waren
  • nur solche Dinge in aller Munde und sprach man nur über solche
  • Gegenstände, die man in den neuesten aus dem Französischen übersetzten
  • Romanen gelesen hatte. Kurz -- während meines ganzen Aufenthalts in
  • Rußland zerfiel und zerstob Rußland förmlich in meinem Kopfe. Ich konnte
  • mir durchaus kein Ganzes daraus gestalten, mein Mut sank, und sogar mein
  • Verlangen, es kennen zu lernen, wurde schwächer. Sowie ich es jedoch
  • verließ, formte es sich mir in Gedanken sogleich wieder zu einem Ganzen,
  • der Wunsch, das Land kennen zu lernen, erwachte aufs neue, und die Lust,
  • jeden frischen Menschen, der frisch aus Rußland eingetroffen war, kennen
  • zu lernen, wurde wieder stark und mächtig in mir. Es bildete sich sogar
  • die Fähigkeit in mir heraus, die Leute auszufragen, und oft erfuhr ich
  • in einem Gespräch von der Dauer einer Stunde, was ich während meines
  • Aufenthaltes in Rußland nicht einmal im Laufe einer Woche in Erfahrung
  • zu bringen vermochte. Jedermann weiß, daß man im Ausland viel leichter
  • Bekanntschaft macht, daß sich in den Bädern Deutschlands und in den
  • Winterstationen Italiens Menschen begegnen, die in ihrem eigenen Lande
  • vielleicht nie miteinander zusammengetroffen wären und die sich ihr
  • ganzes Leben lang nicht kennen gelernt hätten. Das war es, was mich
  • veranlaßte, einem Aufenthalt außerhalb Rußlands den Vorzug zu geben,
  • schon im Hinblick darauf, daß ich auf diese Weise mehr von Rußland
  • erfahren konnte. Ich dachte sehr lange darüber nach, wie ich mich in
  • Rußland selbst über vieles unterrichten könnte, was dort vorgeht. Durch
  • Reisen im Lande selbst erreicht man nicht viel: das einzige, was man
  • davon im Kopfe behält, sind die Stationen und die Kneipen. In den
  • Städten und Dörfern Bekanntschaften anzuknüpfen, ist für einen Mann, der
  • nicht gerade im Auftrage der Regierung reist, auch nicht einfach, man
  • wird leicht für einen Spitzel gehalten, und das einzige Ergebnis ist
  • höchstens ein Sujet für eine Komödie, die man: _Der Wirrwarr_ betiteln
  • könnte. Wenn man jedoch erfährt, daß der Reisende noch dazu ein
  • Schriftsteller ist, so wird die Situation noch weit komischer: die
  • Hälfte aller russischen Leser ist fest davon überzeugt, daß ich nur
  • einen einzigen Lebenszweck habe, nämlich diesen, alles am Menschen vom
  • Kopf bis zu den Füßen zu verspotten. Und doch habe ich bisher noch nie
  • ein so lebhaftes Bedürfnis empfunden, die gegenwärtige Lebenslage des
  • Russen von heute kennen zu lernen -- um so mehr, als gerade heute die
  • Gegensätze in der Denkweise so groß geworden sind und alle Welt von
  • einem wahren Wirbel von Mißverständnissen erfaßt ist, so daß kein Mensch
  • mehr imstande ist, seine Nebenmenschen richtig zu beurteilen, und daß
  • man genötigt ist, jedes Ding mit seinen eigenen Händen zu betasten, da
  • man niemand mehr trauen kann. Ich konnte diese Daten nicht entbehren.
  • Die Charaktere und Personen, die ich mir jetzt für mein Werk ausersehen
  • habe, sind viel bedeutender als die, die ich mir früher zum Vorwurf
  • genommen hatte. Je größer die Vorzüge einer bestimmten Persönlichkeit
  • sind, um so greifbarer und plastischer muß man sie vor dem Leser
  • erstehen lassen. Dazu bedarf man all der unendlichen Kleinigkeiten und
  • Details, die dafür sprechen, daß diese bestimmte Person auch wirklich
  • gelebt hat; sonst wird sie zu einem idealen Gebilde, sonst wird sie matt
  • und blaß und trotz aller Tugenden, mit denen man sie ausstatten mag,
  • armselig und nichtssagend ausfallen. Der Russe muß wirklich das Gefühl
  • haben, daß die dargestellte Persönlichkeit aus demselben Leibe
  • herausgeschnitten ist, dem er selbst als ein Bestandteil angehört, daß
  • sie etwas Lebendiges, daß sie Fleisch von seinem Fleisch und Blut von
  • seinem Blute ist. Nur dann wird er mit seinem Helden in eins
  • zusammenfließen und unmerklich jene suggestiven Wirkungen, die von ihm
  • ausgehen, an sich erfahren, die durch kein Räsonnement und keine Predigt
  • hervorgebracht werden können. Eine solche volle Verkörperung, diese
  • letzte in sich geschlossene Vollendung eines Charakters vollzieht sich
  • nur dann in mir, wenn ich meinen Geist mit all diesen prosaischen realen
  • Kleinigkeiten und Nichtigkeiten des Lebens erfülle, wenn ich alle großen
  • Charakterzüge jener Menschen im Kopfe habe, zugleich jedoch auch all die
  • Lumpen und Fetzen bis zur kleinsten Stecknadel, die den Menschen täglich
  • umgeben, zusammentrage und um ihn herum aufstaple, kurz, wenn ich alles,
  • das Große wie das Kleine, berücksichtige und nichts außer acht lasse. In
  • dieser Beziehung habe ich genau so einen Verstand, wie man ihn beim
  • größten Teil aller Russen findet, d. h. ich habe mehr die Fähigkeit,
  • Schlüsse und Folgerungen zu ziehen, als etwas zu erfinden und zu
  • erdichten. Ich mußte immer erst eine große Menge von Menschen anhören,
  • wenn ich mir eine eigene Meinung bilden sollte, und dann erst fanden die
  • Leute meine Meinung gesund und vernünftig. Hörte ich dagegen nicht alle
  • an und zog ich einen übereilten Schluß, so waren meine Ansichten bloß
  • schroff und ungewöhnlich. Selbst in meinem letzten Buch, in meinem
  • »_Briefwechsel mit meinen Freunden_«, kommt vieles vor, das Ähnlichkeit
  • mit einer bloßen Präsumtion oder einer Vermutung hat und doch gar keine
  • Voraussetzung ist. Es enthält nichts als Folgerungen, aber die einen
  • Schlüsse und Folgerungen sind unter Berücksichtigung sämtlicher Seiten
  • einer Sache gezogen und sind daher allen klar, während andere nur
  • Folgerungen aus einigen Tatsachen darstellen, die nicht allen bekannt
  • sind; und daher sind sie auch so oder erscheinen sogar vielen einfach
  • als Torheit. Das ist auch der Grund, weswegen es kaum ein Werk von mir
  • gibt, in dem nicht neben reifen Gedanken auch ganz unreife stehen und in
  • dem nicht der Mann und das Kind, der Lehrer und der Schüler gleichzeitig
  • zu Worte kommen.
  • Es war mir also nicht möglich, mir all das zu verschaffen, was ich
  • brauchte. Und da ich es mir nicht zu verschaffen vermochte -- ist es da
  • wohl ein Wunder, daß ich nicht arbeiten konnte? Wie kann man mit sich
  • selbst kämpfen, wenn man solche Ansprüche an sich selbst zu stellen
  • gelernt hat? Wie soll die Einbildungskraft sich da zum Fluge erheben --
  • selbst wenn sie vorhanden ist --, wo der Verstand bei jedem Schritt die
  • Frage nach dem »Warum« stellt? Warum mußten eine Reihe von Umständen
  • eintreten, die ich nicht herbeigerufen habe? Warum konnte ich mir erst
  • durch eine strenge Erforschung und Analyse meiner eigenen Seele die
  • Kenntnis der Menschenseele erwerben? Warum wurde ich erst da von dem
  • Verlangen erfaßt, den russischen Menschen darzustellen, als ich das
  • allgemeine Gesetz der menschlichen Handlungen kennen gelernt hatte, und
  • warum lernte ich es erst kennen, nachdem ich den Weg zu Ihm gefunden
  • hatte, Der allein alles menschliche Tun und jedes geringste Geheimnis
  • unserer Seele durchschaut? -- Warum wurde ich so von dem Verlangen
  • gequält, die Seele des Menschen kennen zu lernen? Warum traten endlich
  • solche Umstände ein, von denen ich nicht einmal sprechen kann, die mich
  • jedoch nötigten, gegen meinen Willen tiefer in die Menschenseele
  • hinabzutauchen? Warum blieb für mich die Fähigkeit, mich überall an der
  • Schönheit der Menschenseele zu erfreuen, wo sie mir immer entgegentreten
  • mochte, stets der Gipfel, die Krone aller ästhetischen Genüsse? Warum
  • wurde ich seit den Tagen meiner Kindheit unaufhörlich von dem Verlangen
  • gequält, die menschliche Seele zu ergründen? Erklärt mir vor allem,
  • warum dies so kommen mußte, und dann fragt mich: warum ich nicht mehr so
  • schreiben kann, wie ich früher geschrieben habe. Ich wollte den
  • Umständen und dieser Ordnung, die ja nicht ich eingesetzt hatte,
  • Widerstand leisten. Ich versuchte es mehrmals, so zu schreiben, wie ich
  • es früher getan, wie ich in meiner Jugend geschrieben hatte, das heißt,
  • wie sich's traf, wie es meiner Feder beliebte, aber es wollte mir nichts
  • mehr aus der Feder fließen. Voller Freude, daß ich durch meine an meine
  • Freunde und Bekannten gerichteten Briefe wieder einigermaßen ins
  • Schreiben hineingekommen war, wollte ich sofort Nutzen daraus ziehen,
  • und sowie ich mich von meiner schweren Krankheit erholt hatte, machte
  • ich gleich ein Buch daraus, wobei ich bestrebt war, den Stoff nach
  • Möglichkeit zu ordnen und dem Ganzen einen gewissen Zusammenhang zu
  • geben, damit das Buch den Charakter eines vernünftigen Werkes erhielte;
  • ich bedachte nicht, daß das Publikum vieles davon, was an einzelne
  • Personen gerichtet war, auf sich beziehen würde, besonders nach meinem
  • Testament, das sich an alle meine Landsleute richtete. Ich fürchtete
  • mich davor, die Fehler und Mängel des Buches selbst nachzuprüfen, und
  • verschloß meine Augen, denn ich wußte, daß ich mein Buch, wenn ich es
  • einer strengeren Prüfung unterziehen würde, vielleicht ebenso vernichten
  • könnte, wie ich die »Toten Seelen« und alles, was ich in der letzten
  • Zeit geschrieben hatte, vernichtet habe. Ich glaubte, dies Buch könnte
  • die Leser wenigstens in geringem Maße für mein langes Schweigen
  • entschädigen, ich glaubte, ich könnte darin meine schwierige Lage
  • schildern und darlegen, die mir in der letzten Zeit das Schreiben
  • unmöglich gemacht hatte, und ich würde die Aufmerksamkeit auf die
  • praktischen Fragen und die Fragen des Lebens lenken. Ich beabsichtigte
  • ferner, solche Dinge zu berühren, die mir einen tieferen Einblick in
  • Rußland verschaffen, mich erfrischen und beleben und zwingen würden, zur
  • Feder zu greifen. Aber es geschah nichts von alledem: alle Welt
  • überhäufte mich mit Vorwürfen. Ich bekam nur Worte und Reden über Dinge
  • zu hören, die nicht durch Worte und Reden entschieden werden können. Ich
  • ließ die Hände sinken. Der Trieb, der sich scheinbar schon in mir zu
  • regen begonnen hatte, erlosch, und ich fühlte mich ganz von selbst und
  • ohne daß ich es merkte, vor die Frage gestellt, die mir noch nie in den
  • Sinn gekommen war: soll ich überhaupt noch etwas schreiben? Soll ich
  • noch weiter in diesem Berufe tätig sein, von dem mich in der letzten
  • Zeit alles so offenkundig abzuziehen schien? Angenommen, daß es mir
  • selbst gelingen sollte, mich zu überwinden, angenommen selbst, daß mein
  • Kiel wieder die nötige Leichtigkeit und Beständigkeit erlangen würde,
  • und daß mir eine Seite nach der anderen ganz zwanglos aus der Feder
  • fließen würde -- war meine seelische Verfassung wirklich derartig, daß
  • meine Werke der Gesellschaft von heute tatsächlich von Nutzen sein
  • konnten und heute eine Notwendigkeit für sie darstellten? Werfen wir
  • dazu einmal einen Blick auf den Zustand der Gesellschaft unserer Zeit:
  • begünstigt die Gegenwart den Schriftsteller im allgemeinen? und ferner:
  • ist sie einem Schriftsteller, wie ich einer bin, günstig?
  • Alle sind sich mehr oder weniger darüber einig, daß unsere heutige Zeit
  • eine Übergangszeit genannt werden kann. Alle fühlen heute mehr denn je,
  • daß sich die Welt auf dem Marsche und nicht im Hafen befindet, das ist
  • nicht einmal eine Station, auf der man vorübergehend haltmacht, kein
  • Nachtquartier und kein Rasten während der Reise. Alles sucht etwas, aber
  • es sucht es nicht draußen, sondern in dem eigenen Inneren. Die
  • moralischen Fragen haben ein starkes Übergewicht über die politischen,
  • die Probleme der gelehrten Wissenschaft sowie alle anderen Probleme
  • erlangt. Kein Schwert und kein Kanonendonner vermögen das Interesse der
  • Welt mehr zu fesseln. Überall kommt mehr oder weniger deutlich der
  • Gedanke eines inneren Aufbaus, einer inneren Organisation zum
  • Durchbruch: alles wartet auf das Eintreten einer strengeren
  • harmonischeren Lebensordnung. Der Gedanke der Organisation, des Aufbaus
  • sowohl des eigenen Ichs wie des der anderen wird immer mehr
  • Allgemeingut. Alle bedeutenden Menschen, die an der Spitze marschieren,
  • erleben Krisen und Umwälzungen in ihrem Inneren, manche sogar in den
  • Jahren, wo in der Seele des Menschen bisher noch nie ein innerer
  • Umschwung oder eine innere Besserung und Erhebung möglich zu sein
  • schienen. Ein jeder fühlt mehr oder weniger, daß er sich nicht in der
  • richtigen Verfassung befindet, in der er sich eigentlich befinden
  • sollte, wenn er auch nicht weiß, worin dieser ersehnte Zustand nun
  • eigentlich besteht. Dennoch aber sucht und strebt alles nach diesem
  • ersehnten Zustande; alle Ohren lauschen gespannt und richten sich
  • dorthin, woher sie etwas über die Fragen, die heute alle beschäftigen,
  • zu vernehmen hoffen. Kein Mensch will ein Buch lesen, das nicht
  • wenigstens eine Spur von all jenen Fragen enthält. Bedarf man also wohl
  • in solch einer Zeit der Werke eines Schriftstellers, der über ein
  • gewisses schöpferisches Talent verfügt, der lebendige Bilder von
  • Menschen zu erschaffen vermag, und der die Gabe hat, das Leben
  • eindringlich und plastisch darzustellen, so wie es ihm erscheint, -- der
  • von dem Verlangen verzehrt wird, es kennen zu lernen? Machen wir uns
  • zunächst einmal klar, was das für ein Schriftsteller ist, dessen
  • Hauptbegabung sein schöpferisches Talent ist.
  • Alle Welt stimmt mehr oder weniger darin überein, daß ein produktiver
  • Schriftsteller seine Werke schreibt, um die Menschen zu belehren. Die
  • Ansprüche, die an ihn gestellt werden, sind gewaltig -- und mit Recht:
  • um nichts als eine gute Kopie dessen, was man vor Augen sieht,
  • herzustellen, dazu gibt es auch andere Schriftsteller, die häufig ein
  • außergewöhnliches Talent für das beschreibende, malende Genre besitzen,
  • denen jedoch die _schöpferische_ Gabe völlig mangelt. Wer dagegen
  • _schafft_, wer viel Zeit und Mühe darauf verwendet, dem sein Werk teuer
  • zu stehen kommt, der darf seine Mühe und Arbeit nicht umsonst
  • verschwenden. Die Schöpfungen seiner Kunst müssen für unser Leben einen
  • Fortschritt bedeuten, er muß, wenn er seine Zeit verstanden hat, wenn er
  • auf der Höhe jener Epoche steht, dieser Epoche seine Schuld für die
  • Belehrung, die er aus ihr geschöpft hat, abtragen können, indem er auch
  • sie seinerseits wieder belehrt. So wenigstens bestimmen die Ästhetiker
  • unserer Zeit ebenso wie die früherer Zeiten das Wesen des Dichters oder
  • ganz allgemein das Wesen eines Schriftstellers von schöpferischer
  • Begabung. Die Menschen ganz so zu reproduzieren, wie man sie in sich
  • aufgenommen hat, ist für einen schöpferischen Schriftsteller sogar
  • unmöglich, das wird ein Schriftsteller weit besser machen, der über
  • einen flinken Pinsel verfügt, sofort und jederzeit nachzuahmen vermag,
  • was an seinem Blick vorüberzieht, und der von keinen inneren Skrupeln
  • gequält und beunruhigt wird.
  • Folglich kann in unserer heutigen Zeit, wo alle Menschen so sehr mit den
  • Fragen des Lebens beschäftigt sind, ein solcher Schriftsteller mehr als
  • jemand anderes das lösende Wort in den Fragen der Gegenwart sprechen;
  • aber wann und in welchem Falle? Nur dann und in dem Falle, wenn er sich
  • schon selbst alle Fragen, die ihn beunruhigen, beantwortet hat. Wenn er
  • sich bei allen seinen großen Gaben zu einer plastischen Anschaulichkeit
  • des Stils, zu der Adlerkraft und -schärfe des Blicks, zu dem
  • fortreißenden lyrischen Schwung und der zermalmenden Wucht seines
  • Sarkasmus noch eine umfassende Kenntnis seines Landes und seines Volkes
  • bis hinab in seine Wurzeln und Auszweigungen erworben, wenn er sich zum
  • Bürger seines Landes und zum Bürger der ganzen Menschheit herangebildet
  • hat und überall da, wo dem Menschen geboten ward, hart zu sein wie ein
  • Fels, unerschütterlich dasteht wie ein Stein, dann mag er seine Laufbahn
  • antreten. Wenn er wirklich über solche Mittel und Werkzeuge verfügt,
  • dann wird er dem Publikum solche Menschen vorführen, wie er sie
  • gegenwärtig und in unserem heutigen Zeitalter braucht, und er wird sie
  • mit jener porträthaften Anschaulichkeit ausstatten, die da macht, daß
  • das Bild eines Menschen uns überallhin verfolgt, so daß wir es nicht
  • wieder loswerden können. Bei solchen Mitteln wird es ihm natürlich nicht
  • schwer werden, alle jene Heldengestalten, mit denen die modernen
  • Schriftsteller unsere Köpfe vollgestopft haben, wieder auszutreiben. Man
  • muß nur einmal statt durch heftige leidenschaftliche Reden durch solche
  • lebendige Bilder, die wie die rechtmäßigen Herren in der Seele der
  • Menschen ein und aus gehen, zum Publikum sprechen, -- so werden sich
  • einem die Tore der Herzen von selbst öffnen, um sie aufzunehmen, wenn
  • man nur das Gefühl hat und nur das Geringste davon spürt, daß diese
  • Gestalten und Bilder aus unserem eigenen Wesen geschöpft sind, daß sie
  • unserem eigenen Körper entstammen. Wer könnte in solch einem Falle noch
  • daran zweifeln, daß heutzutage niemand eine so starke Wirkung auszuüben
  • vermöchte, wie solch ein Schriftsteller, und daß niemand unserer Zeit
  • und unserer heutigen Epoche notwendiger ist als er. Wenn er jedoch
  • tatsächlich über einige von diesen Mitteln und Werkzeugen verfügt, sich
  • aber noch nicht zu einem Bürger seines Landes und der Menschheit
  • herangebildet hat, wenn er, dem allgemeinen Zuge der Zeit folgend,
  • selbst noch im Werden und in der Entwicklung begriffen ist, dann wäre es
  • für ihn sogar gefährlich, sich in die Öffentlichkeit hinauszuwagen; dann
  • kann seine Wirkung eher schädlich als nützlich sein. Diese Arbeit an
  • sich selbst wird in allem zum Ausdruck kommen, was seiner Feder
  • entstammt. Je weniger Ähnlichkeit er mit anderen Leuten hat, je
  • ungewöhnlicher er uns erscheint, je mehr er sich von anderen Menschen
  • unterscheidet, je eigenartiger er ist, zu um so mehr Irrtümern und
  • Mißverständnissen kann er überall Anlaß geben. Das, was in ihm lediglich
  • eine natürliche Äußerung, eine normale Funktion seines außergewöhnlichen
  • Organismus, ein vorübergehender Zustand, eine Stimmung seines Geistes
  • ist, kann anderen Menschen als ein Höhepunkt, als Zielpunkt erscheinen,
  • den alle erreichen müssen. Je liebevoller er sich für seine Helden und
  • Charaktere einsetzt, je gründlicher er sie ausführt, und je lebendiger
  • seine Darstellung ist, um so größer wird der Schaden sein. Wir alle
  • haben den Beweis dafür vor Augen. Eine bekannte französische
  • Schriftstellerin, die alle anderen an Begabung überragt, hat in wenigen
  • Jahren eine gewaltigere Umwälzung in den Sitten hervorgerufen als
  • sämtliche Schriftsteller, die sich bemühten, die Menschen zu
  • korrumpieren. Sie hat vielleicht gar nicht einmal daran gedacht, die
  • Unsittlichkeit zu predigen, ihre Schriften waren möglicherweise nur der
  • Ausdruck einer vorübergehenden Verirrung, der sie in einer späteren
  • Epoche ihrer geistigen Entwicklung vielleicht wieder entsagt, von der
  • sie sich wieder losgesagt hat, allein das Wort war bereits gefallen:
  • »_Ein Wort ist wie ein Spatz_,« sagt ein russisches Sprichwort, »_läßt
  • du es aus der Hand, so fängst du es nie mehr ein_.«
  • Ich selbst bin ein Schriftsteller, dem es nicht ganz an schöpferischer
  • Begabung fehlt; ich besitze auch einige von den Gaben und Fähigkeiten,
  • in denen eine suggestiv fortreißende Kraft liegt. Der allgemeinen
  • Zeitströmung folgend, die nicht von uns gemacht wird, sondern dem Willen
  • des Höchsten entspringt, ... strebe auch ich nach Bildung und
  • Organisierung meines Ichs, wie dies auch andere tun, und ich fühle, daß
  • ich noch sehr weit von dem Ziele entfernt bin, dem ich zustrebe, und daß
  • ich daher nicht öffentlich hervortreten sollte. Auch das unlängst
  • veröffentlichte Buch »Briefwechsel mit meinen Freunden« ist ein Beweis
  • dafür. Wenn schon dies Buch, das nicht mehr als eine Abhandlung ist, wie
  • man sagt, durch seine Unbestimmtheit zu Irrtümern Anlaß gibt und sogar
  • zur Verbreitung verkehrter Gedanken beiträgt, wenn schon von diesen
  • Briefen, wie man sagt, einem ganze Sätze und Seiten wie lebendige Bilder
  • im Kopf haften bleiben, was wäre erst dann geschehen, wenn ich, statt
  • mit diesen Briefen, mit einem erzählenden Werk voll lebendiger
  • Anschauungen hervorgetreten wäre? Ich fühle selbst, daß hierin weit mehr
  • meine Stärke liegt als in theoretischen Erörterungen. Jetzt kann die
  • Kritik mich noch angreifen, dann jedoch wäre kaum jemand imstande
  • gewesen, mich zu widerlegen. Meine Bilder hätten etwas Suggestives
  • gehabt und hätten sich so in den Köpfen festgesetzt, daß kein Kritiker
  • sie von dort hätte wieder austreiben können. Man darf nicht außer acht
  • lassen, daß alle dargestellten Personen und Charaktere die Wahrheit
  • meiner eigenen Überzeugungen hätten beweisen müssen und meine
  • Überzeugungen ... Wenn ich dieses Buch mit den von mir vernichteten
  • »Toten Seelen« vergleiche, so kann ich nicht dankbar genug sein für den
  • mir zuteil gewordenen Impuls, sie zu vernichten. Trotzdem aber stehe ich
  • in meinem Briefwerk auf einem höheren Standpunkt als in den vernichteten
  • »Toten Seelen«. Die Dunkelheit des Ausdrucks verwirrt an vielen Stellen
  • den Leser; wenn ich denselben Gedanken etwas deutlicher und klarer
  • ausgedrückt hätte, so hätten viele Leute unterlassen, mir Einwände zu
  • machen. In den von mir vernichteten »Toten Seelen« ist weit mehr von dem
  • Übergangszustand, von dem inneren Umschwung in mir zum Ausdruck
  • gekommen, es steckt noch eine weit größere Unbestimmtheit in den
  • grundlegenden Prinzipien darin, die Gedanken haben mehr bewegende,
  • treibende Kraft, einzelne Teile enthalten schon sehr viel
  • Eindrucksvolles, mit sich Fortreißendes, und die Helden haben etwas
  • Suggestives. Kurz -- als ein ehrlicher Schriftsteller hätte ich die
  • Feder niederlegen müssen, selbst dann, wenn ich wirklich den Drang
  • gefühlt hätte, sie zu ergreifen. Aber so etwas muß mit Besonnenheit
  • betrachtet werden. Alle die, die leichtfertig von mir verlangen, daß ich
  • in meiner schriftstellerischen Arbeit fortfahren soll, und doch zugleich
  • mein letztes [Buch] schlecht machen, sollten sich doch zum mindesten die
  • ganze Sache etwas genauer überlegen und alle Umstände in Betracht
  • ziehen, die kein Richter außer acht läßt, wenn er über jemand zu Gericht
  • sitzt. Ich habe den Eindruck, daß heute nicht nur ein Mensch, der
  • schriftstellerisch tätig ist, sondern jeder Kopf überhaupt sich der
  • Tätigkeit enthalten sollte, wenn er die Neigung hat, Schlüsse und
  • Folgerungen zu ziehen und selbst noch ... Von den klugen Leuten sollten
  • nur solche sich öffentlich betätigen, deren Erziehung vollendet ist und
  • die fertige Bürger ihres Landes sind, und von den Schriftstellern nur
  • solche, die Rußland ebenso glühend lieben wie der, der sich Kosak
  • Luganski nennt, und die es gleich ihm verstehen, die Natur so zu
  • schildern, wie sie wirklich ist, ohne uns das Gute und Böse an der
  • russischen Natur zu unterschlagen, das sollten nur Schriftsteller tun,
  • die sich einzig und allein von dem Wunsche leiten lassen, alle Welt über
  • den wirklichen Zustand aufzuklären, in dem sich heute die Menschen in
  • Rußland befinden.
  • Es wird _mir_ sicherlich viel schwerer als irgend jemand sonst, die
  • schriftstellerische Tätigkeit aufzugeben, wo sie doch der Inhalt aller
  • meiner Gedanken und Wünsche war, wo ich doch allem anderen, allen
  • Lockungen des Lebens entsagt und wie ein Mönch alle Bande, die mich an
  • alles das, was dem Menschen hier auf Erden teuer ist, zerrissen habe, um
  • an nichts mehr zu denken als an meine Arbeit. Es wird mir nicht leicht,
  • der schriftstellerischen Tätigkeit zu entsagen: gehörten doch gerade die
  • Augenblicke zu den schönsten meines Lebens, wo ich das, was ich lange in
  • Gedanken ausgebrütet hatte, zu Papier bringen durfte; bin ich doch auch
  • jetzt noch immer überzeugt, daß es kaum einen höheren Genuß gibt als den
  • des _Schaffens_. Aber -- ich wiederhole dies nochmals -- als ehrlicher
  • Mensch müßte ich meine Feder selbst dann noch niederlegen, wenn ich den
  • inneren Drang fühlte, sie zu ergreifen.
  • Ich weiß nicht, ob ich ehrlich genug gewesen wäre, so zu handeln, wenn
  • ich nicht die Fähigkeit zum Schreiben verloren hätte; denn -- um ganz
  • aufrichtig zu sein -- das Leben hätte dann plötzlich allen Wert für mich
  • eingebüßt; nicht mehr schreiben, nicht schaffen, das hätte für mich
  • ebensoviel bedeutet, wie nicht leben. Aber es gibt keinen Verlust, für
  • den uns nicht ein Ersatz geschaffen wird, was ein Beweis dafür ist, daß
  • der Schöpfer den Menschen keinen Augenblick verläßt. Das Herz bleibt
  • keinen Moment ganz leer und kann nicht ganz ohne Wunsch sein. Wie die
  • Erde, die eine Weile vom Pflug unberührt bleibt, andere und neue Kräuter
  • und Gräser wachsen läßt, bis sie sich in ein neues von ihnen
  • befruchtetes und gedüngtes Ackerfeld verwandelt, so kehrten auch in mir,
  • als ich die Fähigkeit, zu schaffen verloren hatte, meine Gedanken aufs
  • neue zu dem Gegenstand zurück, von dem ich in meiner Kindheit geträumt
  • hatte. Ich wollte wieder dienen; jede, selbst die kleinste und
  • unscheinbarste Stellung hätte mir genügt, wenn ich nur meinem Vaterlande
  • so hätte dienen können, wie ich ihm einstmals hatte dienen wollen, ja
  • ich hätte ihm jetzt noch weit treuer und besser dienen mögen, als ich
  • dies jemals gewünscht hatte. Der Gedanke an einen solchen Dienst hat
  • mich niemals verlassen. Ich söhnte mich auch erst mit meiner
  • schriftstellerischen Tätigkeit aus, als ich mich innerlich überzeugte,
  • daß man auch auf diesem Gebiete seinem Vaterlande dienen könne. Aber
  • auch damals dachte ich noch daran, wenn ich einmal ein großes Werk
  • vollendet haben würde, ganz so wie die anderen Menschen in den
  • Staatsdienst einzutreten und mir eine Stellung zu suchen. Meine Pläne
  • und Absichten hatten bloß etwas Anmaßendes und entsprangen einer
  • hochmütigen Gesinnung. Ich glaubte, wenn ich den Beweis dafür ablegen
  • würde, daß ich den Russen wirklich von Grund aus, in seiner Wurzel und
  • seinen fundamentalsten Zügen kenne, d. h. wenn ich ihn sowohl in den
  • Zügen, die allen erkennbar, als auch in denen, die bisher noch verborgen
  • sind, verstehe, ich glaubte, wenn ich den Beweis liefern würde, daß ich
  • die Seele des Menschen nicht aus Büchern und Erzählungen, sondern aus
  • Erfahrung kenne, da ich schon von frühester Jugend auf von dem Wunsche
  • beseelt war, den Menschen begreifen zu lernen, so würde man mir eine
  • Stellung anweisen, die es mir erlauben würde, mit Menschen aller Stände
  • und mit vielen Leuten in persönliche Berührung zu kommen, nicht erst
  • durch Vermittlung von Akten und Kanzleien: eine Stellung, in der ich
  • meine Menschenkenntnis mit wirklichem Nutzen verwerten, mich vielen
  • Leuten nützlich erweisen und mir selbst noch eine größere
  • Menschenkenntnis erwerben würde. Es schien mir so, als ob Rußland am
  • meisten unter den gegenseitigen Mißverständnissen leidet, und daß wir
  • vor allem solche Menschen brauchen, die bei einiger Kenntnis der Seele
  • und des Herzens und ganz allgemein bei einigem Wissen von dem innigen
  • Wunsche nach Frieden beseelt wären. Ich hatte gesehen und bereits die
  • Erfahrung gemacht, daß man durch persönliche Unterhandlungen und
  • Aufklärungen viele Streitigkeiten beilegen konnte, die niemals auf dem
  • Aktenwege zu erledigen sind. Ich dachte mir, wenn es auch heute keine
  • solche Stellungen gebe, so würde ich doch, wenn mein Werk ganz fertig
  • und bereits erschienen sei, einen solchen Posten erhalten, und ich
  • entwarf in Gedanken bereits einen Plan, ein Projekt, in dem ich darlegen
  • wollte, wie ich mich Rußland durch die Fähigkeiten, die ich besaß,
  • nützlich und notwendig erweisen könnte. Ich schmiedete die kühnsten
  • Pläne, da sie sich jedoch lediglich auf den Erfolg meines Werkes
  • gründeten, zerfielen sie sogleich in sich, als mir die Fähigkeit,
  • dichterische Werke zu schaffen, verloren gegangen war. Jetzt sind in
  • meinen Augen alle Ämter und Stellungen gleichwertig, jeder Posten -- der
  • kleinste wie der größte -- hat die gleiche Bedeutung, wenn man ihn nur
  • mit dem gebührenden Ernst ansieht, und es will mir so scheinen, daß man,
  • wenn man den Menschen nur ein wenig zu schätzen weiß und einen Begriff
  • von seiner Würde hat, die ihm selbst dann noch erhalten bleibt, wenn der
  • Mensch viele Fehler und Mängel hat, daß man, sofern man nur etwas
  • wahrhaft christliche Liebe für ihn hat und endlich von wirklicher Liebe
  • zu Rußland erfüllt ist, wie ich glaube, in jeder Stellung sehr viel
  • Gutes wirken kann. Die Kraft des sittlichen Einflusses übertrifft alles
  • andere. Ein Amt und eine Stellung wären für mich dasselbe wie ein Hafen
  • und das Festland für einen Seefahrer. Ich bin überzeugt, daß heutzutage
  • ein jeder, der von dem heißen Wunsch nach dem Guten verzehrt wird, der
  • ein Russe ist und dem Rußlands Ehre am Herzen liegt ... sich ebenso und
  • mit demselben Eifer zu vielen Ämtern und Stellungen im Staate drängen
  • sollte, wie einstmals jeder von uns in die Reihen trat, um das Vaterland
  • gegen den Feind zu verteidigen; denn das Unrecht und die Zahl der Übel
  • sind groß, und sie haben schon viel Schmach über uns gebracht.
  • Andererseits aber bin ich auch überzeugt, daß wir schon um unserer
  • selbst willen ein Amt und eine Stellung brauchen, um ... So stürmisch
  • und aufgeregt die heutige Zeit ist, so erregt und bewegt auch die
  • Geister um uns herum sind, so sehr uns unser eigener Verstand empört,
  • man kann bei alledem doch ruhig bleiben, wenn man nur zu dem Zweck eine
  • Stellung annimmt, um seine Pflicht so zu erfüllen, daß man dem Himmel
  • Rechenschaft dafür abzulegen vermag und sich dessen nicht zu schämen
  • braucht. Wie dem auch sein mag, das Leben ist für uns kein Rätsel mehr.
  • Es war einmal ein Rätsel, als die klügsten unter den Menschen, die
  • Denker und Dichter, über es nachsannen und zur Überzeugung kamen, daß
  • sie nicht wissen, was das Leben ist. Aber nachdem einmal einer -- der
  • der klügste von ihnen allen war -- es mit voller Sicherheit und ohne zu
  • schwanken oder zu zweifeln ausgesprochen hat, _Er_ wisse, was das Leben
  • sei; seitdem dieser _Eine_ von allen anerkanntermaßen für den größten
  • aller Menschen, die bisher gelebt haben, selbst von denen, die nicht
  • zugeben wollen, daß Er Gott sei, gehalten wird, muß man Ihm aufs Wort
  • glauben, selbst wenn Er nur ein einfacher Mensch gewesen sein sollte.
  • Folglich ist die Frage: Was ist das Leben? gelöst.
  • Das aber genügt noch nicht. Uns ward ein vollständiges und umfassendes
  • Gesetz für alle unsere Handlungen gegeben -- ein Gesetz, das keine
  • Gewalt in seiner Wirkung zu hemmen oder zu beschränken vermag, das man
  • selbst bis in die Mauern des Gefängnisses tragen, das man jedoch nicht
  • erfüllen kann, wenn man in der Luft schwebt; dazu muß man zum mindesten
  • ein festes irdisches Fundament unter den Füßen haben. Wenn man ein Amt
  • und eine Stellung innehat, befindet man sich doch immer auf einem
  • bestimmten Wege; besitzt man dagegen keine bestimmte Stellung und kein
  • Amt, so geht man aufs Geratewohl durch Gestrüpp und Schluchten, wenn man
  • auch das gleiche Ziel im Auge behält. Auf einem Wege geht sich's
  • leichter als dort, wo es keine Wege gibt. Wenn man Amt und Stellung als
  • Mittel zu einem Ziel betrachtet, das nicht auf der Erde liegt, sondern
  • als einen Weg zum himmlischen Ziel -- zur Rettung unserer Seele --
  • ansieht, so erkennt man, daß das Gesetz, das uns Christus gegeben hat,
  • nur für uns selbst gegeben ward, daß er sich gleichsam an uns selbst
  • wendet, um uns klar und deutlich zu zeigen, wie wir uns an der Stelle,
  • an der wir stehen, und in dem Berufe, den wir uns erwählt haben,
  • verhalten sollen. Es ward dem Christen mit aller Bestimmtheit und
  • Deutlichkeit gesagt, wie er sich gegen Höhergestellte benehmen soll, und
  • wenn er nur einen Teil davon erfüllt, so werden ihn alle, die über ihm
  • stehen, liebgewinnen. Es ward dem Christen in aller Bestimmtheit und
  • Deutlichkeit gesagt, wie er sich gegen die verhalten soll, die unter ihm
  • stehen, und wenn er nur einen Teil hiervon erfüllt, so werden ihm alle
  • unter ihm Stehenden von Herzen ergeben sein. Diese ganze Universalität
  • des menschenfreundlichen Gesetzes Christi, dieses Verhältnis der
  • Menschen untereinander kann von jedem von uns auf seine begrenzte Sphäre
  • angewandt und übertragen werden. Wir brauchen bloß alle Menschen, mit
  • denen wir so häufig in unangenehmster und peinlichster Art
  • zusammenstoßen, zu unseren Nächsten und unseren Brüdern zu machen, zu
  • jenen Nächsten, denen uns Christus am meisten zu vergeben und die Er uns
  • am meisten zu lieben geboten hat. Man braucht bloß nicht darauf zu
  • achten, wie die anderen sich gegen uns verhalten, und nur daran zu
  • denken, wie man selbst gegen andere Leute handelt. Man braucht bloß
  • nicht daran zu denken, wie die anderen uns lieben, sondern bloß darauf
  • zu achten, ob man sie auch _selbst_ liebt. Man braucht nur, ohne sich
  • durch irgend etwas gekränkt zu fühlen, dem ersten, dem man begegnet, die
  • Hand zur Versöhnung entgegenzustrecken. Man braucht bloß eine kurze Zeit
  • lang so zu handeln und man wird bald inne werden, daß der Umgang mit
  • anderen Leuten uns selbst und daß ihnen der Umgang mit uns viel leichter
  • wird; dann wird man wirklich die Kraft in sich fühlen, auch an einer
  • unscheinbaren Stelle manch nützliche Tat zu vollbringen. Am schwersten
  • hat es der in der Welt, der noch nicht irgendwo festen Fuß gefaßt hat,
  • der sich's nicht klarmacht, worin sein Beruf besteht: ihm ist es am
  • schwersten, das Gesetz Christi auf sich anzuwenden, das doch dazu da
  • ist, um auf der Erde und nicht in der Luft verwirklicht zu werden; daher
  • muß auch das Leben ein ewiges Rätsel für ihn sein. Ihm gegenüber ist
  • sogar der Gefangene, der im Kerker schmachtet, noch im Vorteil: er weiß,
  • daß er ein Gefangener ist, und er weiß daher auch, was von dem Gesetz er
  • für sich auswählen muß. Ihm gegenüber ist noch der Bettler im Vorteil,
  • er hat auch ein Amt: er ist ein Bettler und weiß daher, was er für sich
  • aus dem Gesetz Christi schöpfen soll. Ein Mensch jedoch, der nicht weiß,
  • was sein Beruf, wo sein Platz ist, der sich nichts klar, der bei nichts
  • haltmacht und nirgends festen Fuß gefaßt hat, der hat weder in der Welt
  • noch außer der Welt ein Heim; er weiß nicht, wer sein Nächster ist, wer
  • seine Brüder sind, wen er lieben und wem er verzeihen soll (man kann
  • nicht die ganze Welt lieben, wenn man nicht erst einmal die lieben
  • lernt, die einem am nächsten stehen und die Gelegenheit haben, uns
  • Kummer zu bereiten): sein Gemütszustand hat die meiste Ähnlichkeit mit
  • einer trockenen mattherzigen Seelenverfassung.
  • So war ich denn nach vielen Jahren langer Mühe und mancherlei Versuchen
  • und häufigem Nachdenken, auf meinem Wege sichtlich vorwärtsschreitend,
  • endlich zu dem Ergebnis gelangt, von dem ich schon während meiner
  • Kindheit geträumt hatte, daß das Dienen die Bestimmung des Menschen und
  • daß unser ganzes Leben ein einziger Dienst ist. Man darf nur nicht
  • vergessen, daß man ein Amt im irdischen Staate übernimmt, um dadurch dem
  • himmlischen König zu dienen, und daher Sein Gesetz stets im Auge
  • behalten muß. Nur wenn man seinen Dienst in dieser Weise auffaßt, kann
  • man es allen recht machen: dem König, dem Volk und seinem Vaterland.
  • Als ich diese Überzeugung gewonnen hatte, war ich schon bereit, mich
  • voller Eifer jedem Amte zu widmen, obwohl ich natürlich bemüht war, mir
  • mit Rücksicht auf meine Fähigkeiten einen solchen Beruf zu wählen, der
  • mich auch weiter in den Stand setzen würde, die Menschen in Rußland auch
  • in der Praxis kennen zu lernen; damit ich, wenn sich bei mir die
  • Fähigkeit zum dichterischen Schaffen wieder einstellen sollte, über ein
  • ausreichendes Material verfügte. Und so war auch einer der Gründe meiner
  • Reise ins Heilige Land der ehrliche Wunsch, an jener Stelle zu Gott zu
  • beten und mir von Ihm, Der uns in jenen Gegenden, die einst Sein Fuß
  • durchschritten, das Geheimnis des Lebens offenbart hat, den Segen für
  • eine rechtschaffene Erfüllung meiner Pflicht und für meinen Eintritt ins
  • Leben zu erflehen; ich wollte Ihm für alles danken, was sich in meinem
  • Leben ereignet hatte, mir von Ihm eine Tätigkeit erbitten und Ihn um
  • Belebung und Erfrischung für den weiteren Weg und das Werk, für das ich
  • mich herangebildet und vorbereitet hatte, anflehen. Und darin finde ich
  • nichts Merkwürdiges, da doch auch der Schüler nach Beendigung seines
  • Lehrganges sich beeilt, dem Lehrer ein Wort des Dankes zu sagen. Wenn
  • doch auch der Sohn zum Grabe des Vaters eilt, bevor er seine Tätigkeit
  • beginnt, warum sollte _ich_ nicht jenem Grabe Ehre und Anbetung
  • erweisen, das alle verehren, an dem allen Trost und Kräftigung zuteil
  • wird und vor dem alle Menschen -- auch solche, die keine Dichter sind --
  • von Begeisterung ergriffen werden. Es ist vielleicht recht sonderbar,
  • daß ich in einem gedruckten Buche hierüber geredet habe; aber ich hatte
  • mich damals gerade von einer schweren Krankheit erholt. Ich war noch
  • recht schwach und glaubte gar nicht, daß ich imstande sein würde, diese
  • Reise zu vollenden. Ich wollte, daß _die_ für mich beten sollten, deren
  • ganzes Leben ein einziges Gebet geworden war, wußte nicht, wie ich es
  • anstellen sollte, daß meine Stimme bis in die Tiefe der Klosterzellen
  • und in die Mauern der Einsiedler dränge, und ich dachte, daß vielleicht
  • einer von denen, die mein Buch lesen würden, mein Wort bis an das Ohr
  • jener tragen möchte. Ich bat auch die anderen, für mich zu beten, weil
  • ich nicht wußte, wessen Gebet Ihm wohlgefälliger ist, zu Dem wir alle
  • beten. Ich weiß nur das eine, daß der Geringste und Schlechteste unter
  • uns schon morgen ein besserer Mensch werden kann als wir alle und daß
  • sein Gebet eher bis an Gottes Ohr dringen kann als jedes andere Gebet.
  • Dafür hätte man mich nicht so strenge verurteilen sollen; man hätte
  • lieber an die Worte »_Bittet, so wird euch gegeben_« denken und dies
  • Gebot erfüllen sollen.
  • Wie es geschehen konnte, daß ich nun genötigt bin, dem Leser über dies
  • alles Auskunft zu geben, das kann ich selbst nicht begreifen. Ich weiß
  • nur das eine: daß ich nie den Wunsch hatte, mich über meine geheimsten
  • und innersten Seelenregungen zu äußern -- nicht einmal meinen
  • aufrichtigsten Freunden gegenüber. Ich war fest entschlossen, nichts von
  • meinen Seelenerlebnissen zu verraten und alle Urteile, die über mich
  • gefällt wurden, ruhig über mich ergehen zu lassen, da ich fest davon
  • überzeugt war, daß, wenn erst der zweite und dritte Band der »Toten
  • Seelen« erscheinen würden, sich alles aufklären und niemand mehr die
  • Frage stellen würde: was ist der Autor selbst für ein Mensch? trotzdem
  • der Autor gänzlich hinter seinen Helden verschwinden sollte. Nachdem ich
  • mich jedoch einmal darauf eingelassen hatte, gewisse Erklärungen über
  • meine Werke abzugeben, war es ganz unvermeidlich, daß ich auch von mir
  • selbst reden mußte, weil meine Werke auf das engste mit meinen geistigen
  • und seelischen Angelegenheiten in Zusammenhang stehen. Gott weiß,
  • vielleicht geschah auch dies ohne den Willen Dessen, ohne Den in der
  • Welt nichts geschieht; ja, vielleicht mußte dies gerade deswegen
  • geschehen, damit ich einen Einblick in mein eigenes Innere gewinnen
  • konnte. Die Versuchung, hochmütig zu werden, lag mir sehr nahe,
  • besonders nachdem es mir gelungen war, mich tatsächlich von einigen
  • Fehlern und Mängeln zu befreien. Dieser Hochmut nistete beständig in
  • meiner Seele und niemand hat mich darauf aufmerksam gemacht. Bekanntlich
  • genügt es schon, sich eine gewisse Glätte, ein gewisses Gleichmaß und
  • eine gewisse Nachsicht und Toleranz im Umgang mit den Menschen
  • anzueignen, damit sie unsere Fehler übersehen und nicht beachten. Wenn
  • man sich dagegen vor unbekannten Leuten und vor der ganzen Welt zur
  • Schau stellt, und wenn jede unserer Handlungen und Taten bis ins
  • einzelne zerfasert wird, wenn Menschen der verschiedensten Denkungsart,
  • der verschiedensten Anschauungen und mit den verschiedensten Vorurteilen
  • sich jeder nach seiner Weise ein Bild von uns machen, wenn dann von
  • allen Seiten berechtigte und unberechtigte Vorwürfe auf einen
  • niederhageln und mit Vorbedacht oder auch ohne böse Absicht an die
  • empfindlichsten Seiten unseres Wesens rühren, dann fängt man an -- ob
  • man nun will oder nicht -- sich von solch einer Seite zu sehen, von der
  • man sich noch nie gesehen hat, und man beginnt Fehler und Mängel in sich
  • zu suchen, die man sonst nie in sich gesucht hätte. Das ist eine
  • furchtbare Schule, die einen entweder um den Verstand bringt oder klüger
  • und vernünftiger macht, als man jemals war. Nicht ohne Scham und ohne
  • Erröten lese ich vieles in meinem Buche, trotzdem aber danke ich Gott,
  • daß Er mir die Kraft gegeben hatte, es herauszugeben. Ich brauchte einen
  • Spiegel, in dem ich mich erblicken und besser erkennen konnte, ohne dies
  • Buch aber wäre ich schwerlich in den Besitz eines solchen Spiegels
  • gekommen. Und so hat denn mein Buch, das aus der ehrlichen Absicht
  • entsprungen war, anderen zu nützen, vor allem mir selbst am meisten
  • genützt.
  • Es sei mir erlaubt, an dieser Stelle auch einige Worte über den Nutzen
  • zu sagen, den mein Buch anderen Leuten bringen kann. Ist mein Buch
  • wirklich so ganz wertlos für andere Menschen, besonders aber für die
  • Gesellschaft, wie sie heute ist? Mir scheint, alle, die über dies Buch
  • geurteilt haben, haben es mit zu weit aufgerissenen Augen und gar zu
  • hitzig und heftig betrachtet. Man hätte es weit kaltblütiger beurteilen
  • sollen. Statt als Vorkämpfer der ganzen Gesellschaft aufzutreten und
  • mich im Angesicht des ganzen russischen Vaterlandes vor Gericht zu
  • laden, hätte man die Sache viel einfacher ansehen sollen. Man hätte das
  • Buch analysieren, man hätte feststellen sollen, was es seinem innersten
  • Wesen nach ist, und man hätte nicht eher auf die Einzelheiten und die
  • Teile eingehen dürfen, als bis man sich den inneren Sinn des Ganzen
  • völlig klargemacht hatte. Nun aber hatte das allerhand törichte
  • Wortstreitigkeiten zur Folge, ja vielem wurde ein solcher Sinn
  • untergelegt, von dem ich mir nie hatte etwas träumen lassen.
  • Zunächst hätte ich jederzeit das Recht gehabt, davon zu reden, wovon ich
  • in meinem Buche gesprochen habe, wenn ich mich nur einfacher und
  • schicklicher ausgedrückt hätte. Es ist mir nie eingefallen, die Menschen
  • in der Weise belehren zu wollen, wie mir das einige imputieren wollten.
  • Das _Lehren_ verstand ich in dem einfachen Sinne, den die Kirche im Auge
  • hat, wenn sie gebietet, einander unaufhörlich zu belehren, wobei man es
  • verstehen muß, mit derselben Freude Ratschläge von anderen
  • entgegenzunehmen, mit der man selbst anderen welche erteilt. Ich aber
  • war damals wirklich bereit, Ratschläge von anderen Menschen
  • entgegenzunehmen. Ich stellte mir die Gesellschaft keineswegs als eine
  • Schule vor, die mit Schülern von mir angefüllt ist, deren Lehrer ich
  • bin. Ich bestieg mit meinem Buch kein Katheder und verlangte nicht, daß
  • alle aus diesem Buche lernen sollten. Ich kam zu meinen Mitbrüdern und
  • Mitschülern wie ein ihnen gleichgestellter Schulkamerad; ich brachte
  • einige Hefte mit, in denen ich die Worte des Lehrers nachgeschrieben
  • hatte, von Dem wir alle lernen; ich brachte vielerlei mit; mochte sich
  • jeder das davon wählen, was er brauchen konnte. Es waren Briefe
  • darunter, die an Personen von verschiedenem Charakter und verschiedenen
  • Anlagen und Neigungen gerichtet waren. Viele von diesen Personen standen
  • auf ganz verschiedenen Stufen der geistigen Entwicklung; daher konnten
  • sich diese Briefe unmöglich in gleicher Weise auf alle Menschen beziehen
  • und auf sie alle passen. Ich dachte mir, jeder würde sich nur das davon
  • aneignen, was er brauchte, und das andere nicht beachten. Ich hatte
  • nicht geglaubt, daß so mancher gerade danach greifen würde, dessen ein
  • anderer bedurfte, ausrufen würde: »Das kann ich nicht brauchen!« und mir
  • dann noch zürnen würde. Ich wollte auch keine neue Lehre verkünden. Als
  • ein Schüler, der in einigen Fächern etwas weiter fortgeschritten ist als
  • ein anderer Mitschüler, wollte ich es den übrigen Kameraden bloß
  • klarmachen, wie man die Lektion, die uns von dem besten aller Lehrer
  • aufgegeben wird, am schnellsten und leichtesten lernt. Ich hatte
  • geglaubt, wenn man mein Buch gelesen haben würde, würde man zu mir
  • sagen: »Ich danke dir, Mitbruder!« und nicht: »Ich danke dir, mein
  • Lehrer!« Wenn nur nicht mein »Testament« gewesen wäre, das ich
  • unvorsichtigerweise mitaufgenommen habe und in dem ich auf die Belehrung
  • anspielte, die jeder Autor seinen Mitmenschen mit seinen poetischen
  • Werken erteilen sollte, so wäre es niemand eingefallen, mir solche
  • apostolische Absichten zuzuschreiben, trotz meines ziemlich
  • entschiedenen Tons, ja sogar trotz der lyrischen Feierlichkeit meiner
  • Rede. Dagegen wird ein jeder, der bereits in seine eigene Seele zu
  • blicken vermag, meinem Buche mancherlei entnehmen können, was ihm von
  • Nutzen sein dürfte.
  • Was ferner die Meinung anbetrifft, daß mein Buch schädlich wirken müsse,
  • so kann ich dies unter keinen Umständen zugeben. In dem Buche kommt
  • trotz all seiner Mängel die gute Absicht und die Liebe zum Guten viel zu
  • deutlich zum Ausdruck. Trotz vieler unbestimmter und dunkler Stellen
  • leuchtet der Grundgedanke ganz klar aus ihm hervor; und wenn man das
  • Werk gelesen hat, kommt man zu der gleichen Überzeugung: nämlich daß die
  • höchste Instanz in allen Fragen die Kirche und daß _sie_ der Schlüssel
  • zu allen Fragen des Lebens ist. Folglich wird sich der Leser nach der
  • Lektüre meines Buches auf jeden Fall an die Kirche wenden, _in_ der
  • Kirche aber wird er wiederum nur die Lehrer der Kirche finden, die ihn
  • darüber belehren werden, was er sich aus meinem Buche für seine Zwecke
  • aneignen soll; vielleicht aber werden sie ihm auch andere bedeutsamere
  • Bücher statt des meinen geben, um derentwillen er _mein_ Buch
  • beiseitelegen wird, so wie ein Schüler das Buchstabieren aufgibt, wenn
  • er frei lesen gelernt hat.
  • Zum Schluß muß ich noch folgendes bemerken: die Urteile, die über mein
  • Buch gefällt wurden, waren wirklich gar zu apodiktisch und scharf, und
  • keiner, der mir Mangel an echter Bescheidenheit vorgeworfen hat, hat mir
  • gegenüber die rechte Bescheidenheit an den Tag gelegt. Angenommen
  • selbst, ich hätte mir in meinem Hochmut, der aus dem Glauben an meine
  • Vorzüge entsprang, die mir von allen Leuten zugeschrieben wurden,
  • einbilden können, daß ich höher stehe als alle anderen Menschen und daß
  • ich das Recht habe, über andere Leute zu richten, worauf aber könnte
  • sich der stützen, der mit solcher Sicherheit über mich zu Gericht sitzt
  • und nicht einmal das Gefühl hat, daß er höher steht als ich? Wie dem
  • auch sein mag, um ein allseitiges Urteil über einen Menschen zu fällen,
  • dazu muß man höher stehen als der, über den man richtet. Man kann wohl
  • gewisse Bemerkungen über diese oder jene Einzelheit machen, man kann
  • Meinungen äußern und Ratschläge erteilen, allein über den ganzen
  • Menschen aburteilen, indem man sich auf diese Ratschläge stützt, ihn für
  • völlig verrückt erklären, behaupten, er habe seinen Verstand verloren,
  • er sei ein Lügner und Betrüger, der die Maske der Frömmigkeit angelegt
  • habe, ihm gemeine und niederträchtige Absichten unterlegen -- nein, das
  • sind Beschuldigungen, wie ich sie niemals, nicht einmal gegen einen
  • offenkundigen Schurken, der das Schandmal der öffentlichen Verachtung
  • trägt, vorzubringen imstande wäre. Mir scheint, ehe man solche
  • Beschuldigungen ausspricht, müßte man innerlich erschrecken und erbeben,
  • man sollte erst ein wenig darüber nachdenken, wie uns selbst wohl dabei
  • zumute wäre, wenn öffentlich und vor aller Welt solche Anschuldigungen
  • gegen uns erhoben würden! Es wäre wirklich gut, wenn man sich's erst ein
  • wenig überlegte, ehe man eine solche Beschuldigung erhebt: »Irre ich
  • mich auch selbst nicht? Ich bin doch auch ein Mensch! Es handelt sich
  • hier um die Seele. Die Seele des Menschen ist ein Brunnen, zu dem es
  • nicht für alle einen Zugang gibt, und man darf sich nicht auf die äußere
  • scheinbare Ähnlichkeit gewisser Merkmale verlassen. Oft haben schon die
  • geschicktesten Ärzte eine Krankheit für eine andere gehalten und ihren
  • Fehler erst dann erkannt, als sie bereits den Leichnam des Toten
  • secierten.« Nein, das Buch »Briefwechsel mit meinen Freunden« enthält,
  • so große Mängel es in jeder Hinsicht haben mag, doch auch viel
  • Derartiges, was nicht allen sofort verständlich sein kann. Es nützt
  • nichts, sich darauf zu berufen, daß man das Buch zwei- oder dreimal
  • gelesen hat: manch einer kann es zehnmal lesen, und es wird doch nichts
  • dabei herauskommen. Um dieses Buch nur im mindesten nachzuerleben, muß
  • man entweder eine sehr einfache und gütige Seele haben oder ein sehr
  • vielseitiger Mensch sein, der außer einem Verstande, der die Dinge von
  • allen Seiten zu umfassen vermag, auch noch über ein hohes poetisches
  • Talent und eine Seele verfügt, die einer vollen, großen und tiefen Liebe
  • fähig ist.
  • Ich kann nicht leugnen, daß diese ganzen Wirrnisse und diese
  • Mißverständnisse sehr bitter für mich waren -- um so mehr, als ich
  • geglaubt hatte, daß mein Buch eher den Keim zur Versöhnung als zu Streit
  • und Zwietracht enthalte. Meine Seele wäre unter all den Vorwürfen
  • zusammengebrochen; manche darunter waren so fürchterlich, daß Gott jeden
  • vor solchen Anklagen bewahren möge! Andererseits aber fühle ich mich
  • verpflichtet, denen meinen Dank auszusprechen, die mich auch wegen
  • vieler Verfehlungen hätten mit Vorwürfen überschütten können, die mich
  • aber in dem Gefühl, daß sie bereits das Maß dessen überstiegen, was die
  • schwache Natur des Menschen zu ertragen vermag, mit der Hand eines
  • mitleidigen Bruders erhoben und mir Mut zugesprochen haben. Gott möge es
  • ihnen vergelten! Ich kenne keine größere Tat, als einem Menschen, der
  • den Mut verliert, hilfreich die Hand zu reichen.
  • 1847.
  • An W. A. Schukowski
  • Neapel, den 10. Januar 1848./29. Dezember 1847.
  • Ich bin in deiner Schuld, lieber Freund! Jeden Tag nehme ich mir vor, zu
  • schreiben -- aber eine unbegreifliche _Unlust_ hindert mich immer wieder
  • daran. Wieder liegen Neapel, der Vesuv und das Meer vor mir! Die Tage
  • fliehen in steter Beschäftigung dahin, die Zeit vergeht so schnell, daß
  • man nicht weiß, wie man eine Stunde erübrigen soll. Ich lerne wie ein
  • Schuljunge und hole alles nach, was ich in der Schule zu lernen
  • unterlassen habe. Aber wozu soll ich davon erzählen! Ich möchte davon
  • sprechen, wovon ich mit dir allein sprechen kann: nämlich von unserer
  • lieben _Kunst_, für die ich lebe und um derentwillen ich jetzt arbeite
  • und lerne wie ein Schulknabe. Da ich jetzt vor einer Reise nach
  • Jerusalem stehe, möchte ich dir mein Herz ausschütten; wem gegenüber
  • könnte ich das auch tun, wenn nicht dir gegenüber? Die Literatur hat ja
  • doch fast mein ganzes Leben ausgefüllt, und hier liegen meine
  • Hauptsünden.
  • Nun sind es bald zwanzig Jahre, daß ich, ein Jüngling, der kaum ins
  • Leben getreten war, zum erstenmal zu _dir_ kam, der bereits den halben
  • Weg auf diesem Felde zurückgelegt hatte. Das war im Schlosse von
  • Schepelejow. Das Zimmer, wo diese Begegnung stattfand, existiert bereits
  • nicht mehr; aber ich sehe es noch deutlich und in allen Einzelheiten --
  • bis auf das kleinste Möbelstück und die geringsten Sachen, die darin
  • standen, vor mir, wie wenn es heute wäre. Du reichtest mir die Hand und
  • warst ganz erfüllt vom Verlangen, dem künftigen Mitkämpfer zu helfen.
  • Wie wohlwollend und liebevoll war dein Blick! ... Was war es, das uns,
  • zwei Menschen von so verschiedenem Alter, zusammenführte? Es war die
  • Kunst! Wir fühlten, daß zwischen uns eine Verwandtschaft bestand, die
  • stärker war als die gewöhnliche Blutsverwandtschaft. Und woher kam das?
  • Weil wir beide etwas von der Heiligkeit der Kunst verspürt hatten.
  • Es ist nicht meine Sache, zu entscheiden, in welchem Maße ich Dichter
  • bin; ich weiß nur das eine, daß ich, noch ehe ich die Bedeutung und das
  • Ziel der Kunst verstehen lernte, schon wie durch einen geheimen Instinkt
  • meiner ganzen Seele empfand, daß sie was Heiliges sein müsse. Und so
  • wurde sie denn, wohl von dieser unserer ersten Begegnung ab, das
  • _Erste_, die _wichtigste Angelegenheit_ meines Lebens, während alles
  • andere an die zweite Stelle rückte. Es schien mir so, als ob ich mich
  • von nun ab durch keine anderen Bande mehr an die Erde fesseln lassen
  • dürfte, weder durch die Familie, noch durch das amtliche Leben des
  • Bürgers, und daß die literarische Laufbahn auch eine Art Dienst sei.
  • Noch gab ich mir keine Rechenschaft (konnte ich sie mir denn damals auch
  • geben?), was der Gegenstand meiner literarischen Tätigkeit sein müsse,
  • aber schon regte sich die schöpferische Kraft in mir und ich wurde durch
  • die näheren Lebensumstände selbst auf bestimmte Gegenstände hingewiesen.
  • Dies alles spielte sich gleichsam unabhängig von meiner eigenen (freien)
  • Willkür ab. So dachte ich zum Beispiel niemals daran, daß ich einmal ein
  • satirischer Schriftsteller werden und meine Leser zum Lachen reizen
  • würde. Allerdings hatte ich schon in der Schule bisweilen eine gewisse
  • Neigung zur Lustigkeit und ich plagte meine Mitschüler mit unpassenden
  • Scherzen. Aber das waren vorübergehende Anwandlungen; im allgemeinen
  • hatte ich eher einen melancholischen Charakter und ein zum Nachdenken
  • neigendes Wesen. Später kamen noch Krankheit und Hypochondrie dazu, und
  • diese Krankheit und Hypochondrie waren die Ursache jener ausgelassenen
  • Lustigkeit, die sich in meinen ersten Werken bemerkbar macht. Um mich
  • selbst zu zerstreuen, pflegte ich mir ohne jede weitere Absicht und ganz
  • planlos gewisse Charaktere auszudenken, die ich dann in komische
  • Situationen versetzte -- und das war der Ursprung meiner Erzählungen!
  • Meine Leidenschaft für die Menschenbeobachtung, die mich schon seit den
  • frühesten Tagen meiner Kindheit erfüllte, verlieh meinen Gestalten etwas
  • Natürliches; man sagte sogar von ihnen, es seien getreue Porträts nach
  • der Natur. Dazu kommt noch ein anderer Umstand: mein Lachen hatte
  • anfänglich etwas Gutmütiges, ich dachte gar nicht daran, irgendein Ding
  • in einer ganz bestimmten Absicht zu verspotten, und ich war aufs höchste
  • erstaunt, wenn ich hörte, es fühle sich jemand gekränkt oder ganze
  • Gesellschaftsklassen und -stände zürnten mir darob, so daß ich
  • schließlich nachdenklich wurde. »Wenn die Macht des Gelächters so groß
  • ist, daß man es fürchtet, so darf man es nicht mißbrauchen.« Ich
  • entschloß mich also, alles Schlechte, das mir bekannt war, zu sammeln,
  • in einem Ganzen zusammenzufassen und dann dieses Ganze dem Gelächter
  • preiszugeben -- so entstand der »Revisor«. Das war mein erstes Werk, das
  • aus der Absicht entsprang, einen heilsamen Einfluß auf die Gesellschaft
  • auszuüben, was mir übrigens nicht gelungen ist: man hat aus der Komödie
  • die Absicht herauserkennen wollen, die gesetzliche Ordnung und unsere
  • Regierungsform zu verspotten, während ich nur die eigenmächtige
  • Übertretung dieser rechtmäßigen und gesetzmäßig sanktionierten Ordnung
  • durch einzelne Personen verspotten wollte. Ich zürnte sowohl meinen
  • Zuschauern, die mich nicht verstanden hatten, als auch mir selbst, der
  • die Schuld daran trug, daß ich nicht verstanden worden war. Ich wollte
  • entfliehen und alles im Stiche lassen. Meine Seele dürstete nach der
  • Einsamkeit, ich hatte das Bedürfnis, aufs ernsthafteste über meinen
  • Beruf und meine Tätigkeit nachzudenken. Schon lange trug ich mich mit
  • dem Gedanken an ein _großes Werk_, in dem alles Gute und Böse, das es im
  • russischen Menschen gibt, dargestellt und in dem die _Eigenart_ unseres
  • russischen Wesens möglichst klar und deutlich sichtbar gemacht werden
  • sollte. Ich sah und konnte wohl viele von den Teilen einzeln erfassen,
  • aber der Plan des Ganzen wollte sich mir nicht zu voller Klarheit
  • gestalten und so bestimmte Formen annehmen, daß ich ans Werk gehen und
  • mit der Niederschrift beginnen konnte. Bei jedem Schritt fühlte ich, daß
  • mir noch vieles fehlte, daß ich es noch nicht verstand, den Knoten der
  • Vorgänge und Begebenheiten zu schürzen und ihn wieder zu lösen, und daß
  • ich erst bei den großen Meistern in die Schule gehen und von ihnen
  • lernen mußte, wie man ein großes Werk aufbauen und komponieren muß. Ich
  • begann also die großen Meister zu studieren und machte zunächst den
  • Anfang mit unserem lieben Homer. Schon kam es mir so vor, als ob ich
  • etwas zu verstehen begann und sogar anfing, mir ihre Methoden und sogar
  • ihre Kunstgriffe zu eigen zu machen, -- allein die schöpferische
  • Fähigkeit wollte sich noch immer nicht einstellen. Mein Kopf tat mir weh
  • von all der Anstrengung. Nur unter Aufwendung großer Mühen gelang es
  • mir, wenigstens den ersten Teil der »Toten Seelen« herauszugeben,
  • gleichsam um hierbei zu erkennen, wie weit ich noch von dem Ziele
  • entfernt war, nach dem ich strebte. Danach aber wurde ich wieder von
  • einer unfruchtbaren Stimmung erfaßt. Ich kaute an meiner Feder, meine
  • Nerven und alle meine Kräfte waren in einem Zustande der Erregung -- und
  • es kam nichts zustande, ich glaubte schon, ich hätte die Fähigkeit zum
  • literarischen Schaffen völlig verloren. Da ließen mich plötzlich
  • Krankheit und schwere seelische Zustände dies alles, ja sogar jeden
  • Gedanken an die Kunst vergessen und lenkten mich wieder auf das hin,
  • wozu ich schon früher, noch ehe ich Schriftsteller geworden war, immer
  • Lust verspürt hatte -- nämlich auf die Beobachtung des inneren Menschen
  • und der _Menschenseele_. Oh, um wieviel tiefer ist die Erkenntnis, die
  • einem aufgeht, wenn man mit seiner eigenen Seele beginnt! Auf diesem
  • Wege trifft man auch ganz unwillkürlich _näher_ mit _Ihm_ zusammen, Der
  • allein unter allen Menschen, die bisher auf Erden wandelten, in Seiner
  • Person eine volle Erkenntnis der Menschenseele an den Tag gelegt hat;
  • selbst wenn die Welt Seine Göttlichkeit leugnen wollte, diese
  • Eigenschaft könnte sie Ihm niemals abstreiten, es sei denn, daß sie
  • nicht bloß _blind_, sondern ganz einfach _dumm_ geworden wäre. Durch
  • diese schroffe Wendung, die nicht mit meinem Willen geschah, wurde ich
  • dazu veranlaßt, überhaupt tiefer in die Seele hinabzublicken, um zu
  • erfahren, daß es höhere Grade und höhere Erscheinungsformen des
  • Seelischen gibt. Von da ab begann die schöpferische Fähigkeit wieder in
  • mir zu erwachen: wieder beginnen lebendige Gestalten in voller Klarheit
  • vor mir aus dem Nebel emporzutauchen, ich fühle, daß die Arbeit mir
  • glücken, ja, daß selbst meine Sprache korrekt und klangvoll werden und
  • daß mein Stil erstarken wird. Vielleicht wird noch einmal ein künftiger
  • Kreisschullehrer unmittelbar nach einer Seite aus einem Werke von dir
  • seinen Schülern eine Seite aus meiner künftigen Prosa vorlesen und
  • erklärend hinzufügen: »Beide Schriftsteller haben richtig geschrieben,
  • obwohl sie einander nicht gleichen.« Die Herausgabe meines Buches
  • »Briefwechsel mit meinen Freunden«, mit der ich mich (aus lauter Freude,
  • daß meine Feder wieder einmal in Schwung gekommen war) so beeilt habe,
  • ohne zu überlegen, daß ich, bevor ich mit diesem Buche jemand zu nützen
  • vermochte, mit ihm vielen Leuten den Kopf verwirren konnte, hat mir
  • selbst manchen Vorteil gebracht. An diesem Buche ist es mir klar
  • geworden, wo und in welchem Punkte ich ein Opfer jener Maßlosigkeit und
  • des Überschwangs geworden bin, dem in dem Übergangszustande, in dem sich
  • die Gesellschaft gegenwärtig befindet, fast jeder vorwärtsschreitende
  • Mensch verfällt. Trotz der Parteilichkeit, mit der dieses Buch beurteilt
  • wurde, und trotz der Widersprüche in der Beurteilung, kam doch
  • schließlich die allgemeine Stimme zur Geltung, die mir meinen Platz
  • anwies und mich auf die Grenzen aufmerksam machte, die ich als
  • Schriftsteller nicht überschreiten durfte. In der Tat, es ist nicht
  • meine Aufgabe, durch Predigen zu belehren. Die Kunst ist auch ohnedies
  • schon eine Lehrmeisterin. Meine Aufgabe ist es, durch _lebendige Bilder_
  • und nicht in der Form der Beweisführung zu den Menschen zu sprechen. Ich
  • muß das _Leben_ selbst und _als solches_ darstellen und nicht
  • Betrachtungen _über_ das Leben anstellen. Das ist eine völlig evidente
  • Wahrheit. Aber es ist die Frage: hätte ich auch ohne diesen großen Umweg
  • ein würdiger Vertreter der Kunst und ein schöpferischer Künstler werden
  • können? hätte ich das Leben so in seinen Tiefen darstellen können, daß
  • es den Menschen wirklich zur Belehrung dienen konnte? Wie vermöchte man
  • Menschen darzustellen, wenn man nicht vorher erkannt hat, was die _Seele
  • des Menschen_ ist? Ein Schriftsteller muß, wenn er bloß die
  • schöpferische Gabe besitzt, eigene Gestalten und Bilder zu produzieren,
  • erst einen Menschen und Bürger seines Landes aus sich machen; erst dann
  • darf er zur Feder greifen! Sonst wird ihm alles mißlingen. Was hilft's,
  • die Verächtlichen und Lasterhaften zu treffen, indem man sie vor allen
  • Menschen an den Pranger stellt, wenn das Ideal ihres Widerparts, das
  • Ideal des schönen Menschen in uns selbst noch nicht zur Klarheit und
  • Deutlichkeit gediehen ist? Wie soll man die Fehler und das Unwürdige im
  • Menschen darstellen, wenn man sich selbst noch nicht die Frage vorgelegt
  • hat: worin besteht denn eigentlich die Menschenwürde? und so lange man
  • noch keine einigermaßen befriedigende Antwort auf diese Frage gefunden
  • hat? Wie soll man die Ausnahmen verspotten, wenn man sich noch nicht
  • ganz über die Regeln klar ist, deren Ausnahmen die dargestellten Objekte
  • bilden? Das hieße doch das alte Haus einreißen, ehe man die Möglichkeit
  • hat, ein neues an seiner Stelle zu erbauen. Aber Kunst hat nichts gemein
  • mit Zerstörung. In der Kunst liegt ein Keim des Schöpferischen, ein
  • aufbauendes Element und nicht ein Element der Zerstörung. Das hat man
  • stets empfunden, selbst in Zeiten der allgemeinen Finsternis und
  • Unwissenheit. Bei den Klängen der orphischen Leier wurden Städte erbaut.
  • Trotz des noch ungeklärten und ungeläuterten Begriffs, den unsere
  • Gesellschaft von der Kunst hat, hört man doch schon allgemein sagen:
  • »Die Kunst versöhnt mit dem Leben.« Das ist wirklich wahr. Ein echtes
  • Kunstwerk enthält etwas Beruhigendes, Versöhnendes in sich. Während wir
  • es lesen, erfüllt sich unsere Seele mit einer ebenmäßigen Harmonie, und
  • wenn man es zu Ende gelesen hat, fühlt sie sich befriedigt: man wünscht
  • nichts mehr, man verlangt nach nichts, es regt sich kein Zorn und keine
  • Entrüstung wider unseren Bruder in unseren Herzen, eher noch ergießt
  • sich in ihm der Balsam einer alles vergebenden Liebe zu unseren Brüdern;
  • überhaupt regt sich kein _Tadel_ gegen die Handlungsweise der anderen in
  • uns, sondern alles fordert uns zur _Betrachtung_ unseres eigenen Ichs
  • auf. Wenn vom Werk des Künstlers keine solche Wirkung ausgeht, so ist es
  • nichts als die edle Regung einer glühenden Seele, die Frucht einer
  • vorübergehenden Stimmung des Autors. Es wird wohl weiterleben, wie eine
  • beachtenswerte Erscheinung, aber sich nicht den Namen eines Kunstwerks
  • verdienen. Und das mit Recht. Die Kunst ist eine Macht, die mit dem
  • Leben versöhnt.
  • Die Kunst soll unsere Seele mit Harmonie und Ordnung erfüllen und nicht
  • Verwirrung und Verstimmung in sie hineintragen. Die Kunst soll uns die
  • Menschen unserer Erde so darstellen, daß ein jeder das Gefühl hat: das
  • sind _lebendige_ Menschen, die demselben Leibe entstammen und aus
  • demselben Stoffe geschaffen sind wie wir. Die Kunst soll uns alle edlen
  • Züge und Eigenschaften unseres _Volks_charakters vor Augen führen,
  • selbst die nicht ausgenommen, denen es an einem Spielraum für ihre freie
  • Entfaltung fehlte und die daher noch nicht von allen beachtet und in dem
  • Maße gewürdigt sind, daß jeder sie in sich selbst entdeckt und von dem
  • glühenden Wunsche ergriffen wird, das bisher von ihm Vernachlässigte und
  • längst Vergessene zu pflegen und zur Entwicklung zu bringen.
  • Die Kunst muß uns auch alle schlechten Züge und Eigenschaften unseres
  • Volkscharakters so vor Augen führen, daß jeder von uns ihre Keime vor
  • allem in sich selbst wiederfindet und veranlaßt wird, darüber
  • nachzudenken, wie er zunächst einmal in sich selbst alles, was die hohe
  • Würde unseres Wesens verdunkelt, ausrotten könne. Erst dann und erst auf
  • diese Weise wird die Kunst ihre Bestimmung erfüllen und Ordnung und
  • Harmonie in die menschliche Gesellschaft hineintragen.
  • So laß uns denn, nachdem wir zu Gott gebetet und seinen Segen auf uns
  • herabgefleht haben, kraftvoller als je wieder an unsere liebe Kunst
  • gehen. Was mich anbetrifft, so will ich alles andere auf eine künftige
  • Zeit verschieben (wenn ich je durch Gottes Gnade dessen im geringsten
  • würdig werden sollte) und mich in intensivster Weise den »Toten Seelen«
  • widmen. Ich will nach Jerusalem reisen (dies muß ich um jeden Preis tun,
  • denn ich müßte mich schämen, wenn ich es nicht täte). Ich will dort, so
  • gut ich kann, Gott meinen Dank für alles Vergangene aussprechen; ich
  • will dort beten, daß meine Seele gekräftigt werde und meine Fähigkeiten
  • und Geisteskräfte sich sammeln und konzentrieren mögen, und dann mit
  • Gott an die Arbeit gehen. Wie lebhaft und innig wünschte ich, daß Gott
  • uns wieder einmal zusammenführen möge, und daß wir wieder einmal eine
  • Zeitlang in Moskau nahe beieinander leben könnten. Jetzt wäre es noch
  • notwendiger, uns das von uns Geschriebene noch einmal vorzulesen und
  • übereinander zu Gericht zu sitzen. Sodann gratuliere ich dir zum neuen
  • Jahr. Gebe Gott, daß es für uns beide ein recht fruchtbares Jahr werde,
  • weit fruchtbarer als die verflossenen Jahre. Und nun leb' wohl, mein
  • Lieber! Ich küsse dich und umarme dich innig. Schreibe mir. Dein Brief
  • wird mich noch in Neapel erreichen. Vor dem Februar gedenke ich nicht
  • aufzubrechen.
  • Ich umarme deine ganze liebe Familie sowie die Reuterns.
  • Dein G.
  • Wenn du findest, daß dieser Brief einigen Wert hat, so hebe ihn auf. Man
  • könnte ihn in der zweiten Auflage des »Briefwechsels« an die Spitze des
  • Buches, d. h. an die Stelle des »Testaments« stellen, das fortgelassen
  • werden soll, und ihm den Titel geben: »_Die Kunst ist die Macht, die uns
  • mit dem Leben versöhnt._«
  • Ich will dich immer noch etwas fragen und vergesse es jedesmal: besitzt
  • du nicht die lateinische Übersetzung der Odyssee mit untergelegtem Text,
  • die neulich in Paris erschienen ist. Es ist eine sehr schöne Ausgabe.
  • Der ganze Homer in einem Bande Groß-Oktav _editore Ambrosio Firmin Didot
  • Parisiis 1846_. Ich hatte den Eindruck, daß die Übersetzung recht
  • anständig sei, und sie könnte dir weit mehr nützen als alle anderen.
  • Meine Adresse lautet: Neapel, _poste restante_, oder noch besser, _Hôtel
  • de Rome_; damit jedoch der Brief nicht nach der _Stadt_ Rom gesandt
  • wird, muß das Wort Neapel recht deutlich und in die Augen fallend
  • geschrieben werden.
  • Betrachtungen
  • über die
  • Heilige Liturgie
  • 1845-1852.
  • Vom Moskauer Geistlichen Zensur-Komitee zum Druck
  • genehmigt.
  • Moskau, den 9. Februar 1889.
  • Der Zensor: Priester Grigori Djatschenko.
  • Vorrede
  • Der Zweck dieses Buches ist, jungen Leuten und Anfängern, die noch
  • keinen rechten Begriff von der Bedeutung unserer Liturgie haben, zu
  • zeigen, in welcher Vollständigkeit sie bei uns zelebriert wird und welch
  • tiefer Zusammenhang in ihr herrscht. Aus allen den zahlreichen
  • Erklärungen, die von den Kirchenvätern und -lehrern herrühren, sind hier
  • nur die ausgewählt, die wegen ihrer Einfachheit und Verständlichkeit von
  • jedermann begriffen werden können und die in erster Linie dazu dienen,
  • die notwendige und richtige Ordnung, gemäß der eine Handlung aus der
  • anderen hervorgeht, begreiflich zu machen[3]. Der Zweck, den der Autor
  • mit der Herausgabe dieses Buches verfolgte, war der: dazu beizutragen,
  • daß sich der Leser eine Vorstellung von der Ordnung und Reihenfolge des
  • Ganzen bilde. Er ist überzeugt, daß sich jedem, der der Liturgie mit
  • Aufmerksamkeit folgt und jedes Wort bei sich wiederholt, ihre tiefe
  • innere Bedeutung von selbst erschließen wird.
  • [Fußnote 3: Alle anderen Leser, die den Wunsch hegen, auch die
  • geheimnisvolleren und tieferen Erklärungen kennen zu lernen, können
  • solche in den Werken der Patriarchen: Hermann, Jeremias, Nikolaus
  • Kawassil, Simeon von Saloniki, in der Alten und Neuen Tafel, in den
  • Kommentaren Dimitrijews und endlich in einzelnen ... finden.]
  • Einleitung
  • Die Göttliche Liturgie ist die ewige Wiederholung des großen
  • Liebeswerkes, das für uns geschehen ist. Tief bekümmert über ihre
  • Gebrechen und Unvollkommenheiten hatten die Menschen überall und an
  • allen Enden der Welt ihren Schöpfer um Hilfe angefleht -- sowohl die,
  • die in der Finsternis des Heidentums verharrten, als auch die, die keine
  • Gotteserkenntnis besaßen --, fühlten sie doch, daß hier auf Erden
  • Ordnung und Harmonie nur durch Den hergestellt werden könnten, Der die
  • von Ihm selbst erschaffenen Welten geheißen hatte, sich in streng
  • geregelten Bahnen zu bewegen. Überall rief die schmerzbewegte Kreatur
  • ihren Schöpfer herbei. Alles schrie qualvoll zum Urheber seines Daseins
  • empor, und diese Klagen tönten am lautesten und deutlichsten aus dem
  • Munde der Auserwählten und der Propheten. Man hatte ein dunkles
  • Vorgefühl, ja man wußte, daß der Schöpfer, Der sich hinter Seinen Werken
  • versteckt hatte, noch einmal persönlich vor die Menschen treten -- daß
  • Er in Gestalt keines Geringeren als jenes von Ihm selbst nach Seinem
  • Bilde erschaffenen Wesens vor ihnen erscheinen würde. Sowie sich die
  • Begriffe, die man sich von der Gottheit machte, zu reinigen begannen,
  • tauchte überall der Gedanke einer irdischen Menschwerdung Gottes auf.
  • Nirgends aber wurde mit solcher Klarheit und Deutlichkeit davon
  • gesprochen, wie bei den Propheten des von Gott auserwählten Volkes.
  • Seine reine Fleischwerdung durch die reine Jungfrau wurde selbst von den
  • Heiden vorausgeahnt, nirgends jedoch in jener leuchtenden greifbaren
  • Klarheit wie bei den Propheten.
  • Diese Klagen fanden Erhörung: Er kam in die Welt, durch Den die Welt
  • erschaffen ward. Er erschien unter uns in Menschengestalt, wie es die
  • Menschen -- selbst in der finstersten Finsternis des Heidentums
  • vorausgeahnt und dunkel gefühlt hatten -- nur nicht in _der_ Weise, wie
  • man es sich zufolge der noch ungeläuterten Begriffe vorgestellt hatte --
  • nicht in stolzer Pracht und Majestät, nicht als Richter, der da kommt,
  • um die Verbrecher zu strafen, die einen zu vernichten und die anderen zu
  • belohnen. O nein! Man vernahm nichts als einen sanften Bruderkuß. Er
  • erschien in _der_ Gestalt, wie sie nur Gott allein eigentümlich ist, und
  • wie sie die göttlichen Propheten, an die Gottes Gebot ergangen war,
  • vorgebildet hatten.
  • Das Offertorium
  • (_Proscomidia_)
  • Der Priester, der die Liturgie zelebrieren soll, muß schon am Vorabend
  • auf körperliche und geistige Nüchternheit Wert legen und Enthaltsamkeit
  • üben, er muß sich mit allen Menschen ausgesöhnt haben und sich davor
  • hüten, noch etwas wie Ärger oder Zorn gegen irgend jemand zu hegen. Wenn
  • dann die Stunde gekommen ist, betritt er die Kirche. Der Diakon und er
  • beugen sich anbetend vor der Königspforte, küssen das Bild des Heilands,
  • das Bild der Mutter Gottes, verbeugen sich vor allen Heiligen, verneigen
  • sich nach rechts und links vor allen Anwesenden, indem sie hierdurch
  • alle um Vergebung bitten, und betreten den Altarraum, wobei sie still
  • für sich die Worte des Psalms sprechen. »Ich aber will in Dein Haus
  • gehen und anbeten gegen Deinen heiligen Tempel in Deiner Furcht.« Sodann
  • treten sie vor den Hochaltar, fallen [mit dem Gesicht gen Osten gewandt]
  • dreimal vor ihm nieder und küssen das auf ihm liegende Evangelium, als
  • wäre der auf dem Hochaltar Thronende Gott selbst, sie küssen auch den
  • heiligen Abendmahlstisch und gehen sodann hin, sich in die heiligen
  • Gewänder zu hüllen, um sich hierdurch nicht nur von den anderen Menschen
  • zu unterscheiden, sondern auch um sich von sich selbst zu befreien,
  • damit nichts an ihnen an einen Menschen erinnere, der noch seinen
  • alltäglichen irdischen Geschäften nachgeht. Mit den Worten »Gott!
  • reinige mich armen Sünder und erbarme Dich meiner!« erfassen Priester
  • [und Diakon] die Gewänder. Zuerst zieht sich der Diakon an; er bittet
  • den Priester um seinen Segen und legt das Chorhemd (Sticharion) und ein
  • Untergewand von glänzender, leuchtender Farbe an, das gleichsam zum
  • Symbol des lichten Engelskleides dient und die makellose Herzensreinheit
  • andeuten soll, die unzertrennlich mit dem Priesteramt verbunden sein
  • muß. Daher spricht er auch, während er sich den Rock anzieht, die Worte:
  • »Ich freue mich im Herrn, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott:
  • denn Er hat mich angezogen mit Kleidern des Heils und mit dem Rock der
  • Gerechtigkeit gekleidet, wie einen Bräutigam mit priesterlichem Schmuck
  • gezieret und wie eine Braut in ihrem Geschmeide.«
  • Hierauf nimmt er die Stola und küßt sie; dies ist ein langes schmales
  • Band, das Kennzeichen des Diakonenamts, mit dem er zu Beginn jeder
  • kirchlichen Handlung das Zeichen gibt, die Gemeinde zum Gebet, die
  • Sänger zum Singen, den Priester zur Verrichtung der heiligen Handlungen
  • und sich selbst zu engelhafter Geschwindigkeit und Bereitschaft zum
  • heiligen Dienste aufruft. Denn der Beruf des Diakons gleicht dem der
  • Engel im Himmel, und durch dies schmale Band, das er an sich trägt, und
  • das gleich einem ätherischen Flügel in der Luft flattert, sowie durch
  • sein schnelles Durcheilen der Kirche stellt er nach dem Wort des
  • Johannes Chrysostomus den Flug der Engel dar.
  • Nachdem er das Band geküßt hat, befestigt er es an der Schulter. Sodann
  • legt er die Armbänder oder Überärmel an, die dicht über dem Handgelenk
  • zusammengebunden werden, um den Händen eine größere Freiheit und
  • Leichtigkeit bei der Verrichtung der bevorstehenden heiligen Handlung zu
  • verleihen. Während er sie anzieht, denkt er über die unablässig alles
  • erschaffende, überall wirksame Kraft Gottes nach, und indem er den
  • rechten Überärmel anzieht, spricht er: »Herr, Deine rechte Hand tut
  • große Wunder. Herr, Deine rechte Hand hat die Feinde zerschlagen, und
  • mit Deiner großen Herrlichkeit hast Du Deine Widerwärtigen gestürzt.«
  • Dann zieht er den linken Überärmel an und denkt dabei an sich selbst,
  • daß er ein Werk von Gottes Hand sei, und er betet zu Ihm, Der ihn
  • erschaffen hat, Er möge ihn lenken und leiten und ihm Seine höchste
  • himmlische Führung zuteil werden lassen, und er spricht: »Deine Hand hat
  • mich gemacht und bereitet. Unterweise mich, daß ich Deine Gebote lerne.«
  • In derselben Weise kleidet sich auch der Priester an. Zuerst segnet er
  • den Priesterrock, den er dann anzieht, indem er diesen Akt mit denselben
  • Worten begleitet wie der Diakon; nach dem Priesterrock aber legt er sich
  • die Stola an, jedoch nicht die einfache, sondern eine solche, die beide
  • Schultern bedeckt, den Hals umschließt und deren beide Enden sich wieder
  • auf der Brust vereinigen und so in eins verbunden bis an den unteren
  • Saum seines Kleides hinabreichen; hiermit soll angedeutet werden, daß
  • sich in seinem Amte zwei Ämter vereinigen -- das des Priesters und das
  • des Diakons. Auch heißt das Kleidungsstück nicht mehr Orarion, sondern
  • Epitrachil, und es symbolisiert, indem es angelegt wird, die Ausgießung
  • der himmlischen Gnade über die Priester; daher wird dieser Akt auch von
  • den erhabenen Worten der Heiligen Schrift begleitet: »Gelobt sei Gott,
  • Der Seine Gnade ausgießet über seine Priester wie das Salböl, das von
  • dem Haupte Aarons herabfließet auf seinen Bart und auf den Saum seines
  • Kleides.« Sodann zieht der Priester beide Überärmel an, indem er diese
  • Handlung mit denselben Worten begleitet wie der Diakon, und umgürtet
  • sich mit einem Gürtel, der Chorrock und Stola umschließt, damit das
  • weite bauschige Gewand ihn nicht bei der Verrichtung der heiligen
  • Handlung behindere und um durch diese Umgürtung seine Dienstbereitschaft
  • anzudeuten, denn der Mensch pflegt den Gürtel anzulegen, wenn er sich
  • reisefertig macht, wenn er ein Werk in Angriff nimmt oder zur Tat
  • schreitet; so legt auch der Priester den Gürtel an, indem er seinen Weg
  • antritt und sich zum himmlischen Dienste vorbereitet. Er betrachtet
  • seinen Gürtel wie eine Feste der göttlichen Macht, die ihn stärkt und
  • kräftigt, und er spricht: »Gelobt sei Gott, Der mich mit Kraft umgürtet
  • und meinen Weg untrüglich macht, meine Füße geschwinder denn die des
  • Hirsches und stellt mich auf die Höhe,« d. h. in das Haus des Herrn.
  • Wenn er jedoch eine höhere priesterliche Würde innehat, so hängt er ein
  • viereckiges Stück Tuch an einer seiner Ecken an seine Lende; es
  • symbolisiert das geistige Schwert, die alles überwindende Kraft des
  • göttlichen Wortes und ist ein Zeichen des ewigen Krieges, der dem
  • Menschen auf Erden bevorsteht -- und kennzeichnet den Sieg über den Tod,
  • den Christus vor aller Welt errungen hat, auf daß der unsterbliche Geist
  • des Menschen mutig den Kampf aufnehme wider die Verwesung. Daher gleicht
  • dies Stück Tuch auch einer starken Streitwaffe, und es wird am Gürtel an
  • der Lende aufgehängt, in der die Kraft des Menschen liegt, und dieser
  • Akt wird von einem Anruf des Herrn selbst begleitet: »Gürte dein Schwert
  • an deiner Seite, du Held, und schmücke dich schön. Es müsse dir gelingen
  • in deinem Schmuck, ziehe einher der Wahrheit zugute, und die Elenden bei
  • Recht zu behalten; so wird deine rechte Hand Wunder beweisen.« Endlich
  • legt der Priester noch das Psalonion, ein Gewand zum Symbol der höchsten
  • alles umfassenden Gerechtigkeit Gottes an, und er begleitet diese
  • Handlung mit den Worten: »Deine Priester laß sich kleiden mit
  • Gerechtigkeit und Deine Heiligen sich freuen.«
  • Also ausgerüstet mit der göttlichen Rüstung steht der Priester nunmehr
  • als ein anderer Mensch da: was er auch selbst und an sich für ein
  • Mensch, so unwürdig er seines Amtes sein mag, alle, die im Tempel
  • weilen, blicken auf ihn [als auf] ein Werkzeug Gottes, das vom Heiligen
  • Geist erfüllt ist. Der Priester und der Diakon waschen sich sodann beide
  • die Hände, indem sie die Worte des Psalms sprechen: »Ich wasche meine
  • Hände in Unschuld und halte mich zu Deinem Altar.« Dann verbeugen sie
  • sich dreimal, indem sie sprechen: »Gott, reinige mich Armen von meinen
  • Sünden und erbarme Dich meiner!« und erheben sich gereinigt und
  • erleuchtet, gleich ihrer leuchtenden Kleidung, in nichts mehr an andere
  • Menschen erinnernd und eher einer strahlenden Vision als einem Menschen
  • gleichend.
  • Der Diakon kündigt den Beginn der heiligen Handlung an, indem er
  • spricht: »Segne uns, o Herr!«, der Priester eröffnet die Feier mit den
  • Worten: »Gelobt sei Gott, jetzt und immerdar, hinfort und in alle
  • Ewigkeit!« und tritt dann an den Seitenaltar. Dieser ganze Teil des
  • Gottesdienstes besteht in der Zubereitung alles dessen, was zu einer
  • heiligen Handlung erforderlich ist: während dieses Teils des
  • Gottesdienstes werden die Stücke Brot von den Prosphoren oder Opfergaben
  • abgesondert, die zu Anfang den Leib Christi repräsentieren und sich
  • sodann in ihn verwandeln sollen.
  • Da das ganze Offertorium nichts anderes ist als eine bloße Vorbereitung
  • auf die Liturgie, hat die Kirche die Erinnerung an die ersten
  • Lebensjahre Christi an sie geknüpft, waren doch diese auch eine
  • Vorbereitung auf seine großen Werke, die er später auf Erden
  • vollbrachte. Das Offertorium spielt sich ganz im Innern des Altarraumes
  • bei geschlossenen Türen und zugezogenem Vorhang ab, ohne daß die
  • Gemeinde etwas davon sieht, wie ja auch Christus seine ersten
  • Lebensjahre ganz im Verborgenen verbrachte, ohne daß das Volk etwas von
  • Ihm erfuhr. Für die andächtige Gemeinde aber werden während dieser Zeit
  • die »Horen«[4] gelesen -- eine Sammlung von Psalmen und Gebeten, die die
  • Christen an den vier wichtigsten Tageszeiten zu lesen pflegten, um die
  • erste Stunde, wenn für die Christen [der Morgen] begann, um die dritte,
  • d. h. um die Stunde, als sich der Heilige Geist herabsenkte, um die
  • sechste, d. h. also um die Stunde, als der Erlöser der Welt ans Kreuz
  • geschlagen wurde, und um die neunte Stunde, als Er Seinen Geist aufgab.
  • Da der Christ von heute aus Mangel an Zeit und wegen der unablässigen
  • Zerstreuungen nicht in der Lage ist, diese Gebete zu den angegebenen
  • Stunden zu verrichten, werden sie allesamt bei dieser Gelegenheit
  • verlesen.
  • [Fußnote 4: Tschassy.]
  • Der Priester tritt nun vor den Seitenaltar oder die Prothesis hin, die
  • sich in einer Wandnische befindet und die alte seitliche Vorratskammer
  • des Tempels symbolisieren soll, und nimmt eines der Weihbrote heraus, um
  • aus ihm den Teil zu gewinnen, der sich später in den Leib Christi
  • verwandeln soll: es ist dies das mit einem Siegel versehene Mittelstück,
  • das den Namen Jesu Christi trägt. Durch die Absonderung eines Teils vom
  • ganzen Brote deutet er auf den Akt der Trennung des Fleisches Christi
  • vom Fleisch der Jungfrau -- deutet er auf die Geburt des Immateriellen
  • aus dem Fleische hin. Und indem er sich vorstellt, daß Er geboren wird,
  • Der Sich für die ganze Welt zum Opfer brachte, verbindet sich für ihn
  • damit erneut und unfehlbar der Gedanke an das Opfer und an die Opfertat
  • selbst, und er erkennt im Brote das Lamm, das geopfert ward, und im
  • Messer, mit dem er das Brot zerteilt, das Opfermesser, das das Aussehen
  • einer Lanze hat, zur Erinnerung an die Lanze, mit der der Leib des
  • Heilands am Kreuze durchstochen ward. Nun aber begleitet er seine
  • Handlung nicht mit den Worten des Heilands, noch mit den Worten derer,
  • die Zeugen der damaligen Vorgänge waren, er versetzt sich nicht in die
  • Vergangenheit, d. h. in die Zeit, da diese Opfertat vollbracht wurde:
  • dies geschieht später im letzten Teile der Liturgie; er erschaut dieses
  • kommende Ereignis von ferne mit ahnender Seele, daher begleitet er auch
  • die ganze heilige Handlung mit den Worten des Jesaias, der aus der
  • fernen Zeit und durch die Finsternis der Jahrhunderte hindurch die
  • künftige wundersame Geburt, die Selbstaufopferung und den Tod des
  • Heilands vorausahnte und dies mit einer schier unbegreiflichen Klarheit
  • vorausverkündigte. Indem der Priester die Lanze in den rechten Teil des
  • Siegels stößt, spricht er die Worte des Propheten Jesaias: »Wie ein Lamm
  • wird Er zur Schlachtbank geführt,« dann stößt er die Lanze in den Teil,
  • der zur Linken liegt, und spricht: »Und wie ein unschuldiges Lamm sich
  • stumm scheren läßt, so öffnet er seinen Mund nicht,« dann versenkt er
  • die Lanze in den oberen Teil des Siegels und spricht: »Um Seiner Demut
  • willen ward Er verdammt,« stößt ihn dann in den unteren Teil, indem er
  • die Worte des Propheten wiederholt, der über die wunderbare Herkunft des
  • Opferlammes nachsinnt: »Wer vermag zu sagen, aus welchem Geschlechte Er
  • stammt?«
  • Endlich hebt er das herausgeschnittene Mittelstück des Brotes auf der
  • Lanze empor und spricht: »Denn Sein Leib ward von der Erde
  • hinweggenommen,« und schneidet hierauf kreuzweise -- den Kreuzestod des
  • Heilands symbolisierend -- das Opferzeichen hinein, gemäß dem es während
  • der kommenden heiligen Handlung gebrochen wird. Dazu spricht er:
  • »Geopfert wird das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, zum Leben und
  • zum Heil der Welt.« Nachdem er sodann das Brot so hingelegt hat, daß das
  • Siegel unten, der herausgeschnittene Teil oben liegt und das geopferte
  • Lamm versinnbildlicht, stößt er die Lanze in die rechte Seite -- wodurch
  • die Hinschlachtung des Opfers symbolisiert, zugleich aber auch darauf
  • hingedeutet werden soll, daß die Seite des Heilands von einem am Kreuze
  • stehenden Krieger mit der Lanze durchstochen ward. Hierbei spricht er:
  • »Der Kriegsknechte einer öffnete Seine Seite mit einem Speer, und
  • alsbald ging Blut und Wasser heraus. Und der das gesehen hat, der hat es
  • bezeuget, und sein Zeugnis ist wahr.«
  • Diese Worte dienen dem Diakon zugleich zum Zeichen, daß nun die Zeit
  • gekommen ist, Wasser und Wein in den heiligen Kelch zu gießen. Der
  • Diakon, der bisher alles, was der Priester getan, ehrfürchtig und
  • andachtsvoll verfolgt hat, indem er ihn bald zum Beginn des heiligen
  • Dienstes aufforderte, bald wieder bei jeder Handlung die Worte: »Lasset
  • uns beten zu dem Herrn!« vor sich hinmurmelte, gießt nun Wein und Wasser
  • in den Kelch, nachdem er beide gemischt und sich den Segen des Priesters
  • dazu erbeten hat. So sind nun Wein und Brot vorbereitet, um sich während
  • der bevorstehenden heiligen Handlung zu transsubstantiieren.
  • Um einen Brauch der alten christlichen Kirche und der heiligen ersten
  • Christen zu erfüllen, die sich, wenn sie an Christus dachten, stets auch
  • an die Menschen erinnerten, die durch strenge Einhaltung Seiner Gebote
  • und durch Heiligkeit ihres Lebenswandels Seinem Herzen am nächsten
  • standen, schreitet der Priester zu den anderen Weihbroten, schneidet ein
  • Stück zum Andenken an jene heraus und legt die Stücke auf dieselbe
  • Patene[5] neben das heilige Brot, das den Herrn selbst darstellt, da ja
  • auch jene von dem glühenden Wunsche verzehrt wurden, stets an der Seite
  • des Herrn zu weilen. Indem er sodann das zweite Brot ergreift, schneidet
  • er ein Stück zum Gedächtnis an die heilige Mutter Gottes heraus und legt
  • es zur Rechten des heiligen Brotes hin, indem er die Worte aus dem Psalm
  • Davids spricht: »Die Königin trat Dir zur Rechten, in ein goldenes
  • Gewand gehüllt und reichlich geschmückt.« Dann nimmt er das dritte Brot,
  • das der Erinnerung der Heiligen geweiht ist, und schneidet mit demselben
  • Speer neun Stücke aus ihm heraus, die er in drei Reihen zu je drei
  • Stücken anordnet. Er schneidet ein Stück zu Ehren Johannes des Täufers,
  • ein zweites zu Ehren der Propheten und ein drittes zu Ehren der Apostel
  • heraus, und damit hat die erste Reihe und die erste Klasse der Heiligen
  • ihren Abschluß erreicht. Sodann schneidet er zu Ehren der heiligen
  • Kirchenväter ein viertes Stück, ein fünftes zu Ehren der Märtyrer und
  • ein sechstes zu Ehren der heiligen gotterleuchteten Väter und Mütter
  • heraus, und damit ist die zweite Reihe und die zweite Klasse der
  • Heiligen vollendet. Und endlich schneidet er noch ein siebentes Stück zu
  • Ehren der Wundertäter und Uneigennützigen, ein achtes zu Ehren der
  • göttlichen Eltern Joachim und Anna und des Heiligen des Tages sowie ein
  • neuntes zu Ehren des Johannes Chrysostomus oder Basilius des Großen
  • heraus, je nachdem, wem zu Ehren an jenem Tage die Messe gelesen wird.
  • Damit ist auch die dritte Reihe und die letzte Klasse der Heiligen
  • vollendet, und der Priester legt nun alle neun Brotstücke, die er
  • herausgeschnitten hat, auf die heilige Patene zur Linken neben das
  • heilige Brot hin. So erscheint Christus inmitten derer, die Ihm am
  • nächsten stehen, Er, der in der Heiligkeit Wohnende, wird sichtbar im
  • Kreise Seiner Heiligen erblickt, als Gott unter Göttern und Mensch unter
  • Menschen.
  • [Fußnote 5: Diskos.]
  • Hierauf ergreift der Priester das vierte Weihbrot, das der Erinnerung an
  • alle Lebendigen geweiht ist, und schneidet aus ihm ein Stück zu Ehren
  • des Kaisers, ein zweites zu Ehren der Synode und der Patriarchen und
  • ferner noch einige weitere zu Ehren aller rechtgläubigen Christen
  • heraus, wo auf Erden sie auch wohnen mögen, und endlich schneidet er
  • auch noch für jeden einzelnen von ihnen, dessen er gedenken will und
  • dessen zu gedenken man ihn gebeten hat, ein Stück heraus. Dann nimmt der
  • Priester das letzte Weihbrot und schneidet Stücke zur Erinnerung an alle
  • Verstorbenen aus ihm heraus, indem er für sie betet und Vergebung der
  • Sünden für sie erfleht; er betet für die Patriarchen, für die Zaren, die
  • Stifter des Tempels, den Erzpriester, der ihm die Priesterweihe erteilt
  • hat, wenn dieser bereits verstorben ist, kurz, er schneidet für alle --
  • bis auf den letzten Christen -- für den man sich bei ihm verwendet hat
  • oder dem zu Ehren er es selbst tun will, ein Stück heraus. Zum Schluß
  • fleht er selbst um Vergebung aller seiner Sünden, dann schneidet er ein
  • Stück für sich selbst heraus und legt alle Stücke auf die heilige Patene
  • unterhalb des heiligen Brotes nieder. So also ist um dies Brot, d. h. um
  • das Lamm, das Christus in eigener Person darstellt, Seine ganze Kirche
  • versammelt: die triumphierende himmlische, wie die kämpfende irdische.
  • Des Menschen Sohn erscheint inmitten der Menschen, um derentwillen er
  • Fleisch ward und ein Mensch wurde.
  • Sodann nimmt der Priester einen Schwamm und liest alle Krümchen auf der
  • Patene zusammen, auf daß nichts von dem heiligen Brote verloren gehe und
  • auf daß alles erfüllet werde.
  • Dann tritt der Priester vom Altar zurück und fällt vor ihm nieder, als
  • beuge er sich vor dem verkörperten Christus selbst; er begrüßt in dieser
  • Gestalt das auf der Patene liegende Brot, das Erscheinen des himmlischen
  • Brotes auf Erden; er begrüßt es, indem er mit Thymian räuchert, nachdem
  • er das Rauchfaß zuvor gesegnet hat und indem er das Gebet spricht: »Wir
  • bringen Dir Weihrauch dar, Christus unser Gott, auf daß es dufte von
  • geistlichen Wohlgerüchen; nimm ihn an auf Deinen hohen über den Himmeln
  • thronenden Altar und sende auf uns herab die Gnade Deines Heiligen
  • Geistes.«
  • Und der Priester versetzt sich mit allen seinen Gedanken in die Zeit der
  • Geburt Christi, indem er Vergangenes in Gegenwärtiges verwandelt, und er
  • blickt auf diesen Seitenaltar, als wäre er die geheimnisvolle Krippe,
  • darin zu jener Zeit der Himmel zur Erde herabgestiegen war: der Himmel
  • war zur Krippe geworden, und die Krippe hatte sich in den Himmel
  • verwandelt. Nachdem er den Asteriskos, der aus zwei goldenen Bogen mit
  • einem Sterne darüber besteht, umräuchert und auf die Hostienschüssel
  • gestellt hat, blickt er ihn an, wie wenn er der Stern wäre, der einst
  • über dem Kindlein leuchtete, und er spricht: »Er kam, und der Stern
  • stand oben über, da das Kindlein war«: er blickt auf das heilige Brot,
  • das für die Opfer bestimmt ist, als wäre es das neugeborene Kindlein,
  • als wäre die Patene die Krippe, in der das Kindlein lag, und als wären
  • die Decken die Windeln, in die das Kindlein gehüllt war. Nachdem er vor
  • der ersten Decke mit Weihrauch geräuchert hat, bedeckt er das heilige
  • Brot und die Patene mit ihr und spricht die Worte des Psalms: »Der Herr
  • ist König und herrlich geschmückt,« d. h. des Psalms, in dem die
  • wunderbare Größe und Herrlichkeit Gottes besungen wird. Hierauf räuchert
  • er vor der zweiten Decke mit Weihrauch und bedeckt dann den heiligen
  • Kelch mit ihr, indem er spricht: »O Herr Christus, Deine Güte bedeckt
  • die Himmel, und die Erde ist Deines Ruhmes voll«. Er nimmt die große
  • Decke, die der heilige Aër genannt wird, und bedeckt nun beides: die
  • Patene und den Kelch mit ihr, indem er Gott anruft und Ihn bittet, uns
  • mit Seinem schützenden Flügel zu bedecken; indem dann beide von dem
  • Altar zurücktreten, verbeugen sie sich ehrfürchtig vor dem heiligen
  • Brote, ganz so, wie einst die Hirtenkönige das neugeborene Kindlein
  • anbeteten; hierauf räuchert der Priester vor der Krippe, zur Erinnerung
  • an die wohlriechenden Myrrhen und Weihrauch, die die Weisen dem Kindlein
  • zusamt dem kostbaren Golde darbrachten.
  • Der Diakon steht auch während dieser Zeit beständig dem Priester
  • aufmerksam zur Seite, indem er jede Handlung mit den Worten: »Laßt uns
  • beten zu dem Herrn« begleitet oder das Zeichen zum Beginn der heiligen
  • Handlung gibt. Endlich nimmt er das Räucherfaß aus den Händen des
  • Priesters entgegen und fordert ihn zum Gebet auf, das von den für Ihn
  • zubereiteten Gaben handelt und das er nun zu Gott emporsenden soll.
  • »Laßt uns beten zu dem Herrn für die kostbaren Gaben, die wir ihm
  • darbringen.« Nunmehr beginnt der Priester das Gebet. Obwohl diese Gaben
  • zunächst bloß für die Opferhandlung vorbereitet sind, dürfen sie von nun
  • ab zu nichts anderem mehr verwendet werden. Der Priester spricht bei
  • sich selbst ein Gebet, in dem er schon im voraus auf die Annahme der für
  • das bevorstehende Opfer bestimmten Gaben vorbereitet. Dies Gebet lautet
  • folgendermaßen: »Gott, unser Gott, Der Du uns das himmlische Brot, die
  • Nahrung der ganzen Welt, unserm Herrn und Gott, Jesus Christus, unseren
  • Heiland, Erlöser und Wohltäter gesandt hast, Der uns gesegnet und
  • geheiligt hat, segne Du selbst, was wir Dir darbieten, und nimm es
  • entgegen auf Deinem hoch über den Himmeln thronenden Altar: gedenke auch
  • derer in Deiner Güte und Menschenliebe, die Dir dies dargebracht haben,
  • sie, um derentwillen es dargebracht wurde, und unser selbst, und erhalte
  • uns unschuldig in der Verrichtung Deiner göttlichen Sakramente.« Und
  • nach diesem Gebet vollzieht er das Offertorium. Der Diakon räuchert
  • unterdessen vor den Schaubroten und sodann kreuzweise vor dem heiligen
  • Altar. Er gedenkt der irdischen Geburt Dessen, Der geboren ward, ehe
  • denn die Zeit war, der allgegenwärtig und der immerdar überall zugegen
  • war, und er spricht bei sich selbst: »Du warst leibhaftig im Grabe, mit
  • Deinem Geist in der Hölle, als Gott mit dem Übeltäter im Paradiese und
  • auf dem Throne mit dem Vater und dem Heiligen Geiste, alles
  • vollbringend, o Christus, Du Unbeschreiblicher.«
  • Und er tritt mit dem Räucherfaß in der Hand aus dem Altarraum hervor, um
  • die ganze Kirche mit Wohlgerüchen zu erfüllen und alle, die sich zum
  • heiligen Mahl der Liebe versammelt haben, willkommen zu heißen. Diese
  • Räucherung findet stets zu Beginn des Gottesdienstes statt, wie ja auch
  • im häuslichen Leben aller alten Völker des Orients jedem Gast bei seinem
  • Eintritt eine Schüssel zum Waschen und Wohlgerüche dargebracht wurden.
  • Dieser Brauch hat sich auch an dieses himmlische Festmahl geknüpft, an
  • das geheimnisvolle Abendmahl, das den Namen der Liturgie trägt, in der
  • sich der Gottesdienst und die brüderliche Bewirtung und Speisung aller
  • in so wundersamer Weise vereinigt haben, wovon uns der Erlöser selbst,
  • Der selbst allen diente und die Füße wusch, ein Beispiel gegeben hat.
  • Indem dann der Diakon räuchert und sich in gleicher Weise vor allen
  • verbeugt, vor den Reichsten wie vor den Ärmsten, heißt er, der Diener
  • Gottes, sie alle herzlich willkommen als die lieben Gäste des
  • himmlischen Wirtes; er räuchert und verbeugt sich dabei ehrfurchtsvoll
  • vor den Bildern der Heiligen, denn auch sie sind ja Gäste, die zum
  • heiligen Abendmahl erschienen sind: in Christo sind alle lebendig und
  • untrennbar miteinander verbunden. Nachdem er alles vorbereitet und den
  • Tempel mit Wohlgeruch erfüllt hat, kehrt er in den Altarraum zurück, in
  • dem er nochmals räuchert; dann stellt er das Räucherfaß endlich
  • beiseite, nähert sich dem Priester, und beide treten vor den heiligen
  • Hochaltar.
  • Beide treten vor den heiligen Hochaltar hin, beide verneigen sich,
  • sowohl der Priester wie der Diakon, dreimal bis zur Erde und rufen,
  • indem sie sich nun zu der eigentlichen heiligen Handlung der Liturgie
  • anschicken, den Heiligen Geist an, denn ihr ganzer Gottesdienst soll ja
  • ein geistiger Dienst sein. Der Geist ist der Lehrer, der uns im Gebet
  • unterweist. »Wir wissen nicht, um was wir bitten sollen,« sagt der
  • Apostel Paulus, »aber der Heilige Geist selbst tritt für uns ein, mit
  • unaussprechlichen Seufzern.« Der Priester und der Diakon flehen den
  • Heiligen Geist an, in ihnen Wohnung zu nehmen, sie hierdurch zu reinigen
  • und für ihren heiligen Dienst vorzubereiten, wobei sie zweimal
  • nacheinander das Lied singen, mit dem die Engel die Geburt Jesu Christi
  • begrüßten: »Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen
  • ein Wohlgefallen.« Nachdem sie ihren Gesang beendigt haben, wird der
  • Vorhang der Kirche zurückgezogen; dies geschieht immer nur dann, wenn
  • die Gedanken der Betenden auf die höchsten und erhabensten Gegenstände
  • hingelenkt werden sollen. In diesem Falle soll die Öffnung des Tores zum
  • Allerheiligsten nach dem Gesang der Engel andeuten, daß die Geburt
  • Christi ja nicht allen Menschen offenbart ward, daß nur die Engel im
  • Himmel, Maria, Joseph und die Magier, die gekommen waren, um das Kind
  • anzubeten, Kenntnis von ihr besaßen, und daß nur die Propheten sie von
  • ferne geahnt hatten. Der Priester und der Diakon sprechen bei sich: »O
  • Herr, öffne meinen Mund, und mein Mund wird Deinen Ruhm verkünden.« Der
  • Priester küßt das Evangelium, der Diakon küßt den heiligen Hochaltar,
  • senkt das Haupt und gibt das Zeichen für den Beginn der Liturgie, indem
  • er mit drei Fingern seiner Hand die Stola emporhebt und spricht: »Es ist
  • Zeit, zum Herrn zu beten. Segne mich, o Herr!« und der Priester segnet
  • ihn mit den Worten: »Gesegnet sei unser Gott, immerdar, jetzo, hinfort
  • und in alle Ewigkeit.« Und indem der Diakon der bevorstehenden heiligen
  • Handlung gedenkt, während der er den Flug des Engels vom Altar zur
  • Gemeinde und von der Gemeinde zum Altar nachahmen, alle in einem Geist
  • und einer Seele vereinigen und gewissermaßen eine heilige, alles
  • erweckende Kraft darstellen soll, und im Gefühl, daß er dieser Aufgabe
  • nicht würdig ist, fleht er den Priester demütig an: »Bete für mich, o
  • Herr!« »Gott lenke deine Schritte!« antwortet ihm der Priester. »Gedenke
  • meiner, heiliger Mann!« »Der Herr gedenke deiner in Seinem Reiche
  • immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« Der Diakon spricht
  • leise, aber mit kräftiger Stimme: »Amen!« und tritt aus der nördlichen
  • Tür vor das Volk hinaus. Er betritt die Kanzel, die der Königspforte
  • gegenüberliegt, wiederholt nochmals bei sich selbst: »Herr, öffne meinen
  • Mund, und mein Mund wird Deinen Ruhm verkünden!« und indem er sich dem
  • Altar zuwendet, fleht er den Priester nochmals an: »Segne mich, o Herr!«
  • Der Priester ruft ihm aus der Tiefe des Tempels die Antwort entgegen:
  • »Gesegnet sei das Reich ...«, und die Liturgie beginnt.
  • Die Liturgie der Katechumenen
  • Der zweite Teil der Liturgie heißt die Liturgie der Katechumenen. Wie
  • der erste Teil, d. h. das Offertorium, den ersten Lebensjahren Christi,
  • Seiner Geburt, die nur den Engeln und wenigen Menschen offenbart war,
  • Seiner Kindheit und Seinem Aufenthalt in tiefster Zurückgezogenheit und
  • Verborgenheit, bis zu Seinem Auftreten in der Welt entspricht, so
  • entspricht der zweite Teil Seinem Leben inmitten der Welt und der
  • Menschen, denen Er das Wort der Wahrheit verkündigt hat. Dieser Teil
  • heißt auch deshalb noch die Liturgie der Katechumenen, weil während der
  • ersten christlichen Zeit auch die zu ihr zugelassen wurden, die erst
  • Christen werden wollten, die sich erst darauf vorbereiteten, noch nicht
  • die heilige Taufe empfangen hatten und zu den Katechumenen gehörten.
  • Dazu kommt noch, daß die heilige Handlung, die aus der Verlesung der
  • Propheten, der Epistel und des heiligen Evangeliums besteht, in erster
  • Linie einen verkündigenden Charakter trägt.
  • Der Priester beginnt die Liturgie, indem er aus dem Inneren des
  • Altarraumes ruft: »Gelobt sei das Reich des Vaters, des Sohnes und des
  • Heiligen Geistes ...« Da durch die Fleischwerdung des Sohnes der Welt
  • das Mysterium der Heiligen Dreieinigkeit deutlich geoffenbart ward, geht
  • und leuchtet die Verkündigung der Heiligen Dreieinigkeit dem Beginn
  • aller heiligen Handlungen voran; der Betende muß daher allem entsagen,
  • sich aller anderen Gedanken entledigen und sich gänzlich in das Reich
  • der Heiligen Dreieinigkeit versetzen.
  • Der Diakon steht auf der Kanzel und hat sein Gesicht der Königspforte
  • zugewendet. So stellt er einen Engel und Erwecker dar, der die Menschen
  • zum Gebet anfeuert; er hebt mit drei Fingern seiner Hand das schmale
  • Band -- das Sinnbild des Engelsflügels -- empor und ruft das ganze
  • versammelte Volk auf, die Gebete zu sprechen, die die Kirche seit den
  • Zeiten der Apostel unablässig zum Himmel emporsendet, deren erstes die
  • Bitte um Frieden ist, ohne die man überhaupt nicht zu beten vermag. Die
  • versammelten Andächtigen bekreuzigen sich, suchen ihre Herzen in
  • harmonisch abgestimmte Saiten eines Instruments umzuwandeln, die bei
  • jedem Wort des Diakons mitschwingen, und rufen im Geiste zugleich mit
  • dem Chor der Sänger aus: »Herr, erbarme Dich unser!«
  • Der Diakon steht auf der Kanzel, er hält die Gebetstola, die den
  • erhobenen Flügel eines Engels darstellt, der die Gemeinde zum Gebet
  • anfeuern soll, empor und ruft die Gemeinde zum Gebet auf: er fordert sie
  • auf, an die höhere Welt und die Rettung unserer Seelen zu denken und zu
  • beten für den Frieden der ganzen Welt, das Wohlergehen der heiligen
  • Kirchen und die Vereinigung ihrer aller, für den heiligen Tempel und
  • die, die ihn gläubig mit Andacht und Ehrfurcht betreten, für den Kaiser,
  • den Synod, die geistliche und weltliche Obrigkeit, den Richterstand und
  • den Militärstand, für die Stadt, für das Haus, darin die Liturgie
  • zelebriert wird, zu bitten um Reinheit und Gesundheit der Luft, um eine
  • reiche Ernte, um friedliche Zeiten, für die Seefahrer und Reisenden, für
  • die Kranken und Leidenden, für die Gefangenen und ihre Errettung; er
  • fordert die Gemeinde auf, Gott zu bitten, daß Er uns vor jeglichem
  • Kummer, Zorn und Not bewahren möge, und indem die Versammlung der
  • Andächtigen alles mit dieser allumschließenden Kette von Gebeten, die
  • die große Ektenia heißt, umschlingt, erwidert sie jedesmal, wenn sie
  • angerufen wird, zusammen mit dem Chor der Sänger: »Herr, erbarme Dich!«
  • Im Bewußtsein der Ohnmacht unserer Gebete, denen es an Seelenweisheit
  • fehlt und denen kein reiner himmlischer Lebenswandel entspricht, fordert
  • der Diakon, derer gedenkend, die da besser zu beten verstanden als wir,
  • die Gemeinde auf, sich selbst, einander und das ganze Leben unserem
  • Gotte Christus zu weihen. In dem aufrichtigen Wunsch, sich selbst,
  • einander und ihr ganzes Leben Christus, unserem Gotte zu weihen, wie
  • dies die heilige Mutter Gottes, die Heiligen und die, die besser waren
  • als wir, verstanden, ruft die ganze Kirche zusammen mit dem Sängerchor:
  • »Dir, o Herr!« Der Diakon beschließt die Kette der Gebete mit einem
  • Lobgesang auf die Dreieinigkeit, die sich wie ein alles
  • zusammenhaltender Faden durch die ganze Liturgie hindurchzieht und jede
  • Handlung einleitet und beschließt. Die Versammlung der Andächtigen
  • antwortet mit einem bestätigenden »Amen! Ja, so geschehe es!« Der Diakon
  • steigt von der Kanzel herab, und es beginnt der Abgesang der Antiphone.
  • Die Antiphone sind Wechselgesänge, d. h. Lieder, die den Psalmen
  • entnommen sind und das Erscheinen des göttlichen Sohnes in der Welt
  • prophetisch ankündigen; sie werden abwechselnd von einem der beiden
  • Sängerchöre, die auf beiden Chören postiert sind, gesungen; sie bilden
  • einen Ersatz für die älteren Psalmodien und sind kürzer als diese.
  • Während des Abgesangs des ersten Antiphons betet der Priester im Inneren
  • des Altarraumes für sich; der Diakon steht unterdessen in betender
  • Stellung vor dem Bilde des Heilands, indem er die Stola mit drei Fingern
  • seiner Hand emporhält. Wenn der Gesang des ersten Antiphons beendet ist,
  • besteigt er aufs neue die Kanzel und wendet sich mit folgenden Worten an
  • die versammelten Andächtigen: »Laßt uns abermals und abermals zu Gott
  • beten!« Die versammelten Andächtigen rufen: »Herr, erbarme Dich unser!«
  • Der Diakon wendet sich nun den Bildern der Heiligen zu und fordert die
  • Gemeinde auf, der Mutter Gottes und aller Heiligen zu gedenken und sich
  • selbst, einander, sowie das ganze Leben unserem Gotte Christus zu
  • weihen. Die Gemeinde ruft aus: »Dir, o Gott!« Der Diakon beschließt
  • diesen Teil mit einer Lobpreisung der Heiligen Dreieinigkeit. Die ganze
  • Kirche ruft bestätigend Amen, und dann folgt der Abgesang des zweiten
  • Antiphons.
  • Während des zweiten Antiphons betet der Priester im Altarraum bei sich
  • selbst. Der Diakon tritt wieder in betender Stellung vor das
  • Heiligenbild des Erlösers, indem er die Gebetstola mit drei Fingern der
  • Hand emporhält; nach Beendigung des Gesanges besteigt er abermals die
  • Kanzel, blickt auf die Bilder der Heiligen und ruft die Gemeinde wie
  • vorhin mit den Worten auf: »Laßt uns in Frieden zu dem Herrn beten!« Die
  • Gemeinde erwidert: »Herr Gott, [erbarme Dich.« Der Diakon ruft aus]: »O
  • Gott, hilf uns, sei uns gnädig, errette uns, behüte uns durch Deine
  • Gnade!« Die Gemeinde erwidert: »Herr Gott, erbarme Dich unser!« Der
  • Diakon blickt auf die Bilder der Heiligen [und ruft aus]: »Laßt uns
  • unserer heiligen, unbefleckten, hochgelobten, herrlichen Gebieterin, der
  • Jungfrau und aller Heiligen gedenken und uns selbst, einander und unser
  • ganzes Leben Christus, unserem Gotte weihen!« Die Gemeinde antwortet:
  • »Dir, o Herr!« Das Gebet endet mit einer Lobpreisung der Heiligen
  • Dreieinigkeit. Die ganze Kirche antwortet bestätigend: »Amen,« und der
  • Diakon steigt von der Kanzel herab. Der Priester betet im Inneren des
  • Altarraumes bei sich selbst, indem er spricht: »Du, Der Du uns dies
  • gemeinsame einträchtige Gebet schenktest, Du, Der Du verhießest, wenn
  • zwei oder drei in Deinem Namen versammelt sind, zu gewähren, worum sie
  • bitten! erfülle die Bitten Deiner Knechte zu ihrem eigenen Besten;
  • schenke uns in diesem Leben die Erkenntnis Deiner Wahrheit und schenke
  • uns im künftigen das ewige Leben.«
  • Jetzt werden vom Chor so laut, daß alle es hören können, die
  • Seligpreisungen verkündet, die uns in diesem Leben die Erkenntnis der
  • Wahrheit und im künftigen ein ewiges Leben verheißen. Die andächtige
  • Gemeinde spricht die Worte des weiseren Übeltäters, der Christus am
  • Kreuze anflehte: »Herr, gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst,«
  • und wiederholt nach dem Vorleser die Worte des Heilandes: »_Selig sind,
  • die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihrer_« -- d. h.
  • die, die sich nicht überheben und sich nicht mit ihrem Verstande
  • brüsten.
  • »_Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden_« --
  • d. h. die, die da noch mehr über ihre eigenen Unvollkommenheiten und
  • Verfehlungen, als über die Beleidigungen und Kränkungen trauern, die
  • ihnen zugefügt werden.
  • »_Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen_«
  • -- d. h. die, die wider niemand Zorn in ihrem Herzen hegen, allen
  • vergeben und von Liebe erfüllet sind, deren Waffe die alles besiegende
  • Güte ist.
  • »_Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn
  • sie sollen satt werden_« -- d. h. die, die nach der himmlischen
  • Gerechtigkeit dürsten und sich vor allem danach sehnen, sie in sich
  • selbst herzustellen.
  • »_Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen_«
  • -- d. h. die, die jeden ihrer Brüder bemitleiden und in jedem, der ihnen
  • bittend naht, Christus selbst erkennen, der für ihn bittet.
  • »_Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen_« --
  • wie sich in dem reinen Spiegel eines ruhigen Gewässers, das weder durch
  • Sand noch Schlamm getrübt wird, das reine Himmelsgewölbe spiegelt, so
  • gibt es auch in dem Spiegel eines reinen Herzens, das von keinen
  • Leidenschaften aufgewühlt wird, kaum noch etwas Menschliches mehr, und
  • nur Gottes Bildnis spiegelt sich in ihm.
  • »_Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen_«
  • -- gleich dem Sohne Gottes selbst, der auf die Erde herabstieg, um
  • unseren Seelen Frieden zu bringen, so sind auch die, die da Frieden und
  • Versöhnung in unser Heim tragen, wahrhafte Söhne Gottes.
  • »_Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das
  • Himmelreich ist ihrer_« -- d. h. die, die verfolgt werden, weil sie die
  • Gerechtigkeit nicht bloß mit dem Munde, sondern durch die
  • Wohlgefälligkeit ihres ganzen Lebens verkündigen.
  • »_Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um Meinetwillen schmähen und
  • verfolgen, und reden allerlei Übels wider euch, so sie daran lügen. Seid
  • fröhlich und getrost, es wird euch im Himmel wohl belohnt werden_«; --
  • ihr Verdienst ist ein dreifaches; erstlich sind sie schon an und für
  • sich rein und unschuldig, zweitens werden sie geschmäht, obwohl sie rein
  • sind, und drittens freuen sie sich, daß sie um Christi willen leiden,
  • obwohl sie unschuldig sind.
  • Die Gemeinde der Andächtigen spricht dem Vorleser mit vor Tränen
  • bebender Stimme diese Worte des Heilandes nach, die da verkündigen, wer
  • in der Zukunft auf ein ewiges Leben hoffen und warten darf, welche die
  • wahren Könige der Welt, die Erben des Himmels sind und am himmlischen
  • Reiche teilhaben.
  • Jetzt öffnet sich feierlich die Königspforte, als wäre sie das Tor zum
  • himmlischen Königreiche, und dem Auge aller Anwesenden bietet sich der
  • schimmernde Hochaltar dar, der den Sitz des göttlichen Ruhms und die
  • höchste Lehrstätte darstellt, aus der wir die Erkenntnis der Wahrheit
  • schöpfen und die uns das _ewige Leben_ verheißt. Der Priester und der
  • Diakon nähern sich dem Altar, nehmen das Evangelium und bringen es dem
  • Volke dar; hierbei gehen sie nicht durch die Königspforte, sondern durch
  • eine Seitentür, die die Tür der Seitenkammer darstellt, der man in der
  • ersten Zeit die Bücher entnahm. Diese wurden dann in die Mitte des
  • Tempels getragen, worauf hier aus ihnen vorgelesen wurde.
  • Die Gemeinde der Andächtigen richtet ihre Blicke auf das Evangelium, das
  • die demütigen Diener der Kirche in den Händen tragen, als wäre es der
  • Heiland selbst, der zum erstenmal hervortritt, um Gottes Wort zu
  • verkündigen; er schreitet durch die schmale nördliche Tür, gleichsam
  • unerkannt, bis in die Mitte der Kirche, um, nachdem er sich allen
  • gezeigt hat, durch die Königspforte wieder ins Allerheiligste
  • zurückzukehren. Die beiden Diener Gottes bleiben mitten in der Kirche
  • stehen; beide beugen ihr Haupt. Der Priester betet bei sich selbst, »Er,
  • Der im Himmel die Heerscharen der Engel und die himmlischen Würden
  • eingesetzt hat, auf daß sie Seinem Ruhm und Seiner Ehre dieneten, möge
  • diesen Engeln und himmlischen Kräften, die Ihm mit uns dienen, gebieten,
  • mit uns zusammen das Allerheiligste zu betreten«. Der Diakon weist mit
  • der Gebetstola auf die Königspforte und spricht zum Priester: »Segne, o
  • Herr den heiligen Eingang!« -- »Gesegnet sei der Eingang Deiner Heiligen
  • immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« erwidert der Priester.
  • Der Diakon reicht ihm das heilige Evangelium zum Kusse hin und trägt es
  • in den Altarraum, bleibt jedoch inmitten der Königspforte stehen, hebt
  • es hoch mit den Händen empor und ruft: »Höchste Weisheit!« wodurch er
  • ausdrücken will, daß das Wort Gottes, Sein Sohn, Seine ewige höchste
  • Weisheit der Welt durch das Evangelium verkündet ward, das er jetzt mit
  • seinen Händen emporhebt. Dann ruft er: »Verzeih!« d. h.: »Erwachet,
  • rafft euch auf, überwindet eure Trägheit und Lässigkeit!« Die Gemeinde
  • der Andächtigen richtet ihren Geist empor und singt zusammen mit dem
  • Chor: »Kommt, laßt uns vor Christus niederfallen und Ihn anbeten!
  • Errette uns, Du Sohn Gottes, uns, die wir Dir >_Halleluja_< singen!« Das
  • hebräische Wort Halleluja bedeutet soviel wie: »Der Herr _kommt
  • gegangen_, lobet den Herrn!« da jedoch das Wort kommt gegangen nach dem
  • Sinn der heiligen Sprache Gegenwart und Zukunft in einem ausdrückt, d.
  • h. es kommt der, der schon gekommen ist und der wiederkommen wird, so
  • begleitet dieses Wort _Halleluja_, das das ewige Wandeln Gottes
  • ankündigt, jedesmal solche heilige Handlungen, bei denen Gott selbst in
  • Gestalt des Evangeliums oder der heiligen Gaben zum Volke hinaustritt.
  • Das Evangelium, das die frohe Botschaft vom Worte des Lebens verkündigt,
  • wird auf den Hochaltar gestellt. Auf dem Chor ertönen jetzt Gesänge zu
  • Ehren des Festtages, oder kurze Lobgesänge und Hymnen zu Ehren des
  • Heiligen, dem der Tag geweiht ist und den die Kirche feiert, weil er
  • denen gleicht, die Christus in den Seligpreisungen aufgezählt hat, und
  • weil Er durch das lebendige Beispiel Seines eigenen Lebens gelehrt hat,
  • wie wir Ihm nachfolgen und ins ewige Leben eingehen sollen.
  • Nachdem die Lobhymnen beendigt sind, beginnen die Trichagien, d. h. der
  • Abgesang des Dreimalheilig. Der Diakon erbittet sich den Segen des
  • Priesters, betritt die Königspforte, schwingt die Stola und gibt den
  • Sängern das Zeichen. Feierlich und mit Donnerlaut dröhnt der Gesang des
  • Dreimalheilig durch die Kirche. Er besteht in folgendem Anrufe Gottes,
  • der dreimal wiederholt wird: »Heiliger Gott, heiliger Starker, heiliger
  • Unsterblicher, erbarme Dich unser!« Mit dem Ruf: heiliger Gott
  • verkündigt das Trichagion Gott den Vater; mit dem Ruf: heiliger Starker
  • -- Gott den Sohn, Seine Kraft, Sein schaffendes Wort; und mit dem Ruf:
  • heiliger Unsterblicher -- Seinen unsterblichen Gedanken, den ewigen
  • lebendigen Willen Gottes, des Heiligen Geistes. Dreimal stimmen die
  • Sänger diesen Gesang an, damit es bis ans Ohr aller Menschen dringe, daß
  • in dem ewigen Sein Gottes das ewige Sein der Dreieinigkeit mitenthalten
  • ist und daß es keine Zeit gab, wo Gottes Wort nicht bei Ihm gewesen wäre
  • und wo der Heilige Geist Seinem Worte gemangelt hätte. »Der Himmel ist
  • durch das Wort des Herrn gemacht, und all sein Heer durch den Geist
  • Seines Mundes,« sagt der Prophet David. Jeder in der Gemeinde ist sich
  • dessen bewußt, daß auch in ihm als dem Ebenbilde Gottes jene Dreiheit
  • enthalten ist: Er selbst, Sein Wort und Sein Geist oder der Gedanke, der
  • das Wort bewegt, daß jedoch sein menschliches Wort ohnmächtig ist,
  • vergebens ertönt und nichts schafft, daß sein Geist nicht ihm gehört, da
  • er von allen möglichen fremden Eindrücken beeinflußt wird, und daß nur
  • durch seine Erhebung zu Gott in ihm das eine wie das andere Kraft
  • gewinnt: im Worte spiegelt sich Gottes Wort, im Geiste Gottes Geist; das
  • Bild der Dreieinigkeit des Schöpfers drückt sich im Geschöpfe ab, und
  • das Geschöpf wird seinem Schöpfer ähnlich -- Indem dies jedem bewußt
  • wird, betet er, während er dem Trichagion lauscht, innerlich bei sich
  • selbst, daß der heilige, starke, unsterbliche Gott sein ganzes Ich
  • reinigen und es zu Seinem Tempel und Wohnhaus machen möge, und dabei
  • wiederholt er dreimal bei sich selbst: »Heiliger Gott, heiliger Starker,
  • heiliger Unsterblicher, erbarme Dich unser!« Der Priester betet im
  • Inneren des Altarraums leise zu Gott, er möge dieses Trichagion gnädig
  • aufnehmen, wirft sich dreimal vor dem Altar nieder und wiederholt
  • dreimal bei sich selbst: »Heiliger Gott, heiliger Starker, heiliger
  • Unsterblicher!« Auch der Diakon wiederholt gleich ihm dreimal das
  • Trichagion und wirft sich zusammen mit dem Priester vor dem Altar
  • nieder.
  • Nachdem der Priester den Kniefall getan hat, besteigt er den erhöhten
  • Platz im Allerheiligsten, als dränge er bis in die Tiefe der
  • Gotteserkenntnis ein, daher uns das Mysterium der Allerheiligsten
  • Dreieinigkeit gekommen ist; dieser Platz symbolisiert jenen höchsten
  • erhabensten über allem schwebenden Ort, da der Sohn im Schoße des Vaters
  • und in der Einheit mit dem Heiligen Geiste ruht. Durch dieses
  • Emporsteigen stellt der Priester das Emporsteigen Christi selbst samt
  • dem Fleische in den Schoß des Vaters dar, wodurch der Mensch gleichfalls
  • aufgefordert wird, Ihm in den Schoß des Vaters nachzufolgen -- eine
  • Wiedergeburt, die schon der Prophet Daniel von ferne vorausgeahnt hat,
  • als er in einem erhabenen Gesichte erschaute, wie des Menschen Sohn zu
  • dem »Alten der Tage« kam.
  • Der Priester schreitet nun unerschütterlichen Schrittes voran und
  • spricht: »Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn.« Der Diakon
  • fleht ihn an: »Segne, o Herr den erhabenen Hochaltar!« und der Priester
  • segnet ihn, indem er spricht: »Gelobet seist Du auf dem Throne des Ruhms
  • in der Herrlichkeit Deines Reiches. Du thronest auf Cherubim immerdar,
  • jetzo, hinfort und von Ewigkeit zu Ewigkeit.« Dann nimmt er auf dem
  • erhöhten Orte Platz, der für den Erzpriester bestimmt ist. Von hier aus
  • sucht er wie ein Apostel Gottes und als sein Stellvertreter mit dem
  • Gesicht zum Volke gewandt die Aufmerksamkeit der Gemeinde wach zu halten
  • und die Gemeinde auf die bevorstehende Vorlesung der Epistel
  • vorzubereiten -- er tut dies in sitzender Stellung und deutet hierdurch
  • an, daß er selbst den Aposteln gleichgestellt ist.
  • Der Vorleser tritt mit den Episteln in der Hand in die Mitte des
  • Tempels. Mit dem Ruf: »Laßt uns aufmerken!« fordert der Diakon alle
  • Anwesenden zur Aufmerksamkeit auf. Der Priester fleht vom Inneren des
  • Altarraumes aus Frieden auf den Vorleser und die Anwesenden herab, und
  • die Gemeinde der Andächtigen erwidert diesen Wunsch des Priesters mit
  • dem gleichen Wunsche. Da sein Dienst jedoch ein rein geistlicher Dienst
  • sein muß, gleich dem der Apostel, deren Worte nicht aus ihnen selbst
  • kamen, sondern deren Lippen vom Heiligen Geist bewegt wurden, so sagen
  • sie nicht: »Friede sei mit dir!« sondern »mit deinem Geiste«! Der Diakon
  • ruft aus: »Höchste Weisheit!« Laut und ausdrucksvoll, so daß jedes Wort
  • einem jeden vernehmlich ist, beginnt der Vorleser seine Vorlesung;
  • aufmerksam, empfänglichen Herzens, mit suchender Seele und einem
  • Verständnis, das den inneren Sinn des Vorgelesenen zu erfassen sucht,
  • lauscht die Versammlung, denn die Vorlesung der Epistel ist eine Stufe
  • und Leiter zum besseren Verständnis der Evangelien. Wenn der Vorleser
  • seine Vorlesung beendigt hat, ruft ihm der Priester aus dem Inneren des
  • Altarraumes zu: »Friede sei mit dir!« Der Chor antwortet: »Und mit
  • deinem Geiste!« Der Diakon ruft aus: »Höchste Weisheit!« Der Chor singt
  • ein donnerndes »Halleluja!«, das das Nahen des Herrn ankündigt, Der
  • kommt, um durch den Mund des Evangeliums zum Volke zu sprechen.
  • Nunmehr erscheint der Diakon mit dem Räucherfaß in der Hand, um den
  • Tempel mit Wohlgerüchen zu erfüllen und für den Empfang des Herrn, der
  • da naht, vorzubereiten; dieses Räuchern soll uns an die geistige
  • Reinigung unserer Seelen ermahnen, denn wir sollen die wohltönenden
  • Worte des Evangeliums reinen Herzens anhören. Der Priester betet im
  • Innern des Altarraumes bei sich selbst, er bittet, daß das Licht der
  • göttlichen Weisheit in unseren Herzen aufgehen und daß unsere geistigen
  • Augen sich öffnen mögen, auf daß wir die Predigt des Evangeliums
  • verständnisvoll in uns aufnehmen. Auch die Gemeinde betet leise bei sich
  • selbst, sie bittet, daß das gleiche Licht auch in ihrem Herzen aufgehen
  • möge, und bereitet sich auf die Vorlesung vor. Der Diakon erbittet sich
  • den Segen des Priesters, dieser erwidert ihm mit dem Wunsche: »Gott
  • verleihe auf Fürbitte des hochheiligen, hochgelobten Apostels und
  • Evangelisten [hier folgt sein Name] deiner Stimme große Kraft, daß du
  • die frohe Botschaft machtvoll verkündigest, auf daß erfüllet werde das
  • Evangelium Seines innig geliebten Sohnes, unseres Herrn Jesu Christi!«
  • Hierauf besteigt der Diakon die Kanzel, wobei ihm eine Leuchte
  • vorangetragen wird, die das alles erleuchtende Licht Jesu Christi
  • symbolisiert. Der Priester ruft der Gemeinde aus dem Inneren des
  • Altarraumes zu: »Höchste Weisheit! Vergib! Laßt uns dem heiligen
  • Evangelium lauschen! Friede sei mit euch allen!« Der Chor antwortet:
  • »Und mit deinem Geiste!«, worauf der Diakon seine Vorlesung beginnt.
  • Alle beugen andächtig ihr Haupt, als lauschten sie den Worten Christi
  • selbst, Der von der Kanzel zu ihnen spricht, und als bemühten sie sich,
  • die Saat des heiligen Wortes die der himmlische Säemann selbst durch den
  • Mund Seines Dieners ausstreut, in sich, in ihr Herz, aufzunehmen; --
  • nicht mit einem Herzen, das der Heiland mit der Erde am Wege vergleicht,
  • auf die zwar auch einige Samenkörner fallen, um jedoch sofort von den
  • Vögeln -- den bösen Gedanken und Absichten -- aufgefressen zu werden; --
  • auch nicht mit solch einem Herzen, das Er mit dem steinigen Erdreich
  • vergleicht, das nur ganz oberflächlich mit Erde bedeckt ist, sie, die
  • das Wort zwar willig aufnehmen, es aber nicht tief Wurzeln schlagen
  • lassen, da es ihnen an Herzenstiefe fehlt; -- auch nicht mit solch einem
  • Herzen, das Er mit dem verwahrlosten und ungesäuberten Acker vergleicht,
  • der von Dornen überwuchert ist, auf dem die Saat zwar aufgeht, dessen
  • eben aufsprießende Keime jedoch von den schnell emporwachsenden Dornen
  • -- den Dornen zeitlicher Sorgen und Mühen, den Dornen der Versuchungen
  • und der zahllosen Lockungen des ertötenden, weltlichen Lebens mit seinen
  • trügerischen Reizen und Annehmlichkeiten -- sofort erstickt werden, --
  • so daß die Saat keine Frucht trägt; wohl aber mit jenem hingebungsvollen
  • Herzen, das Er mit gutem Lande vergleicht, welches Frucht trägt --
  • etliches hundertfältig, etliches sechzigfältig, etliches dreißigfältig
  • --, das alles, was es in sich aufnimmt, beim Verlassen der Kirche, zu
  • Hause, in der Familie, im Dienst, während der Arbeit, während der
  • Mußestunden und Vergnügungen, im Gespräche mit anderen Menschen, und,
  • wenn es mit sich allein ist, wieder zurückerstattet. Kurz, jeder
  • Gläubige bemüht sich, ein Hörer und Täter des Wortes zugleich zu sein,
  • den der Heiland mit dem weisen Manne gleichzumachen verspricht, der sein
  • Haus nicht auf Sand, sondern auf einem Felsen erbaut, so daß sein
  • geistiges Heim, selbst wenn sich, gleich nachdem er die Kirche verlassen
  • hat, Regen, Flüsse und Wirbelstürme, alle möglichen Leiden und
  • Mißgeschick wider ihn erhöben, unerschütterlich dastehen wird, gleich
  • einer auf einem Felsen erbauten Feste.
  • Nachdem die Vorlesung beendigt ist, ruft der Priester dem Diakon aus dem
  • Inneren des Tempels zu: »Friede sei mit dir, der du frohe Botschaft
  • verkündigst!« Alle Anwesenden erheben ihr Haupt und rufen im Gefühl
  • ihrer Dankbarkeit zugleich mit dem Chor: »Ehre sei Dir, unserem Gott,
  • Ehre sei Dir!« Der in der Königspforte stehende Priester nimmt das
  • Evangelium aus den Händen des Diakons entgegen und stellt es auf den
  • Altar, als das Wort, das von Gott ausgegangen ist und nun zu Ihm
  • zurückkehrt. Der Hochaltar, der die höchsten erhabensten Gefilde
  • darstellt, entzieht sich jetzt den Augen der Gemeinde -- die
  • Königspforte schließt sich, und die Tür zum Allerheiligsten wird
  • verhängt zum Zeichen, daß es keine andere Tür zum Himmelreiche gibt als
  • die, die uns Christus geöffnet hat, und daß wir nur mit Ihm durch sie
  • eintreten können, denn es heißt: »Ich bin die Tür.«
  • Hiernach pflegte während der ersten christlichen Zeit die Predigt
  • stattzufinden, worauf die Erklärung und Interpretation der verlesenen
  • Evangelientexte folgte. Da jedoch in unserer Zeit meist über andere
  • Texte gepredigt wird, und da folglich die Predigt nicht zur Erklärung
  • der vorgelesenen Evangelientexte dient, so wird sie, um den Zusammenhang
  • und die strenge harmonische Ordnung der heiligen Liturgie nicht zu
  • stören, ans Ende gestellt.
  • Der Diakon besteigt sodann, den Engel, der die Menschen zum Gebet
  • anfeuert, versinnbildlichend, die Kanzel, um die Gemeinde zu noch
  • inbrünstigerem Gebet aufzurufen. Er ruft: »Lasset uns beten aus ganzem
  • Herzen, ganzer Seele, lasset uns beten aus ganzem Gemüt,« indem er die
  • Gebetstola mit drei Fingern in die Höhe hebt; und während alle aus
  • tiefster Seele inbrünstige Gebete zum Himmel emporrichten, rufen sie
  • aus: »Herr, erbarme Dich!« Der Diakon aber unterstützt und verstärkt
  • seinerseits das Gebet noch, indem er dreimal um Erbarmen fleht, und er
  • fordert die Gemeinde nochmals auf, für alle Menschen zu beten, welchen
  • Rang und welches Amt sie auch immer bekleiden mögen; zunächst und in
  • erster Linie für die in den höchsten Ämtern und Stellungen, wo es der
  • Mensch am schwersten hat, wo er am leichtesten strauchelt und wo er der
  • Hilfe Gottes am meisten bedarf. Jeder von den Versammelten betet, da er
  • weiß, in wie hohem Grade die Wohlfahrt vieler Menschen davon abhängt,
  • daß die Mächtigen redlich ihre Pflicht erfüllen, inbrünstig und bittet
  • Gott, Er möge sie erleuchten und belehren, getreulich ihre Schuldigkeit
  • zu tun, und jedem Kraft verleihen, seine irdische Laufbahn in
  • ehrenhafter Weise zu vollenden. Darum beten alle inniglich, indem sie
  • nun nicht mehr einmal, sondern dreimal nacheinander rufen: »Herr,
  • erbarme Dich!« Die ganze Reihe dieser Gebete heißt: doppelte Ektenia
  • oder die Ektenia des inbrünstigen Gebets, und der Priester bittet im
  • Altar vor dem Gottestisch inniglich um Erhörung dieser allgemeinen
  • verstärkten Gebete, und sein Gebet heißt das Gebet der inbrünstigen
  • Bitte.
  • Wenn an jenem Tage eine Seelenmesse zu Ehren der Toten stattfindet, so
  • wird gleich nach der doppelten Ektenia noch eine Ektenia zu Ehren der
  • Entschlafenen verkündigt. Der Diakon hält die Stola mit drei Fingern
  • seiner Hand empor und fordert die Gemeinde auf, für den Seelenfrieden
  • der Knechte Gottes zu beten, die er alle beim Namen nennt, auf daß Gott
  • ihnen alle ihre Sünden, ihre bewußten und unbewußten Verfehlungen
  • vergeben und ihre Seelen dorthin versetzen möge, wo die Gerechten in
  • Frieden weilen. Bei dieser Gelegenheit gedenkt jeder der Anwesenden
  • aller Verstorbenen, die seinem Herzen nahestanden, und beantwortet jeden
  • Ruf des Diakons mit einem dreimaligen: »Herr, erbarme Dich!« indem er
  • inbrünstig für seine Lieben und für alle entschlafenen Christen betet.
  • »Wir flehen Dich an, Christus, unser Gott, unsterblicher König, gewähre
  • uns Deine göttliche Gnade, das Himmelreich und Vergebung der Sünden!«
  • ruft der Diakon aus. Die Gemeinde erwidert zugleich mit dem Sängerchor:
  • »Gewähre es uns, o Herr!« Der Priester aber betet im Inneren des
  • Altarraums und bittet den Überwinder des Todes, Ihn, der uns das ewige
  • Leben schenkte, Er möge die Seelen Seiner entschlafenen Knechte in
  • Frieden in die friedlichen grünen Gefilde, die von Krankheiten, Kummer
  • und Seufzern gemieden werden, eingehen lassen; er bittet in seinem
  • Herzen, Er möge ihnen alle ihre Sünden erlassen und verkündet laut:
  • »Christus, unser Gott, da Du bist die Auferstehung, das Leben und der
  • Frieden Deiner entschlafenen Knechte, so singen wir Dir Preis und Ruhm
  • samt Deinem ewigen Vater und Deinem allerheiligsten, gütigen,
  • lebenspendenden Geist, nun, hinfort und in alle Ewigkeit.« Der Chor ruft
  • bestätigend: »Amen,« worauf der Diakon die Ektenia für die Katechumenen
  • beginnt.
  • Obwohl die Zahl der noch nicht Getauften und derer, die noch zu den
  • Katechumenen zählen, heute nur noch gering ist, denkt doch jeder
  • Anwesende daran, wie weit er durch Glauben und Taten noch hinter den
  • Gläubigen zurücksteht, die gewürdigt wurden, an den Liebesmahlen der
  • ersten christlichen Zeit teilzunehmen, sieht ein, wie er gleichsam bloß
  • bei Christus in die Lehre gegangen ist, jedoch sein Leben noch nicht mit
  • Ihm erfüllt hat, wie er erst die Weisheit Seiner Worte versteht, sie
  • aber in seinem Leben noch nicht verwirklicht, wie kalt sein Glaube noch
  • ist, und wie es ihm noch an dem Feuer einer allesverzeihenden Liebe zu
  • seinem Bruder gebricht, einer Liebe, die alle Herzenskälte und Dürre
  • verzehrt, und wie er, obwohl er mit dem Wasser auf den Namen Christi
  • getauft ward, doch noch der geistigen Wiedergeburt nicht teilhaftig ist,
  • ohne die sein Christentum nach den eigenen Worten des Heilandes nichts
  • ist, Der da spricht: »Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde,
  • kann er das Reich Gottes nicht sehen!« -- Indem also jeder Anwesende
  • dessen eingedenk ist, zählt er sich demutsvoll zu den Katechumenen, und
  • so antwortet er denn auch auf den Ruf des Diakons: »Lasset uns zu Gott
  • beten, Katechumenen!« aus der Tiefe seines Herzens: »Gott, erbarme Dich
  • unser!«
  • Hierauf ruft der Diakon: »Ihr Gläubigen, lasset uns für die Katechumenen
  • beten und Ihn bitten, Er möge ihnen gnädig sein, sie erwecken mit dem
  • Worte der Wahrheit, ihnen das Evangelium der Gerechtigkeit offenbaren,
  • sie vereinigen in Seiner heiligen allgemeinen apostolischen Kirche, Er
  • möge sie erretten, Sich ihrer erbarmen, ihnen beistehen und sie erhalten
  • in Seiner Gnade.«
  • Und die Gläubigen beten, tief durchdrungen von dem Gefühle, wie wenig
  • sie den Namen der Gläubigen verdienen, indem sie für die Katechumenen
  • bitten, auch für sich selbst und beantworten jeden Ruf des Diakons in
  • ihrem Innern, indem sie mit dem Sängerchor die Worte nachsprechen:
  • »Herr, erbarme Dich unser!« Der Diakon ruft: »Katechumenen, beugt euer
  • Haupt vor Gott!«, und alle beugen ihr Haupt, indem sie innerlich
  • ausrufen: »Vor Dir, o Herr!«
  • Der Priester betet leise für die Katechumenen, sowie für die, die sich
  • in ihrer Herzensdemut unter die Katechumenen versetzt haben. Sein Gebet
  • hat folgenden Wortlaut: »Herr, unser Gott, Der Du in der Höhe wohnst und
  • herabsiehst auf die Demütigen, Der Du das Heil herabsandtest dem
  • menschlichen Geschlechte in Gestalt Jesu Christi, Deines Sohnes, unseres
  • Herrn und Gottes! Blicke nieder auf die Katechumenen, Deine Knechte, die
  • ihren Nacken vor Dir beugen! Nimm sie auf in Deine Kirche und in Deine
  • auserwählte Herde, auf daß sie mit uns Deinen hehren, herrlichen Namen
  • loben und preisen den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, jetzo,
  • hinfort und in alle Ewigkeit!« Der Chor fällt mit einem donnernden
  • »Amen!« ein. Und in Erinnerung, daß nun der Augenblick gekommen ist, wo
  • ehemals die Katechumenen aus der Kirche herausgeführt wurden, ruft der
  • Diakon mit lauter Stimme: »Tretet heraus, Katechumenen!« Hierauf erhebt
  • er abermals die Stimme und ruft noch einmal: »Tretet heraus,
  • Katechumenen!« Und endlich ruft er noch ein drittes Mal aus: »Tretet
  • heraus, Katechumenen! Keiner von euch Katechumenen, sondern ihr
  • Gläubigen alleine, laßt uns abermals und abermals zu Gott beten!«
  • Bei diesen Worten erbeben alle im Bewußtsein ihrer Unwürdigkeit.
  • Inbrünstig flehen sie in Gedanken Christus selbst um Gnade an, Der die
  • Käufer und die schamlosen Krämer, die Sein Heiligtum zu einer
  • Mördergrube gemacht hatten, aus dem Tempel Gottes jagte, und jeder
  • Anwesende bemüht sich, den Katechumenen, der noch nicht darauf
  • vorbereitet ist, in dem Heiligtume zu weilen, aus dem Tempel seiner
  • Seele zu vertreiben, und er betet zu Christus, Er möge selbst den
  • Gläubigen, der in die auserwählte Herde aufgenommen wird, in ihm
  • erwecken, denn von ihm sagt der Apostel: »Ein heiliges Volk, Menschen
  • der Erneuerung sind die Steine, aus denen der Tempel erbaut wird«; Er
  • möge ihn erwecken ihn, der zu den wahrhaften Gläubigen gehört, die
  • während der Zeit der ersten Christen, deren Gesichter von der
  • Ikonostasis auf den Andächtigen herabblicken, an der Liturgie
  • teilnahmen. Und indem er sie alle mit seinem Blick umfaßt, fleht er sie
  • um Hilfe an, als seine Brüder, die jetzt im Himmel anbeten, denn nunmehr
  • steht die allerheiligste Handlung bevor; es beginnt die Liturgie der
  • Gläubigen.
  • Die Liturgie der Gläubigen
  • Im geschlossenen Altarraum breitet der Priester auf dem heiligen
  • Hochaltar das Antiminsion oder Corporale aus -- ein Tuch, auf dem der
  • Körper des Heilands abgebildet ist --, worauf das von ihm während des
  • Offertoriums zubereitete Brot und der mit Wasser und Wein gefüllte Kelch
  • gestellt werden, die jetzt im Angesicht aller Gläubigen vom Seitenaltar
  • herbeigetragen werden. Das Corporale, das der Priester über den
  • Hochaltar breitet, soll an die Zeiten der Christenverfolgungen erinnern,
  • als die Kirche noch kein ständiges Heim hatte; man bediente sich damals,
  • da der Altar nicht von einem Ort zum anderen getragen werden konnte,
  • dieses Tuches sowie einzelner Stücke von Reliquien; dies Corporale ist
  • noch heute im Gebrauch, um anzudeuten, daß die Kirche auch heute noch
  • nicht an ein einzelnes bestimmtes Haus, an eine Stadt oder an einen Ort
  • gebunden ist, sondern wie ein Schiff noch auf den Wellen dieser Welt
  • schwebt, ohne irgendwo vor Anker zu gehen, denn ihr Anker ruht im
  • Himmel. Nachdem also der Priester das Corporale ausgebreitet hat, tritt
  • er vor den Tisch, wie wenn er das erstemal vor ihn hinträte und als ob
  • er sich erst jetzt für die eigentliche heilige Handlung vorbereite: in
  • der ersten christlichen Zeit wurde nämlich der Altar erst in diesem
  • Augenblick geöffnet, bis dahin blieb er geschlossen und verhängt, weil
  • ja die Katechumenen noch anwesend waren, und erst jetzt begannen die
  • eigentlichen Gebete der Gläubigen. Der Priester fällt in dem noch immer
  • geschlossenen Altarraum vor dem Tische nieder und betet zwei Gebete der
  • Gläubigen, in denen er Gott bittet, seine Seele zu reinigen, und Ihn
  • anfleht, ihn gerecht vor den heiligen Altar treten zu lassen, auf daß er
  • würdig werde, das Opfer reinen Gewissens darzubringen. Der Diakon steht
  • indessen auf der Kanzel inmitten der Kirche, einen Engel darstellend,
  • der die Gemeinde zum Gebet anfeuert; er hält die Gebetstola mit drei
  • Fingern empor und ruft alle Gläubigen zu denselben Gebeten auf, mit
  • denen die Liturgie der Katechumenen begann.
  • Alle Gläubigen sind bemüht, ihre Herzen mit einem einträchtigen,
  • friedlichen, versöhnlichen Gefühl zu erfüllen, das jetzt noch
  • notwendiger ist, und rufen: »Herr, erbarme Dich!«; sie beten noch
  • inbrünstiger und flehen Gott um den höheren Frieden, um Errettung
  • unserer Seelen, um den Frieden der Welt, die Wohlfahrt der Kirchen
  • Gottes und ihre Einigung an; sie beten für diesen heiligen Tempel und
  • für die, die ihn andächtig und gottesfürchtig betreten, und bitten Gott,
  • Er möge sie vor Kummer, Zorn und Not bewahren. Und sie rufen noch
  • inbrünstiger in ihrem Herzen: »Herr, erbarme Dich!«
  • Der Priester ruft aus dem Inneren des Altarraumes: »Höchste Weisheit!«,
  • womit er andeutet, daß dieselbe höchste Weisheit, derselbe ewige Sohn,
  • Der in Gestalt des Evangeliums ausging, das Wort auszusäen, daraus wir
  • Belehrung schöpfen, wie wir leben sollen, Sich jetzt in das heilige Brot
  • verwandeln wird, um Sich für die ganze Welt aufzuopfern. Alle Anwesenden
  • bereiten sich, aufgerüttelt durch diese Vorstellung, begeistert auf den
  • nunmehr bevorstehenden hochheiligen Gottesdienst vor und richten ihre
  • Gedanken auf ihn. Der Priester, der die Liturgie zelebriert, betet leise
  • bei sich, fällt vor dem Tische nieder und spricht folgendes erhabene
  • Gebet: »Keiner, der noch durch fleischliche Lüste und Genüsse gefesselt
  • wird, ist würdig, sich Dir zu nahen, vor Dich hinzutreten oder Dir zu
  • dienen, Herr der Liebe; denn Dein Dienst ist groß und furchtbar, selbst
  • für die himmlischen Mächte. Allein da Du in Deiner unermeßlichen
  • Menschenliebe wahrhaftig und ewiglich Mensch, da Du selbst Hoherpriester
  • wurdest und selbst das Sakrament dieses Gottesdienstes und dieses
  • unblutigen Opfers einsetztest, als Herr unser aller -- denn Du allein, o
  • Gott, herrschst über alle himmlischen und irdischen Geschöpfe und
  • sitzest auf dem Throne, der von Cherubim getragen wird, Gott der
  • Seraphim und König von Israel, Der Du allein heilig bist und in den
  • Heiligen wohnest --, so flehe ich Dich an, Dich, den Einen, Guten, sieh
  • herab auf mich armen Sünder und Deinen unwürdigen Knecht, reinige meine
  • Seele und mein Herz von bösen Gedanken und mache mich würdig, bekleidet
  • mit der priesterlichen Gnade, mache mich würdig durch die Macht Deines
  • Heiligen Geistes, vor Deinen Tisch zu treten und Deinen heiligen reinen
  • Leib und Dein gerechtes Blut zu konsekrieren. Ich trete vor Dich hin,
  • beuge meinen Nacken und bete zu Dir: wende Dein Angesicht nicht von mir
  • ab und verstoße mich nicht aus der Schar Deiner Knechte, sondern laß es
  • geschehen, daß diese Deine Gaben Dir dargebracht werden durch mich
  • Unwürdigen. Denn Du bist der Darbringende und Dargebrachte, der
  • Empfangende und Der, Der sie austeilt, Christus unser Gott, wir singen
  • Dir Ruhm und Preis samt Deinem ewigen Vater und Deinem allerheiligsten,
  • gütigen und lebenspendenden Geiste, jetzo, hinfort und in alle
  • Ewigkeit.«
  • Mitten während des Gebetes öffnet sich die Königspforte, und man sieht
  • den Priester mit ausgebreiteten Armen und in betender Stellung knien.
  • Der Diakon kommt mit dem Räucherfaß in der Hand gegangen, um dem
  • höchsten König den Weg zu bereiten, er räuchert reichlich und läßt
  • Wolken von wohlriechendem Weihrauch aufsteigen, inmitten deren Er
  • erscheinen wird, getragen von Cherubim. So ermahnt er alle daran, ihr
  • Gebet zu reinigen, auf daß es lauter werde wie der Weihrauch vor dem
  • Herrn -- und fordert alle auf, die nach dem Wort des Apostels ein
  • Wohlgeruch vor Christus sind, dessen eingedenk zu sein, daß sie reine
  • Cherubim sein sollen, um den Herrn emportragen zu können. Die Sänger auf
  • beiden Chören stimmen im Angesicht der ganzen Kirche folgenden
  • Cherubimgesang an: »Die wir in geheimnisvoller Weise Cherubim darstellen
  • und das Trichagion zu Ehren der lebenspendenden Dreieinigkeit singen,
  • lasset uns nun alles andere vergessen und den höchsten König emporheben,
  • Der unsichtbar getragen wird von den Heerscharen der Engel und
  • beschattet von Lanzen.«
  • Die alten Römer hatten den Brauch, den neugewählten König auf einem
  • Schilde, begleitet von seinen Legionen und beschattet von zahllosen
  • Lanzen, die über ihn gehalten wurden, vor das Volk hinauszutragen.
  • Diesen Gesang hat jener Kaiser selbst gedichtet, der in aller seiner
  • irdischen Größe vor der Erhabenheit des höchsten Königs in den Staub
  • sank, Der im Schatten der Lanzen von Cherubim und von den Legionen der
  • himmlischen Mächte getragen wird; in der ersten Zeit traten die Kaiser
  • selbst bescheiden in die Reihe der Diener der Kirche, wenn das heilige
  • Brot hinausgetragen wurde.
  • Der Gesang dieses Liedes trägt einen angelischen Charakter und soll
  • daran erinnern, wie die unsichtbaren Heerscharen im Himmel gesungen
  • haben. Der Priester und der Diakon wiederholen diesen Cherubimgesang
  • leise bei sich selbst und treten sodann vor den Seitenaltar, vor dem
  • sich das Offertorium abspielte. Indem nun der Diakon vor die Gaben
  • hintritt, die mit dem Aër bedeckt sind, spricht er: »Nimm hin, o Herr!«
  • Der Priester zieht den Aër hinweg und legt ihn dem Diakon auf die linke
  • Schulter und spricht: »Erhebet eure Hände zu dem Heiligtume und segnet
  • den Herrn!« Sodann nimmt er die Patene samt dem Lamm und stellt sie dem
  • Diakon aufs Haupt; er selbst ergreift den heiligen Kelch und geht hinter
  • einer vorausgetragenen Leuchte oder Lampe zur Seitentür oder durch das
  • nördliche Tor zum Volke hinaus. Wenn jedoch der Gottesdienst im Beisein
  • der ganzen Geistlichkeit d. h. vieler Geistlicher und Diakonen
  • stattfindet, so trägt ein Priester die Patene, ein anderer den Kelch,
  • ein dritter den heiligen Löffel, mit dem der Priester das heilige
  • Abendmahl austeilt, ein vierter die Lanze, die in den heiligen Leib
  • gestoßen wurde. Alle heiligen Geräte werden hinausgetragen, sogar der
  • Schwamm, mit dem die Krümchen des heiligen Brotes auf der
  • Hostienschüssel zusammengelesen wurden und der jenen Schwamm darstellt,
  • welcher mit Essig und Galle gefüllt wurde und mit dem die Knechte ihren
  • Schöpfer tränkten. Diese feierliche Prozession, die der große Ausgang
  • genannt wird und die himmlischen Heerscharen versinnbildlicht, kommt
  • unter dem Absingen des Cherubimgesanges herangeschritten.
  • Bei dem Anblick des höchsten Königs, Der in der bescheidenen Gestalt des
  • Lammes vorausgetragen wird, umgeben von den Werkzeugen irdischer Marter
  • wie von den Lanzen unzählbarer unsichtbarer Heerscharen und Hierarchien,
  • und auf der Patene ruhend wie auf einem Schilde, beugen alle tief ihr
  • Haupt und beten mit den Worten des Übeltäters, der den Herrn vom Kreuze
  • aus anflehte: »Herr, gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst.«
  • Mitten im Tempel macht die Prozession halt. Der Priester benutzt diesen
  • großen Augenblick, um in Gegenwart aller derer, die die Gaben tragen,
  • und im Angesichte Gottes der Namen aller Christen zu gedenken, wobei er
  • mit denen beginnt, denen die schwierigsten und heiligsten Pflichten
  • auferlegt sind, von deren Erfüllung die Wohlfahrt aller Menschen und die
  • Rettung ihrer eigenen Seele abhängt, und er schließt mit den Worten:
  • »Gott der Herr gedenke euer und aller [rechtgläubigen] Christen in
  • Seinem Reiche [immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit]!« Die
  • Sänger beschließen den Cherubimgesang mit einem dreimaligen
  • »Halleluja!«, das das ewige Wandeln des Herrn verkündigt. Der Zug
  • betritt nun die Königspforte. Der Diakon nähert sich allen voran dem
  • Altar, bleibt zur Rechten vor der Tür stehen und begrüßt den Priester
  • mit den Worten: »Gott der Herr gedenke deiner Priesterschaft in Seinem
  • Reiche!« Der Priester erwidert: »Gott der Herr gedenke deines heiligen
  • Diakonenamtes in Seinem Reiche immerdar, jetzo, hinfort und in alle
  • Ewigkeit!« Und er stellt den heiligen Kelch und das Brot, das den Leib
  • Christi versinnbildlicht, auf den Tisch, als wäre er ein Sarg. Die
  • Königspforte schließt sich, als wäre sie das Tor zum Grabe des Herrn,
  • der Vorhang wird zugezogen, womit auf die Wache hingedeutet wird, die
  • vor dem Grabe aufgestellt wurde. Der Priester nimmt die heilige Patene
  • vom Haupte des Diakons, als nähme er den Leib des Heilands vom Kreuze
  • herunter, und stellt sie auf das ausgebreitete Corporale, als wäre es
  • das Grabtuch Christi, wozu er die Worte spricht: »Der ehrbare Joseph
  • nahm Deinen allerheiligsten Leib vom Kreuze herab, band ihn in ein
  • reines Grabtuch mit Spezereien und legte ihn in ein Grab, darinnen
  • niemand je gelegen war.« Und indem er der Allgegenwart Dessen gedenkt,
  • Der jetzt vor ihm im Grabe liegt, spricht er bei sich selbst: »Im Grabe
  • warst Du leibhaftig, in der Hölle mit der Seele und Gott gleich, im
  • Paradies mit dem Übeltäter und saßest doch zugleich auf dem Throne mit
  • dem Vater und dem Heiligen Geist, o Christe, der Du alles mit Dir
  • erfüllst, Unbeschreiblicher!« Und des Ruhms und der Ehre gedenkend, mit
  • der dieses Grab bedeckt ward, spricht er: »Als Lebenspender, als
  • wahrhaftiglich, herrlicher denn das Paradies und strahlender denn jeder
  • Königspalast erschien uns Dein Grab, o Christus, Quell aller
  • Auferstehung!« Dann zieht er die Decke von der Patene und vom Kelch
  • hinweg, nimmt den Aër von der Schulter des Diakons, der jetzt nicht mehr
  • die Linnen, darin das Kind Jesus gewickelt ward, sondern das Kopftuch
  • und die Grableinwand darstellt, in die Sein toter Leib gehüllt wurde,
  • räuchert mit Thymian und bedeckt hierauf die Patene und den Kelch
  • abermals, indem er spricht: »Der ehrbare Joseph nahm Deinen
  • allerheiligsten Leib vom Kreuze herab, band ihn in ein reines Grabtuch
  • mit Spezereien und legte ihn in ein Grab, darinnen niemand je gelegt
  • war.« Dann nimmt er das Räucherfaß aus den Händen des Diakons entgegen,
  • räuchert vor den heiligen Gaben mit Weihrauch, indem er sich dreimal vor
  • ihnen verneigt, und wiederholt, während er sich zu den bevorstehenden
  • Opferhandlungen rüstet, leise bei sich selbst die Worte des Propheten
  • David: »Tue wohl an Zion nach Deiner Gnade, baue die Mauern zu
  • Jerusalem. Dann werden Dir gefallen die Opfer der Gerechtigkeit, die
  • Brandopfer und die ganzen Opfer, dann wird man Farren auf Deinem Altar
  • opfern,« denn solange Gott selbst uns nicht erhebt und unsere Seelen
  • nicht mit jerusalemischen Mauern wider alle Angriffe des Fleisches
  • schützt, sind wir nicht imstande, Ihm Opfer und Brandopfer darzubringen
  • und wird nie die Flamme eines geistigen Gebetes emporlodern, denn sie
  • wird zerstreut und verweht werden durch fremde nebensächliche Gedanken
  • und Rücksichten, durch den Ansturm der Leidenschaften und den Wirbelwind
  • eines seelischen Aufruhrs.
  • Der Priester bittet Gott, seine Seele für das bevorstehende Opferwerk zu
  • reinigen, legt das Räucherfaß wieder in die Hände des Diakons, läßt das
  • Ornat herabfallen, beugt sein Haupt und spricht zu ihm: »Gedenke meiner,
  • mein Bruder und Amtsgenosse!« »Gott gedenke deiner Priesterschaft in
  • Seinem Reiche!« erwidert der Diakon, beugt seinerseits das Haupt, denkt
  • an seine Unwürdigkeit und spricht, indem er die Stola emporhält: »Bete
  • für mich, heiliger Herr!« Der Priester antwortet: »Der Heilige Geist
  • komme über dich, und die Kraft des Höchsten erleuchte dich!« --
  • »Derselbige Geist helfe uns alle Tage unseres Lebens.« Und im vollen
  • Bewußtsein seiner Unwürdigkeit fügt er [der Diakon] hinzu: »Gedenke
  • meiner, o heiliger Herr!« Der Priester erwidert: »Gott gedenke deiner in
  • Seinem Reiche immerdar, hinfort und in alle Ewigkeit!« Der Diakon sagt:
  • »Amen!« küßt dem Priester die Hand und geht durch die nördliche
  • Seitentür hinaus, um alle Anwesenden zum Gebet für die dargebrachten und
  • auf dem Hochaltar stehenden heiligen Gaben aufzufordern.
  • Er besteigt den Altar und richtet, das Gesicht der Königspforte
  • zugewandt und die Stola, gleich dem erhobenen Flügel eines Engels, der
  • zum Gebet erweckt und anfeuert, mit drei Fingern emporhebend, eine ganze
  • Reihe von Gebeten, die schon keine Ähnlichkeit mit den früheren mehr
  • haben, zum Himmel empor. Nachdem er die Gemeinde aufgefordert hat, in
  • ihren Gebeten der auf dem Hochaltar stehenden Gaben zu gedenken, geht er
  • alsbald zu solchen Gebeten über, die nur die Gläubigen, die in Christo
  • leben, an Gott richten.
  • »Wir bitten Gott, daß Er diesen Tag zu einem vollkommenen, heiligen,
  • friedlichen und sündenlosen mache!« fleht der Diakon.
  • Die Gemeinde der Betenden vereinigt ihre Stimme mit dem Chor der Sänger
  • und ruft aus tiefstem Herzen zu Gott empor: »Gewähre ihn uns, o Herr!«
  • »Wir bitten Gott, daß Er uns einen friedlichen Engel, einen treuen
  • Lehrmeister und Beschützer unserer Seelen und unserer Leiber sende!«
  • Die Gemeinde: »Gewähre ihn uns, o Herr!«
  • »Wir bitten Gott um Vergebung und Erlassung unserer Sünden und
  • Verfehlungen!«
  • Die Gemeinde: »Gewähre sie uns, o Herr!«
  • »Wir bitten Gott um alles Gute und um alles, was unserer Seele nützlich
  • ist, und um Frieden auf Erden!«
  • Die Gemeinde: »Gewähre es uns, o Herr!«
  • »Wir bitten Gott um ein ferneres Leben in Frieden und um ein reumütiges
  • Ende!«
  • Die Gemeinde: »Gewähre es uns, o Herr!«
  • »Wir bitten Gott um ein christliches, schmerzloses, ehrbares und
  • friedliches Ende unseres Lebens und darum, daß wir einst gute
  • Rechenschaft ablegen am Jüngsten Gerichte Christi!«
  • Die Gemeinde: »Gewähre uns das, o Herr!«
  • »Wir gedenken unserer hochheiligen, reinen, gesegneten, herrlichen
  • Gebärerin, unserer Heiligen Jungfrau, sowie aller Heiligen und weihen
  • uns selbst, einander und unser ganzes Leben Christus, unserem Gott.«
  • Und in dem innigen Wunsche, sich also selbst und einander Christus,
  • ihrem Herrn, zu weihen, rufen alle: »Dir, o Herr!«
  • Die Ektenia wird mit folgendem Gebet beschlossen: »Durch die große Gnade
  • Deines eingeborenen Sohnes, sei gesegnet mit Ihm samt Deinem
  • allerheiligsten, gütigen, lebenspendenden Geist, nun, hinfort und in
  • alle Ewigkeit!«
  • Der Chor singt ein donnerndes »Amen!«
  • Noch immer bleibt der Altar geschlossen. Noch immer beginnt der Priester
  • nicht mit dem Opfer; denn noch muß vieles geschehen, ehe das heilige
  • Abendmahl stattfinden kann. Aus der Tiefe des Altarraumes ruft der
  • Priester der Gemeinde den Gruß des Heilands zu: »Friede sei mit euch
  • allen!« Die Gemeinde antwortet: »Und mit deinem Geiste!« Der Diakon
  • steht auf der Kanzel und ermahnt, wie dies bei den ersten Christen Sitte
  • war, alle, einander zu lieben, indem er spricht: »Laßt uns einander
  • lieben und einmütig bekennen ...« Hier fällt der Sängerchor ein, indem
  • er die Schlußworte: »Den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, die
  • alleinige unteilbare Dreieinigkeit!« mitsingt, wodurch wir daran
  • erinnert werden sollen, daß wir, wenn wir einander nicht liebhaben, auch
  • Den nicht liebgewinnen können, Der ganz Liebe, Der die ganze vollkommene
  • Liebe ist und Der in Seiner Heiligen Dreieinigkeit den Liebenden und den
  • Geliebten, sowie die Handlung der Liebe, mit der der Liebende den
  • Geliebten liebt, vereinigt: der Liebende ist Gott der Vater, der
  • Geliebte Gott der Sohn, und die Liebe selbst, die Sie vereinigt, Gott
  • der Heilige Geist. Dreimal verneigt sich der Priester im Inneren des
  • Altarraumes, indem er leise bei sich wiederholt: »Ich will Dich lieben,
  • o Herr, meine Stärke, mein Fels und mein Hort!« Er küßt die mit dem Tuch
  • verdeckte heilige Patene und den heiligen Kelch, küßt den Rand des
  • heiligen Hochaltars und alle Priester, die mit ihm am Gottesdienst
  • teilnehmen, tuen desgleichen; dann küssen sie sich alle untereinander
  • und der Hauptpriester spricht: »Christus ist mitten unter uns!« Man
  • antwortet ihm: »Er ist und wird sein!« Auch alle Diakone, die zugegen
  • sind, küssen zuerst die Stelle ihrer Stola, auf der das Kreuz abgebildet
  • ist, und dann einander, indem sie dieselben Worte sprechen.
  • Früher küßten alle, die in der Kirche waren, einander gleichfalls, die
  • Männer die Männer, die Frauen die Frauen, indem sie sprachen: »Christus
  • ist mitten unter uns!« und gleich darauf die Antwort erhielten: »Er ist
  • und wird sein!« daher stellt sich auch heute ein jeder, der in der
  • Kirche anwesend ist, in Gedanken vor, daß er alle Christen vor sich hat,
  • nicht nur die, die in der Kirche sind, sondern auch die Abwesenden,
  • nicht nur die, die seinem Herzen nahestehen, sondern auch die, die ihm
  • fernstehen, beeilt sich, sich mit denen von ihnen auszusöhnen, gegen die
  • er etwas wie Mißgunst, Haß oder Zorn hegte -- und gibt jedem von ihnen
  • in Gedanken einen Kuß, indem er bei sich spricht: »Christus ist mitten
  • unter uns!« und in ihrem Namen antwortet: »Er ist und wird sein!« denn
  • ohne dies wäre er tot für alle folgenden heiligen Handlungen nach
  • Christi eigenem Wort: »So lasse allda vor dem Altar deine Gabe und gehe
  • zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder und alsdann komm und
  • opfere deine Gabe«; und an einer anderen Stelle heißt es: »Und wer da
  • sagt, ich liebe Gott und hasse meinen Bruder, der lügt; denn wenn er
  • seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, Den er
  • nicht sieht?«
  • Der Diakon steht auf der Kanzel, er wendet sein Gesicht den Anwesenden
  • zu, hält die Stola mit drei Fingern seiner Hand empor und ruft nach
  • altem Brauch: »Die Tore, die Tore!« Ehedem wurde dieser Ruf an die
  • Pförtner gerichtet, die am Toreingang standen, damit sich keiner von den
  • Heiden, die den christlichen Gottesdienst zu stören pflegten, frech und
  • blasphemisch in die Kirche eindrängte; heute wird dieser Ruf an die
  • Anwesenden selbst gerichtet, die hierdurch ermahnt werden sollen, die
  • Tore ihres Herzens zu behüten, in denen die Liebe bereits Eingang
  • gefunden hat, auf daß kein Feind der Liebe sich in die Herzen eindränge,
  • und die Tore ihres Mundes und ihrer Ohren weit aufzutun und für die
  • Verlesung des Glaubenssymbols offen zu halten; zum Zeichen dafür wird
  • der Vorhang vor der Königspforte, oder die »hohe Pforte«, hinweggezogen,
  • die sich nur dann öffnet, wenn die Aufmerksamkeit des Geistes auf die
  • höchsten Mysterien hingelenkt werden soll. Der Diakon fordert die
  • Versammlung mit folgenden Worten zum Zuhören auf: »Laßt uns der höchsten
  • Weisheit lauschen!« Die Sänger stimmen einen kraftvollen mannhaften
  • Gesang an, der mehr einer Art Sprechgesang gleicht, und rufen laut und
  • ausdrucksvoll: »Ich glaube an Gott den Vater, den allmächtigen Schöpfer
  • des Himmels und der Erden, alles Sichtbaren und Unsichtbaren.« Dann
  • machen sie eine kurze Pause, damit sich alle in Gedanken die erste
  • Person der Heiligen Dreieinigkeit -- Gott den Vater klar und deutlich
  • vorstellen, und fahren dann fort: »Und an Jesum Christum, Gottes
  • eingeborenen Sohn, unseren Herrn, vom Vater in Ewigkeit geboren, Licht
  • vom Licht, wahrhaftigen Gott vom wahrhaftigen Gott, geboren, nicht
  • erschaffen, einerlei Wesens mit dem Vater, durch welchen alle Dinge
  • geworden sind. Um der Menschen und um des Heiles willen vom Himmel
  • Fleisch geworden aus dem Heiligen Geist und der Jungfrau Maria und
  • Mensch geworden, um unseretwillen gekreuzigt unter Pontius Pilatus,
  • gelitten, gestorben und begraben. Am dritten Tage nach der Schrift
  • wiederauferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel und sitzend zur
  • Rechten des Vaters. Von dannen Er wiederkommen wird in Herrlichkeit, zu
  • richten die Lebendigen und die Toten und Dessen Reiches kein Ende sein
  • wird. Und an den Heiligen Geist, Der da machet lebendig und gehet aus
  • vom Vater, Der da zusammen mit dem Vater und dem Sohne angebetet und
  • verehret wird und durch die Propheten geredet hat.« Dann machen sie
  • wieder eine kurze Pause, damit sich alle in Gedanken die dritte Person
  • der Heiligen Dreieinigkeit -- Gott, den Heiligen Geist klar und deutlich
  • vorstellen, und fahren fort: »Und an eine heilige katholische und
  • apostolische Kirche. Ich glaube an eine Taufe zur Vergebung der Sünden
  • und hoffe auf die Auferstehung der Toten und ein ewiges Leben. Amen!«
  • Mannhaft und kraftvoll ist der Gesang der Sänger und er prägt jedes Wort
  • des Glaubenssymbols den Herzen tief ein. Mit fester Stimme wiederholt
  • hierauf ein jeder die Worte des Symbols. Mutigen Herzens und voll
  • starken Geistes wiederholt auch der Priester vor dem heiligen Hochaltar,
  • der den heiligen Abendmahlstisch darstellen soll, leise bei sich selbst
  • das Glaubensbekenntnis, auch alle Zelebranten, die ihm zur Seite stehen,
  • wiederholen es still bei sich selbst, indem sie den heiligen Aër, der
  • über den heiligen Gaben ruht, hin und her bewegen.
  • Festen Schrittes kommt jetzt der Diakon gegangen und verkündet: »Laßt
  • uns fromm, laßt uns ehrfurchtsvoll dastehen und aufmerken und das
  • heilige Opfer in Frieden darbringen,« d. h. laßt uns würdig vor Gott
  • hintreten, wie es sich für den Menschen geziemt, d. h. mit Zittern und
  • Ehrfurcht, zugleich aber auch tapfer und kühnen Mutes, indem wir Gott
  • loben, mit friedlichem versöhntem, einträchtigem Herzen, denn ohne dies
  • vermag man sich nicht zu Gott zu erheben. Und die ganze Kirche
  • wiederholt, diesen Ruf beantwortend, indem sie den Lobgesang, der aus
  • ihrem Munde emporsteigt, und die Besänftigung der Herzen als Opfergabe
  • darbringt mit dem Sängerchor: »Die Gnade des Friedens, das Opfer des
  • Dankes.« In der Urkirche herrschte die Sitte, bei dieser Gelegenheit
  • etwas Salböl als Opfergabe darzubringen, welches ein Symbol der
  • Besänftigung ist, denn Salböl und Barmherzigkeit bedeuten im
  • Griechischen dasselbe.
  • Unterdessen zieht der Priester im Altarraum den Aër von den heiligen
  • Gaben hinweg, küßt ihn und legt ihn zur Seite, indem er spricht: »Die
  • Gnade unseres Herrn ...« Der Diakon aber betritt den Altarraum, nimmt
  • den Fächer oder das Rhipidion in die Hand und schwingt ihn andachtsvoll
  • über den heiligen Gaben.
  • Indem nun der Priester sich anschickt, das heilige Abendmahl zu
  • zelebrieren, richtet er aus dem Inneren des Altarraums folgenden frohen
  • Ruf an das Volk: »Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi, die Liebe Gottes
  • des Vaters und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch
  • allen!« worauf ihm alle Anwesenden antworten: »Und mit deinem Geiste!«
  • Der Altar, der vorhin die Krippe vorstellte, versinnbildlicht jetzt das
  • Zimmer, in dem das Abendmahl zubereitet wurde; und der Hochaltar, der
  • das Grab versinnbildlichte, stellt jetzt den Abendmahlstisch und nicht
  • mehr das Grab dar. Der Priester gedenkt des Erlösers, Der Seine Augen
  • zum Himmel emporrichtete, ehe Er Seinen Jüngern die göttliche Speise
  • darreichte, und ruft: »Laßt uns unsere Herzen zum Himmel erheben!« Und
  • jeder, der in der Kirche anwesend ist, richtet seine Gedanken auf das,
  • was nun geschehen wird -- und er denkt daran, daß in diesem Augenblick
  • das göttliche Lamm für ihn geschlachtet wird, daß das göttliche Blut des
  • Herrn selbst in den Kelch fließt, um ihn zu entsühnen, und daß alle
  • himmlischen Mächte sich mit dem Priester vereinigen, um für ihn zu
  • beten; und indem er seine Gedanken [hierauf] richtet und seine Seele von
  • der Erde abzieht und zum Himmel und aus der Finsternis zum Lichte
  • erhebt, ruft er zugleich mit allen anderen aus: »Wir wollen uns zu Gott
  • erheben!«
  • Der Priester ruft, des Erlösers gedenkend, Der da dankte, nachdem Er
  • Seine Augen gen Himmel erhoben hatte: »Laßt uns unserem Gotte danken!«
  • Der Chor erwidert: »Geziemend ist es und fromm, anzubeten den Vater, den
  • Sohn und den Heiligen Geist, die Heilige Dreieinigkeit, Die eines Wesens
  • und unfehlbar ist.« Der Priester aber betet im stillen bei sich:
  • »Geziemend ist es und fromm, Dich zu verherrlichen, zu loben, Dir zu
  • danken und Dich anzubeten allerorten in Deinem Reiche, denn Du bist
  • Gott, der Unaussprechliche, Unergründliche, Unsichtbare und
  • Unbegreifliche, denn Du bist ewig Derselbe samt Deinem eingeborenen Sohn
  • und Deinem Heiligen Geist. Du hast uns aus dem Nichtsein zum Sein
  • erweckt, hast uns Abtrünnige wieder aufgerichtet und hast uns nicht
  • verlassen, sondern uns in den Himmel erhoben und uns Dein künftiges
  • Reich geschenkt. Für dieses alles danken wir Dir und Deinem eingeborenen
  • Sohn und Deinem Heiligen Geiste, danken Dir alle, für alle die
  • Wohltaten, die wir kennen und die wir nicht kennen, die offenkundigen
  • und die unbekannten, die Du an uns getan hast. Wir danken Dir auch für
  • diesen Gottesdienst und bitten Dich, ihn aus unserer Hand
  • entgegenzunehmen, obwohl Dir Tausende von Erzengeln und Legionen von
  • Engeln, Cherubim und sechsfach geflügelte Seraphim zur Verfügung stehen,
  • vieläugige, gefiederte, gen Himmel strebend, Dir Siegeslieder singen,
  • rufen, jauchzen und sprechen: »Heilig, heilig, heilig ist der Gott
  • Zebaoth; Himmel und Erde sind Deines Ruhmes voll!«
  • Dieses Siegeslied der Seraphim, das die Propheten in ihren heiligen
  • Gesichten vernahmen, wird von dem ganzen Sängerchor aufgenommen; es
  • trägt die Gedanken der Gläubigen in unsichtbare Himmelsfernen mit sich
  • fort, nötigt alle, mit den Seraphim in den Ruf einzustimmen: »Heilig,
  • heilig, heilig ist der Herr Zebaoth!« und mit ihnen den Thron des
  • göttlichen Ruhmes zu umkreisen. Und da ferner die ganze Kirche in diesem
  • Augenblick erwartungsvoll dessen harrt, daß der Herr selbst herabsteigen
  • und Sich für alle zum Opfer darbringen wird, so vereinigt sich mit dem
  • Gesang der Seraphim, der im Himmel ertönt, noch der Gesang der
  • hebräischen Jünglinge, mit dem Ihn diese bei Seinem Einzug in Jerusalem
  • begrüßten, Zweige auf den Weg streuend: »Hosianna in der Höhe. Gelobt
  • sei, Der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!« Denn der
  • Herr bereitet sich, in den Tempel einzuziehen, wie in das mystische
  • Jerusalem. Der Diakon fährt fort, mit dem Fächer über die heiligen Gaben
  • hinzufächeln, damit kein Insekt auf sie herniederfalle, und symbolisiert
  • mit dieser Bewegung des Fächers das Walten der Gnade. Der Priester aber
  • betet im stillen weiter: »Mit diesen heiligen Mächten, o Herr, Der Du
  • die Menschen liebhast, flehen auch wir zu Dir und sprechen: Heilig und
  • hochheilig bist Du und Dein eingeborener Sohn und Dein Heiliger Geist.
  • Heilig bist Du und hochheilig, und herrlich ist Dein Ruhm, denn also
  • hast Du die Welt geliebt, daß Du Deinen eingeborenen Sohn gabst, auf daß
  • alle, die an Ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben
  • haben, Der da kam und alles erfüllte, was von uns verkündet ward; in der
  • Nacht, da Er verraten ward, oder besser, da Er Sich selbst dahingab für
  • das Leben der Welt, nahm Er das Brot in Seine reinen unschuldigen Hände,
  • dankte, segnete und heiligte es, brach es und gab es Seinen heiligen
  • Jüngern und Aposteln und sprach ...« Und mit lauter Stimme verkündete
  • der Priester die Worte des Heilandes: »Nehmet hin und esset, das ist
  • mein Leib, der für euch gebrochen wird zur Vergebung der Sünden.« Bei
  • diesen Worten fallen die ganze Kirche und der Chor ein und rufen »Amen!«
  • Der Diakon aber weist, die Stola in der Hand haltend und sich zum
  • Priester hinwendend, auf die heilige Patene hin, auf welcher das Brot
  • ruht. Der Priester aber fährt leise fort: »Desselbigengleichen nahm Er
  • auch den Kelch nach dem Abendmahl und sprach ...« und er verkündet laut,
  • nachdem der Diakon auf den Kelch gedeutet hat: »Trinket alle daraus,
  • dies ist Mein Blut des Neuen Testaments, welches vergossen wird für euch
  • und für viele zur Vergebung der Sünden.« Und die ganze Kirche antwortet
  • ebenso laut wie das erstemal: »Amen!«
  • Der Priester fährt fort, leise zu beten: »Und indem wir also gedenken
  • dieses erlösenden Gebotes und alles dessen, das für uns getan ward: des
  • Kreuzes, des Grabes, der Auferstehung am dritten Tage, der Himmelfahrt,
  • des Sitzens zur Rechten Gottes und der zweiten ruhmvollen Wiederkunft«
  • -- und nun, nachdem er dies leise vor sich hingesprochen, erhebt er die
  • Stimme und spricht: »-- bringen wir Dir dar das Deinige von den Deinigen
  • für alle und für alles!« Der Diakon legt nun den Fächer beiseite und
  • hebt die heilige Patene und den heiligen Kelch in die Höhe: in diesem
  • Augenblick stellt der Altar nicht mehr das Zimmer, in dem das heilige
  • Abendmahl stattfand, und der Hochaltar nicht mehr den Abendmahlstisch
  • dar; jetzt ist er der Opferaltar, auf dem das furchtbare Opfer für die
  • ganze Welt dargebracht wird -- das Golgatha, wo die furchtbare
  • Hinschlachtung des göttlichen Opferlamms sich vollzog. Dieser Augenblick
  • stellt den Augenblick des Opfers und den Moment dar, da ein jeder an das
  • dem Schöpfer dargebrachte Opfer gemahnt wird. Wir beugen uns ja auch vor
  • den irdischen Gewalten; wir verehren und achten ja auch die Menschen und
  • gehorchen ihnen, aber wir opfern nur dem alleinigen Gott. Und dies Opfer
  • hat nie aufgehört seit Erschaffung der Welt, in welcher Form es auch
  • immer dargebracht werden mochte, das, worauf es dabei ankam, war nicht
  • das Opfer selbst, sondern ein reumütiger Geist, mit dem es dargebracht
  • wurde. Daher muß jeder der Anwesenden dessen eingedenk sein, daß der
  • Priester in diesem Augenblick alles Gemeine und Diesseitige
  • geringschätzen und alle irdischen Begierden und Gedanken vergessen muß
  • gleichwie Abraham, der, als er zum Berg emporstieg, um das Opfer
  • darzubringen, seine Frau, seinen Knecht und seinen Esel unten ließ und
  • nur das Holz des bitteren Bekenntnisses seiner Sünden mit sich nahm, es
  • im Feuer seiner inneren Reue zu Asche verbrannte und mit der Flamme und
  • dem Schwerte des Geistes in sich jede Begierde nach irdischem Besitz und
  • irdischen Gütern tötete. Was aber sind alle unsere Opfer vor dem
  • Angesichte Gottes, wenn Er durch den Mund des Propheten zu uns spricht.
  • »Wie ein unreines Gewand sind alle unsere Taten.«
  • Tief durchdrungen vom Bewußtsein, daß es auf Erden nichts gibt, das da
  • wert wäre, Gott zum Opfer gebracht zu werden, richtet jeder der
  • Anwesenden seine Gedanken auf den Kelch, den der Diener des Altars im
  • Altarraum emporhebt, und ruft im Inneren seines Herzens aus: »Also sei
  • Dir dargebracht das Deinige von den Deinigen, für alle und für alles!«
  • Der Chor singt: »Dir lobsingen wir, Dich segnen wir, Dir danken wir, o
  • Herr, und wir beten zu Dir, unser Gott!«
  • Und nun folgt der Höhepunkt der ganzen Liturgie: die
  • Transsubstantiation. Im Inneren des Altarraumes wird jetzt der Heilige
  • Geist dreimal angerufen und angefleht, Sich auf die heiligen Gaben
  • herabzusenken -- derselbe Heilige Geist, durch Den die Fleischwerdung
  • Christi, Seine Geburt durch die Jungfrau, Sein Tod und Seine
  • Auferstehung vollzogen ward, und ohne Den sich das Brot und der Wein
  • nicht in den Leib und das Blut Christi verwandeln können.
  • Der Priester fällt vor dem heiligen Hochaltar nieder, und auch der
  • Diakon verbeugt sich dreimal bis zur Erde, indem er bei sich selbst
  • spricht: »Herr Gott, Der Du in der dritten Stunde Deinen Allerheiligsten
  • Geist auf Deine Apostel herabsandtest, nimm Ihn nicht von uns, Du
  • Gütiger, sondern laß uns wiedergeboren werden, die wir zu Dir beten.«
  • Und nach diesem Anruf des Heiligen Geistes wiederholen alle bei sich den
  • Vers: »Gib mir, o Gott, ein reines Herz und erneure in meinem Inneren
  • einen gerechten Geist.«
  • Noch einmal wird der Anruf wiederholt: »Herr Gott, Der Du in der dritten
  • Stunde Deinen Allerheiligsten Geist auf Deine Apostel herabsandtest,
  • nimm Ihn nicht von uns, Du Gütiger, sondern laß uns wiedergeboren
  • werden, die wir zu Dir beten.« Und die Gemeinde singt den Vers: »Verwirf
  • mich nicht von Deinem Angesicht und nimm Deinen Heiligen Geist nicht von
  • mir!« Und zum drittenmal erfolgt der Anruf: »Herr Gott, Der Du in der
  • dritten Stunde Deinen Allerheiligsten Geist auf Deine Apostel
  • herabsandtest, nimm Ihn nicht von uns, Du Gütiger, sondern laß uns
  • wiedergeboren werden, die wir zu Dir beten.« Der Diakon weist gesenkten
  • Hauptes mit der Stola auf das heilige Brot hin und spricht bei sich
  • selbst: »Segne, o Herr, das heilige Brot!« Und der Priester segnet es
  • dreimal mit dem Kreuze und spricht: »Und mache dieses Brot zu dem
  • heiligen Leibe Deines Christus.« Der Diakon sagt: »Amen!« Und damit ist
  • das Brot in den Leib Christi verwandelt. Und abermals weist der Diakon
  • mit der Stola stumm auf den heiligen Kelch und spricht bei sich selbst:
  • »Segne, o Herr, den heiligen Kelch!« Und der Priester segnet ihn und
  • spricht: »Mache, den Inhalt dieses Kelches zum heiligen Blut Deines
  • Christus.« Der Diakon sagt: »Amen!« und spricht, indem er auf die beiden
  • heiligen Gaben hinweist: »Segne sie beide, o Herr!« Der Priester segnet
  • sie und spricht: »Verwandle sie durch Deinen Heiligen Geist!« Der Diakon
  • sagt dreimal: »Amen!« Und auf dem Hochaltar ruhen jetzt der Leib und das
  • Blut Christi selbst: die Transsubstantiation hat sich vollzogen! Ein
  • _Wort_ rief das _ewige Wort_ herbei. Der Priester, dessen Stimme das
  • Schwert vertritt, hat das Opfer vollbracht. Wer es auch sein möge -- ob
  • er Peter oder Iwan heißt --, in seiner Person hat der ewige Hohepriester
  • selbst dies Opfer vollbracht, und Er vollbringt es ewiglich durch die
  • Person Seiner Priester, wie auf das Wort: »Es werde Licht!« das Licht
  • ewiglich leuchtet und wie auf das Wort: »Es lasse die Erde aufgehen Gras
  • und Kraut!« die Erde sie ewiglich aufgehen läßt. Und es ist nicht ein
  • Bildnis oder die bloße Erscheinung des Leibes, die sich auf dem
  • Hochaltar befindet, sondern der Leib Christi selbst -- derselbe Leib,
  • der auf Erden Backenstreiche erhalten, bespien, gekreuzigt, begraben
  • ward, auferstand und mit dem Herrn gen Himmel fuhr und nun zur Rechten
  • des Vaters sitzt. Er behält nur deshalb auch weiter die Gestalt des
  • Brotes, um dem Menschen zur Speise zu dienen, und weil der Herr selbst
  • gesagt hat: »Ich bin das Brot.«
  • Vom Kirchturm her ertönt jetzt Glockengeläut, um allen den großen
  • Augenblick zu verkündigen, auf daß der Mensch -- wo er sich in diesem
  • Moment auch befinden mag -- ob er unterwegs, ob er auf Reisen ist oder
  • seinen Acker bestellt, ob er zu Hause sitzt oder einer anderen
  • Beschäftigung nachgeht, ob er auf dem Krankenbett liegt oder in den
  • Mauern eines Gefängnisses schmachtet -- kurz, damit er überall, wo er
  • sich auch aufhält, in diesem furchtbaren Augenblick auch für sich beten
  • könne. Alles stürzt vor dem Leib und Blut Christi nieder und fleht den
  • Herrn mit den Worten des Übeltäters an: »Herr, gedenke an mich, wenn Du
  • in Dein Reich kommst.«
  • Der Diakon beugt sein Haupt vor dem Priester und spricht: »Gedenke an
  • mich, o heiliger Herr!« und der Priester antwortet: »Gott gedenke deiner
  • in Seinem Reiche immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« Und nun
  • gedenkt der Priester aller vor dem Angesichte Gottes, indem er die ganze
  • Kirche, die triumphierende wie die kämpfende, mit in sein Gebet
  • einschließt und zwar in derselben Weise und Reihenfolge, wie ihrer aller
  • während des Offertoriums gedacht wurde, wobei er mit der heiligen,
  • reinen, göttlichen Jungfrau und Mutter Gottes beginnt. Ihr zu Ehren, als
  • der Fürsprecherin der ganzen Menschheit und als der einzigen, die für
  • ihre hohe Demut und Bescheidenheit würdig erachtet wurde, Gott in ihrem
  • Schoße zu tragen, stimmt die ganze Kirche zusamt dem Chor einen
  • Lobgesang an, damit ein jeder in diesem Augenblick vernehme, daß die
  • Demut die höchste Tugend und daß in dem Herzen des Demütigen Gott
  • lebendig sei.
  • Nach der Mutter Gottes wird der Propheten, der Apostel und der
  • Kirchenväter gedacht und zwar in derselben Reihenfolge, in der während
  • des Offertoriums die Brotstücke für sie herausgeschnitten wurden; sodann
  • wird aller Entschlafenen gedacht, deren Namen der Diakon verliest,
  • sodann der Lebenden, wobei mit denen begonnen wird, denen die
  • wichtigsten und höchsten Pflichten anvertraut sind, -- d. h. mit denen,
  • die das Wort der Wahrheit gerecht verwalten, der geistlichen und
  • weltlichen Obrigkeit und dem Kaiser; [»Gott helfe ihm und unterstütze
  • ihn in seinem schweren Amt bei jedem Werke, das das allgemeine Wohl
  • betrifft; möge ihm in seinem edlen Streben das ganze Staatsschiff
  • einträchtiglich folgen, zusamt der Regierung und der Militärkammer, auf
  • daß sie getreulich ihre Pflicht erfüllen, und auch uns lasset im
  • Frieden, der von ihnen ausgeht, ein ruhiges Leben führen in aller
  • Frömmigkeit und Reinheit!« Bei dieser Gelegenheit betet der Priester
  • auch für alle anwesenden Christen bis auf den letzten, daß der allgütige
  • Gott Seine Gnade über sie alle ergießen, ihre Schatzkammern mit Gütern
  • füllen, die Eintracht und den Frieden in ihren Ehen walten, ihre Kinder
  • groß werden lassen, die Jugend belehren, das Alter stützen und
  • kräftigen, die Kleinmütigen trösten, die Zerstreuten sammeln, die
  • Verführten zurechtweisen und in Seine heilige allgemeine apostolische
  • Kirche aufnehmen möge. Für alle Christen bis auf den allerletzten, wo
  • sich ein solcher Christ auch immer aufhalten möge, betet bei dieser
  • Gelegenheit der demütige Priester;] ob der Christ unterwegs, auf der
  • Wanderschaft, auf der See oder auf Reisen ist, ob er an einer Krankheit
  • daniederliegt oder in der Verbannung, in Bergwerken oder unterirdischen
  • Schächten schmachtet. Für alle -- bis auf den allerletzten -- betet bei
  • dieser Gelegenheit die Kirche, und jeder Anwesende beteiligt sich nicht
  • allein an diesem gemeinsamen Gebete für alle Menschen, sondern er betet
  • auch für alle die Seinen, die seinem Herzen nahestehen, indem er sie
  • insgesamt im Angesichte des Leibes und Blutes Christi beim Namen nennt.
  • Dann ruft der Priester laut aus dem Altarraum: »Und laß uns preisen und
  • lobsingen wie aus einem Munde und aus einem Herzen Deinen heiligen und
  • herrlichen Namen, den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen
  • Geistes, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« Die ganze Kirche
  • antwortet mit einem bestätigenden »Amen!« Der Priester ruft: »Die Gnade
  • des großen Gottes und unseres Heilandes Jesu Christi sei mit euch
  • allen!«, und die Gemeinde erwidert: »Und mit deinem Geiste!« Hiermit
  • haben die Gebete für alle, die der Kirche Christi angehören, ihr Ende
  • erreicht, wie sie im Angesicht des Leibes und des Blutes Christi zu Gott
  • emporgerichtet werden.
  • Nun besteigt der Diakon die Kanzel, um zum Gebet für die Gaben selbst
  • aufzufordern, die Gott dargebracht werden und die bereits verwandelt
  • sind, auf daß sie uns nicht zum Gericht und nicht zu einer Strafe für
  • uns werden. Er erhebt die Stola mit drei Fingern seiner rechten Hand und
  • ermuntert alle zum Gebet, indem er spricht: »Laßt uns aller Heiligen
  • gedenken und immer wieder und wieder in Frieden zu Gott beten!« Der Chor
  • singt: »Herr, erbarme Dich!« »Laßt uns beten für die dargebrachten und
  • geweihten heiligen Gaben!« Der Chor singt: »Herr, erbarme Dich!« »Laßt
  • uns beten, daß unser Gott, Der die Menschen liebet, sie aufnehmen möge
  • auf Seinem heiligen, über dem Himmel thronenden geistigen Altar, duftend
  • von geistigen Wohlgerüchen, und daß Er uns herabsenden möge Seine
  • göttliche Gnade und die Gabe des Heiligen Geistes!« Der Chor singt:
  • »Herr, erbarme Dich!« »Laßt uns zu Gott beten, daß Er uns bewahren möge
  • vor Kummer, Zorn und Not!« Der Chor singt: »Herr, erbarme Dich!« »Hilf,
  • rette, erbarme Dich und erhalte uns durch Deine Gnade, o Gott!« Der Chor
  • singt: »Herr, erbarme Dich!« »Wir bitten Gott um einen vollkommen
  • ungetrübten, vollkommen heiligen, friedlichen und sündlosen Tag!« Der
  • Chor singt: »Gewähre ihn uns, o Gott!« »Wir bitten Gott um einen
  • Friedensengel, einen treuen Lehrmeister und Beschützer unserer Seelen
  • und Leiber!« Der Chor singt: »Gewähre es uns, o Herr!« »Wir bitten Gott
  • um Vergebung und Erlassung unserer Sünden und Verfehlungen!« Der Chor
  • singt: »Gewähre sie uns, o Gott!« »Wir bitten den Herrn um alles Gute,
  • was unserer Seele heilsam ist, und um Frieden auf Erden!« Der Chor
  • singt: »Gewähre es uns, o Herr!« »Wir bitten Gott um ein Leben in
  • Frieden und um ein reumütiges Ende!« Der Chor singt: »Gewähre es uns, o
  • Herr!« »Wir bitten Gott um ein christliches, schmerzloses, ehrbares und
  • friedliches Ende und darum, daß es uns beschieden sein möge, in Ehren
  • Rechenschaft abzulegen am Jüngsten Tage Christi!« Der Chor singt:
  • »Gewähre es uns, o Herr!« Und nun ruft der Diakon nicht mehr die
  • Heiligen um Hilfe an, sondern er wendet sich direkt an Gott: »Wir bitten
  • Dich um Einheit des Glaubens und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
  • und weihen uns, einander und unser ganzes Leben Jesus Christus, unserem
  • Gotte!« Und alle singen mit völliger und inniger Hingebung: »Dir, o
  • Herr!«
  • Nun stimmt der Priester statt eines Trichagions folgenden Gesang an:
  • »Würdige uns, o Herr, daß wir Dich, Gott, unseren himmlischen Vater,
  • zuversichtlich und als Gerechtfertigte anrufen und lobsingen.« Und alle
  • Gläubigen beten nicht mehr wie mit Furcht erfüllte Sklaven, sondern wie
  • reine unschuldige Kinder, die sich durch das Gebet, den ganzen
  • Gottesdienst und die stetige Ausführung der heiligen Bräuche in jenen
  • engelhaften Gemütszustand himmlischer Rührung versetzt fühlen, in dem
  • der Mensch unmittelbar mit Gott sprechen kann wie mit seinem Vater, das
  • Gebet des Herrn: »Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde
  • Dein Name, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch
  • auf Erden. Unser täglich Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere
  • Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in
  • Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel.«
  • Dieses Gebet umfaßt alles und schließt alles in sich ein, was wir
  • brauchen. Die Bitte: »Geheiligt werde Dein Name!« enthält das Erste,
  • worum wir zuerst und vor allem bitten müssen: wo Gottes Name geheiligt
  • wird, da ist allen wohl, da sind folglich alle in Liebe miteinander
  • verbunden, denn nur durch die Liebe wird Gottes Name geheiligt. Mit den
  • Worten: »Dein Reich komme!« flehen wir das Reich der Wahrheit und
  • Gerechtigkeit auf die Erde herab; ohne Gottes Herabkunft wird es nie
  • eine Gerechtigkeit geben: denn Gott ist die Gerechtigkeit. Bei den
  • Worten: »Dein Wille geschehe!« wird der Mensch durch den Glauben wie
  • durch die Vernunft geführt: denn wessen Wille kann wohl herrlicher sein,
  • als der Wille Gottes? Wer weiß denn besser als der Schöpfer, was Seinen
  • Geschöpfen not tut. Wem soll man also vertrauen, wenn nicht Ihm, Der
  • durch und durch nichts als die ewiglich nur Gutes zeugende Güte und
  • Vollkommenheit ist! Mit dem Worte: »Unser täglich Brot gib uns heute!«
  • bitten wir um alles, dessen wir zu unserem täglichen Lebensunterhalt
  • bedürfen. Unser Brot aber ist die höchste göttliche Weisheit und
  • Christus selbst. Er selbst hat gesagt: »Ich bin das Brot und wer von Mir
  • isset, wird nicht sterben.« Mit den Worten: »Vergib uns unsere Schuld!«
  • bitten wir, daß alle unsere schweren Sünden, die auf uns lasten, von uns
  • genommen werden mögen -- wir bitten, daß uns alles erlassen werden möge,
  • dessen wir uns gegenüber dem Schöpfer selbst schuldig gemacht haben,
  • indem wir uns an unseren Brüdern vergingen; streckt Er uns doch jeden
  • Tag und jede Minute in ihrer Gestalt Seine Hand entgegen, indem Er uns
  • mit herzzerreißendem Klagelaut um Mitleid und Erbarmen anfleht. Mit den
  • Worten: »Und führe uns nicht in Versuchung!« bitten wir Gott, uns vor
  • allem zu behüten, was unser Gemüt verwirrt, uns irre leitet und uns
  • unsere Seelenruhe raubt. Mit den Worten: »Sondern erlöse uns von dem
  • Übel!« bitten wir um die himmlische Seligkeit; denn sowie der Böse von
  • uns weicht, bemächtigt sich sogleich eine hohe Freudigkeit unserer
  • Seele, und wir fühlen uns schon auf Erden wie im Himmel.
  • So umfaßt und schließt dieses Gebet alles in sich ein, was uns die
  • höchste göttliche Weisheit selbst beten gelehrt hat. Und zu wem beten
  • wir? Zum Vater der Weisheit, Der Seine ewige Weisheit vor Beginn aller
  • Zeiten zeugte. Da alle Anwesenden dieses Gebet bei sich wiederholen
  • müssen, nicht mit dem Munde, sondern in der reinsten Unschuld eines
  • kindlichen Herzens, so muß auch der Abgesang des Gebets auf den Chören
  • einen kindlichen Charakter tragen: nicht in rauhen männlichen Tönen,
  • sondern mit kindlicher Stimme, die die Seele selbst zu liebkosen
  • scheint, muß dieses Gebet gesungen werden, auf daß man in ihr den
  • Frühlingshauch des Himmels zu verspüren meine und daß in ihm etwas
  • erklinge, was uns wie die Liebkosungen der Engel selbst berührt, denn in
  • diesem Gebet reden wir ja Den, Der uns erschaffen hat, nicht mehr mit
  • Gott an, sondern ganz schlicht mit den Worten: »Vater unser!«
  • Der Priester begrüßt die Gemeinde aus dem Inneren des Altarraumes mit
  • dem Gruße des Heilands: »Friede sei mit euch allen!« Die Gemeinde
  • erwidert: »Und mit deinem Geiste!« Jetzt fordert der Diakon alle zu
  • einer inneren Herzensbeichte auf, die jeder nunmehr vor sich selbst
  • ablegen muß, indem er ruft: »Beugt eure Häupter vor dem Herrn!« Und
  • indem nun alle Anwesenden bis auf den letzten ihr Haupt beugen, sprechen
  • sie bei sich selbst etwa folgendes Gebet: »Ich beuge mein Haupt vor Dir,
  • mein Herr und Gott, ich bekenne meine Sünden aufrichtig und schreie zu
  • Dir: ich bin sündig, o Herr, und unwert, Dich um Vergebung zu bitten,
  • aber Du bist menschenfreundlich, so erbarme Dich denn meiner, obwohl ich
  • es nicht verdient habe, wie der verlorene Sohn, rechtfertige mich wie
  • den Zöllner und mache mich würdig, gleich dem Übeltäter in Dein
  • himmlisches Reich einzugehen.« Und während so alle gebeugten Hauptes in
  • innerer Herzenszerknirschung verharren, betet der Priester am Altare für
  • alle mit folgenden Worten bei sich selbst: »Wir danken Dir, unsichtbarer
  • König, Der Du in Deiner unermeßlichen Kraft alles erschaffen und durch
  • Deine große Gnade alles aus dem Nichtsein ins Dasein gerufen hast;
  • blicke selbst vom Himmel auf die herab, o Herr, die ihr Haupt vor Dir
  • beugen, denn sie beugen es nicht vor dem Fleische und dem Blute, sondern
  • vor Dir, furchtbarer Gott. Wende alles, was uns bevorsteht, zu unserem
  • Besten, o Herr, so wie es jedem not tut: Laß den Seefahrer den Hafen und
  • den Reisenden sein Ziel erreichen, heile den Kranken, o Arzt der Seele
  • und des Leibes!« Dann stimmt der Priester den herrlichen Lobgesang auf
  • die Dreieinigkeit an, der sich an die himmlische Güte Gottes wendet:
  • »Gesegnet seist Du durch die Gnade, die Milde und die Menschenliebe
  • Deines eingeborenen Sohnes samt Ihm, Deinem Sohne und Deinem
  • Allerheiligsten, gütigen, lebenspendenden Geiste, jetzo, hinfort und in
  • alle Ewigkeit!« Der Chor ruft: »Amen!« Nunmehr rüstet sich der Priester,
  • selbst, und in Gemeinschaft mit allen, den Leib und das Blut Christi in
  • sich aufzunehmen, indem er leise bei sich folgendes Gebet spricht:
  • »Blicke herab, Herr Jesus Christus, unser Gott, aus Deiner heiligen
  • Wohnung und vom ruhmvollen Thron Deines Reiches. Komm und heilige uns,
  • Der Du hoch oben neben dem Vater sitzest und unsichtbar bei uns weilst,
  • und mache uns [Priester] würdig, aus Deiner allmächtigen Hand Deinen
  • reinen Leib und Dein gerechtes Blut zu empfangen und es allen den Deinen
  • darzureichen.«
  • Während der Priester dies Gebet spricht, rüstet sich der Diakon zum
  • heiligen Abendmahl: er tritt vor die Königspforte, umgürtet sich mit der
  • Stola und kreuzt sie auf seiner Brust, gleich den Engeln, die ihre
  • Flügel kreuzweise zusammenlegen und ihr Antlitz mit ihnen verdecken vor
  • dem unnahbaren Lichte der Gottheit. Wie der Priester, verbeugt er sich
  • dreimal und spricht bei sich selbst: »O Gott, reinige mich Sünder und
  • erbarme Dich meiner!« Wenn dann der Priester seine Hand nach der
  • heiligen Patene ausstreckt, fordert er alle, die im Tempel anwesend
  • sind, durch das anfeuernde Wort: »Laßt uns aufmerken!« auf, alle ihre
  • Gedanken auf das, was nun geschieht, hinzulenken. Der Altar entzieht
  • sich dem Anblick des Volkes, der Vorhang wird zugezogen, damit zuerst
  • der Priester das Abendmahl empfange. Nur die Stimme des Priesters, der
  • die Patene in die Höhe hebt und ruft: »Das Heilige den Heiligen!« dringt
  • aus dem Altar hervor. Tief erschüttert von dieser Verkündigung, die da
  • besagt, daß man selbst heilig sein muß, um das Heilige in sich
  • aufzunehmen, erwidert die ganz im Gebet versunkene Gemeinde: »Einer ist
  • heilig, der eine Gott, Jesus Christus, zur Ehre Gottes des Vaters!«
  • worauf eine Lobhymne auf den Heiligen, dem dieser Tag geweiht ist,
  • gesungen wird, um hierdurch anzudeuten, daß auch der Mensch heilig sein
  • kann, so wie auch der Heilige, zu dessen Preis die Hymne gesungen wird,
  • ein Heiliger werden konnte; auch er ward freilich heilig nicht durch
  • seine eigene Heiligkeit, sondern durch die Heiligkeit Christi selbst.
  • Durch sein Leben in Christo wird der Mensch geheiligt und in solchen
  • Augenblicken der Ruhe in Christo ist er heilig wie Christus selbst,
  • gleichwie das Eisen, wenn es im Feuer steckt, selbst zu Feuer wird und
  • sofort erlöscht, sowie man es aus dem Feuer herausnimmt, und wieder
  • gewöhnliches dunkles Eisen wird.
  • Nun bricht der Priester das heilige Brot; zuerst bricht er es gemäß dem
  • Zeichen, das während des Offertoriums auf ihm gemacht wurde, in vier
  • Teile, indem er spricht: »Das Lamm Gottes wird zerlegt und zerteilt, das
  • zerlegt und doch unteilbar ist, das stets gegessen und nie aufgezehrt
  • wird, und das da heiligt, die davon essen.« Er legt eins von den Stücken
  • des heiligen Leibes noch unvermischt mit dem Blute für sich und den
  • Diakon zurück und zerlegt dann das Brot in so viele Teile, als die Zahl
  • der Kommunikanten beträgt; aber durch diese Teilung wird doch der Leib
  • Christi selbst nicht zerteilt, der Leib, dem kein Bein zerbrochen ward,
  • und in dem kleinsten Teil erhält sich der Christus ganz und unversehrt,
  • wie in jedem Gliede unseres Körpers dieselbe ganze und unteilbare Seele
  • zugegen ist, und wie sich in einem Spiegel, auch wenn er in hundert
  • Stücke zerspringt, selbst noch im kleinsten Splitter das Abbild
  • derselben Dinge erhält. Wie in einem Ton, der an unser Ohr dringt,
  • dieselbe Einheit erhalten bleibt oder wie derselbe ganze Ton sich
  • unversehrt erhält, auch wenn tausend Ohren ihn vernehmen. Die Stücke,
  • die während des Offertoriums zu Ehren der Heiligen und der Entschlafenen
  • und im Namen einzelner von den Lebenden herausgeschnitten wurden, werden
  • nicht alle in den Kelch getaucht. Sie bleiben einstweilen noch auf der
  • Patene; nur die Teile, die den Leib und das Blut des Herrn darstellen,
  • werden der Gemeinde während des heiligen Abendmahls dargereicht. In den
  • ersten Zeiten der Kirche wurden sie in getrennter Gestalt dargereicht,
  • wie sie auch heute noch von den Priestern genossen werden; ein jeglicher
  • nahm den Leib des Herrn in die Hand und trank dann selbst aus dem Kelch.
  • Aber da die heiligen Gaben infolge der Zuchtlosigkeit der neubekehrten
  • und noch unwissenden Christen, die bloß dem Namen nach Christen geworden
  • waren, oftmals von ihnen fortgetragen und mit nach Hause genommen
  • wurden, wo man sie zu abergläubischen Zwecken und Zauberkünsten
  • verwendete, oder da man in der Kirche in unwürdiger Weise mit ihnen
  • umging, sich hierbei stieß, Lärm machte und die heiligen Gaben sogar
  • verschüttete, als die Väter vieler Kirchen sich genötigt sahen, dem
  • Volke den Kelch völlig vorzuenthalten und ihn durch die Darreichung der
  • Oblate, als Symbol des Brotes, zu ersetzen, ein Brauch, den die
  • abendländische römisch-katholische Kirche bei sich eingeführt hat, da
  • ordnete der heilige Johannes Chrysostomus an, damit in der
  • morgenländischen Kirche nicht das gleiche geschähe: daß Leib und Blut
  • dem Volke nicht in getrennter und gesonderter, sondern in vereinigter
  • Gestalt dargereicht werden und daß ihm beides nicht in die Hand gegeben,
  • sondern in einem heiligen Löffel gereicht werden solle, der die Form
  • jener Zange haben müsse, mit der der feurige Seraphim die Lippen des
  • Propheten Jesaias berührte. Hierdurch sollen alle daran gemahnt werden,
  • was das für eine Berührung ist, deren ihr Mund gewürdigt wird, und ein
  • jeglicher deutlich erkennen, daß der Priester in diesem heiligen Löffel
  • jene glühende Kohle hält, die der Seraphim mit der geheimnisvollen Zange
  • vom Altar Gottes nahm, also daß bei der bloßen Berührung der Lippen des
  • Propheten alle seine Missetat von ihm genommen wurde. Derselbe Johannes
  • Chrysostomus ordnete ferner, um jeden Gedanken daran fernzuhalten, daß
  • eine solche Vereinigung von Leib und Blut ein Willkürakt des Priesters
  • sein könne, an, daß im Augenblick ihrer Vereinigung warmes Wasser in das
  • Gefäß gegossen werde, was die erwärmende Gnade des Heiligen Geistes
  • symbolisieren soll, der da ausgegossen wird, um diese Vereinigung zu
  • heiligen, woher auch der Diakon dabei die Worte spricht: »Die Wärme des
  • Glaubens, erfüllet vom Heiligen Geiste!« Beim Einschütten des warmen
  • Wassers wird die Gnade des Heiligen Geistes herabgefleht, damit nichts
  • ohne den Segen des Herrn dabei geschehe und auf daß die Wärme zugleich
  • zum Sinnbild der Blutwärme diene und, indem sie sich jedem fühlbar
  • macht, ihm zum Bewußtsein bringe, daß sie nicht aus einem toten Leib,
  • dem ja kein warmes Blut entfließt, sondern aus dem lebendigen,
  • lebenspendenden und lebenzeugenden Leibe des Herrn in ihn einströmt;
  • denn er soll auch hierbei daran erinnert werden, daß auch der tote Leib
  • des Herrn nicht von Seiner göttlichen Seele verlassen, daß er voll der
  • Wirkung des Heiligen Geistes ist, und daß die Gottheit Sich nicht von
  • ihm getrennt hat.
  • Nachdem der Priester zuerst selbst das Abendmahl genommen und es dann
  • dem Diakon gereicht hat, steht der Diener Christi als ein neuer, durch
  • das Sakrament der Kommunion von allen seinen Sünden gereinigter Mensch
  • da; in diesem Augenblick ist er im wahren Sinn des Wortes ein Heiliger
  • und würdig, anderen das Abendmahl zu reichen.
  • Die Königspforte tut sich auf, und der Diakon erhebt feierlich seine
  • Stimme: »Tretet heran mit Gottesfurcht und Glauben!« Nun erscheint der
  • verwandelte Seraphim -- d. h. der in der Königspforte stehende Priester
  • mit dem Kelch in der Hand -- vor der ganzen Gemeinde.
  • Verzehrt von der Sehnsucht nach ihrem Gotte und von der heißen Flamme
  • der Liebe zu Ihm, treten alle Kommunikanten, einer nach dem anderen, die
  • Hände auf der Brust gekreuzt, vor den Priester und sprechen gebeugten
  • Hauptes leise bei sich selbst folgendes Gebet, in dem sie ihren Glauben
  • zu dem Gekreuzigten bekennen: »Ich glaube, o Herr, und bekenne, daß Du
  • in Wahrheit bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, der in die
  • Welt gekommen ist, die Sünder zu erlösen, deren vornehmster ich selbst
  • bin. Ich glaube auch, daß dies Dein heiliger Leib und daß dies Dein
  • gerechtes Blut ist; daher bete ich zu Dir: erbarme Dich meiner und
  • vergib mir meine Sünden, die freiwilligen wie die unfreiwilligen, deren
  • ich mich in Worten oder Taten, wissentlich oder unwissentlich schuldig
  • gemacht habe, und gib, daß ich nicht als Verworfener teilhaftig werde
  • Deines heiligen Sakramentes zur Vergebung der Sünden und zum ewigen
  • Leben.« Hier hält der Andächtige einen Augenblick inne, um die Bedeutung
  • dessen, wozu er sich anschickt, in Gedanken zu erfassen, und fährt
  • sodann aus innerstem Herzen fort, indem er folgende Worte spricht:
  • »Laß mich heute Deines heiligen Abendmahls teilhaftig werden, o Sohn
  • Gottes, denn nicht als Dein Feind will ich Dein Geheimnis verraten, noch
  • Dich küssen mit dem Kusse des Judas, sondern ich will Dich bekennen
  • gleich dem Übeltäter, indem ich spreche: »Herr, gedenke an mich, wenn Du
  • in Dein Reich kommst.« Und indem der Betende in seinem Inneren einen
  • Augenblick andächtig innehält, fährt er fort: »Gib, o Herr, daß ich mir
  • aus Deinem heiligen Abendmahl nicht das Gericht und die Verdammnis esse
  • und trinke, sondern daß es mir zum Heil meiner Seele und meines Körpers
  • gereiche.«
  • Nachdem nun ein jeglicher dieses Bekenntnis abgelegt hat, naht er sich
  • dem Geistlichen nicht wie einem gewöhnlichen Priester, sondern wie dem
  • feurigen Seraphim selbst, indem er sich bereit hält, mit offenem Munde
  • die glühende Kohle des heiligen göttlichen Leibes und Blutes, die ihm im
  • Löffel gereicht wird, in sich aufzunehmen, sie, die den ganzen häßlichen
  • Schmutz und Unrat seiner Sünden zu Asche verbrennen soll, wie trockenes
  • Reisig, die ewige Nacht aus seiner Seele verscheuchen und ihn selbst in
  • einen strahlenden Seraph verwandeln soll. Und wenn dann der Priester den
  • heiligen Löffel an seine Lippen führt, den Kommunikanten beim Namen
  • nennt und spricht: »Der Knecht Gottes empfängt das gerechte und heilige
  • Blut des Herrn und Gottes, unseres Heilandes Jesu Christi, zur Vergebung
  • der Sünden und zum ewigen Leben,« nimmt er den Leib und das Blut des
  • Herrn in sich auf; so steht er in seinem Inneren einen Augenblick seinem
  • Gott gegenüber, indem er Ihm selbst vor das Angesicht tritt. Dieser
  • Augenblick ist unzeitlich und er unterscheidet sich durch nichts von der
  • Ewigkeit, denn er ist erfüllt von Dem, Der da der Grund aller Ewigkeit
  • ist.
  • Indem der Mensch durch den Genuß des Leibes und des Blutes dieses großen
  • Augenblicks teilhaftig geworden ist, steht er von heiliger Ehrfurcht
  • erfüllt da; nun wird sein Mund mit dem heiligen Aër abgetrocknet, und
  • diese Handlung wird mit den Worten des Seraphs begleitet, die dieser an
  • den Propheten Jesaias richtete: »Siehe, hiermit sind deine Lippen
  • gerühret, daß deine Missetat von dir genommen werde und deine Sünde
  • versöhnet sei.« Nunmehr tritt er selbst als ein Heiliger von dem
  • heiligen Kelche zurück, indem er sich vor den Heiligen verbeugt, sie
  • grüßt und sich vor den Anwesenden verneigt, die seinem Herzen jetzt
  • soviel näher stehen als bis dahin und die nun durch das Band einer
  • heiligen himmlischen Blutsverwandtschaft mit ihm verbunden sind; dann
  • geht er wieder an seinen Platz zurück, ganz erfüllt von dem Gedanken,
  • daß er Christus selbst in sich aufgenommen hat, daß Christus in ihm
  • weilt und in fleischlicher Gestalt in seinen Leib hinabgestiegen ist,
  • wie in ein Grab, um bis in die geheimste Kammer seines Herzens
  • einzudringen und aufzuerstehen in seinem Geiste, denn in ihm selbst
  • vollzieht Er Sein Begräbnis und Seine Auferstehung. Und die ganze Kirche
  • leuchtet auf im Lichte dieser geistigen Auferstehung und jauchzend
  • stimmt der Sängerchor einen Jubelgesang an:
  • »Wir haben gesehen Christi Auferstehung, so lasset uns anbeten den
  • heiligen Herrn Jesum, Ihn, den Einzigen, Sündlosen. Wir beten Dein Kreuz
  • an, o Christus, und lobsingen und preisen Deine heilige Auferstehung,
  • denn Du bist unser Gott, wir kennen keinen, außer Dir, und preisen
  • Deinen Namen. Kommet her, alle ihr Gläubigen, lasset uns anbeten die
  • heilige Auferstehung Christi, denn durch das Kreuz ward der ganzen Welt
  • große Freude zuteil. Wir segnen den Herrn ewiglich und preisen Seine
  • Auferstehung: denn Er erlitt und erduldete den Kreuzestod, und indem er
  • starb, hat Er den Tod überwunden.« Und hierauf singt der Chor gleich den
  • Engeln, die sich zu dieser Zeit versammeln:
  • »Strahle auf und leuchte, neues Jerusalem, denn Gottes Ruhm ist über dir
  • aufgegangen. Jubele und freue dich nun, o Zion. Und du, reine Jungfrau
  • und Mutter Gottes schmücke dich, denn Er, Den du geboren hast, ist
  • auferstanden. O großes, heiligstes Passahfest Christi! O Weisheit, du
  • Wort und Kraft Gottes! laß uns deiner noch in vollkommener Weise
  • teilhaftig werden an dem nie endenden Tage deines Reiches!«
  • Während die frohlockende Kirche also widerhallt von den
  • Auferstehungsliedern, stellt der Priester, im geschlossenen Altarraum,
  • den heiligen Kelch auf den heiligen Hochaltar, der gleich der Patene
  • wieder mit einer Decke zugedeckt wird, und richtet ein Dankgebet an den
  • Herrn und Wohltäter unserer Seelen dafür, daß Er alle durch Seine Gnade
  • teilnehmen ließ an Seinem himmlischen ewigen Sakramente, und er schließt
  • mit der Bitte, Gott möge uns auf den rechten Weg führen, uns alle in der
  • heiligen Ehrfurcht zu Ihm befestigen, unser Leben behüten und unseren
  • Schritten Kraft und Festigkeit verleihen.
  • Und nun öffnet sich die Königspforte zum letztenmal, denn dieses offene
  • Tor soll die offenen Pforten des Himmelreiches versinnbildlichen, das
  • Christus allen zuteil werden ließ, indem Er Sich selbst der ganzen Welt
  • zur Speise darbrachte. Das Hinaustragen des heiligen Kelches, wobei der
  • Diakon die Worte spricht: »Tretet heran mit Gottesfurcht und Glauben,«
  • sowie das Zurücktragen des Kelches soll versinnbildlichen, daß Christus
  • zum Volke hinausgeht, um alle Menschen mit Sich in das Haus Seines
  • Vaters zurückzuführen. Vom Chor ertönt ein donnernder feierlicher
  • Jubelgesang zur Antwort: »Gesegnet sei Der da kommt im Namen des Herrn;
  • unser Herr und Gott erscheine, Der uns erscheint.« Und die ganze
  • Gemeinde vereinigt sich mit dem Chor und stimmt einen donnernden
  • geistlichen Lobgesang an, der aus der Tiefe des gewaltig erstarkten und
  • erhobenen Geistes kommt. Der Priester segnet die Anwesenden mit den
  • Worten: »Errette, o Herr, Deine Menschen und segne Dein Eigentum,« denn
  • er nimmt an, daß in diesem Augenblick alle durch ihre Reinheit zu Gottes
  • eigenstem Eigentum geworden sind -- dann schwingt er sich in Gedanken
  • empor und gedenkt der Himmelfahrt Christi, die den Abschluß Seines
  • Erdenwandels bildete: er tritt zusammen mit dem Diakon vor den heiligen
  • Hochaltar, verneigt sich und räuchert zum letztenmal, indem er spricht:
  • »Aufgefahren zum Himmel bist Du, o Herr, die ganze Erde ist Deines
  • Ruhmes voll,« inzwischen aber begeistert der Chor durch jauchzende
  • Jubelgesänge und Töne, die von strahlender geistiger Freude erfüllt
  • sind, die verklärten Gemüter der Anwesenden zu folgenden Worten, dem
  • höchsten Ausdruck geistiger Freude: »Wir haben das wahre Licht geschaut,
  • wir haben den himmlischen Geist empfangen, wir haben uns mit dem
  • wahrhaften Glauben erfüllt und beten an die Heilige unteilbare
  • Dreieinigkeit, denn Sie hat uns erlöst.«
  • Der Diakon erscheint mit der heiligen Patene auf dem Haupte im heiligen
  • Tor, er spricht kein Wort, blickt stumm auf die ganze Versammlung und
  • entfernt sich hierauf wieder, womit er andeuten will, daß Christus uns
  • verlassen hat und gen Himmel gefahren ist. Nach dem Diakon erscheint der
  • Priester mit dem heiligen Kelch im heiligen Tore und verkündigt, daß der
  • Herr, Der gen Himmel gefahren ist, alle Tage bis zum Ende der Welt bei
  • uns weilet, indem er spricht: »Immerdar, jetzo, hinfort und in alle
  • Ewigkeit,« worauf der Kelch und die Patene zurückgetragen und auf den
  • Seitenaltar gestellt werden, auf dem das Offertorium stattfand und der
  • jetzt nicht mehr die Krippe, die eine Zeugin der Geburt Christi war,
  • sondern jenen höchsten Ort des Ruhmes darstellt, auf dem sich die
  • Himmelfahrt Christi in den Schoß des Vaters vollzog.
  • Hier vereinigt sich die ganze Kirche unter Führung des Sängerchors zu
  • einem feierlichen Dankgesang der Seelen, und dies sind die Worte des
  • Lobgesangs: »Laß unseren Mund sich erfüllen mit Deinem Lobe, o Herr, daß
  • wir Deinen Ruhm singen, Der Du uns würdigest, an Deinem heiligen,
  • göttlichen, unvergänglichen, lebenspendenden Sakramente teilzunehmen;
  • behüte uns in Deinem Heiligtume, auf daß wir den ganzen Tag Belehrung
  • schöpfen aus Deiner Weisheit!« Hierauf singt der Sängerchor dreimal ein
  • begeistertes: »Halleluja!«, das allen das ewige Wandeln und die
  • Allgegenwart Gottes in Erinnerung ruft. Der Diakon besteigt die Kanzel,
  • um die Anwesenden zum letztenmal zu Dankgebeten aufzufordern. Er hebt
  • die Stola mit drei Fingern seiner Hand empor und spricht: »Vergib!
  • lasset uns, nachdem wir empfangen haben das göttliche, heilige, reine,
  • unvergängliche, himmlische, lebenspendende und furchtbare Sakrament
  • Christi, würdig danken dem Herrn.« Und alle Anwesenden singen leise und
  • mit dankbarem Herzen: »Herr, erbarme Dich!« »Hilf, rette, erbarme Dich
  • und erhalte uns durch Deine Gnade, o Gott!« ruft der Diakon zum
  • letztenmal. Und alle singen den Gesang: »Herr, erbarme Dich! Wir beten,
  • daß dieser ganze Tag heilig, friedlich und sündlos zu Ende gehe und
  • weihen uns, einander und unser ganzes Leben Christus, unserem Gotte!«
  • Und mit der sanften Fügsamkeit eines Kindes und dem himmlischen
  • Vertrauen auf Gott rufen alle aus: »Dir, o Herr!« Der Priester hat
  • währenddessen das Corporale zusammengelegt und verkündigt nun mit dem
  • Evangelium in der Hand ... und stimmt einen Lobgesang auf die
  • Dreieinigkeit an, der bisher gleich einem alles erhellenden Leuchtturm
  • den ganzen Gang des Gottesdienstes erleuchtete und jetzt mit noch
  • hellerem Lichte in den verklärten Seelen aufstrahlt; diesmal aber lautet
  • der Lobgesang auf die Dreieinigkeit folgendermaßen: »Da Du bist unsere
  • Heiligung, so singen wir Dir Ruhm und Preis: dem Vater, dem Sohne und
  • dem Heiligen Geiste, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit.«
  • Dann tritt der Priester vor den Seitenaltar, auf dem der Kelch und die
  • Patene stehen. Alle die Stücke, die bisher auf der Patene lagen und die
  • während des Offertoriums zum Gedächtnis der Heiligen, zu Ehren der
  • Entschlafenen und für das geistige Wohlergehen der Lebenden
  • herausgeschnitten wurden, werden jetzt in den heiligen Kelch getaucht,
  • und durch diesen Akt des Eintauchens nimmt die ganze Kirche am Leibe und
  • Blute Christi teil -- sowohl die, die noch auf Erden umherirrt und
  • kämpft, als auch die, die bereits triumphieret im Himmel: die Mutter
  • Gottes, die Propheten, die Apostel, die Kirchenväter, die Priester, die
  • Einsiedler, die Märtyrer, alle Sünder, für die ein Stück aus dem Brote
  • herausgeschnitten wurde, sowohl die, die auf Erden leben, als auch die,
  • die schon dahingegangen sind, nehmen in diesem Augenblick am Leibe und
  • Blute Christi teil. Und der Priester, der in diesem Augenblick als der
  • Vertreter der ganzen Kirche vor Gottes Angesichte steht, trinkt aus dem
  • Kelche diese Kommunion aller und betet, nachdem er die Kommunion in sich
  • aufgenommen hat, für alle, auf daß ihre Sünden weggewaschen werden, denn
  • um der Erlösung aller willen ward dieses Opfer von Christus dargebracht,
  • sowohl für die, die vor Seinem Kommen gelebt haben, als auch für die,
  • die nach seinem Erscheinen leben. Und so sündhaft sein Gebet auch sein
  • mag, der Priester richtet es für alle zu Gott empor, selbst für die
  • heiligsten unter den Menschen, denn Johannes Chrysostomus hat gesagt:
  • »Die ganze Welt muß gereiniget werden.«
  • Die Kirche ordnet ein allgemeines Gebet für alle an, und die hohe
  • Bedeutung eines solchen Gebets und seine strenge Notwendigkeit sind
  • nicht von den Philosophen und nicht von Gelehrten und Weltweisen des
  • Zeitalters, sondern von den erhabensten Menschen erkannt worden, die
  • durch ihre hohe geistige Vollkommenheit und durch ihr himmlisches
  • engelhaftes Leben bis zur Erkenntnis der tiefsten geistigen Geheimnisse
  • durchdrangen und klar einsahen, daß es keine Trennung unter denen, so in
  • Gott leben, gibt, daß ihr Verkehr infolge der momentanen Verweslichkeit
  • unseres Leibes nicht aufhört, daß die Liebe, die hier erblühte und uns
  • verband auf der Erde, im Himmel als in ihrer Heimat noch viel mächtiger
  • wird, und daß ein Bruder, der uns verlassen hat, uns durch die Macht der
  • Liebe noch weit näher gerückt wird. Und alles, was aus Christus
  • hervorgeht, ist ewig, wie die Quelle selbst ewig ist, aus der es
  • entspringt. Sie haben ja auch durch ihre höheren Sinnesorgane erfahren,
  • daß sogar die triumphierende Kirche im Himmel beten muß, und daß sie in
  • der Tat für ihre auf Erden herumirrenden Brüder betet; sie haben auch
  • erkannt, daß Gott uns im Gebet die höchste Seligkeit beschieden hat,
  • denn Gott tut nichts und erweist niemand eine Wohltat, ohne Sein
  • Geschöpf an Seinem Werke mitwirken zu lassen, auf daß es die hohe Wonne
  • des Wohltuns mitgenieße; der Engel, der der Überbringer Seines Befehls
  • ist, versinkt förmlich in Seligkeit, bloß weil er Seine Befehle
  • überbringen darf. Der Heilige betet im Himmel für seine Mitbrüder, die
  • hier auf Erden weilen, und versinkt in lauter Seligkeit, weil er beten
  • darf. Und alles nimmt mit Gott an allen Seinen höchsten Wonnen und an
  • Seiner Seligkeit teil: Millionen der vollkommensten Geschöpfe gehen aus
  • Gottes Hand hervor, um an der höchsten und erhabensten Seligkeit
  • teilzunehmen, und dies nimmt kein Ende, wie Gottes Seligkeit kein Ende
  • nimmt.
  • Nachdem der Priester die Kommunion aller mit Gott aus dem Kelche
  • getrunken hat, verteilt er die Weihbrote, denen die Stücke entnommen und
  • aus denen sie herausgeschnitten wurden, an das Volk und übt damit den
  • alten hohen Brauch des Liebesmahls aus, der bei den ersten Christen
  • herrschte. Obwohl heute zu diesem Zweck kein Tisch mehr gedeckt wird,
  • weil die ungebildeten und noch rohen Christen durch törichte
  • Kundgebungen einer ungestümen Freude und durch Worte des Streits statt
  • durch Worte der Liebe die Heiligkeit dieses rührenden himmlischen Mahles
  • im Hause Gottes entweiht hatten, eines Mahles, bei dem alle Teilnehmer
  • Heilige waren, bei dem alle Teile in eins zusammenflossen und
  • währenddessen sie miteinander sprachen und sich unterhielten wie reine,
  • unschuldige Kindlein, als wenn sie bei Gott im Himmel weilten; obwohl
  • die Kirchen selbst einsahen, daß es unbedingt notwendig sei, diesen
  • Brauch aufzuheben und selbst die Erinnerung an dieses Festmahl in vielen
  • Kirchen zu tilgen, konnte die morgenländische Kirche sich
  • nichtsdestoweniger nicht entschließen, diese Sitte gänzlich
  • abzuschaffen, und so feiert sie auch heute noch in der Verteilung des
  • heiligen Brotes an das gesamte in der Kirche versammelte Volk das alte
  • Liebesmahl. Daher nimmt ein jeder, der das Weihbrot empfängt, dieses
  • statt des Brotes entgegen, das von jenem Mahle herstammt, bei dem der
  • Herr der Welt selbst Sich mit Seinen Jüngern unterredet hat, daher muß
  • er es voller Ehrfurcht genießen und sich vorstellen, er sei von allen
  • Menschen wie von lieben Brüdern umgeben, daher genießt er es denn auch,
  • wie das in der Urkirche Sitte war, vor jeder anderen Speise, nimmt es
  • mit sich nach Hause, oder er bringt es den Kranken, den Armen und
  • solchen, die an jenem Tage aus irgendeinem Grunde nicht in der Kirche
  • sein konnten.
  • Nachdem der Priester die heiligen Brote verteilt hat, schließt er die
  • Liturgie mit einem Gebet und segnet sodann das ganze Volk mit den
  • Worten: »Christus, unser wahrhaftiger Gott, erbarme Sich unser auf die
  • Fürbitte Seiner reinen Mutter, auf Fürbitte unseres Erzbischofs Johannes
  • Chrysostomus (wenn an diesem ebenso wie am vergangenen Tage die Liturgie
  • des Chrysostomus stattfindet), auf Fürbitte des Heiligen (hier nennt er
  • den Heiligen, dem dieser Tag geweiht ist) sowie aller Heiligen; und
  • errette uns, denn Er ist gütig und menschenfreundlich.« Die Gemeinde
  • bekreuzigt sich, fällt auf die Knie und geht auseinander, während der
  • Chor einen lauten Gesang anstimmt und Gebete für das Leben des Kaisers
  • emporrichtet.
  • Nunmehr legt der Priester im Inneren des Altarraumes seine Gewänder ab,
  • indem er spricht: »Nun entläßt Du Deinen Knecht!« und er begleitet diese
  • Handlung mit Lobgesängen und Hymnen zu Ehren des Vaters und Bischofs der
  • Kirche, dem zu Ehren die Liturgie zelebriert wurde, sowie zu Ehren der
  • heiligen reinen Jungfrau, in der sich die Menschenwerdung Dessen
  • vollzog, Dem die ganze Liturgie geweiht ist. Der Diakon verzehrt
  • unterdessen alles, was noch im Kelche enthalten ist, gießt noch etwas
  • Wein und Wasser hinein, spült die inneren Wände des Kelches ab, trinkt
  • sodann den Inhalt des Kelches aus und trocknet ihn sorgfältig mit dem
  • Schwamm ab, damit nichts mehr darin bleibe, dann räumt er die heiligen
  • Gefäße zusammen, bedeckt sie mit Decken, bindet sie zusammen und spricht
  • ebenso wie der Priester: »Nun entläßt Du Deinen Knecht!« worauf er
  • dieselben Gesänge und Gebete wiederholt. Und beide verlassen die Kirche
  • mit frischen, strahlenden Gesichtern, mit einem von jauchzender
  • Freudigkeit erfüllten Geist und Worten des Dankes für den Herrn auf den
  • Lippen.
  • Schluß
  • Die Wirkung, die die heilige Liturgie auf den Geist ausübt, ist
  • gewaltig: sie vollzieht sich sichtbar und vor den Augen der ganzen Welt
  • und bleibt doch verborgen. Und wenn der Kirchenbesucher nur jeder
  • Handlung andächtig und aufmerksam und den Ermahnungen des Diakons
  • gehorsam gefolgt ist, -- so wird seine Seele von einer gehobenen
  • Stimmung ergriffen, Christi Gebote werden für ihn erfüllbar, das Joch
  • Christi wird sanft, und Seine Last wird leicht. Wenn er dann den Tempel
  • verlassen hat, woselbst er an dem göttlichen Liebesmahl teilgenommen
  • hat, sieht er alle Menschen als seine Brüder an. Was er auch tut, ob er
  • wieder an seine gewohnten Geschäfte geht, sich seinem Dienst oder seiner
  • Familie widmet, wo und in welchem -- -- -- es auch sei, stets schwebt
  • ihm ganz unwillkürlich das hohe Ziel eines liebevollen Verhaltens gegen
  • seine Mitmenschen vor der Seele, wie es uns der Gottmensch vom Himmel
  • mitgebracht hat; ohne daß er es selbst merkt, wird er freundlicher und
  • gütiger gegen seine Untergebenen. Wenn er selbst einen Vorgesetzten über
  • sich hat, so ordnet er sich ihm liebevoller unter, als wäre es der
  • Heiland selbst, dem er gehorcht. Wenn er einen Menschen sieht, der um
  • Hilfe bittet, ist sein Herz mehr denn sonst zur Hilfe geneigt, er findet
  • mehr [Freude] daran und schenkt dem Armen aus liebendem Herzen ein
  • Almosen. Ist er dagegen selbst arm, so nimmt er jede kleine Gabe voller
  • Dankbarkeit entgegen; sein Herz ist von Rührung ergriffen und will vor
  • Dank vergehen, und niemals betet er so dankerfüllt für seinen Wohltäter.
  • Und alle, die der göttlichen Liturgie aufmerksam gefolgt sind, verlassen
  • die Kirche sanftmütiger, sind gütiger im Umgang mit dem Menschen und
  • freundlicher und milder in allem, was sie tun.
  • Daher muß ein jeder, der innerlich fortschreiten und besser werden will,
  • die göttliche Liturgie, so oft als nur möglich, besuchen und ihr
  • aufmerksam folgen: sie stimmt den Menschen ganz unmerklich und richtet
  • seine Seele empor. Und wenn sich unsere Gesellschaft noch nicht
  • vollständig aufgelöst hat, wenn die Menschen noch nicht von einem tiefen
  • unversöhnlichen Haß widereinander erfüllt sind, so liegt der letzte
  • tiefste Grund in der göttlichen Liturgie, die den Menschen an das
  • heilige himmlische Gebot der Liebe zu seinen Brüdern mahnt. Wer sich
  • daher in der Liebe stärken will, der sollte dem heiligen Liebesmahl so
  • oft als möglich, voller Furcht, voller Glauben und Liebe beiwohnen. Und
  • wenn er das Gefühl hat, daß er dessen noch nicht würdig ist, mit seinem
  • Munde den Gott in sich aufzunehmen, Der selbst ganz Liebe ist, so soll
  • er wenigstens der Liturgie als Zuschauer beiwohnen, er mag zusehen, wie
  • die anderen das heilige Abendmahl nehmen, um unmerklich und
  • unwillkürlich mit jeder Woche besser und vollkommener zu werden.
  • Gewaltig und unermeßlich könnte die Wirkung der heiligen Liturgie sein,
  • wenn der Mensch ihr beiwohnte, um das, was er gehört hat, in sein Leben
  • aufzunehmen.
  • Indem alle in gleicher Weise aus der Liturgie Belehrung schöpfen und
  • indem sie auf alle Glieder der Gesellschaft vom Zaren herab bis zum
  • letzten Bettler gleichermaßen wirkt, spricht sie zu allen in gleicher
  • Weise, wenngleich nicht in derselben Sprache, und unterweist alle in der
  • Liebe, die da ist das Band der Gesellschaft, die innerste Triebfeder
  • alles dessen, das sich harmonisch bewegt, und die Nahrung und das Leben
  • von allem.
  • Wenn aber die heilige Liturgie schon, während sie zelebriert wird, so
  • stark auf die Anwesenden wirkt, so ist ihre Wirkung auf den Zelebranten
  • oder den Priester noch weit tiefer. Wenn er sie andächtig und mit
  • Ehrfurcht, Glauben und Liebe zelebriert, so reinigt sich sein ganzes
  • Wesen, gleich einem Gefäß, das später zu nichts mehr ...; und mag er nun
  • den ganzen Tag erregt in der Erfüllung seiner zahlreichen
  • seelsorgerischen Pflichten, inmitten seiner Familie, seiner Hausgenossen
  • oder seiner Pfarrkinder zubringen, der Heiland selbst wird sich in ihm
  • verkörpern. Christus wird in allen seinen Handlungen lebendig sein, und
  • der Heiland wird durch seinen Mund zu uns sprechen. Ob er die
  • Streitenden zu versöhnen oder den Starken oder den Zornigen zu bewegen
  • sucht, Gnade gegenüber dem Schwachen zu üben; ob er den Trauernden
  • tröstet und den Bedrückten zur Geduld ermahnt oder ... seine Worte
  • werden von der heilenden Kraft des Balsams erfüllt sein und überall und
  • allerorten zu Worten des Friedens und der Liebe werden.
  • Jugendschriften
  • 1834
  • Großer, feierlicher Augenblick! Gott, wie rauschen, wie drängen sich in
  • ihm die Wogen der mannigfaltigsten Gefühle zusammen! Nein, das ist kein
  • Traum. Das ist die verhängnisvolle unvermeidliche Grenzscheide zwischen
  • Erinnerung und Hoffnung ... Es gibt schon kein Erinnern mehr, schon
  • schwindet es dahin, schon wird es von der Hoffnung zurückgedrängt. Zu
  • meinen Füßen braust meine Vergangenheit; über mir, durch Nebelschleier
  • hindurch, schimmert geheimnisvoll die Zukunft. Ich flehe dich an, Leben
  • meiner Seele (mein Schutzgeist, mein Engel), mein Genius! Verbirg dich
  • nicht vor mir! Wache in diesem Augenblick über mir und weiche dieses
  • ganze Jahr, das für mich so vielversprechend beginnt, nicht von meiner
  • Seite. Wie wirst du aussehen, du, meine Zukunft? Liegst du glanzvoll,
  • groß vor mir, gärt es in dir von gewaltigen Taten, oder ... O mögest du
  • ruhmvoll, tatenreich und ganz der Arbeit und der Ruhe gewidmet sein!
  • Warum stehst du so geheimnisvoll vor mir, du [Jahr] 1834? Sei auch du
  • mein Schutzengel. Sollten sich Trägheit und Gefühllosigkeit auch nur
  • einen Augenblick erdreisten, sich mir zu nahen, -- oh, dann wecke mich
  • aus dem Schlummer, gib es nicht zu, daß sie Macht über mich gewinnen!
  • Laß deine so vielsagenden Zahlen wie eine nimmer ruhende Uhr, wie mein
  • Gewissen vor mir stehen: laß jede deiner Ziffern lauter denn eine
  • Sturmglocke an mein Ohr tönen, laß sie gleich einem galvanischen Stab
  • meinen ganzen Körper in Zuckungen versetzen und erschüttern.
  • Geheimnisvolles, unbegreifliches Jahr 1834! Wo werde ich dich durch
  • große Werke kennzeichnen? Inmitten dieses Haufens aufeinandergetürmter
  • Häuser, dieser lärmenden Straßen, dieser siedenden Geschäftigkeit --
  • dieser Menge, dieses Durcheinanders aller möglichen Moden, Paraden,
  • Beamten, dieser seltsamen nordischen Nächte, dieses Glanzes und dieser
  • gemeinen Farblosigkeit? In meinem herrlichen, alten, gelobten, mit
  • fruchtreichen Gärten geschmückten Kiew, das mein prachtvoller,
  • wundersamer, südlicher Himmel überwölbt und das wonneatmende Nächte
  • einhüllen, wo die Berge mit ihren schönen -- man möchte sagen
  • harmonischen -- Hängen, und wo mein klarer, wild dahinstürmender Dnjepr,
  • der es umspült, im Schmuck grünen Buschwerks prangt? -- Wird es dort
  • sein? ... Oh! Ich weiß nicht, wie ich dich nennen soll, mein Genius! Du,
  • der du schon seit meiner Wiege im Vorüberfliegen mein Ohr mit deinen
  • harmonischen Liedern trafst, der du solch herrliche, mir bis heute noch
  • unbegreifliche Gedanken in mir erwecktest und solch unendliche
  • wonnevolle Träume in mir nährtest! Oh, blicke mich an! Herrlicher,
  • blicke herab auf mich mit deinen himmlischen Augen! Ich knie vor dir.
  • Ich liege zu deinen Füßen! Oh, verlasse mich nicht! Verweile bei mir auf
  • der Erde, wenn auch nur zwei Stunden an jedem Tage, als mein herrlicher
  • Bruder! Ich will es vollbringen. Ja, ich werde es vollbringen. In mir
  • kocht es und siedet's vor Lebenskraft. Meine Werke werden von
  • Begeisterung erfüllt sein. Die erhabene Gottheit, die über dieser Erde
  • thront, wird über ihnen schweben. Ich werde es vollbringen ... Oh, küsse
  • und segne mich!
  • Über eine Geschichte der kleinrussischen Kosaken
  • Es gibt bisher noch keine vollständige und befriedigende Darstellung der
  • Geschichte Kleinrußlands und des kleinrussischen Volkes. Die zahlreichen
  • kompilatorischen Darstellungen, die meist ohne strenge kritische
  • Gesichtspunkte plan- und ziellos aus verschiedenen Chroniken
  • zusammengetragen, dazu noch meist ganz unvollständig sind und durch die
  • bisher diesem Volke sein Platz in der Weltgeschichte noch nicht
  • angewiesen ward, diese Darstellungen nenne ich (trotzdem sie als
  • Material ganz wertvoll sein können) noch keine Geschichte. Ich habe mich
  • entschlossen, diese Arbeit auf mich zu nehmen und möglichst ausführlich
  • darzustellen, wie dieser Teil Rußlands sich loslöste (und selbständig
  • wurde), was für eine politische Verfassung er unter der fremden
  • Herrschaft erhielt, wie sich hier eine kriegerische Bevölkerung
  • heranbildete, die sich durch eine große Originalität des Charakters und
  • durch ihre Taten auszeichnete; wie sich dieses Volk drei Jahrhunderte
  • lang mit der Waffe in der Hand seine Rechte erobern mußte und hartnäckig
  • seine Religion verteidigte, und wie es sich schließlich für immer an
  • Rußland anschloß; wie es seinen kriegerischen Charakter verlor und sich
  • in ein Volk von Ackerbauern verwandelte; wie sich das ganze Land
  • allmählich statt der alten neue Rechte eroberte und endlich mit Rußland
  • völlig zu einem Ganzen verschmolz. Ungefähr fünf Jahre lang habe ich mit
  • großem Eifer Materialien gesammelt, die sich auf die Geschichte dieses
  • Landes beziehen. Die Hälfte meiner Geschichte ist bereits so gut wie
  • fertig, aber ich zögere noch, die ersten Bände herauszugeben, da ich
  • vermute, daß es noch viele Quellen gibt, die mir vielleicht noch nicht
  • bekannt sind, und die sich ohne Zweifel in den Händen von Privatpersonen
  • befinden. Daher wende ich mich an alle die, die irgendwelche
  • Materialien: Chroniken, Memoiren, Lieder, Erzählungen von
  • Bandurenspielern, Aktenstücke (besonders auch solche, die sich auf die
  • ersten Epochen der kleinrussischen Geschichte beziehen), besitzen (es
  • ist unmöglich, daß meine gebildeten und aufgeklärten Landsleute mir
  • diese Bitte abschlagen könnten). Ich bitte sie inniglich, mir diese
  • Materialien zuzuschicken: wenn nicht die Originale, so doch wenigstens
  • Kopien.
  • Zwei Kapitel aus der kleinrussischen Erzählung
  • Der schreckliche Eber
  • I.
  • Der Lehrer
  • Die Ankunft einer neuen Person in dem gesegneten Lande Goltwjan machte
  • mehr Aufsehen als das Gerücht, das vor zwei Jahren durch das Land ging,
  • die Zahl der Rekruten solle vermehrt werden, oder als die plötzliche
  • Erhöhung der Preise auf das Salz, das von den Steppenbewohnern der
  • Ukraine aus der Krim eingeführt wurde. In den Schenken, auf den Straßen,
  • in der Mühle, in der Branntweinbrennerei sprach man von nichts anderem
  • als von dem neu hierher versetzten Lehrer. Die schlauen Politiker in
  • ihren großen Kitteln und Kapuzen suchten, während sie mit höchst
  • phlegmatischen Mienen dichte Rauchwolken unter ihrer Nase emporsteigen
  • ließen, den Einfluß der Persönlichkeit festzustellen, der das Schicksal
  • scheinbar schon bei der Geburt einen so hohen Platz über den Köpfen
  • aller Bewohner der Welt angewiesen hatte, einer Person, die in den
  • herrschaftlichen Gemächern wohnte und an einem Tisch mit der Besitzerin
  • eines Gutes von fünfzig Seelen speiste. Man sprach davon, daß das
  • Lehramt nicht seine ganze Befugnis ausmache, und daß sich sein Einfluß
  • ohne allen Zweifel auch auf die wirtschaftliche Ordnung erstrecken
  • werde; jedenfalls werde die Bemessung der Vorspanndienste, die
  • Verteilung von Mehl, Speck usw. von keinem anderen abhängen als von ihm.
  • Einzelne ließen mit bedeutsamer Miene durchblicken, daß nunmehr
  • womöglich selbst der Verwalter zu einer bloßen Null herabsinken werde.
  • Nur der _Miroschnik_, d. h. der Müller Ssolopi Tschubko, wagte die
  • Behauptung aufzustellen, daß die Dorfältesten nichts von ihm zu
  • befürchten hätten, er sei bereit, eine Wette einzugehen, und setze eine
  • neue Mütze aus grauem reschetilowschem Lammfell zum Pfande --, daß der
  • Lehrer keine Ahnung davon habe, wie man ein Fünfgespann zum Stehen und
  • das stockende Mühlrad wieder in Schwung bringen müsse. Aber seine
  • wichtige Haltung, sein glänzender Triumph über den Kirchensänger und die
  • donnerähnliche Baßstimme, die alle Pfarrkinder in Rührung versetzt
  • hatte, waren noch im Gedächtnis aller lebendig, und so blieb denn die
  • vorteilhafte Meinung, die man von dem neuen Lehrer hatte, bestehen. Und
  • wenn auch zu Ehren des Gastes kein einziges Turnier zwischen den
  • angesehensten Bewohnern des Dorfes stattfand, so ließen sich dafür ihre
  • liebenswürdigen Gattinnen nicht lumpen: begabt mit jener kräftigen
  • Zunge, die so laute und durchdringende Töne hervorzubringen vermag und
  • die sich bei den Weibern nach dem unerforschlichen Ratschluß der
  • Vorsehung beinahe viermal so schnell bewegt wie bei den Männern, ließen
  • sie ihr bei der Widerlegung der Angriffe und bei der Verteidigung der
  • Vorzüge des Lehrers gewandt und behende freien Lauf.
  • Lautes Geschrei und Geplapper, unterbrochen von plötzlichen Aufschreien
  • und Gezänk, erfüllte die friedlichen Winkelgassen des Dorfes Mandrykow.
  • Und da seine ehrenhaften Bewohnerinnen die löbliche Gewohnheit hatten,
  • ihrer Zunge auch noch mit den Händen nachzuhelfen, konnte man in den
  • Straßen fortwährend ein Paar kräftig ineinander verkrallter
  • Gevatterinnen antreffen, die so eng aneinanderhingen, wie ein
  • Schmeichler an einem Günstling des Glücks hängt oder wie ein Geizhals
  • seine Tasche festhält, wenn die Straßen öde werden und eine einsame
  • Laterne ihr erlöschendes Licht auf die gelben Mauern der schlafenden
  • Stadt wirft. Am meisten hatten jedoch die Männer zu leiden, die es
  • versuchten, sie zu trennen: Schnitzel und Scherben hagelten ihnen auf
  • den Kopf herab, und häufig verprügelte eine erregte Gevatterin in der
  • Hitze ihres Zornes statt eines fremden ihren eigenen Gatten.
  • Inzwischen hatte sich unser Pädagoge völlig im Hause Anna Iwanownas
  • eingelebt. Er gehörte zu der Zahl jener Seminaristen, die einen _Schreck
  • vor der abgründigen Weisheit_ bekommen hatten, mit der das ***sche
  • Seminar die nicht allzu wohlhabenden Herren von Kleinrußland gegen etwa
  • hundert Rubel jährlich für ihren Beruf als Hauslehrer ausstattet. --
  • Übrigens war Iwan Ossipowitsch sogar bis zur Theologie vorgedrungen, und
  • er wäre wohl gar weiß Gott wie weit, ja wahrscheinlich sogar noch weiter
  • gekommen, wenn seine lockeren Kameraden nicht gewesen wären, die sich
  • beständig über seinen Schnurrbart und seinen stacheligen Backenbart
  • lustig machten. Als von Jahr zu Jahr ein Teil die Schule verließ und
  • immer jüngere und jüngere an ihre Stelle traten, ließen sie ihm
  • überhaupt keine Ruhe mehr: bald warfen sie ihm klebrige Disteln in
  • seinen Bart und Schnurrbart, bald hängten sie ihm hinten am Rock
  • Schellen an, bald puderten sie ihm das Haar mit Sand oder schütteten ihm
  • Nieswurz in die Tabaksdose, bis Iwan Ossipowitsch es überdrüssig wurde,
  • der stumme Zeuge dieses ewigen Wechsels leichtsinniger Generationen und
  • ihr Kinderspielzeug zu sein, bis er sich genötigt sah, dem Seminar
  • Lebewohl zu sagen und sich in die »_Vakanz_« schicken zu lassen, d. h.
  • nach dem Sprachgebrauch der kleinrussischen Seminare: Hauslehrer zu
  • werden.
  • Diese Veränderung bildete eine wichtige Epoche und einen Wendepunkt in
  • seinem Leben. An die Stelle der ewigen Spöttereien und Streiche seiner
  • mutwilligen Kameraden trat nun endlich etwas wie Achtung, Anhänglichkeit
  • und Sympathie. Mußte man denn auch nicht unwillkürlich Achtung vor ihm
  • empfinden, wenn er an Festtagen in seinem hellblauen Rock
  • dahergeschritten kam -- wohlgemerkt im hellblauen Rock -- denn das ist
  • von nicht geringer Bedeutung. Ich sehe es als meine Pflicht an, den
  • Leser darüber aufzuklären, daß ein Rock im allgemeinen (gar nicht erst
  • zu reden von einem blauen), wenn er bloß nicht aus grauem Stoff
  • gefertigt ist, in den Dörfern an den gesegneten Ufern der Goltwa einen
  • ganz wundersamen Eindruck macht: wo er sich auch zeigt, da fliegen
  • selbst von den trägsten und unbeweglichsten Köpfen die Mützen herab und
  • begeben sich in die Hände ihrer Besitzer; selbst die würdigen mit
  • schwarzen und grauen Schnurrbärten gezierten, sonnengebräunten Häupter
  • beugen sich tief bis zum Gürtel. Die Zahl aller Röcke im Dorfe betrug --
  • wenn man auch den Mantel des Kirchensängers mitrechnet -- drei; aber so
  • wie ein majestätischer Kürbis sich stolz aufbläht und alle übrigen
  • Bewohner eines reichbepflanzten Melonenfeldes in den Schatten stellt,
  • also verdunkelte der Rock unseres Freundes seine sämtlichen Mitbrüder.
  • Was ihm den größten Reiz verlieh, das waren die Knochenknöpfe, die von
  • den in Haufen auf der Straße stehenden Straßenjungen mächtig angestaunt
  • wurden. Nicht ohne Vergnügen hörte unser stutzerhafter Erzieher der
  • Jugend, wie die Mütter ihre Säuglinge auf die Knöpfe aufmerksam machten,
  • und wie die Kleinen ihre Händchen ausstreckten und _Zga zga Zga zga_ (d.
  • h. gut, gut) lallten. Beim Mittagessen war es ein Genuß, zuzusehen, wie
  • würdig und mit welcher Rührung unser ehrenwerter Lehrer mit
  • vorgebundener Serviette die allgemeine Verrichtung irdischer Sättigung
  • besorgte. Da gab es kein überflüssiges Wort, keine unnötige Bewegung; er
  • schien sich völlig in seinen Teller zu verfügen und ganz in ihm
  • aufzugehen. Wenn er ihn so gründlich geleert hatte, daß kein
  • gastronomisches Gerät, als da sind Gabel und Messer, noch etwas vorfand,
  • dessen es sich bemächtigen konnte, schnitt er sich ein Stück Brot ab,
  • spießte es auf die Gabel auf und fuhr mit diesem Gerät noch einmal über
  • den Teller, wonach dieser so blank und rein war, als käme er eben aus
  • der Fabrik. Aber dies alles, kann man wohl sagen, waren nur äußere
  • Vorzüge, die seine Kenntnis der Sitten und Formen der feinen Welt
  • bezeugten, und der Leser würde sehr fehlgehen, wenn er hieraus schließen
  • wollte, daß damit alle seine Gaben und Fähigkeiten erschöpft gewesen
  • wären. Der würdige Pädagoge besaß für einen einfachen Mann geradezu
  • unermeßliche Kenntnisse, von denen er einige für sich behielt, wie z. B.
  • die Zubereitung einer Arznei gegen den Biß von tollen Hunden und die
  • Kunst, bloß aus Eichenrinde und Salpetersäure die schönste rote Farbe
  • herzustellen. Außerdem konnte er eigenhändig die herrlichste
  • Stiefelwichse und Tinte herstellen und für den kleinen Enkel Anna
  • Iwanownas Figuren aus Papier ausschneiden; und an Winterabenden wickelte
  • er Garn auf und spann er sogar.
  • Ist es da wohl verwunderlich, wenn er sich bei solchen Gaben im Hause
  • bald unentbehrlich machte, und wenn alle Knechte und Mägde völlig in ihn
  • vernarrt waren, trotzdem sein Gesicht sowohl nach seiner Form wie nach
  • seiner Farbe völlig einer Flasche glich, obwohl sein gewaltiger Mund,
  • dessen dreisten Ansprüchen die abstehenden Ohren nur mit Mühe eine
  • Schranke zu setzen vermochten, sich fortwährend verzog und verzerrte,
  • indem er sich zu einem Lächeln zu zwingen suchte, und obwohl seine Augen
  • eine hellgrüne Farbe hatten -- zwei Augen, wie sie, soviel mir bekannt
  • ist, in den Annalen der Romane noch nie ein Held besessen hat. Aber
  • vielleicht sehen die Frauen mehr als wir? Wer will sie enträtseln? Wie
  • dem auch sein mag, genug, auch die alte Dame, die Frau des Hauses, war
  • sehr befriedigt von den Kenntnissen des Lehrers in den Geheimnissen der
  • Haushaltung und von seiner Kunst, aus Safran und _Herba rhabarbarum_
  • Schnaps herzustellen, sowie von seiner Geschicklichkeit im Entwirren von
  • Garn und seiner großen Lebenserfahrung. Der Haushälterin gefiel am
  • meisten sein stutzerhafter Rock und seine Kunst, sich zu kleiden;
  • übrigens hatte auch sie bemerkt, daß der Lehrer eine wundersame gerührte
  • Miene machte, wenn er zu schweigen oder zu essen geruhte. Dem kleinen
  • Enkel machten die papierenen Hähne und Männchen außerordentlich viel
  • Spaß. Selbst der zottige _Browko_ pflegte ihm, sobald er ihn auf die
  • Treppe hinaustreten sah, sofort zärtlich mit dem Schweife wedelnd,
  • entgegenzulaufen und ihn ohne alle Förmlichkeit auf die Lippen zu
  • küssen, wenn der Lehrer, die Würde, die seinem Amte gebührte,
  • vergessend, sich unter dem majestätischen Giebel niederzusetzen
  • beliebte. Nur die beiden älteren Enkelkinder und die Jungen, die zum
  • Hause gehörten, mit denen er das A -- _Affe_, _Apfel_, _Be_ -- _Besen_,
  • _Bild_, _Bär_ durchnahm, fürchteten sich vor der beredten, höchst
  • ausdrucksvollen Rute des strengen Pädagogen.
  • Während seines kurzen Aufenthaltes am neuen Orte hatte Iwan Ossipowitsch
  • schon selbst Zeit gefunden, seine Beobachtungen zu machen und sich in
  • seinem Kopfe wie in einem Hohlspiegel ein kleines Abbild der ihn
  • umgebenden Welt zu formen. Die erste Person, an der seine
  • Beobachtungsgabe mit dem gebührenden Respekt haften blieb, war, wie der
  • Leser sich wohl selbst denken wird, die Gutsherrin. In ihrem Gesicht,
  • das der scharfe Pinsel, der das menschliche Geschlecht seit undenklichen
  • Zeiten koloriert und den man, seit Gott weiß wie langer Zeit, mit dem
  • Namen »Falte« zu bezeichnen pflegt, nicht verschont hatte, in ihrer
  • dunkelkaffeefarbenen Kapotte, in der Haube (deren Form in dem Gewirr der
  • Ereignisse, die das achtzehnte Jahrhundert charakterisieren, verloren
  • gegangen ist), in ihrem braunen Wams und den Schuhen ohne Hackenleder,
  • erkannten seine Augen jene Lebensperiode wieder, die eine matte
  • schwächliche Wiederholung der vergangenen, eine kalte farblose
  • Übersetzung der Werke eines feurigen, von ewigen Leidenschaften
  • glühenden Poeten ist, -- jener Periode, wenn den Menschen nichts als die
  • Erinnerung, diese Repräsentantin der Gegenwart, Vergangenheit und
  • Zukunft übrigbleibt, wenn das verhängnisvolle siebente Jahrzehnt einem
  • Kälte durch die einstmals von Feuer durchströmten Adern treibt und das
  • Lebensthermometer unter den Gefrierpunkt sinkt. Übrigens belebten die
  • ewigen Sorgen und die Passion, sich zu beschäftigen und sich zu schaffen
  • zu machen, einigermaßen das schon erloschene Leben in ihren Zügen, und
  • ihre Frische und Gesundheit waren ein sicheres Unterpfand, daß ihr noch
  • weitere dreißig Jahre des Lebens bevorstanden. Die ganze Zeit von fünf
  • Uhr morgens bis sechs Uhr abends, das heißt bis zur Stunde, wo man sich
  • Ruhe zu gönnen pflegt, bildete eine ununterbrochene Kette der Tätigkeit.
  • Bis sieben Uhr morgens hatte sie bereits alle Räume besucht und den
  • ganzen Haushalt durchmustert: Küche, Keller und Vorratskammern; sie
  • hatte Zeit gefunden, sich mit dem Verwalter zu zanken und die Hühner und
  • Gänse eigener Zucht, für die sie eine große Vorliebe hatte, zu füttern.
  • Vor dem Mittagessen, das nie später als um zwölf Uhr stattfand, blickte
  • sie in die Backstube hinein und half selbst beim Backen von Brot und
  • einer besonderen Art von Brezeln aus Honig und Eierteig, deren bloßer
  • Geruch den Pädagogen in eine unerklärliche Aufregung versetzte; besaß er
  • doch eine leidenschaftliche Sympathie für alles, was der geistigen und
  • physischen Natur der Menschen zur Nahrung dient. In der Zeit zwischen
  • Mittagessen und Abend gibt's für eine Hausfrau genug zu tun. -- Da
  • gibt's Wolle zu färben, Leinwand abzumessen, Gurken einzusalzen, Früchte
  • einzumachen, Liköre zu süßen. Wieviel Methoden, Geheimnisse und
  • Hausrezepte kommen während dieser Zeit zur Anwendung! Dem aufmerksamen
  • Auge unseres Pädagogen konnte es nicht entgehen, daß auch Anna Iwanowna
  • die Eitelkeit nicht ganz fremd war, und daher machte er es sich zur
  • Regel, sich, freilich nur soweit ihm dies seine angeborene
  • Schüchternheit erlaubte, in Lobeserhebungen über ihre außergewöhnlichen
  • wirtschaftlichen Künste und Fähigkeiten zu ergehen, und dies wurde ihm,
  • wie er später erfuhr, von großem Nutzen. Die würdige alte Dame verschloß
  • die süßen Liköre und die Gläser mit Eingemachtem nicht eher, als bis
  • Iwan Ossipowitsch davon gekostet und die außerordentliche Güte des einen
  • wie des anderen gerühmt hatte. Alle übrigen Personen standen im
  • Schatten, verglichen mit diesem leuchtenden Gestirn, so wie alle Gebäude
  • im Hofe vor dem herrlichen Bau mit dem prachtvollen Portal in den Staub
  • zu sinken schienen. Nur dem Auge eines scharfsinnigen Beobachters
  • enthüllten sich ihre gegenseitigen Beziehungen und das besondere
  • Kolorit, das jedem eigentümlich war, und dann erblickte er, fast wie in
  • einem Ameisenhaufen, eine ewige Unruhe und Bewegung und er vernahm ein
  • fortwährendes Geräusch, das keinen Augenblick verstummte. Unser Pädagoge
  • verstand es, wie wir bereits gesehen haben, es jedem recht zu machen und
  • sich gleich einem mächtigen Zauberer dauernd die allgemeine Achtung zu
  • erwerben.
  • Gänzlich unbegreiflich waren allein die Gründe, die ihn veranlaßt
  • hatten, sich dem Küchenmeister anzuschließen. War es die hohe Achtung,
  • die Iwan Ossipowitsch unwillkürlich vor seiner Kunst empfand, oder war
  • es irgendein anderer Umstand -- das wagen wir nicht zu entscheiden.
  • Genug, es vergingen keine zwei Tage, da erstanden Mandrykow zwei
  • Dioskuren, der Orest und Pylades der neuen Welt. Aber noch
  • unbegreiflicher war die Macht, die der Küchenmeister über unseren
  • Pädagogen besaß, so daß der von Natur so bescheidene und schüchterne
  • Lehrer, der nichts in den Mund nahm außer einem medizinischen Dekokt von
  • _Betonica_ und _Herba rhabarbarum_, ihm unwillkürlich in die Schenken
  • und überallhin zu folgen begann, wo der verbummelte Küchenmeister seine
  • Nase hineinsteckte. Iwan Ossipowitsch gefiel die romantische Lage der
  • Gegend, in der er sich aufhielt. Bald hatte er die Küche, die Speicher,
  • die Scheunen, die Ställe und Vorratskammern, die einen unregelmäßigen
  • Kreis um den geräumigen Herrenhof bildeten, besichtigt; mit besonderem
  • Vergnügen verweilte er bei dem Garten, der üppig in die Breite
  • geschossen war und dessen gigantische Bewohner, in ihre dunkelgrünen
  • Mäntel gehüllt und von wundersamen Traumgestalten umschwebt, dastanden
  • und schlummerten oder, sich plötzlich ihren Träumen entreißend, die
  • unbotmäßige Luft wie Windmühlenflügel durchschnitten, und dann ging es
  • wie ein unverständliches Geflüster durch das Blattwerk, und die
  • gemessene majestätische Bewegung ihres ganzen Körpers gemahnte an die
  • alten Mimen, die die großen Schatten der Verstorbenen auf den Gerüsten
  • Melpomenes heraufbeschworen. Aber die Augen unseres Lehrers suchten ihr
  • Objekt und hafteten mehr an den weniger majestätischen Gartenbewohnern,
  • die dafür von unten bis oben mit Birnen und Äpfeln behangen waren, von
  • denen die üppige Ukraine förmlich strotzt. Von hier aus kämpften sie
  • sich bis zur Küche durch, hinter der zogen sich Plantagen von Erbsen,
  • Kohl, Kartoffeln, sowie aller Kräuter hin, die in die Apotheke der
  • Dorfküche gehören. Nicht ohne besonderes Vergnügen betrat er das reine,
  • sauber geweißte und aufgeräumte Zimmer, in dem er nun wohnen sollte, mit
  • dem Fenster, durch das man auf den Teich und die in violette Nebel
  • gehüllte Landschaft hinaussah.
  • Wir hatten bereits Gelegenheit, etwas über den Eindruck, den unser
  • Lehrer auf die Schönen von Mandrykow gemacht hatte, zu bemerken: die
  • gesenkten Augen, das Geflüster und die tiefen Verbeugungen ließen
  • erkennen, daß seine Eroberung einer jeden von ihnen als keine geringe
  • Angelegenheit erschien. Übrigens ist es hier wohl am Platze, den
  • freundlichen Leser daran zu erinnern, daß Iwan Ossipowitsch einen Rock
  • aus blauem Fabrikstoff mit schwarzen Knochenknöpfen von der Größe eines
  • mächtigen Groschens anhatte; und so war es sehr verzeihlich, wenn er
  • sich das Augenblinzeln der schwarzbrauigen Schelminnen zu seinen Gunsten
  • auslegte. Zum Glück oder Unglück jedoch suchte das Gefühl, das der armen
  • Menschheit so gut bekannt ist und ihr seit undenklichen Zeiten ein
  • wahres Meer von unerträglichen Qualen beschert hat, unseren Pädagogen
  • nicht heim. In diesem Punkte war Iwan Ossipowitsch ein echter Stoiker,
  • und obwohl er noch nicht bis zur Philosophie vorgedrungen war, wußte er
  • doch genau, daß keiner der Philosophen von Seneca und Sokrates bis herab
  • zum Lektor des ***er Gymnasiums die wunderliche Hälfte des
  • Menschengeschlechts für nichts achtete: ergo gab es keine Liebe. An
  • solchen Prinzipien, die bei ihm schließlich die Festigkeit von
  • Grundsätzen angenommen hatten, hielt er sehr fest, ja allzu fest ...
  • _Homo proponit, Deus disponit_ pflegte der Lektor des ***er Gymnasiums
  • häufig zu sagen, indem er die Schläge zählte, die er seinen faulen
  • Schülern mit dem Lineal verabreichte; daher werden wir auch im folgenden
  • Kapitel einen kleinen Umstand kennen lernen, der die Philosophie unseres
  • Lehrers heftig erschütterte und seinen Verstand mit einer ganzen Wolke
  • von Mißverständnissen bestürmte, ihn, der bisher unbeugsam in den
  • Fußstapfen seiner großen Lehrmeister gewandelt war und sich mit
  • regelmäßigem Pulsschlag in seiner flaschenförmigen Sphäre bewegt hatte.
  • II.
  • Der Erfolg der Gesandtschaft
  • (Der Küchenmeister entschließt sich trotz der eigenen Herzenswunde,
  • die er sich ganz plötzlich durch den Anblick der sich am Teiche
  • waschenden Katerina zugezogen hat, das Versprechen, das er dem
  • Lehrer gegeben hat, einzulösen und den Gesandten und Fürsprecher
  • seiner Leidenschaft zu spielen. In dieser Absicht begibt er sich in
  • die Hütte des Kosaken Charjka Potyliza.)
  • Nachdem Onißko seine Toilette beendigt hatte, überschritt er nicht ganz
  • ohne Furcht und geheime Freude die Schwelle. Der Böse schien ihn necken
  • zu wollen (er gab dies später selbst zu), indem er ihm fortwährend die
  • schlanken Füßchen seiner Nachbarin vorzauberte: »Ach, wenn doch der
  • Lehrer nicht wäre!« wiederholte er mehrmals bei sich selbst; »was hätte
  • es ihn gekostet, wenn er sich's hätte einfallen lassen, sich nur ein
  • klein wenig später zu verlieben?« Und nachdenklich durchmaß er langsamen
  • Schrittes die große Viehweide, durch die ihn sein Weg hindurchführte.
  • Doch jetzt durchbrach ein vielstimmiges Gebell die nachdenkliche
  • Stimmung, die ihn gleich einer Wolke umfing, und seine Gedanken stoben
  • aufgescheucht wie eine Schar wilder Enten nach allen Richtungen
  • auseinander. Er richtete die Augen empor und sah nun, daß er nicht mehr
  • weiter konnte. Vor ihm erhob sich ein Tor, durch das wie durch
  • ein Transparent der ganze unbewegliche Besitz des Kosaken
  • hindurchschimmerte. Ein blauer Schlitzrock und ein feuerfarbenes Band
  • leuchteten ihm entgegen ... Das Herz hüpfte ihm in dem Busen ... die
  • blonde Schöne öffnete das Tor, trieb die lästigen Hunde mit einer langen
  • Rute auseinander und stand nun vor ihm.
  • Der Hof Charjkas stellte ein großes Quadrat dar, das auf einer Böschung,
  • die sich gegen den Teich hinabsenkte, lag und von allen Seiten mit einem
  • geflochtenen Zaun umgeben war. Wenn das Tor geöffnet war, sah man
  • unmittelbar vor sich eine sauber geweißte Hütte mit mächtigen Fenstern
  • von ungleicher Größe und eine eichene Tür, die schon ganz schwarz vor
  • Alter war; das Häuschen stand auf einem niedrigen Lehmfundament (einer
  • sogenannten Prisba), das nach der in Kleinrußland herrschenden Sitte mit
  • Wäsche, Suppenschüsseln und einem Topf, einem alten Invaliden aus Ton,
  • bedeckt war, dem trotz seiner Wunden und Verletzungen noch kein Abschied
  • bewilligt wird, und den man zum Dank für seine treuen Dienste mit
  • Spülwasser zu füllen pflegt. Zu beiden Seiten der Hütte befanden sich
  • Ställe und Speicher mit struppigen beschädigten Dächern. Hinter der
  • Hütte ragte eine Tenne empor, die ihrerseits von einem Taubenschlag
  • überragt wurde, über den man nur noch die vorüberziehenden Wolken und
  • die in der Luft herumflatternden Tauben erblickte. Weiter unten streckte
  • sich der Gemüsegarten gleich einem kostbaren türkischen Schal bis zum
  • Teiche hinab. Auf dem ganzen Hofe erblickte man überall Strohhaufen, die
  • unordentlich herumlagen.
  • Katerina schien ein wenig verwundert über Onißkos Besuch. Da sie annahm,
  • daß ihn ohne Zweifel lediglich die Not zu ihrem Vater geführt haben
  • konnte, öffnete sie das Tor nur zur Hälfte und sagte ein wenig verlegen:
  • »Vater ist nicht zu Hause; er wird auch kaum bis zum Abend heimkommen.«
  • »_Mag es ihm so leicht aufstoßen, wie es aus seinem Innern aufsteigt!_
  • Was wär' ich für ein Tölpel vor dem Herrn, wenn ich trockenen Brei
  • fressen wollte, wo mir Quarkkuchen mit saurem Rahm vor der Nase stehen?«
  • Die blonde Schöne blieb überrascht und verblüfft stehen, denn sie wußte
  • nicht, wie sie diese Worte verstehen sollte. Ein Lächeln, das durch sein
  • seltsames Benehmen veranlaßt war, huschte über ihr Gesicht und schien
  • anzudeuten, daß sie auf weitere Aufklärung warte.
  • Der Küchenmeister fühlte selbst, daß er sich nicht ganz deutlich
  • ausgedrückt und dazu ihres Vaters mit etwas rauhen Worten gedacht hatte;
  • er fuhr daher fort: »Da müßte mich doch schon der Böse selbst zum
  • _Alten_ führen, wenn dieser eine so hübsche Tochter hat.«
  • »Ah, ist es das!« sagte Katerina lächelnd und leicht errötend. »Bitte,
  • tretet ein!« und sie schritt voraus und ging auf die Tür der Hütte zu.
  • In Kleinrußland haben die Mädchen viel mehr Freiheit als irgendwo
  • anders, und daher darf es nicht seltsam erscheinen, daß unsere Schöne,
  • ohne daß ihr Vater etwas davon wußte, einen Gast bei sich empfing. »Bist
  • du zu Fuß hierher gekommen, Onißko?« fragte sie ihn, indem sie sich auf
  • der Schwelle an der Tür der Hütte niederließ und eine würdige und
  • ehrbare Haltung anzunehmen suchte, obwohl ihr schelmisches Lächeln, bei
  • dem sie eine lange Reihe schöner Zähne sehen ließ, sie deutlich verriet.
  • -- Wieso zu Fuß? -- Teufel auch! sollte sie über das, was gestern
  • vorgefallen ist, unterrichtet sein? dachte der Küchenmeister. -- »Gewiß
  • doch zu Fuß, meine Schöne. Wahrhaftig, der Teufel müßte mich reiten,
  • wenn ich absichtlich den Braunen meines Herrn angespannt hätte, bloß um
  • von einem Hof zum anderen zu gelangen!«
  • »Aber von der Küche bis zur Vorratskammer ist es doch nicht so weit!«
  • Hier aber konnte sie sich doch nicht mehr halten und lachte laut auf.
  • -- Nein, du Schelmin! Der Böse selbst ist nicht schlauer als dieses
  • Mädel! wiederholte der Küchenmeister mehrmals bei sich selbst und
  • wünschte den Lehrer laut zum Teufel, alle Sympathie und Freundschaft
  • vergessend, die zwischen ihnen bestand.
  • »Übrigens wäre ich damit einverstanden, daß mir die Karauschen samt den
  • frischgesalzenen Eierschwämmen auf der Pfanne anbrennen, wenn du nur
  • noch einmal so lachen wolltest, schönes Mädchen!«
  • Bei diesen Worten konnte der Küchenmeister sich nicht mehr beherrschen
  • und umarmte sie.
  • »Nein, das habe ich nicht gerne!« rief Katerina errötend, wobei sie eine
  • zornige Miene machte. »Bei Gott, Onißko, wenn du noch einmal so etwas
  • tust, so werfe ich dir ohne viel Umstände diesen Topf an den Kopf.«
  • Bei diesen Worten hellte sich ihr zorniges Gesichtchen ein wenig auf,
  • und das Lächeln, das hierbei über ihr Antlitz huschte, schien deutlich
  • sagen zu wollen: »aber ich wäre dessen nicht fähig!«
  • »Nein, nicht doch, nicht doch! _Ich habe dich doch nicht mit dem
  • Lastwagen gestreift._ Als ob das ein Grund ist, so böse zu werden! Als
  • ob das weiß Gott was für ein Verbrechen wäre, -- ein hübsches Mädchen zu
  • umarmen!«
  • »Sieh, Onißko, ich bin ja gar nicht böse,« sagte sie, indem sie ein
  • wenig von ihm abrückte und wieder ein fröhliches Gesicht machte;
  • »übrigens schien es mir so, als hättest du den Lehrer erwähnt.«
  • Da aber machte der Küchenmeister ein recht kümmerliches Gesicht, das
  • mindestens um ein paar Zoll länger wurde als gewöhnlich. »Der Lehrer ...
  • Iwan Ossipowitsch soll das heißen ... Pfui Teufel noch einmal! Ich
  • verschlucke die Worte, noch ehe sie meinem Munde entschlüpfen können,
  • ganz als ob ich Gewürzbranntwein getrunken hätte. Der Lehrer ... Sieh
  • mal, was ich dir sagen will, mein Herz! Iwan Ossipowitsch hat sich so in
  • dich verknallt, daß ... nun ... wie sich's halt nicht wiedergeben läßt.
  • Er grämt und härmt sich ab wie die selige braune Stute, die der Herr dem
  • Juden abgekauft hat und die einen Herzschlag bekam und krepierte. Was
  • soll man da machen? Der arme Mensch tat mir leid, und da bin ich halt
  • aufs Geratewohl hergekommen, um mich für ihn zu verwenden.«
  • »Da hast du einen schönen Auftrag übernommen,« unterbrach ihn Katerina
  • ein wenig ärgerlich. »Bist du etwa sein Brautwerber oder sein
  • Verwandter? Ich würde dir doch raten, alle Landstreicher aus dem Dorfe
  • in die Küche zu laden und selbst betteln zu gehen und vor den Fenstern
  • um Almosen für sie zu bitten.«
  • »Das ist schon ganz richtig; indes, ich weiß wohl, daß es dich freut,
  • und sogar sehr freut, daß der Lehrer auf den Einfall gekommen ist, dir
  • nachzulaufen.«
  • »Das sollte mich freuen? Hör' mal, Onißko: wenn du das sagst, um dich
  • über mich lustig zu machen, so wirst du wenig Nutzen davon haben. Du
  • solltest dich schämen, ein armes Mädchen schlecht zu machen! Wenn du
  • aber _wirklich_ so denkst, so bist du wahrhaftig der dümmste Mensch im
  • ganzen Dorfe. Gottlob, ich bin noch nicht blind, Gott sei Dank, bin ich
  • noch bei Verstande ... Aber das hast du sicherlich nicht umsonst gesagt:
  • ich weiß wohl, etwas anderes hat dich dazu veranlaßt. Du hast wohl
  • geglaubt ... Nein, du bist ein schlechter Mensch.«
  • Bei diesen Worten wischte sie sich mit dem gestickten Hemdärmel eine
  • Träne aus dem Gesicht, die plötzlich in ihrem Auge aufblitzte und ihr
  • über die glühende Wange rollte, wie eine Sternschnuppe den warmen
  • Abendhimmel hinunterschießt.
  • -- Hol' der Teufel alle Lehrer der Welt! dachte Onißko bei sich, indem
  • er das glühende Gesicht Katerinas betrachtete, auf dem das Lächeln von
  • vorhin lange Zeit mit dem Ärger kämpfte, um ihn schließlich gänzlich zu
  • verscheuchen.
  • »Der Donner treffe mich hier auf der Stelle!« rief er endlich aus, da er
  • seine innere Erregung nicht mehr unterdrücken konnte, und umfaßte ihre
  • rundliche Taille. »Der Donner treffe mich, wenn es mich nicht ebenso
  • freut, daß du Iwan Ossipowitsch nicht liebst, wie den alten Browko, wenn
  • ich ihm sein Spülwasser bringe.«
  • »Wirklich, auch ein Grund, sich zu freuen! Du wirst wohl noch mehr
  • grinsen, wenn du erfährst, daß fast alle Mädchen im Dorf dasselbe
  • sagen.«
  • »Nein, sag' das nicht, Katerina. Die Mädchen haben ihn lieb. Neulich
  • gingen wir beide zusammen durch das Dorf, da steckten sie fortwährend
  • ihre Köpfe über den Zaun, wie Frösche aus dem Sumpfe. Wir guckten nach
  • rechts -- da waren sie schon wieder verschwunden, aber zur Linken, da
  • streckte wieder eine andere ihr Köpfchen vor. Doch hol' sie der Teufel
  • alle mitsamt dem Lehrer! Ich gäbe ein Viertel vom besten Branntwein
  • dritter Güte dafür, wenn ich von dir erfahren könnte, Katerina, ob du
  • mich auch nur für einen Groschen liebhast?«
  • »Ich weiß nicht, ob ich dich liebe; ich weiß nur, daß ich um alles in
  • der Welt keinen Trunkenbold heiraten möchte. Wer mag mit so einem
  • zusammenleben? Wie traurig ist das Los einer Familie, aus der solch ein
  • Mensch stammt; man mag gar nicht in die Hütte hineinschauen: da gibt's
  • nichts zu sehen als Armut und Elend, die Kinder hungern und weinen.
  • Nein, nein, nein! Gott behüte! Mich schaudert's schon beim bloßen
  • Gedanken daran! ...«
  • Und Katerina warf ihm einen langen, tiefdringenden Blick zu. Gebeugten
  • Hauptes und wie ein Verdammter saß der Küchenmeister in seine
  • Vergangenheit versunken da. Schwere Gedanken, Ausgeburten geheimer
  • Gewissensnöte, gruben tiefe Spuren in sein Gesicht und bewiesen
  • deutlich, daß ihm nicht allzu heiter zumute war. Der durchbohrende Blick
  • Katerinas schien sein ganzes Innere zu versengen und brachte alle
  • ungestümen, wilden Streiche ans Licht, die in einer langen, nie endenden
  • Reihe an ihm vorüberzogen.
  • »Wahrhaftig, was bin ich für ein Mensch? Wer mag mit mir leben? Ich
  • liege bloß meinem Pan auf dem Halse. Habe ich bisher etwas getan, wofür
  • mir ein guter Mensch gedankt hätte? Ich habe nur immer gebummelt und
  • gebummelt! Und habe ich auch nur einmal so gebummelt, daß Herz und Seele
  • sich dabei wohl fühlten? Man betrinkt sich wie ein Hund und wird wieder
  • nüchtern wie ein Hund, wenn andere einem nicht in noch peinlicherer
  • Weise den Rausch austreiben. Nein, hol's der Teufel ... es ist ein
  • Hundeleben, das ich führe!«
  • Die schöne Katerina schien seine philosophischen Betrachtungen, die er
  • bei sich selbst anstellte, zu erraten; sie legte ihm ihr braunes
  • Händchen auf die Schulter und murmelte halblaut: »Nicht wahr, Onißko, du
  • wirst nie mehr trinken.«
  • »Nie wieder, mein Herzchen, nie wieder! Mag kommen, was da will! Für
  • dich könnte ich alles tun.«
  • Das Mädchen sah ihn gerührt an, und der Küchenmeister schloß sie
  • begeistert in seine Arme und bedachte sie mit einem wahren Hagelschauer
  • von Küssen, wie ihn der ruhige und gemütliche Gemüsegarten schon lange
  • nicht erlebt hatte.
  • Kaum aber hatte der Laut der verliebten Küsse die Luft erschüttert, als
  • eine helle, durchdringende Stimme furchtbarer als das Grollen des
  • Donners das Ohr des sich zärtlich liebkosenden Paares traf. Der
  • Küchenmeister sah auf und erblickte zu seinem Entsetzen die auf dem
  • Zaune stehende Ssimonicha.
  • »Herrlich, vortrefflich! Feine junge Leute das! Bei uns im Dorfe weiß
  • man noch nicht, wie Burschen und Mädel sich küssen, wenn der Vater nicht
  • zu Hause ist! Herrlich! Das ist mir ein nettes Mandrykowsches Lämmchen!
  • Man sage nun noch, das Sprichwort: >Stille Wasser sind tief< lüge. So
  • also treibt man's. Solche Streiche macht ihr! ...«
  • Mit Tränen im Auge mußte sich das schöne Mädchen in die Hütte
  • zurückbegeben, wußte sie doch, daß sie den giftigen Reden der
  • Schenkenbesitzerin nicht anders entgehen konnte.
  • »Wenn dir doch jemand ein Schloß vor den Mund hängte, alte Hexe!« sagte
  • der Küchenmeister. »Was geht denn dich das an?«
  • »Was mich das angeht?« fuhr die unermüdliche Schankwirtin fort. »Das ist
  • noch schöner! Die Burschen machen sich einen Spaß draus, über den Zaun
  • und in fremde Gärten zu klettern, die Mädchen locken die Burschen zu
  • sich herein -- und das sollte mich nichts angehen! Sie liebäugeln und
  • küssen sich -- und das sollte mich nichts kümmern! Hast du's gehört,
  • Karno?« schrie sie plötzlich auf, indem sie sich schnell umdrehte und an
  • einen vorübergehenden Bauern wandte, der, ohne auf etwas zu achten, mit
  • einer langen Rute fuchtelnd, daherkam, gefolgt von einer ebenso langsam
  • einherschreitenden Kuh. »Hast du's gehört? Steh doch einen Augenblick
  • still. Was das für eine Geschichte ist! Charjkas Tochter ...«
  • »Pfui Teufel!« schrie der Küchenmeister, indem er zur Seite spuckte und
  • völlig die Geduld verlor. »Der Teufel selbst hat sich vermummt und die
  • Gestalt dieses Weibes angenommen. Warte nur, Hexe! Ich werde schon
  • Gelegenheit finden, dir's heimzuzahlen!«
  • Und der Küchenmeister setzte seinen Fuß auf den Zaun und war einen
  • Augenblick später im Garten des Herrn.
  • Es war nicht mehr sehr früh, als er in die Küche zurückkehrte und sich
  • an die Zubereitung des Abendessens machte. Allein die große
  • Zerstreutheit, die er bei jeder Gelegenheit an den Tag legte, konnte
  • Jewdocha nicht entgehen. Mehrfach goß der Küchenmeister Essig in den mit
  • sauerem Rahm versetzten Brei oder er spießte mit wichtiger Miene die
  • Mütze auf den Bratenwender und wollte sie an Stelle eines Huhns braten.
  • Während des Abendessens konnte Anna Iwanowna durchaus nicht verstehen,
  • warum der Brei so unglaublich sauer und die Sauce so versalzen war, daß
  • man sie absolut nicht in den Mund nehmen konnte. Nur mit Rücksicht auf
  • die Mühen, denen er sich an jenem Tage unterzogen hatte, ließ man den
  • Küchenmeister in Ruhe; zu einer anderen Zeit wäre unser Held nicht so
  • leichten Kaufes davongekommen.
  • »Nein, Herr Lehrer!« murmelte er, indem er sich auf seine hölzerne
  • Pritsche streckte und sich seinen Kittel unter den Kopf legte, »die
  • Katerina bekommen Sie ebensowenig zu sehen wie Ihre Ohren!« Und nachdem
  • er seinen Kopf in den Kittel vergraben hatte, wie eine Gans eigener
  • Zucht, versank er in Sinnen, um bald darauf einzuschlummern.
  • Das Weib
  • »Ausgeburt der Hölle! Olympier Zeus! Oh, du bist unerbittlich in deinem
  • Zorne. Du wolltest der Welt eine Geisel schicken, du nahmst alles Gift,
  • das unmerklich die Adern deiner herrlichen Welt durchdringt,
  • verdichtetest es zu einem einzigen Tropfen, schleudertest ihn mit deiner
  • lichtspendenden Rechten zürnend hinunter und vergiftetest mit ihm deine
  • wundersame Schöpfung: du schufst das Weib! Du beneidetest uns und unser
  • armseliges Glück: du wolltest nicht, daß der Mensch ewige Segenswünsche
  • aus den Gründen seines dankbaren Herzens zu dir emporsteigen ließ:
  • lieber mochten Flüche aus seinem ruchlosen Munde hervorzucken ... Du
  • schufst das Weib.«
  • So sprach Telekles, ein junger Schüler des Platon, indem er vor seinen
  • Lehrer trat. Seine Augen sprühten Blitze; auf seinen Wangen wütete ein
  • Feuer, und die zitternden Lippen kündeten von wilden Stürmen einer
  • zerrissenen Seele. Seine Hand drängte zornig die purpurnen Wellen seines
  • weichen Gewandes zurück, und die geöffnete Schnalle fiel nachlässig auf
  • die jugendliche Brust des Jünglings herab.
  • »Wie, mein göttlicher Lehrer? Warst du es nicht, der es in einem
  • göttergleichen himmlischen Gewande vor uns erstehen ließ? War es nicht
  • dein Wohllaut ausströmender Mund, der so wunderbare Worte zum Preis
  • ihrer milden Schönheit zu sagen wußte? Hast du uns nicht gelehrt, so
  • glühend, so wesenlos zu verehren? Nein, mein Lehrer, deine göttliche
  • Weisheit ist noch ein Kind, das nichts ahnt von den unendlichen
  • Abgründen des arglistigen Herzens. Nein, nein, nicht einmal der Schatten
  • einer bitteren Erfahrung hat deine heiteren Gedanken gestreift, du
  • kennst das Weib nicht.«
  • Glühende Tränen entströmten seinen Augen; er verhüllte sein Haupt mit
  • dem Mantel, verbarg sein Antlitz in den Händen und lehnte sich an die
  • Marmorsäule mit dem herrlichen, reichverzierten korinthischen Kapitäl,
  • das von flimmernden Strahlen besonnt wurde. Ein tiefer schwerer Seufzer
  • entrang sich der Brust des Jünglings, wie wenn alle verborgenen Nerven
  • seines Wesens, alle Gefühle und alles, was das Innere des Menschen
  • ausfüllt, in schmerzlichen Klagelauten aufstöhnte, und diese Klagelaute
  • gingen wie eine Erschütterung durch seinen ganzen Körper, und seine
  • ganze körperliche Natur, soweit sie den Sinnen erfaßbar ist, verwandelte
  • sich, unfähig die ewigen, nie endenden Qualen der Seele auszusprechen,
  • in eine einzige schmerzliche Klage.
  • Der hohe Lehrer der Weisheit betrachtete ihn stumm, und sein Gesicht
  • spiegelte alle seine erhabenen Gedanken, die er gedacht hatte und die
  • ihre Spuren auf ihm hinterlassen hatten. So will die Erinnerung an ein
  • herrliches Traumbild noch lange nicht weichen und mischt sich mit dem
  • Aufleuchten neuer Gedanken, solange der Mensch noch nicht in die Welt
  • der Wirklichkeit untergetaucht ist. Das Licht floß wie ein mächtiger,
  • wundervoller Wasserfall durch eine kühne Öffnung in der Kuppel auf den
  • Weisen hinab und überschüttete ihn mit seinem strahlenden Glanz, und
  • jeder Zug seines beseelten Angesichts schien von hohen Gedanken und
  • Gefühlen zu künden.
  • »Kannst du denn auch lieben, Telekles?« fragte er ihn mit ruhiger
  • Stimme.
  • »Ob ich lieben kann!« fiel der Jüngling rasch ein, »frag' doch den Zeus,
  • ob er durch ein Runzeln seiner Augenbrauen die Erde zu erschüttern
  • vermag. Frag' Phidias, ob er Gefühle im kalten Marmor entzünden und dem
  • toten Block Leben einhauchen kann. Wenn in meinen Adern kein Blut
  • siedet, sondern eine heiße Flamme wütet, wenn alle meine Gefühle, alle
  • meine Gedanken, wenn ich selbst mich ganz in Töne verwandle, wenn diese
  • Töne in mir glühen und meine Seele nichts wie Liebe tönt, wenn meine
  • Rede ein Sturm und mein Atem -- Feuer ist! Nein, nein, ich verstehe es
  • nicht, zu lieben! So sage mir doch, wo dieser Sterbliche, wo dieser
  • wundersame Mensch zu finden ist, der dies Gefühl sein eigen nennt? Hat
  • am Ende gar die weise Pythia dies Wunder unter den Menschen entdeckt?«
  • »Armer Jüngling! Das also nennen die Menschen Liebe! Das ist das
  • Schicksal, das diesem sanften Geschöpf bereitet wird, in dem die Götter
  • die Schönheit zum Ausdruck bringen, in dem sie der Welt das Gute zum
  • Geschenk machen, durch das sie ihre Anwesenheit hier auf Erden beweisen
  • wollten! Armer Jüngling! Du hättest dieses sanfte Wesen mit deinem
  • glühenden Atem versengt, du hättest dieses reine Leuchten durch einen
  • Sturm von Leidenschaft getrübt und in Aufruhr versetzt! Ich weiß, du
  • willst mit vom Verrat der Alkinoe sprechen. Deine Augen waren selbst
  • Zeugen ... aber waren sie auch Zeugen deiner eigenen wilden Regungen,
  • die deine Seele zu jener Zeit in ihren Tiefen bewegten? Hast du dich
  • auch im voraus geprüft? Glühte vielleicht der ganze wilde Aufruhr deiner
  • Leidenschaften in deinem Auge? Und wann haben je die Leidenschaften die
  • Wahrheit erkannt? Was wollen die Menschen? Sie dürsten nach ewiger
  • Seligkeit, nach einem nie endenden Glück, und ein kurzer, flüchtiger
  • Schmerz genügt schon, damit sie gleich Kindern das ganze, langsam
  • errichtete Gebäude zerstören! Aber mag die Wahrheit selbst mit deinen
  • Augen gesehen haben, mag es doch richtig sein, daß die schöne Alkinoe
  • sich mit arglistigem Verrate befleckt hat. Frage deine Seele: was warst
  • du, und was war _sie_ zu jener Zeit, als du Leben, Glück und ein Meer
  • von Seligkeiten in den Umarmungen Alkinoes fandest? Blättere die
  • flammenden Seiten deines Lebens um, meinst du, du wirst auch nur eine
  • Seite finden, die beredter, die göttlicher ist als jene? Wolltest du
  • alle kostbaren Edelsteine der persischen Könige oder alles Gold Libyens
  • für jene himmlischen Augenblicke eintauschen? Ja, was sind selbst die
  • höchsten Ehren in Athen und die höchste Gewalt im Volke im Vergleich zu
  • ihnen? Und ein Wesen, das wie Prometheus alles Schöne, das es den
  • Göttern raubte, dir zum Geschenk darbrachte, den Himmel mit seinen
  • heiteren Himmelsbewohnern in deine Seele senkte -- willst du mit deinem
  • verbrecherischen Fluche treffen, wo doch dein ganzes Leben ein einziges
  • Gefühl der Dankbarkeit sein sollte, wo du Tränen der Rührung vergießen
  • und dem Lebenspender Zeus zarte Hymnen singen solltest, auf daß er ihr
  • ein langes Leben schenken und die Wolken des Kummers von ihrem heiteren
  • Haupte verscheuchen möge.
  • »Betrachte dich mit prüfendem Auge: was warst du früher und was bist du
  • jetzt, seit du die Ewigkeit in Alkinoes göttlichen Zügen entdeckt hast:
  • wieviel neue Geheimnisse, wieviel neue Offenbarungen fandest und
  • enträtseltest du mit deiner unendlichen Seele und um wieviel näher kamst
  • du dem höchsten Gute! Wir reifen und werden vollkommener; aber wann?
  • Wenn wir das Weib tiefer und gründlicher verstehen lernen. Denk an die
  • üppigen Perser: sie haben ihre Frauen zu Sklavinnen gemacht, und was ist
  • das Ergebnis? Sie haben kein Verständnis für das Gefühl des Schönen --
  • dieses unendliche Meer geistiger Genüsse. Kein Funke schlägt aus ihrem
  • Herzen empor beim Anblick der Göttin des Praxiteles; ihre Seele spricht
  • nicht begeisterungsvoll mit der unsterblichen Seele des Marmors, und
  • kein verständnisvoller Laut tönt ihr aus ihm entgegen. Was ist das Weib?
  • -- Die Sprache der Götter. Wir wundern uns über das milde heitere Haupt
  • des Mannes; aber wir glauben nicht das Ebenbild der Götter in ihm zu
  • sehen; das sehen wir im Weibe und bewundern es im Weibe, und in ihm erst
  • bewundern wir die Götter. Sie ist die Poesie! sie ist der Gedanke, wir
  • dagegen sind bloß seine Verkörperung in der Wirklichkeit. Der Eindruck
  • von ihr glüht in unserer Seele, und je stärker und je umfassender und
  • größer die Wirkung ist, die er auf uns ausübt, um so edler und schöner
  • werden wir. Solange das Bild noch im Kopfe des Künstlers weilt, sich
  • unkörperlich in ihm formt und gestaltet, ist es -- ein Weib; sobald es
  • sich materialisiert und greifbare Gestalt annimmt, wird es zum -- Manne.
  • Warum strebt aber dann der Künstler mit so unersättlicher Begierde
  • danach, seine unsterbliche Idee in grobe Materie zu verwandeln und sie
  • unseren gemeinen Sinneswerkzeugen zu unterwerfen? Weil er von den hohen
  • Gefühlen geleitet wird -- von dem Wunsche, die Gottheit der Materie
  • einzuverleiben und den Menschen wenigstens einen Teil von der
  • unendlichen Welt seines Inneren zugänglich zu machen, d. h. das Weib im
  • Manne zu verkörpern. Und wenn das Auge eines Jünglings, dessen Herz
  • glühend und verständnisvoll für die Kunst schlägt, zufällig auf das
  • unsterbliche Bild des Künstlers fällt, -- was sucht es, was ergreift es
  • in ihm? Sieht es etwa die Materie in ihm? Nein, sie verschwindet, und er
  • erblickt die grenzenlose, unendliche, unkörperliche Idee des Künstlers
  • vor sich. Wie erklingen da die Saiten seiner Seele, welch lebendige
  • Lieder ertönen in seinem Inneren! Wie deutlich und lebendig spricht, wie
  • auf den Ruf der Heimat, das Vergangene, das unwiederbringlich dahin ist,
  • und die unabwendliche Zukunft in ihm! Wie unkörperlich umarmt seine
  • Seele die göttliche Seele des Künstlers! Wie verschmelzen ihre Geister
  • in einem unaussprechlichen Kusse der Seelen! Was wären die hohen
  • Tugenden des Mannes, wenn sie nicht geschmückt und nicht geformt würden
  • durch die milden sanften Tugenden des Weibes? Sein Mut, seine
  • Festigkeit, seine stolze Verachtung des Lasters würden sich in Barbarei
  • verwandeln. Raube der Welt das Licht -- und die bunte Vielfältigkeit der
  • Farben fällt dahin; Himmel und Erde verschwimmen und gehen in der
  • Finsternis unter, die noch dunkler ist als die Gestade des Hades. Was
  • ist die Liebe? -- Die Heimat der Seele, die hehre Sehnsucht des Menschen
  • nach der Vergangenheit, in der der reine Ursprung seines Lebens
  • verborgen liegt, wo alles noch den unaussprechlichen, unverwischbaren
  • Stempel kindlicher Unschuld trägt und wo uns alles heimatlich berührt.
  • Und wenn die Seele versinkt im ätherischen Schoße der weiblichen Seele,
  • wenn sie in ihr ihren Vater -- den ewigen Gott -- und ihre Brüder, d. h.
  • Gefühle und Erscheinungen, die keines irdischen Ausdruckes fähig sind,
  • findet -- was geschieht dann mit ihr? Dann tönen in ihr die alten Klänge
  • wider, dann gedenkt sie des früheren paradiesischen Lebens am Busen
  • Gottes, und sie setzt es fort bis in die Unendlichkeit.«
  • Das begeisterte Auge des Weisen blickte starr und unbeweglich vor sich
  • hin: vor ihnen stand Alkinoe, die während ihres Gespräches unbemerkt
  • eingetreten war. Auf ein Götterbild gestützt, schien sie völlig in
  • stumme Aufmerksamkeit versunken, und ihr herrliches Gesicht belebte
  • häufig ganz plötzlich der Ausdruck einer göttlichen Seele. Die
  • marmorweiße Hand, durch die die blauen, von himmlischer Ambrosia
  • durchfluteten Adern hindurchschienen, schwebte frei in der Luft; der
  • schlanke, von den purpurroten Bändern des Beinharnischs umschlungene
  • Fuß, den sie einen Schritt vorgesetzt hatte, hatte die neidische Hülle
  • abgestreift und schien kaum die niedrige Erde zu berühren; der hohe
  • göttliche Busen wogte, gespannt von unruhigen Seufzern, auf und ab, und
  • das Gewand, das die beiden durchsichtigen Wolken des Busens nur halb
  • verdeckte, bebte und fiel in herrlichen malerischen Linien auf den
  • Fußboden herab. Es schien, als ob der dünne lichte Äther, in dem sich
  • die Himmelsbewohner baden, durchflutet von einer rosigen und bläulichen
  • Flamme, die sich in unendlichen, in tausend Farben spielenden Strahlen
  • zerstreut, für die es auf Erden keine Namen gibt, und in denen ein
  • duftenden Meer eines unbegreiflichen Wohllautes wogt -- es schien, als
  • ob dieser Äther sichtbare Form angenommen hätte und, indem er nun vor
  • ihnen schwebte, die herrliche Gestalt des Menschen noch verklärte und
  • vergöttlichte. Die nachlässig zurückgeworfenen Locken umdrängten schwarz
  • wie die dunkle beseelte Nacht ihre lilienreine Stirn und fielen in
  • dunklen Kaskaden auf die leuchtenden Schultern herab. Die Blitze, die
  • ihren Augen entsprühten, schienen ihre ganze Seele zu offenbaren. Nein,
  • selbst die Königin der Liebe war nie so schön, nicht einmal in dem
  • Augenblick, als sie so wunderbar dem Schaum der jungfräulichen Wellen
  • entstieg.
  • Erstaunt und in ehrfurchtsvoller Andacht warf sich der Jüngling der
  • stolzen Schönen zu Füßen, und eine heiße Träne, die dem Auge der sich
  • über ihn beugenden Halbgöttin entstieg, tropfte auf seine brennenden
  • Wangen.
  • Fragmente
  • Gedichte und poetische Versuche
  • Sturm
  • »Warum so trüb?« -- »Einst war ich heiter,«
  • Sag' ich zu meiner Lust Genossen.
  • »Ich hab' mein Herz dem Schmerz erschlossen;
  • Die Freude starb: ich lebe weiter.
  • Jung war ich, und mein heller Blick
  • hat Trauer nicht und Mißgeschick
  • Gekannt; jetzt welkt die Jugend hin,
  • Stirbt wie der Herbst, und ich verblute
  • Gleich ihm. Nie wird mir froh zumute.
  • Die Freude lockt nicht meinen Sinn.«
  • Die Freunde lachen: »Was du nur
  • Zu weinen hast! Das Wetter ist
  • So heiter klar, und die Natur
  • Nicht halb so trüb, wie du es bist.«
  • Und ich: »Mir gilt das alles nichts.
  • Ob Tag zu Tag und Jahr sich türmt,
  • Ob's hell, ob's dunkel ist, was ficht's
  • Mich an, wenn mir's im Herzen stürmt.« --
  • Albumblatt
  • Das Licht verliert im Auge des Träumers schnell seine Wärme. Er findet
  • die Hoffnungen, die ihn belebten, unerfüllt, seine Erwartungen
  • unbefriedigt, und die Glut des Genießens verraucht in seinem Herzen ...
  • Er befindet sich in einem Zustande der Starrheit und Leblosigkeit. Wie
  • glücklich ist er, wenn er den Wert der Erinnerungen vergangener Tage
  • erkennt: der Tage einer glücklichen Kindheit, da er die keimenden
  • Zukunftsträume von sich warf und seine Freunde verließ, die ihm von
  • ganzem Herzen ergeben waren.
  • Hans Küchelgarten
  • Eine Idylle
  • in ** Bildern
  • von
  • W. Alow
  • 1827
  • Deutsch von Ulrich Steindorff
  • Das vorliegende Werk hätte nie das Licht der Welt erblickt, wenn nicht
  • besondere Umstände, die nur für den Verfasser von Bedeutung sind, die
  • Veranlassung dazu gegeben hätten. Dies Werk ist eine Frucht seiner
  • achtzehnjährigen Jugend. Wir haben nicht die Absicht, hier ein Urteil
  • über die Vorzüge oder Mängel dieser Dichtung abzugeben -- das überlassen
  • wir dem Publikum -- wir wollen nur bemerken, daß viele von den Bildern
  • dieser Idylle leider verloren gegangen sind; sie haben wahrscheinlich
  • das Band zwischen den nun unverbunden dastehenden Teilen gebildet und
  • die Zeichnung des im Mittelpunkt stehenden Charakters vollendet. Wir
  • rechnen es uns indessen zum Verdienst an, daß wir dem Publikum, soweit
  • dies möglich war, Gelegenheit gaben, das Werk eines jungen Talentes
  • kennen zu lernen.
  • Erstes Bild
  • Es tagt. Das Dorf taucht aus dem Dämmerdunst
  • Mit seinen Häusern, seinen Gärten. Alles liegt
  • In hellem Licht. Der Glockenturm erglänzt
  • Wie lauter Gold, und auf dem alten Zaun
  • Tanzt froh ein Sonnenstrahl. Die Silberflut
  • Gleicht einem Zauberspiegel, der getreu
  • Das Konterfei von Zaun und Gärtchen gibt.
  • Und nichts hält Ruhe in dem Silberspiegel.
  • Blau wölbt der Himmel sich; die Wolken ziehn
  • Wie Wellen hin, und flüsternd rauscht der Wald.
  • Dort, wo das Ufer weit ins Meer sich wagt,
  • Da steht behaglich unter Lindenschatten
  • Ein Pfarrhaus, schon jahrzehntelang bewohnt
  • Von seinem greisen Herrn und arg verfallen.
  • Das Dach geworfen und der Schornstein schwarz,
  • Von blüh'ndem Moos bedeckt das Mauerwerk;
  • Die Fenster windschief. Aber immer ist
  • Das Häuschen traulich nett. Um keinen Preis
  • Der Welt wär' es dem Alten feil. -- Dort steht
  • Die Linde, sein geliebter Ruheplatz.
  • Auch sie ist alt. Doch Jugendfrische weht
  • Rings von den Rosenbäumen. Vögel nisten
  • In ihrem Dunkel und erfüllen Garten
  • Und Haus mit ihrer Lieder frohem Schall.
  • -- Weil ihn der Schlaf die ganze Nacht gemieden,
  • Ging schon vorm Morgengraun der Pfarrer, hier
  • Ein wenig in der Frische noch zu schlummern.
  • Im alten Lehnstuhl unterm Lindendach
  • Schläft er. Der sanfte Wind kühlt sein Gesicht
  • Und spielt voll Keckheit mit den grauen Haaren.
  • Wer ist die Schöne, die mit Blicken
  • Ihm naht, in denen alle Glut,
  • Des Morgens ganze Frische ruht,
  • Und vor ihn tritt? Welch ein Entzücken,
  • Wie sie mit lilienweißer Hand
  • Ihn sanft berührt, um ihn zu wecken,
  • Bemüht, ihn ja nicht zu erschrecken.
  • Doch eh' er aus dem Schlaf sich fand
  • Zur Welt, sprach er, die Lider kaum
  • Geöffnet, leise wie im Traum:
  • »Du wunder-, wunderbarer Gast,
  • Der du mein Heim besuchet hast,
  • Warum füllt Kummer mich und schwillt
  • Durch meine Seele. Was bewegt
  • Mich Greisen denn dein Engelsbild
  • So tief, so seltsam tief, und regt
  • Den Sinn mir auf? Sieh mich und schilt,
  • Schilt nicht: mein Leib ist schwach und alt
  • Und allem, was da lebt, längst kalt.
  • Seit ich mich tot in mir verscharrte,
  • Ist's Ruhe nur, auf die ich warte,
  • Die ich begehre immerfort.
  • Ihr gilt mein Denken, gilt mein Wort.
  • Und nun kommst du, du Junge, mir
  • Zu Gaste, lockst mich heiß zu dir?
  • Ach nein, aus deinem lichten Munde
  • Flammt einer neuen Hoffnung Kunde.
  • Rufst du zum Himmel mich? Zur Stunde
  • Bin ich bereit. Allein mir fehlt
  • Die Würde. Meine Sündenlast
  • Ist groß. Ich war in dieser Welt
  • Ein arger Streiter und gehaßt
  • Von Hirt und Herde. Grausamkeit
  • War mir nicht fremd. Allein ich schwor
  • Den Teufel ab, und ich verlor
  • Zur Buße keinen Tag, allzeit
  • Entsühnend die Vergangenheit.«
  • Voll schwerer Sorge und verwirrt
  • Fragt sie sich bang: »Soll ich's ihm sagen, --
  • Wer weiß, wohin die Träume ihn verschlagen, --
  • Sag' ich ihm, daß er phantasiert?«
  • Doch Nebel des Vergessens hängt
  • Um ihn, den neuer Schlaf umfängt.
  • Sie neigt sich über ihn, verstohlen.
  • Wie sanft er schläft, wie still er ruht!
  • Kaum merklich hebt beim Atemholen
  • Die Brust sich. Licht in Ätherflut
  • Hält ihn ein Engel in der Hut,
  • Und paradiesisch Lächeln flicht
  • Sich leuchtend um sein Angesicht.
  • Nun öffnet er die Augen: »Wer,
  • Wer ist's? -- Luise? -- Seltsam, ach;
  • Mir träumte -- --, du, wo kommst du her?
  • Bist, Wildfang, du so früh schon wach?
  • Noch liegt der Tau. -- Es nebelt schwer.« --
  • »Großvater, nein, 's ist hell und klar.
  • Im Walde blitzt das Sonnenlicht.
  • Und schon am frühsten Morgen war
  • Es heiß wie jetzt. Es regt sich nicht
  • Ein Blatt. -- Weißt du, warum ich kam?
  • Es gibt ein Fest. Wir feiern heut.
  • Der alte Geiger Lodelham
  • Und auch der Fritz sind längst bereit.
  • Erst kommt die Kahnfahrt bis zur Mittagszeit
  • Und dann -- --; ach, wenn nur Hans -- --!« Den Greis
  • Umspielt ein weises Lächeln. Still
  • Hört er, was sie erzählen will,
  • Das sorglos junge Blut. »Ich weiß,
  • Großväterchen, nur du hast Macht,
  • Ein bitter großes Weh zu bannen.
  • Mein Hans ist krank. Bald in der Nacht
  • Und bald am Tag schleicht er von dannen
  • Zum dunklen Meer. Nichts ist ihm recht,
  • Nichts freut ihn mehr. Wenn man ihn fragt,
  • Dann hört er gar nicht, was man sagt.
  • Er spricht nur mit sich selbst. So schlecht,
  • So elend sieht er aus. Wenn ihn sein Schmerz
  • Noch lange quält, geht er zugrund.
  • >Zugrund<, wie zittert, wenn mein Mund
  • Das harte Wort gebraucht, mein Herz.
  • Meinst du, daß er vielleicht mit mir
  • Nicht mehr zufrieden ist, daß er
  • Mich nicht mehr liebt? Das träfe schwer
  • Und hart wie Stahl mein Herz. Sag's mir,
  • Du Engelsguter!« -- Und sie schlang
  • Die Arme fest um ihn. Kaum ging
  • Ihr Atem, als sie an ihm hing
  • In ihrer Liebe so verwirrt und bang.
  • Als sich die Träne ihr ins Auge stahl,
  • Wie war sie schön in ihrer Qual.
  • »Gib Ruh', mein Kind, nicht weinen, nein.
  • Schämst du dich nicht?« Der Pfarrer mühte
  • Sich tröstend um sie. »Gottes Güte
  • Wird dir Geduld und Kraft verleihn.
  • Wenn du ihn innig bittest, wirst
  • Du auch bei ihm Erhörung finden.
  • Hans lebt ja nur für dich. Du irrst.
  • Du mußt die Zweifel überwinden.
  • Du darfst dir nicht mit solchen leeren
  • Gedanken deine Ruhe stören.« -- --
  • Und als er noch der weinenden Luise
  • Zuspricht, die an die welke Brust sich lehnt,
  • Da bringt die alte Gertrud schon den Kaffee,
  • Den heißen, bernsteinklaren, den der Greis
  • So gern im Freien nahm. Er liebte es,
  • Die Weichselpfeife dann dabei zu rauchen.
  • So stieg denn bald der Rauch in klaren Ringen.
  • Luise fütterte gedankenschwer
  • Den Kater, der mit lautem Schnurren,
  • Vom süßen Duft gelockt, sie lang umstrichen.
  • Der Greis erhob sich vom geblümten Sessel
  • Aus Väterzeit, sprach sein Gebet und drückte
  • Der Enkelin die Hand. Dann zog er sich
  • Den sonntäglichen, taftnen Schlafrock an,
  • Den silberschimmernden, und nahm das Käppchen,
  • Das Hans ihm kürzlich aus der Stadt gebracht
  • Und ihm geschenkt. So ging er denn gemächlich,
  • Sich auf Luisens weiße Schulter stützend, --
  • Hell schlug der Sang der Lerchen himmelwärts --
  • Ins Feld hinaus. -- Wie herrlich war der Tag!
  • Es ließ ein Wind das Gold der Felder wogen,
  • Das, überragt von dichten, früchteprangenden
  • Laubkronen, in der Sonne flimmerte.
  • Fern dunkelten die grünen Wälder.
  • Dem regenbogenfarbnen Sommerdunst
  • Entströmten Fluten wundersamster Düfte.
  • Die Bienen waren fleißig unterwegs
  • Und sogen Honig aus den jungen Blüten.
  • Die Grillen zirpten froh. Und aus der Weite
  • Klang laut und lauter kräft'ger Rudersang.
  • Und lichter ward der Wald. Das Tal erschien.
  • Das frohe Schrein der Herden scholl herauf.
  • Tief in der Ferne sah man schon das Dach
  • Vom Haus Luisens winken, sah das Rot
  • Der Ziegel schimmern, wenn die Sonnenstrahlen
  • In keckem Tanzspiel blitzend es umhuschten. -- --
  • Zweites Bild
  • Noch ungeklärt sind die Gedanken,
  • Die Hans bewegen, und sein Blick
  • Sieht wirr die Welt des Lebens wanken
  • Und sucht sein künftiges Geschick. --
  • In stillem Frieden war die Zeit
  • Dem Tändelnden vorbeigeflossen;
  • Noch hatte keine Bitterkeit
  • Sich in der Seele Unschuld ihm gegossen.
  • Kind dieser Erdenwelt war er.
  • Doch ihrer Leidenschaften Brand
  • War seinem Herzen unbekannt.
  • Ganz sorglos war und leicht bisher
  • In Heiterkeit und Glück und Lust
  • Das Kind beim Spiel der Kinderschar.
  • Das Böse war noch seiner Brust
  • Ganz fremd. Ihm blühte wunderbar
  • Die Welt. -- Schon in der frühsten Zeit
  • Der Kindheit war sein Kamerad
  • Luise, deren Heiterkeit
  • Und Milde seinen Lebenspfad
  • Erhellt. Wenn sie im grünen Kleid
  • Zu tanzen anfing oder sang,
  • Dann schoß durchs blonde Ringelhaar
  • Manch Blitz, der zündend weitersprang.
  • Ihr rosa Miedertüchlein glitt
  • Herab. Man sah bei jedem Schritt
  • Das feine, zarte Füßchenpaar.
  • Sie war ein Kind, und kindlich war
  • Ihr Tun. -- Im Walde spielte sie
  • Mit ihm. Sie fingen sich. Dann lief
  • Sie fort, versteckte sich und schrie
  • Ihm plötzlich zu, daß er erschreckte.
  • Sie schwärzte heimlich, wenn er schlief,
  • Ihm sein Gesicht, und lachend weckte
  • Sie ihn dann aus dem süßen Schlafe.
  • Und er, er küßte sie zur Strafe. --
  • Und Lenz auf Lenz zog hin ins Land.
  • Die Spiele wollten nicht mehr taugen.
  • Die gegenseit'ge Keckheit schwand.
  • Es schwand das Feuer seiner Augen.
  • Und sie hält Traurigkeit gebannt
  • Und Schüchternheit. -- Ihr, junger Herzen
  • Verliebte, erste Worte, wart
  • Gekommen, und es blieben nicht erspart
  • Die Tage voller süßer Schmerzen.
  • Was blieb ihm denn zu wünschen weiter,
  • Wo er Luise bis zur Nacht,
  • Gefesselt wie von Zaubermacht,
  • Nicht ließ, ihr treuester Begleiter,
  • Ihr Schatten, wo sie ging und stand.
  • Mit innig tiefer Freude sahen
  • Die Eltern, wie das Glück sich fand,
  • Und sahen sich nicht satt. Die nahen,
  • Leidvollen, zweifelvollen Zeiten
  • hielt noch ein Engel sanft verhüllt den beiden. --
  • Doch allzubald befiel ein Schmerz,
  • Ein tiefer, ihn. Matt ward vor Gram
  • Sein Blick; er starrte himmelwärts
  • Und war ganz unstet, ach, und wundersam.
  • Es schien, als suchte stets sein Geist,
  • Als hegte er geheimen Groll.
  • Die Seele sehnte sich zumeist
  • Gedankenschwer und kummervoll. --
  • Er sitzt und schaut hinab vom Strand
  • Hinaus aufs Meer wie festgebannt.
  • Und wenn im Takt die Wellen rauschen,
  • Scheint einer Stimme er zu lauschen.
  • -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
  • Bald geht er grübelnd durch das Tal,
  • Die Augen feierlich voll Glanz,
  • Wenn bei der Wolken Wirbeltanz
  • Der Donner grollt, ein Feuerstrahl
  • Durchs Dunkel zuckt und wilder Regen
  • Heiß prasselt und mit einemmal
  • In Strömen rauscht auf allen Wegen.
  • Bald sitzt er in der Mitternacht
  • Vor alten Sagen auf und wacht
  • Und hofft, daß sich die Lettern regen
  • In ihrer Stummheit, wenn die Seiten
  • Er wendet, die so tiefe Kunde
  • Ihm bringen von den grauen Zeiten.
  • Ins Buch versunken manche Stunde,
  • Sitzt er und wendet kaum das Haupt.
  • Wer ihn in dieser schweren Not
  • Gesehn, der hätte fest geglaubt,
  • Die Zeit, da er gelebt, sei tot.
  • Gedanken, wunderbare, hatten
  • Mit ihrem Zauber ihn gebannt.
  • Er suchte dunkler Eichen Schatten
  • Auf seinem Weg durchs Sommerland.
  • Aus diesen tiefen Schatten sprach
  • Manch Rätsel, das er nicht verstand,
  • Und träumend streckte er die Hand
  • Liebkosend aus und griff darnach. --
  • Luise ist die ganze Zeit
  • Allein in ihrem tiefen Kummer.
  • Ihr Herz ist einzig ihm geweiht.
  • Sie findet nächtens keinen Schlummer
  • Und bringt die gleiche Zärtlichkeit
  • Ihm dennoch stets entgegen, hält
  • Die zarten Arme um ihn, küßt
  • Ihn sanft, daß er den Schmerz vergißt,
  • Bis er der Schwermut neu verfällt.
  • Schön sind die Stunden, wunderbar,
  • Wenn ferne Träume ihn umschweben
  • Und der Gesichte lichte Schar
  • Ihn fortträgt in ein andres Leben.
  • Doch, wenn der Seele Land zerstört,
  • Der stille Erdenfleck vergessen,
  • Der Scholle nicht sein Herz gehört,
  • Die schlichten Menschen er vermessen
  • Nicht achtet, werden Traumgestalten
  • Auch dann noch froh im Herzen walten? -- --
  • Indessen laßt sein unstet Wesen
  • Belauschen uns. Macht euch bereit,
  • Die Rätsel seines Geists zu lösen
  • In ihrer Mannigfaltigkeit. --
  • Drittes Bild
  • Du klassisch schöner Werke klassisch schönes Land!
  • Des Ruhmes und der Freiheit Land, Athen!
  • An dich, in wundersamer Gluten Wehn,
  • Ist meine Seele festgebannt.
  • Vom Tempel hoch bis hin zu des Piräus Mauern
  • Ergießen sich und wogen feierliche Massen.
  • Äschines' Worte blitzen, donnern und durchschauern,
  • Der Iliß Wassern gleich, und fassen
  • Gebietrisch alle wie der laute Sturm der Welle.
  • Gewaltig ragt empor die Marmorherrlichkeit
  • Der Parthenon, wo Säule sich an Säule reiht;
  • Empor Minerva, von des Phidias Stahl geweiht.
  • Und Zeuxis' wie Parrhasios' Pinsel strahlen Helle.
  • Im Portikus steht göttergleich ein Greis
  • Und redet weise von der andern Welt;
  • Sagt, wer für Tugend einst Unsterblichkeit erhält,
  • Wen Schande trifft und wen der Preis.
  • Horch! Rohes Tosen mischt sich in das Springbrunnrauschen.
  • Der Tag ist wach, und dem Theater voll Verlangen
  • Zu strömt das Volk. Wie Persiens Farben prangen!
  • Sieh, wie die Tuniken sich bauschen!
  • Noch eh' die Leidenschaft des Sophokles verklungen,
  • Schwirrt Kranz auf Kranz, von den Begeisterten geschwungen.
  • Von Epikurens Honigmund, dem liebgewohnten,
  • Enteilt sind Amors Diener, Krieger und Archonten,
  • Daß ihnen sich die hohe Wissenschaft enthülle,
  • Wie man Genüsse schlürft und trinkt des Lebens Fülle.
  • Aspasia kommt! Ihr Blick, vom Wimpernschwarz verbrämt,
  • Trifft einen Jüngling, und sein Atem stockt verschämt.
  • Wie heiß die Lippen sind! Wie loht der Rede Glut!
  • Die schwarzen, losen Locken fallen wie die Nacht
  • Auf ihrer Schultern Marmorpracht,
  • Auf ihre Brüste wie die Flut. --
  • Und jetzt? -- Tympane tosen und die Becher klirren.
  • Bacchantinnen in wilder Raserei, geschmückt
  • Mit Efeu, stürmen durch den heil'gen Hain in wirren,
  • Gehetzten Haufen. -- Wo? Wohin? -- Entrückt, entrückt.
  • Allein! -- Verschwunden ist der Chor.
  • Und Gram befällt mich neu und Wehe.
  • Stieg' doch vom Tal ein Faun empor;
  • Dräng' aus des Gartens dunkler Nähe
  • Mir einer Nymphe Sang ans Ohr!
  • Ihr Griechen, wunderbarlich habt
  • Die Welt mit Träumen ihr erfüllt,
  • In Zauber alles eingehüllt!
  • Heut ist sie ärmlich, grau, verschabt
  • Und wohl quadriert, mit Nichts begabt. -- --
  • * * * * *
  • Doch neue Träume kommen und heben
  • Und ziehen ihn lockend himmelan
  • Empor aus der Sorgen Ozean,
  • hinweg von allem kleinlichen Leben. --
  • Viertes Bild
  • Im Land, wo des Lebens Wunderquellen
  • Entspringen und strahlend rings alles erhellen;
  • Wo schwer die Nächte vom Ambraduft,
  • Von Lotossüße geschwängert die Luft;
  • Wo Räucherwerkwolken die Bläue durchfluten
  • Und Mangostans Früchte golden gluten;
  • Wo Kandahars Wiesengrund samten sich breitet;
  • Wo kühn sich ob allem der Himmel weitet
  • Und Blüten regnet in üppigem Glanz;
  • Wo Schwärme von Faltern auffunkeln im Tanz:
  • Dort sieht mein Blick eine Peri: versunken,
  • Nichts sehend, nichts hörend; traumestrunken.
  • Gleich Sonnen leuchtet ihr Augenpaar,
  • Wie Hemasagara funkelt ihr Haar.
  • Ihr Atem gleicht dem, den die Lilie haucht,
  • Wenn die Nacht den Garten in Schlummer taucht
  • Und im Wind ihre Seufzer von dannen schwingen;
  • Ihre Stimme den nächtlichen Ton von Syringen,
  • Dem silbernen Tone, wenn Israfil
  • Die Flügel schlägt in mutwilligem Spiel;
  • Dem heimlichen Plätschern des Tschindara-Fluß.
  • Und ihr Lächeln erst! Und erst ihr Kuß!
  • Was ist? -- Sie hebt sich, ein Hauch, und entschwindet
  • In Himmeln, wo sie Verwandte findet.
  • Bleib! Blicke dich um! Bleib! -- Taub meinem Schrei,
  • Verrinnt sie im Regenbogen. -- Vorbei!
  • Erinnrung an sie bleibt und hält
  • Sich fest; und Duft erfüllt die Welt. --
  • * * * * *
  • Bunt war sein Träumen überstrahlt;
  • Vom Drang der Jugend heiß durchflossen.
  • Die Hoheit, die sein Herz genossen,
  • Hat herrlich oft sich abgemalt
  • Auf seinem Angesicht. Allein,
  • Was ihn in seinen Träumerein,
  • Was die erregte Seele quälte,
  • Wonach er schrie, wonach er bangte,
  • In wilder Leidenschaft verlangte,
  • Als gält' es, daß er sich vermählte
  • Der ganzen Welt mit ganzer Lust,
  • Verstand er nicht. -- Voll Staub und Dust,
  • Von Dumpfheit voll und Schwere fand
  • Er diese Welt und wirr. Es flog
  • Sein Herz und schlug und schlug und zog
  • Ihn hin nach fernem, fernem Land.
  • Wer sah ihn so? Sein Atem ächzte.
  • Die Brust ging keuchend auf und nieder.
  • Stolz funkelte durch seine Lider.
  • Ach, wie die Seele darnach lechzte,
  • Am flücht'gen Traum sich festzusaugen.
  • Ach, welche Feuer in ihm brannten,
  • Wie ihn die Tränen übermannten,
  • Das Leben schürend in den heißen Augen. --
  • Sechstes Bild
  • Zwei Meilen nur von Wismar liegt das Dorf,
  • Wo unserer Geschichte Welt, die Welt,
  • Wo ihre Menschen leben, Grenzen findet.
  • Das heitre Lünensdorf, so hieß es einst;
  • Doch weiß ich nicht, ob es noch heut so ist. --
  • Weit schimmerte dem Wanderer entgegen
  • Das kleine, weiße Häuschen Wilhelm Bauchs,
  • Des Musikers, das er vor langer Zeit,
  • Als er des Pastors Kind zum Weibe nahm,
  • Erbaut. Es war ein liebes, heitres Haus;
  • Grün war's gestrichen; rote Ziegelplatten
  • Erklirrten hell im Wind. Kastanienbäume
  • Umstanden es und drängten in die Fenster.
  • Durch ihre Stämme sah ein Weidenzaun,
  • Den Wilhelm selbst aus Ruten sich geflochten.
  • Jetzt rankte sich der Hopfen an ihm hoch.
  • Vom Fenster zu dem Zaun lief eine Stange,
  • Behangen mit der Wäsche, die im Glanz
  • Der heißen Mittagssonne lustig blinkte.
  • Durch eine Speicherluke drängte sich
  • Laut girrend eine Taubenschar; es schrien
  • Die Puter, und mit seinen Flügeln schlagend
  • Entbot der Hofhahn seinen Morgengruß
  • Dem Tag und pickte den behäbig bunten Hennen
  • Die Körner fort. Zwei fromme Ziegen rupften
  • Das junge Gras. Schon lange stieg der Rauch
  • In krausen Wolken aus dem Schornstein auf
  • Zum Himmel, um den Morgendunst zu mehren.
  • Dort auf der Seite, wo der Mauerputz
  • Ein wenig abgebröckelt von den grauen Ziegeln,
  • Dort, wo die alten Bäume Schatten geben,
  • Stand schon seit frühstem Morgen säuberlich
  • Gedeckt ein Eichentisch voll guter Dinge:
  • Radieschen, gelber Käse, eine Dose
  • In Entenform mit Butter; Wein und Bier,
  • Der süße Bischof, Zucker, Waffelkuchen
  • Und dann ein Korb mit leuchtend reifen Früchten:
  • Himbeeren voller Duft, glashelle Trauben
  • Und bernsteinfarbne Birnen, blaue Pflaumen
  • Und rote Pfirsiche in buntem Durcheinander. --
  • Es war so festlich, denn Herr Wilhelm wollte
  • Der lieben Frau Geburtstag in dem Kreise
  • Der Töchter und des alten Pfarrherrn feiern.
  • Luise kam, doch ihre Schwester Fanny,
  • Die Jüngere, war fortgeeilt, um Hans
  • Zu holen, und war noch nicht zurück.
  • Vermutlich irrte er verträumt umher.
  • Luise blickte unverwandt zum dunklen Fenster
  • Im Nachbarhaus empor; lag es doch nur
  • Zwei Schritt von ihr. -- Sie war nicht selbst gegangen,
  • Damit er nicht den Gram von ihrer Stirn,
  • Aus ihren Augen keinen Vorwurf läse.
  • Da wandte Wilhelm sich, Luisens Vater,
  • Zu ihr und sprach: »Du mußt den Hans mal schelten,
  • Daß er so lange nicht mehr bei uns war.
  • Pass' auf, du hast ihn dir zu sehr verwöhnt.«
  • Doch sie war um die Antwort nicht verlegen:
  • »Mir fehlt der Mut, den braven Hans zu tadeln.
  • Er ist schon ohnedies so bleich und elend.«
  • »Was, krank, sagst du?« fiel Mutter Berta ein.
  • »Es ist nicht Krankheit, nur Melancholie,
  • Die ihn jetzt plagt, und die wird sehr bald weichen,
  • Seid ihr einmal vermählt. Ein junger Sproß,
  • Den halbverdorrt ein Sommerregen trifft,
  • Fängt plötzlich an zu blühn. -- Ist denn die Frau
  • Nicht Lichtflut für den Mann?« -- »Ein kluges Wort,«
  • Warf da der Pfarrer ein. »Wenn Gott es will,
  • Glaubt mir, wird alles noch vorübergehn!«
  • Er klopfte wieder seine Pfeife aus.
  • Dann fing er an, mit Wilhelm sich zu streiten;
  • Sie sprachen von den Tagesneuigkeiten,
  • Von schlimmer Ernte, von den Griechen, Türken,
  • Von Missolunghi, von Kolokotroni,
  • Dem großen Führer, und vom argen Krieg,
  • Von Canning sprachen sie, vom Parlament,
  • Vom Elend und vom Aufruhr in Madrid,
  • Als Hans erschien und sich Luise plötzlich
  • Mit einem Aufschrei ihm entgegenstürzte.
  • Der Jüngling schlang den Arm um ihre Hüfte
  • Und küßte sie. Der Pfarrer sprach zu ihm:
  • »Nun schäm' dich, Hans, daß du so ganz vergessen
  • Den alten Freund. Doch wenn du schon Luise
  • Vergißt, wie solltest du der Alten noch
  • Gedenken!« -- »Väterchen, laß sein, laß sein --
  • Was schiltst du Hans denn immer!« sprach die Mutter.
  • »Laßt uns zu Tisch gehn, sonst wird alles kalt:
  • Der Brei, der Reis, die duft'gen Zuckererbsen,
  • Der Glühwein und nicht minder der Kapaun,
  • Den mit Rosinen ich und Butter briet.« --
  • So setzten sie sich friedlich an den Tisch
  • Und waren alle bald vom Wein belebt,
  • Die Seelen voller Glück und Heiterkeit. --
  • Der alte Geiger spielte, Fritz blies Flöte.
  • Es gab ein Stück -- der Feiernden zu Ehren.
  • Bald drehten allesamt im Walzer sich.
  • Selbst Wilhelm wurde lustig, und gerötet
  • Schwang er sich mit der Gattin wie ein Pfau
  • Im Kreise. Wie im Wirbelwinde flog
  • Hans mit Luise toll dahin. Die Welt
  • Flog mit im gleichen, wundervollen Takt.
  • Luise wagte kaum zu atmen, kaum
  • Sich umzuschaun, vom Tanz so ganz gefangen.
  • Der Pfarrer sagte: »Ach, ich sehe mich nicht satt
  • An ihnen, glaubt's mir. Welch ein herrlich Paar.
  • Luise, dieses heitre, liebe Kind,
  • Und Hans so stattlich, klug und doch bescheiden.
  • Sie sind doch füreinander wie geschaffen.
  • Ja, glücklich wird ihr ganzes Leben sein.
  • Ich danke Dir, mein güt'ger Gott, daß Du
  • Im hohen Alter mir die Gnade schenktest
  • Und mir die morsche Lebenskraft erhieltst,
  • Damit ich solche Enkel schauen durfte.
  • Nun kann ich sagen, wenn ich Abschied nehme:
  • Auf Erden hab' ich Herrliches gesehn.«
  • Siebentes Bild
  • Des Abends Kühle senkt sich still hernieder.
  • Die letzten, leisen Sonnenstrahlen küssen
  • Das finstre Meer. Von tausend Flimmerfunken
  • Durchsät, erglüht der Wald, und fern, fern her
  • Erschimmern durch den Meeresdunst die Felsen
  • In bunter Farbenpracht. Rings tiefe Stille.
  • Und nur der Hirtenflöten melanchol'scher Ruf
  • Tönt dann und wann von fernen, heitren Ufern;
  • Und dann und wann ein leises Plätschern, wenn
  • Ein Fisch im spiegelblanken Wasser ruckt,
  • Wenn eine Schwalbe mit den Flügeln, ehe
  • Sie auf zum Himmel steigt, es flüchtig streift.
  • -- Fern zeigt ein Kahn sich wie ein heller Punkt.
  • Wen trägt er wohl? Wer fährt wohl auf dem Meer?
  • Der Pfarrer ist's, der Greis im Silberhaare,
  • Und mit ihm Wilhelm mit der teuren Gattin.
  • Die übermüt'ge Fanny läßt die Hand,
  • Die von der Angelschnur herabgezogen,
  • Im Wasser spielen. Hinten in dem Schiff
  • Sitzt Hans mit seiner Braut. -- Sie sahen alle
  • In stummer Freude einer Welle zu,
  • Die breit dem Schiff gefolgt und unterm Schlag
  • Der Ruder feurig schäumend perlte.
  • Wie sich nun rasch die ros'ge Ferne klärte
  • Und voller Duft ein Hauch von Süden kam,
  • Da sprach der Pfarrer tief gerührt: »Wie schön
  • Ist dieser Abend Gottes doch! So still
  • Und herrlich wie das Leben des Gerechten.
  • Denn es vollendet ebenso voll Frieden
  • Den Weg, und auf den heil'gen Erdenrest
  • Ergießen sich die gleichen schönen Tränen.
  • Ja, auch für mich wird's Zeit. Auch meine Tage
  • Sind bald gezählt. Ich kann nicht lang mehr bleiben.
  • Doch werd' ich auch so herrlich schlafen gehen?« --
  • Da weinten alle. Hans, der grad ein Lied
  • Auf der Oboe spielte, ließ das Instrument
  • Nachdenklich sinken. Es umspann ein Schlummer
  • Sein Haupt, und weithin schweiften seine Sinne.
  • Und Träume stürmten seltsam auf ihn ein.
  • Luise wandte sich ihm zu: »Sag' mir, sag', Hans,
  • Wenn du mich liebst, wenn ich in deiner Seele
  • Noch Mitleid, Mitgefühl wachrufen kann,
  • Was quälst du mich? Sag' mir einmal, warum
  • Sitzt du bei Nacht einsam bei deinen Büchern?
  • Ich weiß es. Unsre beiden Fenster liegen
  • Doch nicht umsonst einander gegenüber.
  • Warum weichst du uns allen aus und trauerst?
  • Dein trüber Blick, ach, nimmt mir alle Ruh',
  • Und deine Trauer macht mich selber trübe! --«
  • Das rührte Hans. Er wurde ganz verlegen.
  • Er drückte sie im Schmerz an seine Brust,
  • Und eine Träne stahl sich ihm ins Auge.
  • »Luise, frage nicht. Du mehrst doch nur
  • Durch deine Unruh' meinen tiefen Kummer.
  • Denn in Gedanken ich versunken scheine,
  • Glaub' mir, dann denk' ich immer nur an dich
  • Und sinne, wie sich all die schweren Zweifel
  • Von deiner Seele nehmen, wie dein Herz
  • Mit Freude sich und Frieden füllen ließe,
  • Daß deiner Jugend reinen Schlaf nichts störe,
  • Daß Böses dir nicht nahe, nicht der Schatten
  • Von einem Kummer dich berühre, daß
  • Dein Glück in alle Ewigkeiten währe!«
  • Da lehnte sie an seine Brust sich an
  • Und konnte in der Fülle des Gefühls,
  • Des Dankes ihm kein einzig Wort erwidern. --
  • Still zog das Boot am Ufer hin. -- Man landet
  • Und steigt schnell aus. »Hört,« sprach der Vater Wilhelm,
  • »Hört, Kinder, nehmt euch recht in acht und seht,
  • Daß ihr euch nicht erkältet. Es ist feucht.
  • Der Nebel steigt.« -- Hans ging mit ihr und dachte:
  • Was wird, wenn sie erfährt, was sie doch nicht
  • Erfahren soll? Er sah ihr in die Augen.
  • In seinem Herzen ward ein Vorwurf laut.
  • Ihm war, als wenn er schlecht gehandelt hätte,
  • Als hätte er den ewigen Gott belogen. -- --
  • Achtes Bild
  • Vom Turme schlägt es Mitternacht.
  • Hans sitzt wie immer auf und wacht.
  • Dem Einsamen gewohnte Zeit.
  • Das Flackerlicht der Lampe leiht
  • Nur spärlich Helligkeit. Es fällt
  • Wie Saat des Zweifels in die Welt
  • Des Schlafs. -- Kein Blick träf' in der Runde
  • Nur eines Menschen Spur. Fern, ferne
  • Rauscht wie Gespräch aus Menschenmunde
  • Die Welle in dem Glanz der Sterne.
  • Die Stille läßt den Atem hören
  • Der Nacht. -- Jetzt wird ihn nicht mehr stören
  • Der laute Tag in seinem Denken,
  • Wo über seine Stirn sich senken
  • Friede und Ruh'. -- Und sie? Sie setzt
  • Sich auf im Bett; im Fenster jetzt:
  • »Er kann's nicht sehen, merkt's ja nicht;
  • Ich seh' mich satt an seinem Bild.
  • Er wacht, daß er mein Glück erfüllt.
  • Gott sei ihm gnädig, sei ihm mild.« --
  • * * * * *
  • Die Welle rauscht im Mondeslicht.
  • Ein Traum sinkt nieder und umfängt
  • Ihr Haupt und beugt es leis, ganz leis.
  • Um Hans spielt der Gedankenkreis
  • Noch immer, dem er sich versenkt.
  • 1.
  • Entschieden alles! Ist's Gebot,
  • Tiefinnerst jetzt zugrund zu gehn?
  • Gibt's andres Ziel nicht als den Tod?
  • Vermag ich Beßres nicht zu sehn?
  • Soll ich mich hin zum Opfer geben,
  • Tot für die Welt und ruhmlos leben?
  • 2.
  • Soll denn ein Herz, das Ruhm geliebt,
  • Nur Nichtigkeiten lieben dürfen;
  • Kalt jedem Glück sein, das sich gibt,
  • Und niemals Seligkeiten schlürfen?
  • Der Erde Schönheit nie mehr finden,
  • Nie Wahres mehr in ihr ergründen?
  • 3.
  • Was ruft, was lockt ihr mich so bang,
  • Ihr, dieser Erde schönste Lande.
  • Bei Tag und Nacht wie Vogelsang
  • Hör' ich in meiner Träume Bande,
  • Bei Tag und Nacht die süßen Töne,
  • Und bin berückt von eurer Schöne.
  • 4.
  • Euch, euch gehör' ich. Bald, ach bald
  • Such' ich die seligen Gefilde,
  • Ein Pilgrim, der zum Heil'gen wallt.
  • -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
  • Hin fliegt umschäumt des Schiffes Bug.
  • Hoch strebt der Sehnsucht froher Flug.
  • 5.
  • Ja, fallen wird der trübe Flor,
  • In den euch stets der Traum gehüllt.
  • Aufschließen wird die Welt das Tor
  • Zur Wunderherrlichkeit, gewillt,
  • Den Jüngling freundlich zu begrüßen
  • Mit unversieglichen Genüssen.
  • 6.
  • Der Schönheit Meister! Meine Augen
  • Bereiten sich, was ihr geschaffen
  • Mit Stift und Meißel, einzusaugen.
  • Mein Herz will eure Glut erraffen.
  • Rausch' hin, mein Meer, von Riff zu Riff!
  • Bring mich an Land, einsames Schiff!
  • 7.
  • Du aber, enger Winkelfrieden,
  • Mein Wald, mein Feld, ihr müßt verzeihn.
  • Himmlischer Regen reich beschieden
  • Sei euch und Blüte und Gedeihn.
  • Das Herz, scheint's, härmt sich, euch zu lassen,
  • Und dürstet, euch noch einmal zu umfassen.
  • 8.
  • Auch du, mein engelstilles Herz,
  • Vergib und geiz' mit deinen Tränen.
  • Gib dich nicht hin dem ersten Schmerz.
  • Verzeih dem armen Hans sein Sehnen.
  • Klag' nicht. Der Weg ist bald gemessen,
  • Und ich zurück. Wie könnt' ich dein vergessen! --
  • Neuntes Bild
  • Wer kommt noch zu so später Stunde
  • Behutsam durch die Nacht gewallt,
  • Den Wanderstab am Gürtelbunde,
  • Den Rucksack rüstig umgeschnallt?
  • Vor ihm ein Haus zur rechten Hand;
  • Zur linken führt ein Weg ins Weite.
  • Er will den weiten Weg ins Land,
  • Erfleht von Gott Kraft zum Geleite.
  • Allein er wendet, übermannt
  • Von stillem Weh, verzehrt von Gram,
  • Den Schritt zum Haus, woher er kam.
  • * * * * *
  • Vor einem offnen Fenster sitzt,
  • Den Kopf in seine Hand gestützt,
  • Und ruht ein wunderschönes Kind.
  • Mit seinem Flügel streicht sie mild
  • Und gibt ihr Träume ein -- der Wind,
  • Von denen sie nun ganz erfüllt,
  • Ein Lächeln zeigt. Und ihm entquillt,
  • Wie er sich peinvoll naht der Schönen
  • Und bebend ihr ins Antlitz schaut
  • Und kummerschwer, sein Weh in Tränen.
  • Sein Auge schimmert glanzbetaut.
  • Er beugt sich nieder glühend heiß
  • Und küßt sie seufzend, leis, ganz leis.
  • * * * * *
  • Den weiten Weg eilt er dahin.
  • Sein Innerstes durchbebt ein Schauer.
  • Unrast umdüstert seinen Sinn,
  • Und seine Seele tiefe Trauer.
  • Noch einmal wendet er den Blick
  • Zum Abschiedsgruß. -- Ein weißes Band,
  • Zieht schon der Nebel übers Land.
  • Sein stöhnend Herz weist ihn zurück.
  • Ein rauher Wind mit scharfem Tone
  • Stößt Eichenkron' an Eichenkrone.
  • Und grau verschwimmt im fernen Raum
  • Das Haus. Ganz unklar wie im Traum
  • Hat Pförtner Gottlieb nur vernommen,
  • Daß wer durchs Gartentor gekommen
  • Und daß einmal, als wenn er schälte,
  • Der treue Hund im Hofe bellte.
  • Zehntes Bild
  • Spät wird der helle Führer wach, --
  • Der Morgen ist nicht freundlich. Schwer
  • Wogt übers Feld ein Nebelmeer,
  • Und Regen rauscht und schlägt aufs Dach.
  • Des jungen Morgens Kühle fächelt
  • Die Schöne aus der Ruh'. Benommen
  • Vom Schlaf am Fenster und beklommen,
  • Streicht sie ihr Haar zurecht und lächelt.
  • Doch Ärger schleicht sich ein und feuchtet
  • Das Auge, daß es funkelnd leuchtet:
  • »Wann kommst du, Hans? Wie lang soll's dauern?
  • Du schwurst: beim ersten Tageslicht!
  • Der Tag ist da. Ein Tag zum Trauern,
  • Ein trüber Tag. Die Nebel schauern,
  • Der Sturmwind heult. Was kommst du nicht?«
  • Geängstigt halb und halb verdrossen,
  • Blickt sie zum Fenster ihres Hans.
  • Geschlossen ist's und bleibt geschlossen.
  • Er schläft gewiß, und Traumesglanz
  • Umgaukelt ihm sein Liebstes noch.
  • Lang hat's getagt. Vom Regen sind
  • Durchfurcht die Täler, und vom Wind
  • Gewiegt der Wald. Ach, käm' er doch!
  • * * * * *
  • Der Mittag naht. Unmerklich steigt
  • Der Nebel auf. Ganz matt, gezogen
  • Tönt Donner noch. Der Eichwald schweigt.
  • Auf flammt in siebenfarb'gem Bogen
  • Am Himmel paradiesisch Licht.
  • Mit Funken ist die Eiche übersprüht.
  • Froh klingt vom Dorfe Lied auf Lied.
  • Wo bist du, Hans, was kommst du nicht?
  • * * * * *
  • Warum? -- Die arge Brust umflicht
  • Schwermut. Das Ohr wird müd der Qual,
  • Zu horchen auf die Stundenzahl.
  • Die Türe geht. -- Er ist's! -- Nein, nicht:
  • Herein tritt Berta; wohlig fällt
  • Der rosa Morgenrock, der weiche,
  • Und farbenfroh die kantenreiche,
  • Gestickte Schürze. »Engelgleiche,
  • Was hat die Nachtruh' dir vergällt?
  • Bist bleich und matt. Was ist geschehn?
  • Störte der Regen, der so schwer
  • Herabgerauscht, das wilde Meer,
  • Der Hahn, der wüste Lärmer, den
  • Kein Schlaf nachts ankommt, dich so sehr?
  • Hat dich der Böse überkommen,
  • Dir deinen reinen Schlaf genommen,
  • Ins Herz gesenkt trübselig Trauern?
  • Tust mich von ganzer Seele dauern.«
  • * * * * *
  • »Nein, nicht des Regens Rauschen, ach,
  • Das wilde Meer nicht, nicht der Hahn,
  • Der wüste Lärmer, hat's getan.
  • Ach, was du nennst, hielt mich nicht wach.
  • Nicht solcher Traum hat mich benommen,
  • Bin solcher Trübsal nicht beklommen.
  • Der Traum, der mir zu Sinnen kam,
  • War anders, schwer und wundersam.« --
  • * * * * *
  • »Mir träumte: Finstre Öde sei
  • Um meinen Weg. Rings Nebel nur
  • Vom Moor, und in der Wüstenei
  • Von trocknem Boden keine Spur.
  • Ein ekler Dunst! Die Erde weicht.
  • Bei jedem Schritt ein neuer Schlund,
  • Bei jedem Schritt ein neuer Grund
  • Zur Herzensangst. Und mich beschleicht
  • Unsäglich Wehe. Da erscheint
  • Urplötzlich Hans vor mir. Blut rinnt
  • Aus einer Wunde. Er beginnt
  • Zu schluchzen über mir und weint.
  • Doch statt der hellen Tränen floß
  • Ein trüber Strom. Ich wachte auf.
  • Und über Brust und Antlitz goß
  • Vom Blondhaar triefend wie der Lauf
  • Von tausend Bächen dummer Regen.
  • Mein Herze schlug in trüben Schlägen,
  • Und Traurigkeit befiel den Sinn.
  • Die Locken blieben feucht. In Sorgen
  • Sitz' ich verhärmt seit frühem Morgen.
  • Wann kommt er heim? Wo ist er hin?«
  • * * * * *
  • Die Mutter steht gedankenvoll
  • Kopfschüttelnd vor ihr, ehe sie
  • Ihr Antwort gibt: »Ach, wüßt' ich, wie
  • Ich deiner Not Herr werden soll,
  • Mein Töchterchen. Komm, laß uns sehn, --
  • Gott geb' uns Kraft! -- was ihm geschehn.«
  • * * * * *
  • Sie treten in sein Zimmer. Leer,
  • Ganz leer! Im Winkel liegt umher
  • Ein alter Platoband, gar arg
  • Verstaubt, Tieck, Aristophanes, Petrark
  • Und Schillers Werke, die vermeßnen,
  • Bei Winkelmanns, den halb vergeßnen.
  • Und Fetzen von Papier. Es blühn
  • Die Blumen auf der Etagere.
  • Die Feder blinkt, mit der er kühn
  • Entlastet sich der Träume Schwere.
  • Sein Tisch, so tot! Doch nein, was hebt
  • Sich jetzt? Ein Zettel flirrt. Was ist?
  • Luise nimmt ihn auf und bebt.
  • Von wem? An wen? Und als sie liest,
  • Fängt ihre Zunge wie noch nie
  • Zu lallen an. Sie stürzt aufs Knie.
  • Gram, sengend Wehe warf sie nieder.
  • Und Grabeskälte rann durch ihre Glieder.
  • Elftes Bild
  • Schau' her, Grausamer! Sieh, Tyrann,
  • Wie sie verhärmt im Staube kauert;
  • Die einsam Welkende, sieh' an,
  • Wie sie in trüber Öde trauert,
  • Vergessen, ach! Schau' hin einmal
  • Auf dein Geschöpf, in dessen Brust
  • Du Lebensglück und Lebenslust
  • Mit Gram vertauscht und Höllenqual.
  • Durchwühlte Grüfte, siehst du sie?
  • Und wie sie dich geliebt, ja, wie!
  • Mit welch lebend'ger Innigkeit
  • Klang ihrer Rede Melodie,
  • Die schlichte. Wo, wo ist die Zeit,
  • Da du gelauscht? Wie war von Schuld,
  • Von Trübsal rein des Blickes Brand,
  • Der dich versengt. Wie oft entschwand
  • Zu langsam ihrer Ungeduld
  • Der böse Tag, zeigte sich nicht,
  • Der Träumerischen, dein Gesicht.
  • Und du konntst sie verlassen, du?
  • Hast dich von allem abgewandt
  • Und wanderst fremd in fremdem Land?
  • Wem tust du das? Für wen, wozu?
  • Doch schau', Grausamer! Sieh, Tyrann!
  • Am Fenster harrt sie noch, verzehrt
  • Von Sehnsucht, daß er wiederkehrt
  • Zu ihr, er, der geliebte Mann. -- --
  • Schon sinkt der Tag. Des Abends Helle
  • Liegt wundersam auf allen Dingen.
  • Ein kühler Wind regt seine Schwingen.
  • Kaum hörbar plätschert fern die Welle.
  • Die Nacht entbreitet ihre Schatten.
  • Leis tönt die Syrinx. Es ermatten
  • Im West die letzten Glutenschimmer.
  • Sie sitzt reglos und harrt noch immer. --
  • Nächtliche Gesichte
  • Allmählich dunkelt und vergeht
  • Des Abends Rot. Schon liegt die Welt
  • In süßem Schlaf, und überm Feld
  • Steigt auf des Mondes Majestät.
  • Das Meer erschimmert wie Kristall.
  • Durchsichtig scheint das ganze All.
  • * * * * *
  • Schatten wachsen auf und ziehen.
  • Wundersam gestaltet fliehen
  • Herrlich sie, weit, immer weiter,
  • Himmelwärts die Sternenleiter.
  • * * * * *
  • Heller wird's: zwei Lichter blitzen.
  • Da: zwei Ritter, zottig, fahl.
  • Zweier schart'ger Schwerter Spitzen,
  • Zweier Panzer Schmiedestahl!
  • Halt! Sie suchen, treten an;
  • Tauschen Platz um Platz jetzt. Hei!
  • Kämpfen, glitzern Mann an Mann.
  • Suchen wieder ... Da, vorbei!
  • Dunkel schwillt und deckt sie schwer.
  • Nur der Mond steht überm Meer. --
  • * * * * *
  • Ein Lied der Kön'gin Nachtigall durchschallt
  • Den Forst; ein schmetternd Lied, das sacht verrauscht.
  • Die Erde atmet kaum, sie lauscht
  • Verträumt der Sängerin. Der Wald
  • Steht reglos. Alles schläft im Kreise.
  • Es tönt nur die verklärte Weise.
  • * * * * *
  • Luftgebaut ragt der Palast
  • Einer Märchenfee empor.
  • Vor dem Fenster dicht am Tor
  • Singt verklärt ein Minnegast.
  • Sieh, ein Silberteppich glänzt,
  • Ganz durchwebt mit Wolkenringen.
  • Drüber schwebt ein Geist, der grenzt
  • Nord und Süd mit seinen Schwingen.
  • Schlafen sieht der Gast, gebannt
  • Durch ein Gitter aus Koralle,
  • Seine Fee. Die Perlmuttwand
  • Bringt der Trän' Kristall zu Falle. --
  • Dunkel eint und deckt sie schwer.
  • Nur der Mond steht überm Meer. -- --
  • * * * * *
  • Kaum schimmert durch den Dunst das Land.
  • Geheime Wünsche ohne Zahl
  • Weckt uns die See. -- Ein Riesenwal,
  • Taucht aus dem Nebel. Übermannt
  • Hat Schlaf den Fischer längst. Er ruht;
  • Und unablässig rauscht die Flut. --
  • * * * * *
  • Strandwärts schwimmen Meerjungfrauen
  • Herrlich schön. Den leuchtend hellen,
  • Weißen Schaum der glühend blauen
  • Wogen teilen sie. Die Wellen
  • Spielen kosend wie im Traum
  • Um die Schöne mit der weißen
  • Lilienbrust. Sie atmet kaum.
  • Um die zarten Glieder gleißen
  • Tropfen wie ein Funkensaum.
  • Ach, sie lächelt, kichert leise
  • Und schwimmt sinnend hin im Licht.
  • Bald voll Lust, bald wieder nicht.
  • Träumerisch singt sie die Weise,
  • Den Sirenensang der Klagen
  • Des Verrats, den sie ertragen,
  • Sie, die Junge. -- Reglos ruht
  • Mondbeglänzt die blaue Flut. --
  • * * * * *
  • Ein Friedhof fern in fremder Flur,
  • Von einem alten Zaun umhegt.
  • Rings Steine, Kreuze. Moosbelegt
  • Der stummen Toten Häuser. Nur
  • Der Flug der Eulen und das schrille
  • Schrein zerreißt die Grabesstille. --
  • * * * * *
  • Langsam steigt aus seinem Bette
  • Jetzt ein Leichnam. Weiß umwallt
  • Ihn sein Mantel. Vom Skelette
  • Klopft den Staub er würdig. Kalt
  • Weht vom Schädel Grabhauch. Feuer,
  • Gelbes Feuer glüht aus seinen
  • Augen. Mit den Knochenbeinen
  • Hält ein Roß, ein ungeheuer
  • Glänzend Roß er, einen Schimmel.
  • Und es wächst, wächst bis zum Himmel.
  • Leiche steht nach Leiche auf.
  • Zug des Grauns! Von seinem Lauf
  • Beben Erde, ach, und Lüfte. --
  • Endlich schließen sich die Grüfte. --
  • * * * * *
  • Ein Schrecken packt sie an. Sie schlägt
  • Das Fenster hastig zu. Ihr Blut
  • Von Eiseskälte, bald von Glut
  • Durchschauert, bebt gleichwie die Flut
  • Im Sturm. Ein schweres Wehe legt
  • Sich auf ihr Herz. Ihr Denken ruht. --
  • Wenn mitleidlos des Schicksals Faust
  • Ein kalter Kieselstein entsaust
  • Und trifft ein armes Herz, wer hält
  • Die Treue, sagt, in aller Welt
  • Noch dem Verstand? Wes Seele ficht
  • Kein Übel an? Und wer verfällt,
  • Sich ewig gleich, im Unglück nicht
  • Dem Aberglauben? Wer erblaßt
  • Nicht, wenn solch Spukbild ihn erfaßt
  • Im Traum? -- Aufs Lager bang
  • Warf sie sich hin voll Schmerz und Kummer.
  • Vergeblich suchte sie den Schlummer.
  • Wenn ein Geräusch durchs Dunkel drang,
  • Ein Mäuslein strich, floh ihre Lider
  • Der Schlaf, der launenhafte, wieder. --
  • Dreizehntes Bild
  • Ein traurig Bild: Ruinen von Athen!
  • Die Säulenreih'n, die bildwerkreichen,
  • Sind morsch. In öden Tälern stehn
  • Sie traurig, müder Zeiten Zeichen.
  • Zertrümmert halb und halb verwittert
  • Das hehre Denkmal, und zersplittert
  • Selbst der Granit. -- Ein karger Rest. --
  • Ein morscher Architrav nur prangt
  • Voll Majestät, und Efeu rankt
  • Und hält am Kapitäl sich fest.
  • In Gräben, die man längst verließ,
  • Herabgestürzt ein Giebelkranz;
  • Dort schimmert noch ein prächt'ger Fries
  • Und der Reliefmetopen Glanz.
  • Hier trauert eine reichgeschmückte
  • Korinthsche Säule noch. Und leise
  • Eidechsen schlüpfen scharenweise
  • Darüber hin. Voll Würde blickt
  • Er auf das Elend rings. Gerückt
  • In toter Zeiten dunkle Nacht,
  • Verdrängt, hat er für nichts mehr acht.
  • Athens Ruinen, ach! Trüb gleiten
  • Die Bilder von Vergangenheiten
  • Vorbei. An kaltem Marmor lehnt
  • Der Wanderer. Wie er sich auch sehnt,
  • Er weckt Erstorbnes nicht. Vergebens!
  • Das Bündel des vergangnen Lebens
  • Knüpft er nicht auf. Ohnmächt'ge Qual,
  • Verlorne Müh'! -- Allüberall
  • Liest nur Zerstörung, Schmach und Schande
  • Der trübe Blick. Im Sonnenbrande
  • Blinkt durch die Säulen dann und wann
  • Ein Turban wohl. Quer durch die Blöcke,
  • Durch Pfeiler, Gräber, Mauerstöcke
  • Treibt barsch sein Roß ein Muselmann. -- --
  • Hufschlag stampft letzte Trümmer nieder. -- --
  • Unsagbar tiefe Traurigkeit
  • Packt da den Fremden plötzlich wieder.
  • Wie stöhnt sein Herz so laut. Er kann
  • Den Schmerz nicht meistern. Bitter leid,
  • Daß er den weiten Weg gemessen,
  • Ist's ihm. Hat er sein Dach, den stillen,
  • Friedlichen Platz daheim vergessen,
  • Verlassen um der Gräber willen?
  • Ach, wären doch die Traumgespinste,
  • Die schönen, seinem Sinn geblieben.
  • Der reinen Schönheit Spiegelkünste,
  • Ach, hätten sie ihn nicht getrieben!
  • Nun sind die Träume tot und kalt
  • Und abgestreift ihr Zauberflor. --
  • Mit unbarmherziger Gewalt
  • Habt ihr ihm schonungslos das Tor
  • Zur Glut der Traumeswelt verschlossen,
  • Ihr, öder Wirklichkeiten Sprossen!
  • Langsam verläßt und kummerschwer
  • Der Fremde nun den Trümmerort.
  • Er schwört, des blinden Einst nicht mehr
  • Zu denken, aber immerfort
  • Fliehn seine Opfer vor ihm her. -- -- --
  • Sechzehntes Bild
  • Zwei Jahre sind dahin. In Lünensdorf
  • Blüht alles noch und prankt wie ehedem.
  • Die gleichen Sorgen, gleichen Freuden stören
  • Den stillen Herzensfrieden der Bewohner.
  • Allein im Haus der Wilhelms hat sich viel
  • Verändert. Lange ist der Pfarrer tot.
  • Er hat den dornenvollen Weg beendet
  • Und schläft den letzten tiefen, tiefen Schlaf.
  • Wohl alle waren seinem Sarg gefolgt,
  • Und alle hatten Tränen in den Augen,
  • Gedenkend seines Lebens, seines Tuns.
  • Er war es, der für unser Seelenheil,
  • Für unser geistig Brot von je gesorgt.
  • Er war es, der so schön das Gute lehrte;
  • Er war der Trauervollen steter Trost,
  • Der feste Schild der Witwen und der Waisen.
  • Wie voller Güte stieg er doch an Feiertagen
  • Auf seine Kanzel, und wie rührend sprach
  • Er von dem reinen Martertum, vom Leiden
  • Des Herrn. Und wir, wie lauschten wir erschüttert
  • Und unter Tränen seinen tiefen Worten. --
  • Wer seines Wegs von Wismar kommt, der geht
  • Links von der Straße dicht an einem Friedhof
  • Vorbei. Die alten Kreuze stehn gebückt
  • In ihrem Kleid von Moos. Der harte Griffel
  • Der Zeit hat seine Runen eingegraben.
  • In ihrer Mitte leuchtet eine weiße Urne
  • Auf schwarzem Steine, von zwei grünen Erlen
  • Umrauscht und unter ihrem breiten Schatten.
  • Das ist die letzte Ruhestatt des Pfarrherrn.
  • Die braven Bauern waren gern bereit,
  • Auf eigne Kosten ihm als letzte Ehre
  • Dies Grabmal zu errichten. Alle Seiten
  • Verkündeten durch eine Inschrift, wie
  • Er lebte, wieviel stille Jahre er
  • Als Seelensorger zugebracht und endlich
  • Am Ziel des Wegs Gott seinen Geist vertraut. --
  • Und zu der Stunde, wo der Ost voll Scham
  • Errötend seine Flechten löst, und wo
  • Im Felde sich ein frischer Wind erhebt,
  • Der Tau die blitzend blanken Perlen streut,
  • Rotkehlchen in den dichten Büschen schlagen,
  • Und erst zur Hälfte noch der Sonnenball
  • Sich übers Land hebt, kommen Bäuerinnen
  • Mit Nelken, Rosen in der Hand zum Grab
  • Und schmücken es mit duft'ger Blumen Fülle
  • Und gehen ihres Wegs. -- Nur eine bleibt,
  • Das Haupt in ihre Lilienhand gestützt,
  • Und sitzt gar lange Zeit in tiefem Sinnen,
  • Als wollte sie Unfaßliches begreifen.
  • Wer würde, ach, in dieser kummervollen
  • Gestalt Luise wohl erkennen? Wer?
  • Der frohe Glanz der Augen ist erloschen,
  • Ihr unschuldreines Lächeln ist nicht mehr
  • Auf ihrem Antlitz. Nie und nimmer huscht
  • Das Zeichen einer Freude drüber hin.
  • Und doch, wie schön ist sie in ihrem Harm!
  • Wie königlich ihr Blick trotz allen Wehs!
  • So trauert wohl der strahlende Seraph
  • Dem Sturz des menschlichen Geschlechtes nach.
  • Voll Schönheit war die glückliche Luise,
  • Die trauernde war fast noch herrlicher.
  • Grad achtzehn Jahre war sie alt geworden
  • Im Monat, als der Pfarrer von ihr schied.
  • Mit ihrer ganzen kindlich reinen Seele
  • War sie dem Greise zugetan. Und nun
  • Denkt sie: Nein, deine Hoffnung hat sich nicht
  • Erfüllt. Wie innig hattest du gewünscht,
  • Am heiligen Altare uns zu trauen,
  • Für alle Zeiten unsern Bund zu schließen.
  • Wie hattest du den träumerischen Hans
  • Geliebt -- -- Und er? -- -- --
  • Ja, wenden wir den Blick zu Wilhelms Hütte.
  • Es ist schon herbstlich kalt. Er sitzt daheim
  • An seiner Drechselbank und schneidet Platten
  • Aus Buchenholz mit feiner Maserung,
  • Die er mit krausem Schnitzwerk dann verziert.
  • Zu seinen Füßen liegt vergnügt geduckt
  • Hektor, sein lieber, treuer Kamerad.
  • Wie immer sorgt die tüchtige Hausfrau Berta
  • Vom frühsten Morgen an schon für sein Wohl.
  • Dicht vor dem Fenster drängt sich eine Schar
  • Von Gänsen, und die Hühner gackern auch
  • Noch unaufhörlich. Ganz wie ehedem
  • Hört man das ew'ge Zwitschern frecher Spatzen,
  • Die Tag für Tag im Küchenabfall picken. --
  • Der Dompfaff kam, der Geck. Und auf den Feldern
  • Hing lange Zeit der reife Duft des Herbstes.
  • Die grünen Blätter wurden gelb und fielen,
  • Die Schwalben zogen über ferne Meere. --
  • In ihrer Sorglichkeit rief Hausfrau Berta:
  • »Luise darf nicht mehr so lang ausbleiben.
  • Es dunkelt, und der Sommer ist vorbei.
  • Jetzt wird's früh feucht, und dichte Nebel fallen
  • Und schicken ihre Schauer über uns.
  • Warum irrt sie herum? Sie macht mir Not!
  • Ja, ja, sie kann den Hans mal nicht vergessen.
  • Gott weiß, ob er am Leben ist, ob nicht.« --
  • Wie anders Fanny denkt als ihre Mutter!
  • Mit ihren sechzehn Jahren sitzt sie still
  • In ihrer Ecke vor dem Rocken, voll
  • Von Sehnsucht und vom Freunde träumend,
  • Und fast unhörbar sagt sie vor sich hin:
  • »Ich hätte ihn nicht minder stark geliebt!«
  • Siebzehntes Bild
  • Wie trüb auch sonst die Tage schleichen
  • Im Herbst, das Heute ist voll Licht.
  • Die Sonne zeigt ein hell Gesicht,
  • Und blanke Silberwellen streichen
  • Am Himmel hin. Den Weg herab
  • Mit Rucksack kommt und Wanderstab
  • Ein Fremder matt und scheu daher.
  • Voll Trauer, wie ein Greis gebeugt,
  • Geht er die Postchaussee. Nichts zeugt
  • Vom alten Hans, fast gar nichts mehr.
  • Sein halberloschner Blick umschweift
  • Das Meer der gelben Ährenwellen,
  • Der Berge bunten Kranz. Es greift
  • Der schöne Traum sein Herz; es schwellen
  • Des Allvergessens Seligkeiten
  • Die Brust. Doch die Gedanken schreiten,
  • Ach, einem andern Ziele zu.
  • Nichts wär' ihm nötiger als Ruh'.
  • Er kommt, so scheint's, von weit, weit her.
  • Sein Atem keucht und schmerzt, und schwer
  • Schmerzt seine Seele ihn und ächzt.
  • Er denkt, doch kein Gedanke lechzt
  • Nach Ruh'. -- Wem gilt sein tiefes Grübeln?
  • Erstaunt, wie er mit allen Übeln
  • Von dem Geschick gemartert ward;
  • Des eitlen Tuns erstaunt, wie er genarrt,
  • Lacht bitter auf er, daß er trunken
  • Die Welt des Wahns, so hassenswert,
  • In seiner Unvernunft begehrt
  • Und ihrem leeren Glanz versunken;
  • Daß er sich in der Menschen Schoß,
  • Von ihrem eklen Tun wie toll
  • Berauscht, bezaubert, -- schwankungslos
  • Geworfen kühn und glaubensvoll.
  • Ach, kalt wie Gräber waren sie,
  • Habgier und Ehrsucht galt allein,
  • Nichts sonst, -- und wie verächtlich Vieh
  • So tierisch, ach, und so gemein.
  • Sie zogen in den Staub, was gut
  • Und hehr. Es schalten ihre Zungen
  • Verächtlich nur Begeisterungen
  • Und Geistestat. Falsch war die Glut;
  • Und wenn sie sich emporgeschwungen,
  • Verderben rings. Wer lauschte schon
  • Der Reden einschläferndem Ton
  • Und bebte nicht? Von Gift wie schwer
  • Ihr Atem, wie voll Lüge ist
  • Ihr Herzschlag und ihr Geist voll List;
  • Wie hohl die Worte und wie leer!
  • * * * * *
  • Ja, tausendfach war ihm die Wahrheit
  • Begegnet und von ihm erkannt.
  • Doch ward zu höherm Glück die Klarheit
  • Ihm in der Seele Träumerland?
  • Wie ferne Sternenhelle zog
  • Verlockend ihn der Ruhm. Allein
  • Sein blinkend Gift war scharf, es trog
  • Der dichte Qualm ihm vor den Schein.
  • * * * * *
  • Der Tag versinkt im West. Die Schatten
  • Des Abends wachsen, und die matten,
  • Hellweißen Wolkenränder glühen
  • In greller Röte auf. Die dunkeln
  • Vergilbten Blätter alle sprühen
  • Von goldnem Strahlenwerk und funkeln.
  • Der Wiesengrund der Heimat tut
  • Sich vor dem Wandrer auf. Es füllt
  • Den matten Blick urplötzlich Glut,
  • Und eine heiße Träne quillt.
  • Die Freuden aus vergangnen Jahren,
  • Harmloser Späße, alter Träume Scharen,
  • Sie engen ihm die Brust und rauben
  • Den Atem ihm. Er will's nicht glauben
  • Und sinnt dem Grund nach und beginnt
  • Zu weinen wie ein schwaches Kind.
  • * * * * *
  • Meditationen
  • Der Augenblick, da wunderbar
  • Ein Auserkorner im Gefühl
  • Der höchsten Kraft und Selbsterkenntnis
  • Erfaßt des Daseins höchstes Ziel,
  • Der sei gesegnet immerdar.
  • Nicht leerer Träume Schattenpracht
  • Und nicht des Ruhmes Flitterglanz
  • Stört ihn und lockt bei Tag und Nacht
  • Ihn in den lauten Wirbeltanz
  • Der Welt. Sein Sinn hat junge Kraft,
  • Ist Ansporn ihm und einz'ger Rat,
  • Reizt ihn und treibt die Leidenschaft
  • Zu Edlem ihn und großer Tat.
  • Für sie setzt er sein Leben ein;
  • Mag auch der Torenpöbel schrein,
  • Er wird lebend'ger Trümmer wegen
  • Nicht wankend, denn er hört allein
  • Der Enkelzeit rauschenden Segen.
  • * * * * *
  • Wenn aber Trug und Traumgestalten
  • Mit Sucht nach Glanz ein Herz beseelen,
  • Dem Willenskraft und Härte fehlen,
  • Im Wirrwarr standhaft sich zu halten,
  • Dann ist es besser, ohne Fülle
  • Das Feld des Lebens zu durchmessen,
  • In der Familie, in der Stille
  • Des Weltenlärmes zu vergessen. -- --
  • Achtzehntes Bild
  • Die Sterne gehen auf in Harmonie.
  • Mit mildem Blicke schweifen sie
  • Ob all der Schlafversunkenheit
  • Als Wächter leisen Menschenschlummers.
  • Sie senden Ruh' der Guten Leid,
  • Und Bösen -- des Gewissenskummers
  • Todbringend Gift. -- Was schickt ihr nicht
  • Der Trübsal Frieden jetzt? Ihr seid
  • Des Menschen Freude, tröstend Licht. --
  • Wenn seine Blicke voller Leid
  • Und Kummer flehend an euch haften,
  • Hört er den Streit der Leidenschaften
  • Im Herzen; und er ruft euch laut,
  • Bis er die Schmerzen euch vertraut. --
  • Noch ist Luise traurig-müd;
  • Und noch entkleidet nicht; sie blickt
  • Verträumt, weil aller Schlaf sie flieht,
  • Noch in die Herbstnacht unverrückt.
  • Ihr Sinn beschwört das alte Bild.
  • Da füllt sie Heiterkeit und weitet
  • Das Herz ihr, dem ein Lied entquillt,
  • Das am Spinett sie froh begleitet.
  • Das Laub fällt raschelnd von den Bäumen,
  • Durch die der Hofzaun blinkt. -- Hans steht
  • In des Vergessens süßen Träumen,
  • Vom Mantel eingehüllt, und späht
  • Und lauscht. -- Soll er noch länger säumen? --
  • Wie wird es ihm jetzt bei dem Klange
  • Der Stimme, die ihm nicht geklungen
  • Seit seiner Trennung, die ihm lange,
  • So lange, lange nicht gesungen!
  • Das Lied, das heißer Leidenschaft,
  • Das, sangesfrohem Mut entquollen
  • Und all dem Übermaß der Kraft,
  • Begeistert einst und froh erschollen,
  • Sein Lied, es schwillt ihm durch den Regen
  • Der Blätter wonnesam entgegen:
  • Dich rufe ich! Ich rufe dich,
  • Des Lächeln mich bezaubert hat,
  • Mein Lieb! Viel Stunden setze ich
  • Mich zu dir, und es sehen sich
  • Die Augen doch an dir nicht satt.
  • Du singst: -- geheimnisvolle Klänge,
  • Des Herzens reinste Töne hallen
  • Und zittern durch die Luft und schallen
  • Wie Schlag von tausend Nachtigallen,
  • Als ob ein Silberbach mir sänge.
  • Schnell zu mir! Lehn' dich an mich, schnelle,
  • Durchbebt von Gluten, wundersamen.
  • Dein Herz brennt in der Stille helle,
  • Und deine Ruh' strömt Well' auf Welle
  • In mich die heißen Liebesflammen.
  • Bist du mir fern, dann quält mich Wehe.
  • Vergessen gibt es nicht für mich.
  • Wenn ich erwach', zur Ruhe gehe,
  • Stets bete ich und stets erflehe
  • Ich Glück, mein Engel, nur für dich! --
  • * * * * *
  • War's Täuschung, was sie sah? Es sprühten
  • Zwei Feuer auf; zwei Augen glühten
  • Dicht vor ihr, dicht. Und sie vernahm,
  • Wie jemand seufzend näher kam.
  • Angst packt sie, Zittern fällt sie an;
  • Sie wendet sich und ... Hans! ... wer kann
  • Solch wundersames Wiedersehen,
  • Kann der Gefühle eignen Bann,
  • Der Blicke Flammensprach' verstehen?
  • Wer kann die Feuerworte finden,
  • Zu schildern recht, wie das Empfinden,
  • Aufwogend wild, die Brust durchspült
  • Und unser tiefstes Herz durchwühlt?
  • Man bebt, erblaßt, vor Freude schwach.
  • Gedanken, Worte fehlen; ach,
  • Voll Seligkeit entringt im Überschwang
  • Der Brust sich nur ein heller Klang.
  • * * * * *
  • Hans faßt allmählich sich. Er blickt
  • Durch Tränen ihr ins Angesicht
  • Und denkt: »In Traum bin ich entrückt;
  • Erwachte ich doch ewig nicht!
  • Sie ist noch die, die mich umfaßt
  • Mit kindlich innigem Verlangen.
  • Ach, ihre Jugend starb wohl an der Last
  • Der Trauer. Wie verhärmt, verblaßt
  • Ist jetzt das frische Rot der Wangen.
  • Ich Tor, der ich, um Not und Schmerzen
  • Zu finden, floh von ihrem Herzen.«
  • Des Leidensschlafes Schwere sank
  • Von ihm; gesund und ruhig ward
  • Er wieder, er, den Stürme lang
  • Geschüttelt, wild durchtobt und hart. --
  • So strahlt die Welt stets sonnenblank
  • Aufs neu. -- In Glut gehärtet Stahl
  • Glänzt stärker, heller tausendmal. --
  • Die Gäste zechen. Ihre Runde
  • Gehn Glas und Becher und erklingen.
  • Die Alten plaudern manche Stunde.
  • Derweil sich heiß im Tanze schwingen
  • Die Jünglinge, da lärmt und schallt
  • Die heiterste Musik. In Saus und Braus
  • Herrscht Freude über Alt und Jung;
  • Und gastlich ladend lacht das Haus.
  • Der Bäuerinnen junge Schar
  • Bringt blaue Veilchen für die Braut,
  • Dem Bräut'gam Flammenrosen dar.
  • Sie schmücken das verliebte Paar.
  • »Bleibt lang noch jung,« so hallt es laut,
  • »Blüht, wie hier diese Veilchen blühn
  • Vom Felde, frisch und immer grün.
  • Mag euer Herz von Liebe, schaut,
  • Wie dieser Rosen Feuer glühn!«
  • * * * * *
  • Von Zärtlichkeit ganz hingerissen
  • harrt Hans erbebend schon. Sein Blick
  • Ist helle Freude, tiefes Glück.
  • Sein Herz will unverstellt genießen,
  • Nachdem des Zwanges Panzerkleid
  • Gefallen ist, die Seligkeit.
  • Euch, Träume voller Trug und List,
  • Wird nun nicht mehr vergöttern er,
  • Der ird'scher Schönheit Diener ist. --
  • Doch was umdüstert ihn so schwer?
  • (Unfaßlich ist des Menschen Art!)
  • Von seinen Träumen scheidend, starrt
  • Er ihnen trauernd nach, verloren,
  • Wie einem, dem er Treu' geschworen. --
  • So harrt der Schüler vor dem Schlage
  • Der Glocke am ersehnten Tage
  • Des letzten Unterrichts. Ganz voll
  • Von Plänen und vor Freude toll,
  • Spinnt er sich Träume. Ohne Klage,
  • Zufrieden mit der Welt und sich in lang
  • Entbehrter Freiheit Überschwang.
  • Doch wenn die Abschiedsstunde naht
  • Von Haus und Freund und Kamerad,
  • Mit denen Arbeit er und Ruh', die Zeit
  • Geteilt und Lust an tollen Streichen,
  • Dann seufzt er wohl und Tränen schleichen
  • Ins Aug' ihm, und er fühlt ein Leid. --
  • Epilog
  • Es heben in der Öde sich und steigen
  • In meines Tempels Einsamkeit,
  • Die unerkannt und unentweiht
  • Von eines Menschen Fuß, im Schweigen
  • Der Seele Träume auf. Wie weit
  • Dringt wohl hinaus ihr lauter Reigen?
  • Ob wer erregt sein Ohr ihm leiht?
  • Wird einer Jungfrau heißes Herz sich neigen,
  • Wird eines Jünglings Sinn durch sie befreit?
  • Voll ungewollter Rührung singe
  • Mein Lied ich, rätselhaft erregt,
  • Das stille Lied, das mich bewegt
  • Und das ich dir als Loblied bringe,
  • Mein Deutschland! Hoher Pläne Land,
  • Der Feen und Geister Königtum,
  • Mein Herz ist voll von deinem Ruhm!
  • Der große Goethe hält die Hand
  • Als Schutzgeist über dein Gedeihn.
  • Mit seinen hohen Liedern bannt
  • Er jede Not von dir und Pein. -- --
  • Beilage
  • Aus Gogols Briefwechsel mit Bjelinski
  • I.
  • Gogols Brief an Bjelinski
  • Um den 20. Juni 1847 (neuen Stils).
  • Ich habe Ihren Aufsatz über mich im »Sowremennik« mit schmerzlichem
  • Bedauern gelesen -- nicht deshalb, weil mich die Art, wie Sie mich vor
  • allen herabzusetzen suchen, verletzt, sondern weil mir aus diesem
  • Aufsatz die Stimme eines Menschen entgegentönt, der mir zürnt. Ich aber
  • wünsche keinen Menschen, selbst keinen solchen, der mich nicht liebt,
  • gegen mich aufzubringen, am wenigsten Sie, von dem ich geglaubt habe,
  • daß er mich liebt. Ich hatte durchaus nicht die Absicht, Sie durch eine
  • Stelle in meinem Buche zu betrüben. Wie konnte es nur geschehen, daß in
  • Rußland alle Menschen bis auf den letzten so über mich aufgebracht
  • waren? Das ist etwas, was ich bisher noch nicht zu verstehen vermag. Die
  • Östlinge, die Westlinge und die, die eine neutrale Stellung einnehmen,
  • sie alle fühlen sich schmerzlich berührt. Es ist wahr, ich wollte jedem
  • von ihnen einen kleinen Schlag versetzen, ich hielt das für nötig, weil
  • ich es an meiner eigenen Haut gespürt hatte, wie notwendig so etwas ist
  • [wir alle hätten etwas mehr Demut und Bescheidenheit nötig], aber ich
  • habe nicht geglaubt, daß die Schläge, die ich austeilte, so plump, so
  • ungeschickt und so verletzend ausfallen würden. Ich dachte, man würde
  • mir das alles großmütig verzeihen, und mein Buch würde den Grund zu
  • einer allgemeinen Versöhnung und nicht zu Streit und Zwietracht legen.
  • Sie haben mein Buch mit dem Auge eines zornigen, verärgerten Menschen
  • gelesen, und daher haben Sie alles unrichtig ausgelegt. Sehen Sie über
  • alle die Stellen hinweg, die bisher noch für viele, wenn nicht gar für
  • alle ein Rätsel, achten Sie vor allem auf die, die jedem gesunden und
  • einsichtsvollen Menschen verständlich sind, und Sie werden erkennen, daß
  • Sie sich in vielen Punkten geirrt haben.
  • Ich habe nicht vergebens alle meine Leser angefleht, mein Buch mehrmals
  • zu lesen, da ich alle Mißverständnisse, denen es ausgesetzt sein würde,
  • schon vorausahnte. Glauben Sie mir, es ist nicht leicht, ein Buch zu
  • beurteilen, das so eng mit der ganzen geistigen Entwicklung seines
  • Autors zusammenhängt, der lange Zeit im Verborgenen und ganz in sich
  • selbst zurückgezogen lebte und unter seiner Unfähigkeit, sich
  • auszudrücken, litt. Es war ja auch kein leichter Entschluß, sich selbst
  • an den Pranger zu stellen und dem allgemeinen Gespött auszusetzen, indem
  • man einen Teil seiner inneren Entwicklung, deren wahrer Sinn nicht so
  • bald verstanden wird, der Öffentlichkeit preisgab. Schon dieses Wagnis
  • allein hätte einen gescheiten Menschen nachdenklich stimmen und ihn
  • veranlassen müssen, mit der Abgabe seines Urteils über das Buch zu
  • warten und es zu verschiedenen Stunden und in einer ruhigeren, mehr zur
  • aufrichtigen Rechenschaftsablage über sich selbst geeigneten
  • Geistesstimmung aufs neue zu überlesen, denn nur in solchen Augenblicken
  • ist die Seele fähig, eine andere Seele zu verstehen, mein Buch ist aber
  • eine durchaus seelische, geistige Angelegenheit. Sie hätten dann
  • sicherlich nicht diese unüberlegten Folgerungen daraus gezogen, von
  • denen Ihr Aufsatz strotzt. Wie kann man zum Beispiel daraus, daß ich
  • gesagt habe, die Kritiker, die von meinen Fehlern und Mängeln reden,
  • enthielten viel Richtiges, folgern, die Kritiker, die meine Vorzüge
  • hervorgehoben haben, hätten unrecht. Eine solche Logik kann nur dem
  • Kopfe eines zornigen Menschen entspringen, der nur nach etwas sucht, was
  • ihn reizen und ärgern muß, und der einen Gegenstand nicht ruhig von
  • allen Seiten in Betracht zieht. Ich habe es mir in meinem Geiste lange
  • überlegt, wie ich mich über die Kritiker äußern sollte, die meine
  • Vorzüge hervorgehoben und anläßlich meiner Werke viele schöne Gedanken,
  • die die Kunst betrafen, ausgesprochen haben; ich wollte die Vorzüge und
  • die ästhetischen Gefühlsnuancen eines jeden von ihnen unvoreingenommen
  • feststellen und charakterisieren; ich wartete nur auf den Augenblick, wo
  • ich etwas hierüber sagen konnte, oder richtiger, wo es mir anstehen
  • würde, hierüber zu sprechen, damit man nachher nicht erklären sollte,
  • daß ich ein eigennütziges Ziel im Auge gehabt und mich nicht allein und
  • ganz vorurteilslos von meinem Gerechtigkeitsgefühl hätte lenken lassen.
  • Schreiben Sie die unbarmherzigsten Kritiken, wählen Sie die bittersten
  • Worte, über die Sie verfügen, um einen Menschen herabzusetzen, tragen
  • Sie das Ihre dazu bei, mich in den Augen Ihrer Leser lächerlich zu
  • machen, ohne die empfindlichsten Seiten des vielleicht zartfühlendsten
  • Herzens zu schonen -- meine Seele wird dies alles ertragen, wenn auch
  • nicht ohne Schmerz und ohne schmerzliche Erschütterungen; aber es ist
  • bitter, sehr bitter für mich -- dies erkläre ich Ihnen ganz aufrichtig
  • -- zu wissen, daß selbst ein böser Mensch Haß und Zorn gegen mich in
  • seinem Herzen hegt; und Sie habe ich doch für einen guten Menschen
  • gehalten. Dies der aufrichtige Ausdruck meiner Gefühle.
  • N. G.
  • II.
  • Aus einem Briefe Gogols an N. I. Prokopowitsch
  • Frankfurt, den 20. Juni (1847).
  • Du wunderst dich, daß ich so begierig bin, zu hören, was man über mein
  • Buch spricht. Das kommt daher, weil ich sehr begierig bin, die Menschen
  • kennen zu lernen, und aus den Urteilen über mein Buch gewinne ich doch
  • etwas wie eine Vorstellung von den Menschen mit all ihrem Wissen und
  • ihrer Unwissenheit; was jedoch viel wichtiger ist, dadurch gewinne ich
  • einen Einblick in ihre Seelenverfassung, die für mich noch weit
  • bedeutsamer ist, als ihre äußere Charakteristik, und die ich, wie du
  • selbst zugeben wirst, ohne mein Buch nie hätte kennen lernen können.
  • Übrigens, da wir gerade darüber reden: Vor einigen Tagen las ich
  • _Bjelinskis_ Kritik im zweiten Heft des »Zeitgenossen« (Sowremennik). Er
  • scheint zu glauben, daß das ganze Buch auf ihn gemünzt ist, und hat aus
  • ihm einen offenen Angriff gegen alle, die seine Ansicht teilen,
  • herausgelesen. Das ist ganz falsch; in meinem Buche sind, wie du siehst,
  • Angriffe gegen alle und gegen alles enthalten, was sich ins Maßlose
  • verliert. Wahrscheinlich hat er die »Leithämmel«[6] auf sich bezogen,
  • und doch galt diese Bemerkung bloß den Journalisten im allgemeinen.
  • Diese Gereiztheit hat mich sehr betrübt, nicht wegen der harten Worte,
  • die ich angeblich nicht zu ertragen vermag -- du weißt doch, daß ich die
  • härtesten Worte vertragen kann --, sondern weil dieser Mensch doch
  • immerhin während zehn Jahren, trotz aller Übertreibungen und
  • Maßlosigkeiten, mit Teilnahme und Sympathie von mir gesprochen und dabei
  • doch auch in ganz richtiger Weise auf viele Züge in meinen Werken
  • aufmerksam gemacht hat, die die anderen nicht bemerkt haben, obwohl sie
  • glaubten, ein viel besseres Verständnis für diese Dinge zu besitzen als
  • er. Ich müßte undankbar gegen diese Menschen sein, wo ich es doch
  • verstehe, selbst denen gerecht zu werden, die nichts als Mängel und
  • Fehler in mir entdecken und nur auf diese hinweisen! Aber gerade das
  • Gegenteil trifft zu: in diesem Falle habe ich mich nur getäuscht; ich
  • hielt Bjelinski für größer und glaubte nicht, daß er solch einer
  • kurzsichtigen Ansicht und solch kleinlicher Folgerungen fähig sei. Ich
  • weiß nicht, warum es einem so schwer wird, den Vorwurf der Undankbarkeit
  • zu ertragen, aber für mich war dieser Vorwurf schwerer als alle anderen
  • Vorwürfe, weil meine Seele tatsächlich sehr zur Dankbarkeit neigt, und
  • ich bin gerne dankbar, weil mir das selbst Genuß bereitet. Bitte sprich
  • hierüber mit Bjelinski und schreibe mir, welches seine Stimmung gegen
  • mich ist. Wenn ihm die Galle überläuft und er eine Wut gegen mich hat,
  • so mag er sie im »Zeitgenossen« (Sowremennik) an mir auslassen und zwar
  • in jeder Form, die ihm recht ist, nur soll er sie nicht wider mich in
  • seinem Herzen hegen[7]. Wenn sich jedoch sein Unmut gelegt haben sollte,
  • so gib ihm den beifolgenden Brief zu lesen, den du gleichfalls lesen
  • darfst.
  • [Fußnote 6: Vergl. Band 7: Von der Odyssee.]
  • [Fußnote 7: Hierauf erwiderte Prokopowitsch: »Mir scheint, du bist sehr
  • im Irrtum, wenn du glaubst, daß Bjelinski seinen Aufsatz geschrieben
  • hat, weil er deine Ausfälle gegen die Journalisten im allgemeinen auf
  • sich bezogen hat. Ich kenne Bjelinski schon lange und kann nicht anders,
  • als fest davon überzeugt sein, daß er nie eine Zeile geschrieben hat, um
  • sich für eine persönliche Kränkung zu rächen.«]
  • Aus alledem ersehe ich, daß ich genötigt sein werde, einige Erklärungen
  • über mein Buch abzugeben, weil nicht nur Bjelinski, sondern selbst
  • solche Leute, die mich und meine Persönlichkeit doch weit besser kennen
  • könnten als er, so seltsame Schlüsse aus meinem Werke ziehen, daß man
  • einfach starr ist. Offenbar enthält es weit mehr Dunkelheiten und
  • Unklarheiten, als ich selbst darin finde ...
  • III.
  • Bjelinskis Brief an Gogol
  • Sie haben nur teilweise recht, wenn Sie glauben, den Zorn eines
  • _verärgerten_ Menschen aus meinem Aufsatz herauslesen zu können. Dieses
  • Epitheton ist viel zu schwach und matt, um die Stimmung zu
  • charakterisieren, in die mich die Lektüre Ihres Briefes versetzt hat.
  • Aber Sie haben vollkommen unrecht, wenn Sie dies auf Ihr tatsächlich
  • nicht sehr schmeichelhaftes Urteil über die Verehrer Ihres Talentes
  • zurückführen. Nein, das hat einen anderen, weit gewichtigeren Grund.
  • Eine Kränkung, eine Verletzung unseres Selbstgefühls läßt sich noch
  • ertragen, und ich wäre vernünftig genug gewesen, über diesen Gegenstand
  • zu schweigen, wenn es sich bloß darum gehandelt hätte; was der Mensch
  • jedoch nicht ertragen kann, ist eine Verletzung seines Wahrheitsgefühls,
  • seiner Menschenwürde: man kann nicht mehr schweigen, wenn man unter dem
  • Deckmantel der Religion und einer Apologie der Knute Lüge und
  • Unsittlichkeit für Wahrheit und Tugend ausgibt.
  • Ja, ich habe Sie geliebt, ich habe Sie mit der ganzen Leidenschaft
  • geliebt, mit der ein Mensch -- den die Bande des Blutes mit seinem
  • Vaterlande verknüpfen, dessen Hoffnung, dessen Ehre und Ruhm -- einen
  • seiner großen Führer auf dem Wege zum Selbstbewußtsein, zum Fortschritt
  • und zur Entwicklung lieben kann. Und Sie hatten begründeten Anlaß, einen
  • Augenblick Ihre Seelenruhe zu verlieren, als Sie das Recht auf eine
  • solche Liebe einbüßten. Ich sage dies nicht deshalb, weil ich glaube,
  • meine Liebe sei ein würdiger Lohn für ein großes Talent, sondern
  • deshalb, weil ich in dieser Beziehung nicht nur eine einzige, sondern
  • viele Personen darstelle, deren Mehrzahl weder Sie noch ich je gesehen
  • und die Sie ihrerseits auch noch niemals kennen gelernt haben. Ich bin
  • nicht imstande, Ihnen auch nur einen schwachen Begriff von der Empörung
  • zu geben, die Ihr Buch in allen edlen Herzen hervorgerufen hat, noch von
  • dem wilden Freudengeheul, in das alle Ihre Feinde und alle die
  • unliterarischen Tschitschikows, Nosdrjows, Polizeimeister so gut wie
  • alle literarischen, deren Namen Ihnen wohlbekannt sind, ausgebrochen
  • sind. Sie sehen selbst, daß sogar Menschen von derselben Geistesrichtung
  • wie die, die in Ihrem Buche vertreten wird, Ihr Werk fallen lassen.
  • Selbst wenn es das Produkt einer tiefen, aufrichtigen Überzeugung wäre,
  • selbst dann müßte es denselben Eindruck auf das Publikum machen. Und
  • wenn alle (mit Ausnahme weniger Menschen, die man gesehen haben und die
  • man kennen muß, um sich nicht über ihren Beifall zu freuen) das Buch für
  • einen schlauen, aber gar zu ungenierten Trick hielten, um auf dem Umwege
  • über den Himmel einem höchst irdischen Ziel nachzujagen, -- so sind Sie
  • allein schuld daran. Und das ist durchaus nicht verwunderlich,
  • erstaunlich ist nur das, daß Sie sich darüber wundern. Ich glaube, das
  • käme daher, weil Sie Rußland _nur als Künstler_ so tief und gründlich
  • kennen, nicht aber auch als denkender Mensch, dessen Rolle Sie in Ihrem
  • phantastischen Buche mit so wenig Glück auf sich genommen haben. Und das
  • nicht etwa deswegen, weil Sie kein denkender Mensch sind, sondern
  • deshalb, weil Sie sich schon seit vielen Jahren daran gewöhnt haben,
  • Rußland aus einer gewissen lockenden Ferne anzusehen, es ist doch
  • bekannt, daß nichts leichter ist, als die Dinge aus der Ferne genau so
  • zu sehen, wie man sie gerne sehen möchte; denn Sie leben ja auch in
  • dieser _schönen Ferne_ ganz für sich und in sich selbst, bleiben ihr
  • selbst fremd und bewegen sich in dem einförmigen Kreise gleichgestimmter
  • oder doch solcher Menschen, die nicht kräftig genug sind, sich Ihrem
  • Einfluß zu widersetzen. Daher haben Sie auch nicht bemerkt, daß Rußlands
  • Heil nicht im Mystizismus und Asketismus, ebensowenig wie im Pietismus,
  • sondern vielmehr in dem Fortschritt der Zivilisation, der Aufklärung und
  • der Humanität liegt. Was es braucht, sind nicht Predigten (die hat es
  • genug gehört!) und nicht Gebete (die hat es genug gestammelt!), was es
  • braucht, ist, daß das Volk zum Gefühl seiner Menschenwürde erweckt wird,
  • ein Gefühl, das ihm für Jahrhunderte durch den Schmutz und die
  • Unsauberkeit, in denen es lebte, verloren gegangen war; was es braucht,
  • sind Rechte und Gesetze, nicht wie sie den Lehren der Kirche, sondern
  • wie sie der gesunden Vernunft und der Gerechtigkeit entsprechen, und
  • eine möglichst strenge und pünktliche Erfüllung dieser Gesetze. Statt
  • dessen aber bietet Rußland das furchtbare Bild eines Landes dar, in dem
  • Menschen mit Menschen handeln, ohne sich auch nur damit rechtfertigen zu
  • können, womit sich die schlauen amerikanischen Pflanzer entschuldigen,
  • die da behaupten, der Neger sei kein Mensch; das Bild eines Landes, in
  • dem sich die Menschen nicht beim Namen nennen, sondern sich mit plumpen
  • Kosenamen und Diminutiven wie Wanjka, Waßjka, Stjoschka, Palaschka
  • titulieren; eines Landes endlich, in dem es keinerlei Garantien für die
  • Integrität der Persönlichkeit, die Ehre und das Eigentum, ja nicht
  • einmal eine polizeiliche Ordnung, sondern nur gewaltige Korporationen
  • aller möglicher Diebe und Räuber in Ämtern und Würden gibt! Die
  • aktuellsten nationalen Fragen, die das Rußland von heute bewegen, sind
  • folgende: die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Abschaffung der
  • Prügelstrafe und die Sorge für eine möglichst strenge Durchführung zum
  • mindesten _der_ Gesetze, die es heute schon gibt. Das fühlt sogar die
  • Regierung selbst (die sehr gut weiß, wie die Gutsbesitzer ihre Bauern
  • behandeln, und wie viele von den ersten alljährlich durch die Hand der
  • letzten umkommen), was durch die schwächlichen, fruchtlosen und halben
  • Regierungsmaßnahmen zugunsten der weißen Neger und durch die komische
  • Einführung der einschwänzigen Knute an Stelle der dreischwänzigen
  • Peitsche dokumentiert wird.
  • Das sind die Fragen, die ganz Rußland während seines apathischen
  • Schlummers bewegen und beunruhigen! Und in einer solchen Zeit tritt ein
  • großer Schriftsteller, der durch seine wunderbaren, künstlerischen, von
  • tiefer Wahrheit durchdrungenen Werke so machtvoll an der Erweckung
  • Rußlands zum Selbstbewußtsein mitgearbeitet und ihm die Möglichkeit
  • gegeben hat, sich selbst wie in einem Spiegel zu sehen, mit einem Buche
  • auf, in dem er barbarische Gutsbesitzer im Namen Christi und der Kirche
  • unterweist, wie sie ihren Bauern möglichst viel Geld abnehmen können,
  • und sie belehrt, daß sie sie möglichst viel schimpfen sollen ... Und das
  • sollte mich nicht empören? Ja, wenn Sie einen Angriff auf mein Leben
  • unternommen hätten, könnte ich Sie nicht mehr hassen, wie um dieser
  • schmachvollen Zeilen willen ... Und danach wollen Sie, daß man an die
  • Aufrichtigkeit, an die gute Absicht Ihres Buches glauben soll! Nein!
  • Wenn Sie von der wahren Lehre Christi und nicht von einer falschen
  • teuflischen Lehre erfüllt wären, so hätten Sie in Ihrem neuesten Buche
  • etwas ganz anderes geschrieben. Sie hätten zum Gutsbesitzer gesagt: Da
  • seine Bauern seine Brüder in Christus seien, und da ein Bruder nicht der
  • Sklave seines Bruders sein kann, so seien die Gutsherren verpflichtet,
  • ihren Bauern die Freiheit zu schenken oder wenigstens ihre Arbeitskraft
  • möglichst im eigenen Interesse ihrer Bauern zu gebrauchen, da sich die
  • Herren in ihrem Inneren und vor ihrem Gewissen eingestehen müßten, wie
  • unwahrhaftig das zwischen ihnen und ihren Bauern bestehende Verhältnis
  • sei.
  • Und dann der Ausdruck: »_O du ungewaschenes Maul!_« Welchem Nosdrjow,
  • welchem Sabakewitsch haben Sie diesen Ausdruck abgelauscht, um ihn der
  • Welt als eine große Entdeckung zum Nutz und zur Belehrung der Bauern zu
  • überliefern, die sich ja auch ohnedies nur darum nicht waschen, weil sie
  • ihren Brüdern glauben und sich selbst nicht für Menschen halten? Und
  • Ihren Begriff von der nationalen russischen Rechtspflege, deren Ideal
  • Sie in der törichten Redensart erblicken, daß man sowohl den, der recht,
  • wie den, der unrecht hat, auspeitschen solle? Aber das geschieht ja auch
  • ohnedies oft genug bei uns, obwohl man freilich weit häufiger den
  • prügelt, der im Recht ist, wenn er sich durch nichts von der Strafe
  • loszukaufen vermag; sagt doch ein anderes Sprichwort in solch einem
  • Falle: Schuldig ohne Schuld! Und solch ein Buch konnte das Ergebnis
  • eines mühsamen und schwierigen inneren Prozesses, einer erhabenen
  • geistigen Erleuchtung sein! Das ist unmöglich! Entweder Sie sind krank
  • ... dann müssen Sie sich eiligst in Behandlung begeben, oder ... ich
  • wage es nicht, meinen Gedanken auszusprechen ... Apologet der Knute,
  • Apostel der Unwissenheit, Vorkämpfer des Obskurantismus und der
  • finstersten Reaktion, Verherrlicher tatarischer Sitten -- was tuen Sie!
  • Blicken Sie vor sich hin -- Sie stehen vor einem Abgrund. Daß Sie für
  • diese Lehre eine Stütze in der apostolischen Kirche suchen, das verstehe
  • ich noch: sie war ja doch stets die Stütze der Knute und die Bediente
  • des Despotismus: warum aber ziehen Sie Christus in diese Sache hinein?
  • Was haben Sie Gemeinsames zwischen ihm und der Kirche, vor allem aber
  • der griechisch-katholischen Kirche entdeckt? War er es doch, der den
  • Menschen zuerst die Lehre von der Freiheit, Gleichheit und
  • Brüderlichkeit verkündete und der die Wahrheit seiner Lehre durch sein
  • Martyrium bekräftigte und besiegelte. In dieser Lehre lag ja auch nur so
  • lange das _Heil_ der Menschen, als diese sich nicht zu einer Kirche
  • zusammenschlossen und das Prinzip der Orthodoxie zu ihrer Grundlage
  • machten. Die Kirche aber erschuf eine Hierarchie und wurde demgemäß eine
  • Vorkämpferin der Ungleichheit, die den Machthabern schmeichelte, eine
  • Feindin und Verfolgerin der Brüderlichkeit unter den Menschen -- und das
  • ist sie bis auf die heutige Zeit geblieben. Indessen, der Sinn der Lehre
  • Christi ist durch die philosophische Bewegung des verflossenen
  • Jahrhunderts an den Tag gebracht worden. Und daher ist ein Voltaire, der
  • in Europa mit dem Hauch seines Spottes alle Scheiterhaufen, die
  • Fanatismus und Unwissenheit errichteten, auslöschte, natürlich in weit
  • höherem Sinn ein Sohn Christi, Fleisch von Seinem Fleisch und Bein von
  • Seinem Bein, als alle Ihre Popen, Erzpriester, Metropoliten und
  • Patriarchen zusammen! Sollten Sie das wirklich nicht wissen? Das weiß
  • doch heute bereits jeder Gymnasiast! ... Sollte es daher wirklich
  • möglich sein, daß Sie, der Verfasser des »Revisors« und der »Toten
  • Seelen«, aufrichtigen Herzens einen Hymnus auf die niederträchtige
  • russische Geistlichkeit singen und sie so unendlich hoch über die
  • katholische stellen konnten? Nehmen wir einmal an, Sie wußten nicht, daß
  • diese Kirche einmal etwas bedeutet hat, während die erste nie etwas war,
  • als die Bediente und Sklavin der weltlichen Macht; -- wie --? sollten
  • Sie denn wirklich nicht wissen, daß unsere Geistlichkeit vom ganzen
  • russischen Volke und der russischen Gesellschaft verachtet wird? Von wem
  • erzählt das russische Volk obszöne Anekdoten? Vom Popen, von der
  • Popenfrau, von der Popentochter und vom Knecht des Popen. Ist nicht in
  • Rußland der Pope für jeden Russen der Inbegriff der Gefräßigkeit, des
  • Geizes, der Speichelleckerei, der Schamlosigkeit? Und das sollten Sie
  • alles nicht wissen? Seltsam! Nach Ihrer Meinung ist das russische Volk
  • das religiöseste Volk der Welt. Das ist eine Lüge. Die Grundlage der
  • Religiosität ist der Pietismus, die Ehrfurcht und die Gottesfurcht. Der
  • Russe dagegen kratzt sich den ... wenn er den Namen Gottes ausspricht
  • ... Und von den Heiligenbildern sagt er: sind sie gut -- so betet man zu
  • ihnen; sind sie nicht mehr zu brauchen -- so deckt man die Töpfe mit
  • ihnen zu.
  • Blicken Sie aufmerksamer hin und Sie werden sich überzeugen, daß dies
  • ein seinem innersten Wesen nach von Grund aus atheistisches Volk ist. Es
  • besitzt noch sehr viel Aberglauben, aber keine Spur von Religiosität.
  • Der Aberglaube verschwindet mit dem Fortschritt der Zivilisation, die
  • Religiosität aber erhält sich daneben und verträgt sich häufig mit ihm:
  • ein lebendiges Beispiel dafür ist Frankreich, wo es auch heute noch
  • unter den aufgeklärten und gebildeten Leuten viele aufrichtige
  • Katholiken gibt und wo viele zwar das Christentum aufgegeben haben,
  • dennoch aber noch an einem Gott festhalten. Nicht so das russische Volk:
  • mystische Exaltationen liegen nicht in seiner Natur; dazu besitzt es
  • viel zu viel gesunde Menschenvernunft, Klarheit und positiven Verstand,
  • und darin liegt vielleicht gerade die Gewähr für die Größe seiner
  • künftigen historischen Schicksale. Die Religiosität hat nicht einmal in
  • der Geistlichkeit Wurzel geschlagen, denn die wenigen eximierten
  • Persönlichkeiten, die sich durch eine solche kalte asketische
  • kontemplative Geisteshaltung auszeichneten, beweisen noch nichts. Die
  • Mehrzahl unserer Geistlichen dagegen sind nur durch dicke Bäuche,
  • scholastische Pedanterie und rohe Unwissenheit ausgezeichnet. Man würde
  • ihnen unrecht tun, wenn man ihnen religiöse Intoleranz und Fanatismus
  • vorwerfen wollte, man hätte eher noch Grund, ihren vorbildlichen
  • Indifferentismus in Sachen des Glaubens zu loben. Echte Religiosität
  • findet sich bei uns nur bei den Sektierern und Ketzern, die in einem
  • solchen Gegensatz zu dem Volksgeist stehen und deren Anzahl im Vergleich
  • zu der Masse des Volkes gar nicht ins Gewicht fällt.
  • Ich will nicht näher auf Ihren Dithyrambus auf das Band der Liebe
  • eingehen, das das russische Volk mit seinem Herrscher verknüpft. Ich
  • will es ohne Umschweife aussprechen: dieser Dithyrambus hat bei niemand
  • Sympathie gefunden und hat Ihnen selbst bei solchen Leuten geschadet,
  • die Ihnen in anderer Hinsicht, d. h. in ihren Anschauungen, sehr nahe
  • stehen. Was mich persönlich anbetrifft, so überlasse ich es Ihrem
  • Gewissen, ob Sie sich noch weiter verzückt in die Betrachtung der
  • göttlichen Schönheit des Selbstherrschertums versenken wollen (das ist
  • sehr bequem und daher sehr -- einträglich), nur bitte ich Sie, seien Sie
  • vernünftig und betrachten Sie es aus Ihrer _schönen Ferne_; aus der Nähe
  • gesehen ist es viel weniger schön und auch nicht so ungefährlich. -- Ich
  • will hier nur eins bemerken: wenn ein Europäer, besonders ein Katholik,
  • von dem religiösen Geist ergriffen wird, wird er zum Ankläger, der sich
  • gegen das Unrecht und die Ungerechtigkeit der Machthaber wendet, wie die
  • jüdischen Propheten, die die Ungerechtigkeiten und Missetaten der
  • Mächtigen an den Pranger stellten. Bei uns dagegen ist es umgekehrt:
  • wenn ein Mensch (selbst ein anständiger) von der Krankheit, die bei den
  • Psychiatern unter dem Namen _religiosa mania_ bekannt ist, ergriffen
  • wird, dann fängt er sofort an, dem irdischen Gotte mehr Weihrauch zu
  • spenden als dem himmlischen; dabei aber übertreibt er gleich und wird so
  • maßlos, daß der Gott, selbst wenn er ihn für seinen sklavischen
  • Diensteifer belohnen wollte, sieht, daß er sich damit vor der
  • Gesellschaft kompromittieren würde. -- Wir sind halt dumme Kerle --, wir
  • Russen.
  • Hierbei fällt mir noch ein, daß Sie in Ihrem Buche behaupten und es als
  • eine große Wahrheit hinstellen, daß Lesen und Schreiben dem einfachen
  • Volke nicht nur nicht nützen, sondern sogar geradezu schaden würde. Was
  • soll ich Ihnen darauf sagen?
  • Möge Ihnen Ihr byzantinischer Gott diesen byzantinischen Gedanken
  • verzeihen, wenn Sie nicht gewußt haben sollten, was Sie sagten, indem
  • Sie ihn niederschrieben. -- Aber vielleicht werden Sie entgegnen: »Es
  • ist möglich, daß ich mich geirrt habe und daß alle meine Gedanken falsch
  • sind, warum aber will man mir das Recht nehmen, mich zu irren, und warum
  • will man nicht an die Aufrichtigkeit meiner Irrtümer glauben?« Darauf
  • antworte ich Ihnen folgendes: weil eine solche Anschauung in Rußland
  • schon lange nichts Neues mehr ist. Erst vor kurzem ist sie von
  • Buratschok und Genossen in erschöpfender Weise vertreten worden.
  • Natürlich steckt in Ihrem Buche weit mehr Verstand und sogar Talent, als
  • in ihren Werken, obwohl es nicht allzu reich an beiden ist, dafür aber
  • haben jene die Ihnen gemeinsame Lehre mit viel größerer Energie und mit
  • weit größerer Konsequenz vertreten, sie sind kühn bis zu ihren letzten
  • Ergebnissen vorgedrungen, haben alles dem byzantinischen Gotte geopfert
  • und nichts für den Satan übriggelassen, während Sie jedem von beiden
  • eine Kerze stiften wollten, sich hierdurch in Widersprüche verwickelten
  • und für Puschkin, die Literatur und das Theater eintraten, die von Ihrem
  • Standpunkt aus, wenn Sie nur ehrlich genug gewesen wären, um konsequent
  • zu sein, nichts zum Heil unserer Seele, wohl aber sehr viel zu ihrem
  • Verderben beitragen können ... Wessen Hirn aber hätte den Gedanken von
  • der Identität Gogols und Buratschoks ertragen können? Sie haben sich
  • einen viel zu hohen Platz in der Meinung des russischen Publikums
  • erobert, als daß es Ihnen die Aufrichtigkeit solcher Überzeugungen zu
  • glauben vermöchte. Was uns bei einem Toren natürlich vorkommt, kann uns
  • bei einem genialen Mann nicht so erscheinen. Es gibt Menschen, die auf
  • den Gedanken gekommen sind, Ihr Buch sei die Frucht einer geistigen
  • Störung, die ganz positiv an Wahnsinn grenzt. Aber sie haben diese
  • Folgerung bald wieder fallen gelassen -- denn es ist doch ganz klar, daß
  • dies Buch nicht an einem Tag, auch nicht in einer Woche oder in einem
  • Monat, sondern vielleicht während eines ganzen Jahres geschrieben wurde,
  • oder daß Sie gar zwei oder drei Jahre lang daran gearbeitet haben; alles
  • darin hängt sehr genau zusammen, selbst die nachlässige Darstellung läßt
  • erkennen, daß viel Überlegung darin steckt, daß es wohl durchdacht ist.
  • Ein Hymnus auf die höchsten Machthaber ist ja doch auch sehr geeignet,
  • dem frommen Autor eine angenehme und gesicherte irdische Existenz zu
  • verschaffen. Das war der Grund, weshalb sich in Petersburg das Gerücht
  • verbreitete, Sie hätten dieses Buch geschrieben, um Erzieher bei dem
  • Sohne des Thronfolgers zu werden. Schon früher ist in Petersburg einer
  • Ihrer Briefe an Uwarow bekanntgeworden, in dem Sie mit Schmerz davon
  • sprechen, daß man in Rußland Ihre Werke falsch auslegt, Ihre
  • Unzufriedenheit mit Ihren früheren Schriften äußern und erklären, Ihre
  • Werke würden Sie erst dann befriedigen, wenn Sie den Beifall des Zaren
  • fänden. Und nun urteilen Sie selbst, ob man sich wundern kann, daß Ihr
  • Buch Ihnen beim Publikum sowohl als Schriftsteller, noch viel mehr aber
  • als Mensch geschadet hat.
  • Sie verstehen, wie ich sehe, das russische Publikum nicht recht. Sein
  • Charakter wird durch die Situation bestimmt, in der sich die russische
  • Gesellschaft befindet. In ihr regen sich frische Kräfte, die nach außen
  • drängen, jedoch durch den schweren Druck, der auf ihr lastet, gehemmt
  • werden und, da sie keinen Ausweg finden, nichts wie Trübsinn,
  • Melancholie und Apathie erzeugen. Nur in der Literatur regt sich trotz
  • der tatarischen Zensur noch etwas wie Leben und Fortschritt. Daher ist
  • auch der Schriftstellerberuf bei uns etwas so Edles und Hohes, und daher
  • wird es bei uns selbst dem kleinsten Talent so leicht, einen
  • literarischen Erfolg zu erringen. Der Name des Poeten, der Titel des
  • Literaten haben bei uns schon längst den glänzenden Flitter der
  • Epauletten und der bunten Uniformen verdunkelt. Das ist auch der Grund,
  • weshalb bei uns jede sogenannte literarische Tendenz und Bewegung,
  • selbst bei einem geringen und dürftigen Talent, auf den Lohn der
  • allgemeinen Beachtung rechnen darf, und warum die Popularität der großen
  • Talente so schnell dahinsinkt, die ihre Kräfte aus ehrlicher Überzeugung
  • oder aus unehrlichen Motiven in den Dienst der Orthodoxie, des
  • Absolutismus und des Nationalismus stellen. Das treffendste Beispiel
  • hierfür ist Puschkin, der nur zwei oder drei untertänige Gedichte zu
  • schreiben und die Kammerjunkerlivree anzulegen brauchte, um mit einem
  • Schlage die Liebe seines Volkes zu verlieren! Sie sind in einem großen
  • Irrtum befangen, wenn Sie allen Ernstes glauben, daß der Mißerfolg Ihres
  • Buches nicht seiner schlimmen Tendenz, sondern der Härte der Wahrheiten
  • zuzuschreiben sei, die Sie allen und jedem ins Gesicht gesagt hätten.
  • Das konnten Sie vielleicht von den Literaten glauben, wie aber paßte das
  • Publikum in diese Kategorie? Wäre es wirklich möglich, daß Sie ihm im
  • »Revisor«, in den »Toten Seelen« mit geringerer Schärfe und weniger
  • Wahrheit und Talent weniger bittere Wahrheiten gesagt haben sollten? Die
  • alte Schule zürnte und grollte Ihnen ja auch tatsächlich bis zur
  • Raserei, aber der »Revisor« und die »Toten Seelen« sind darum doch nicht
  • vergessen, während Ihr Buch schmählich vom Orkus verschlungen wurde. Und
  • das Publikum hat in diesem Falle recht: es sieht in den russischen
  • Schriftstellern seine einzigen Führer, seine Beschützer und Erretter aus
  • dem russischen Absolutismus, der Orthodoxie und dem Nationalismus, daher
  • ist es stets bereit, einem Schriftsteller ein _schlechtes_ Buch zu
  • verzeihen, nie aber wird es ihm ein _schädliches_ Buch vergeben. Das
  • beweist, wieviel frische gesunde Instinkte, wenn auch erst keimhaft, in
  • unserer Gesellschaft schlummern, und es beweist auch, daß diese
  • Gesellschaft eine Zukunft hat. Wenn Sie Rußland lieben, so freuen Sie
  • sich über die Niederlage Ihres Buches.
  • Nicht ohne eine gewisse Eitelkeit darf ich Ihnen sagen, daß ich das
  • russische Publikum ein wenig zu kennen glaube. Ihr Buch hat mich
  • erschreckt, weil ich es für möglich hielt, daß es einen schlechten
  • Einfluß auf die Regierung und auf die Zensur ausüben, nicht aber, weil
  • ich daran glaubte, daß es das Publikum in schlechtem Sinne beeinflussen
  • könnte. Als sich in Petersburg das Gerücht verbreitete, die Regierung
  • wolle Ihr Buch in vielen tausend Exemplaren drucken und zu ganz billigem
  • Preise verkaufen lassen -- wurden meine Freunde mutlos; ich sagte ihnen
  • jedoch sogleich, daß das Buch trotz alledem keinen Erfolg haben und daß
  • es bald vergessen sein werde. Und so lebt es ja auch heute tatsächlich
  • mehr in den Aufsätzen, die über es geschrieben wurden, als durch sich
  • selbst in der Erinnerung des Publikums weiter. Ja, der Russe hat einen
  • tiefen, obwohl noch unentwickelten Wahrheitsinstinkt.
  • Ihr Appell mag ja vielleicht ganz aufrichtig gewesen sein, aber Ihr
  • Gedanke, dem Publikum davon Mitteilung zu machen, war äußerst
  • unglücklich. Die Zeiten naiver Frömmigkeit sind selbst für _unsere_
  • Gesellschaft längst vorüber. Sie begreift schon, daß es ganz gleich ist,
  • wo man betet, und daß nur solche Leute Christus in Jerusalem suchen, die
  • ihn entweder nie in ihrem Busen getragen oder die ihn doch wieder
  • verloren haben. Wer da fähig ist, beim Anblick fremder Leiden selbst zu
  • leiden, wem es schwer wird, mitanzusehen, wie Menschen, die ihm völlig
  • fremd sind, bedrückt werden, -- der trägt Christus in seiner Brust und
  • der braucht nicht zu Fuß nach Jerusalem zu pilgern. Die Demut und
  • Ergebung, die Sie predigen, ist nichts Neues und schmeckt erstlich nach
  • furchtbarer Überhebung und zweitens nach einer höchst schmachvollen
  • Herabsetzung der eigenen Menschenwürde. Der Gedanke, sich in ein
  • abstraktes Vollkommenheitsideal zu verwandeln und sich durch seine Demut
  • über alle anderen Menschen zu erheben, kann nur die Frucht des Hochmuts
  • oder des Schwachsinns sein und führt in beiden Fällen nur zur Heuchelei,
  • zum Pharisäertum und zum Chinesentum. Und dabei haben Sie sich erlaubt,
  • sich nicht nur in unsauberen und zynischen Ausdrücken über andere zu
  • äußern (das wäre schließlich nur eine Unhöflichkeit gewesen), nein, Sie
  • sprechen auch so von sich selbst -- und das ist einfach häßlich; denn
  • wenn ein Mensch, der seinen Nächsten auf die Backe schlägt, uns zur
  • Empörung reizt, so erregt ein Mensch, der sich selbst ohrfeigt, unsere
  • Verachtung. Nein, Ihr Geist ist verfinstert und nicht erleuchtet: Sie
  • haben weder den Geist, noch die Form des Christentums unserer Zeit
  • verstanden. Nicht die Wahrheit der christlichen Liebe, sondern
  • krankhaftes Todesgrauen und Furcht vor Hölle und Teufel spricht aus
  • Ihrem Buch.
  • Und welch eine Sprache, was für Sätze sind das: »Die Menschen sind heute
  • allzumal solch traurige jämmerliche Waschlappen geworden.« Glauben Sie
  • wirklich, daß das heißt, sich biblisch ausdrücken, wenn Sie sagen, die
  • Menschen sind allzumal, statt alle? Welch große Wahrheit ist es doch,
  • daß, wenn der Mensch sich gänzlich der Lüge hingibt, ihn auch Verstand
  • und Talent im Stich lassen. Wenn nicht Ihr Name unter dem Titel Ihres
  • Buches stünde, wer hätte gedacht, daß dieser geschwollene und wirre
  • Wort- und Phrasenflitter -- ein Werk des Verfassers der »Toten Seelen«
  • und des »Revisors« sein könnte!
  • Was endlich mich selbst anbetrifft, so erkläre ich Ihnen nochmals: Sie
  • haben sich geirrt, wenn Sie meinen Aufsatz für eine Frucht der
  • Verärgerung hielten, die durch Ihr Urteil über mich als einen Ihrer
  • Kritiker hervorgerufen sei. Wenn mich nur dies allein empört hätte, dann
  • hätte ich mich auch wirklich nur über dies eine empört und ärgerlich
  • geäußert und über das andere ganz ruhig und unvoreingenommen gesprochen.
  • Freilich ist es ganz richtig, daß Ihr Urteil über Ihre Verehrer in
  • doppelter Hinsicht sehr unschön war. Ich erkenne an, daß es notwendig
  • sein kann, einem Toren zuweilen einen kräftigen Schlag zu versetzen,
  • wenn er uns durch seine Lobeserhebungen und seine Begeisterung
  • lächerlich macht, aber auch das ist eine _bittere_ Notwendigkeit, denn
  • es ist nicht angenehm, nicht ganz menschlich, einem Menschen -- selbst
  • für seine falsche, auf einem Irrtum beruhende Liebe -- mit Haß und
  • Feindschaft zu zahlen. Sie aber hatten, wenn auch nicht gerade Menschen
  • von auserlesenen Verstandesfähigkeiten, zum mindesten solche, die auch
  • keine Toren sind, im Auge. Diese Leute haben voller Bewunderung über
  • Ihre Werke weit mehr Geschrei gemacht, als sie Vernünftiges über sie
  • gesagt haben, immerhin aber stammte ihr Enthusiasmus aus einer so reinen
  • und edlen Quelle, daß Sie sie keinesfalls ihrem gemeinsamen Feinde
  • bedingungslos hätten ausliefern und ihnen noch den Vorwurf machen
  • dürfen, sie strebten danach, Ihren Werken eine falsche Deutung zu geben.
  • Sie haben dies natürlich aus Unvorsichtigkeit getan und, weil Sie sich
  • von dem Grundgedanken Ihres Buches fortreißen ließen, während
  • Wjasemskij, dieser Fürst unter den Aristokraten und dieser Lakai unter
  • den Literaten, Ihren Gedanken weiter ausführte und eine private
  • Denunziation gegen Ihre Verehrer (also in erster Linie gegen mich)
  • veröffentlichte. Er hat dies wahrscheinlich aus Dankbarkeit gegen Sie
  • getan, weil Sie diesen erbärmlichen Reimschmied zu einem großen Dichter
  • gemacht haben, wahrscheinlich, und soviel ich mich erinnere, wegen
  • seines »matten an der Erde klebenden Verses«. Das alles ist nicht schön.
  • Daß Sie jedoch nur auf den Zeitpunkt gewartet haben, wo es Ihnen möglich
  • sein würde, auch den Verehrern Ihres Talents Gerechtigkeit widerfahren
  • zu lassen (nachdem Sie Ihren Feinden mit stolzer Bescheidenheit gerecht
  • geworden waren) -- das war mir unbekannt; ich konnte es nicht wissen und
  • hätte es, offen gestanden, auch nicht wissen wollen. Vor mir lag Ihr
  • Buch und nicht Ihre Absichten! Ich las es, las es hundertmal
  • nacheinander und konnte dennoch nichts darin finden als das, was darin
  • steht, und das, was darin stand, beleidigte und empörte meine Seele aufs
  • tiefste.
  • Wenn ich meinem Gefühl freien Lauf lassen wollte, würde sich dieser
  • Brief bald in ein dickes Heft verwandeln. Ich habe nie daran gedacht,
  • Ihnen hierüber zu schreiben, obwohl ich vom qualvollen Wunsche danach
  • verzehrt wurde, und obwohl Sie allen und jedem öffentlich das Recht
  • gegeben hatten, Ihnen ganz ungeniert zu schreiben, da Sie keine andere
  • Rücksicht kennten, als die der Wahrheit. In Rußland hätte ich das nicht
  • tun können, da die dortigen »Schpekins« fremde Briefe öffnen, und zwar
  • nicht zu ihrem persönlichen Vergnügen, sondern weil sie dienstlich dazu
  • verpflichtet sind und um andere Leute zu denunzieren. Im Sommer dieses
  • Jahres trieb mich eine beginnende Schwindsucht ins Ausland, und
  • Nekrassow sandte mir Ihren Brief nach Salzbrunn nach, von wo ich heute
  • in Gesellschaft Annenkows über Frankfurt am Main nach Paris weiterreise.
  • Der unerwartete Empfang Ihres Briefes gab mir die Möglichkeit, Ihnen
  • alles zu sagen, was mir auf der Seele lag und was ich gegen Sie und Ihr
  • Buch empfand. Ich kann keine Halbheiten sagen und keine Winkelzüge
  • machen, das liegt nicht in meiner Natur. Mögen Sie oder die Zeit mich
  • belehren, daß ich mich in meinen Schlüssen über Sie geirrt habe. Ich
  • würde der erste sein, der sich hierüber freuen würde, aber ich werde nie
  • bereuen, was ich Ihnen gesagt habe. Hier handelt es sich nicht um meine
  • oder Ihre Person, sondern um etwas weit Größeres und Höheres, als ich
  • und selbst Sie sind, hier handelt es sich um die Wahrheit, um die
  • russische Gesellschaft, um Rußland.
  • Und dies ist mein letztes Wort, mit dem ich schließe: wenn Sie den
  • unglücklichen Einfall hatten, Ihre wahrhaft großen Werke mit stolzer
  • Bescheidenheit zu verleugnen, so müssen Sie nun mit aufrichtiger Demut
  • Ihr letztes Buch abschwören und die schwere Schuld, die Sie durch seine
  • Veröffentlichung auf sich geladen haben, durch neue Schöpfungen wieder
  • gutmachen, die an Ihre früheren Werke erinnern.
  • Salzbrunn, den 15. Juli 1847.
  • IV.
  • Gogol an Bjelinski[8]
  • [Fußnote 8: Von diesem Brief ist nur das ursprüngliche Konzept
  • vorhanden. Es umfaßt zwei auf Briefpapier geschriebene Hefte in
  • Oktavformat. Beide Hefte wurden von Gogol in Stücke gerissen, so daß
  • jedem Heft ungefähr zehn Blätter entsprachen. Der russische Herausgeber
  • hat die einzelnen Stücke wieder aneinander gelegt und den ursprünglichen
  • Wortlaut nach Möglichkeit durch entsprechende Ergänzungen und
  • Einschaltungen wiederherzustellen gesucht. Die fehlenden Stellen sind
  • durch Punkte ersetzt.]
  • Womit sollte ich meine Antwort auf Ihr Schreiben beginnen, wenn nicht
  • mit Ihren eigenen Worten: »Kommen Sie zu sich, Sie stehen am Rande eines
  • Abgrundes!« Wie weit sind Sie vom geraden Weg abgekommen! In welch
  • verzerrter, entstellter Gestalt erscheinen Ihnen die Dinge! Welch rohe,
  • ungebildete Vorstellung haben Sie von meinem Buche gefaßt! Wie haben Sie
  • es ausgelegt! ... Oh, mögen die heiligen Mächte Frieden in Ihre leidende
  • Seele gießen! Wozu mußten Sie den einmal gewählten friedlichen Weg gegen
  • einen anderen vertauschen? Was konnte herrlicher sein, als die Leser auf
  • die Schönheiten in den Werken unserer Schriftsteller hinzuweisen, ihre
  • Seele und ihre Geisteskräfte bis zum Verständnis alles Schönen zu
  • erheben, die Schauer der in ihnen geweckten Sympathie zu genießen und so
  • unmerklich auf ihre Seele einzuwirken? Dieser Weg hätte Sie zur
  • Versöhnung mit dem Leben geführt, Sie gelehrt, alles in der Natur zu
  • segnen. Jetzt dagegen fließt Ihr Mund von Haß und Galle über ... Wozu
  • mußten Sie mit Ihrer feurigen Seele sich in diesen Strudel des
  • politischen Lebens, in diese trüben Tageskämpfe stürzen, bei denen
  • selbst ein vielseitiger Geist seine Festigkeit und Umsicht verlieren
  • muß. Wie sollten Sie mit Ihrem einseitigen Geist, der die Explosivkraft
  • des Pulvers hat und sich schon entzündet, noch ehe Sie sich davon
  • überzeugt haben, was Wahrheit und was Lüge ist, wie sollten Sie da nicht
  • die Orientierung verlieren? Sie werden verbrennen wie eine Kerze und
  • auch andere mit sich in den Flammentod reißen ... Oh, wie tut mir mein
  • Herz in diesem Augenblicke weh um Ihretwillen! Wie, wenn auch ich
  • mitschuldig wäre? Wie, wenn auch meine Werke an Ihren Verirrungen
  • teilhätten? Aber nein, wenn ich alle meine früheren Werke betrachte, so
  • sehe ich, daß _sie_ Sie nicht irreleiten konnten ... Als ich sie
  • schrieb, hatte ich Ehrfurcht vor allem, wovor sich der Mensch beugen
  • muß. Mein Spott und mein Haß galten nicht der Obrigkeit und nicht den
  • _höchsten_ Gesetzen unseres Staates, sondern ihrem Zerrbild, den
  • Abweichungen, ihrer falschen Auslegung und den verkehrten Anwendungen.
  • Nirgends habe ich über den Kern des russischen Charakters und die
  • gewaltigen Kräfte, die in ihm schlummern, gespottet. Ich habe nur über
  • das Kleinliche und Nichtige gespottet, das nicht zu seinen
  • Charakterzügen gehört. Mein Fehler bestand darin, daß ich den Russen
  • noch nicht deutlich genug charakterisiert, sein Wesen nicht völlig
  • entfaltet, daß ich die tiefen Quellen, die in seiner Seele verborgen
  • liegen, nicht aufgedeckt habe. Aber das ist keine leichte Sache. Wenn
  • ich den Russen auch gründlich erforscht habe und wenn mir auch eine
  • gewisse hellseherische Begabung dabei behilflich sein konnte, so war ich
  • doch nicht durch mich selbst geblendet, meine Augen waren klar. Ich sah,
  • daß ich noch nicht reif genug war, um den Kampf mit Ereignissen, die
  • bedeutsamer und von höherer Art waren, als die, die bis dahin in meinen
  • Werken vorkamen, und mit stärkeren Charakteren aufnehmen zu können.
  • Alles konnte übertrieben und gewaltsam erscheinen. Und so geschah es
  • auch mit diesem Buch, über das Sie so hergefallen sind. Sie haben es mit
  • glühenden Augen betrachtet, und alles darin ist Ihnen in ganz anderem
  • Lichte erschienen, als es in Wirklichkeit ist. Sie haben es nicht
  • verstanden. Ich will mein Buch nicht verteidigen. Ich selbst habe es
  • schlecht gemacht und mache es noch schlecht. Ich habe mich bei seiner
  • Veröffentlichung einer Hast und Übereilung schuldig gemacht, die sonst
  • nicht in meinem besonnenen und vorsichtigen Charakter liegt. Aber das
  • Motiv war ehrlich. Ich wollte niemand mit dem Buch schmeicheln oder
  • Weihrauch streuen. Ich wollte nur ein paar allzu stürmische Köpfe zur
  • Besonnenheit mahnen, die im Begriffe waren, sich zu verirren und in
  • diesen Strudel und diese Unordnung zu stürzen, in die plötzlich alle
  • Dinge dieser Welt gestürzt waren, zu einer Zeit, wo der Geist in unserem
  • Innern sich zu umnachten schien und gleichsam erlöschen wollte. Ich bin
  • in Übertreibungen verfallen, aber ich versichere es Ihnen, ich habe es
  • selbst nicht gemerkt. Eigennützige Ziele aber habe ich weder früher
  • gehabt, als mich die Lockungen der Welt anzogen, noch viel weniger aber
  • jetzt, wo es Zeit ist, daß ich an meinen Tod denke ... Ich wollte mir
  • nichts dadurch erbetteln. Das liegt nicht in meiner Art. Gottlob, ich
  • habe meine Armut liebgewonnen und würde sie niemals gegen jene Güter
  • eintauschen, die Ihnen so verlockend erscheinen. Sie hätten doch
  • mindestens daran denken sollen, daß ich keinen Winkel mein eigen nenne,
  • ja ich bin sogar darum bemüht, meinen kleinen Reisekoffer möglichst zu
  • erleichtern, damit mir der Abschied von der Welt nicht zu schwer wird.
  • Sie hätten sich also hüten sollen, solche beleidigende Verdächtigungen
  • gegen mich zu schleudern, die ich offen gestanden nicht einmal gegen den
  • gemeinsten Schuft zu erheben den Mut gehabt hätte ... Sie entschuldigen
  • sich damit, daß der Brief im Zustande heftiger Empörung geschrieben ist.
  • Aber in welch einer Stimmung wagen Sie es, so respektlos von den
  • wichtigsten Dingen zu reden?
  • Wie soll ich mich gegen Ihre Angriffe verteidigen, wenn Ihre Angriffe
  • ihr Ziel verfehlen? -- Nein, ein jeder von uns muß daran erinnert
  • werden, daß sein Beruf heilig ist. -- Er sollte daran denken, welch
  • strenge Rechenschaft von ihm gefordert werden wird ... Aber wenn der
  • Beruf eines jeden von uns heilig ist, so ist es vor allem das Amt
  • dessen, dem die schwere und furchtbare Pflicht zugefallen ist, für
  • Millionen zu sorgen. Ja wir müßten einander sogar an die Heiligkeit
  • unserer Pflichten mahnen. Ohne dies würde der Mensch in rein materiellen
  • Gefühlen versinken. -- Oder glauben Sie, das wisse kein Mensch in
  • Rußland? Sehen wir einmal genauer zu, woher das kommt. Rührt diese
  • Neigung zum Luxus und diese furchtbare Häufung der Laster nicht daher,
  • weil jeder sein _eigenes Steckenpferd_ hat? Der eine guckt nach England,
  • ein anderer nach Preußen, ein dritter nach Frankreich hinüber; der eine
  • schwört auf die einen Prinzipien, ein anderer auf andere; der eine kommt
  • uns mit dem einen Projekt, ein anderer mit einem anderen. Soviel Köpfe
  • soviel Sinne ... Und da sollte es bei einer solchen Uneinigkeit keine
  • Diebe und Gauner und kein Unrecht aller Art geben, wenn ein jeder sieht,
  • daß sich uns überall Hindernisse in den Weg stellen, wo ein jeder nur an
  • sich und daran denkt, wie er sich ein recht warmes Plätzchen verschaffen
  • könnte? ... Sie sagen, Rußlands Heil liege in der europäischen
  • _Zivilisation_; aber was ist das für ein unbestimmtes uferloses Wort?
  • Wenn Sie doch wenigstens klar definiert hätten, was man unter dem Namen
  • der europäischen Zivilisation verstehen soll! Dazu gehören sowohl die
  • Phalanstère, die Roten und alle möglichen Kategorien anderer Leute, die
  • allesamt bereit sind, einander aufzufressen, und die alle solch
  • umstürzlerische destruktive Prinzipien haben, daß in Europa jeder
  • denkende Kopf zittert und sich unwillkürlich fragt: wo ist denn nun
  • unsere Zivilisation? Ein leeres Phantom hat die Gestalt dieser
  • Zivilisation angenommen ...
  • Wo haben Sie ferner die Meinung hergenommen, daß ich einen Hymnus auf
  • unsere Geistlichkeit gedichtet habe? Ich habe gesagt, die Predigt des
  • Priesters der morgenländischen Kirche solle in seinem Leben und in
  • seinen Taten bestehen. Und woher kommt dieser Geist des Hasses bei
  • Ihnen? Ich habe sehr viel schlimme Pfarrer gekannt und kann Ihnen sehr
  • viele komische Anekdoten über sie erzählen, aber dafür bin ich auch
  • solchen Priestern begegnet, über deren heiligen Lebenswandel und über
  • deren hohe Taten ich staunen mußte, und ich sah, daß sie Produkte
  • unserer morgenländischen und nicht solche der abendländischen Kirche
  • waren. Es ist mir also gar nicht eingefallen, einen Hymnus auf unsere
  • Geistlichkeit zu singen, die unsere Kirche schändet, wohl aber auf die
  • Geistlichen, die dazu beitragen, sie zu erhöhen.
  • Wie merkwürdig ist doch meine Lage, daß ich mich gegen Angriffe
  • verteidigen muß, die sich alle gar nicht gegen mich und gegen mein Buch
  • richten! Sie sagen, Sie hätten mein Buch angeblich hundertmal gelesen,
  • während Ihre eigenen Worte davon zeugen, daß Sie es nicht ein einziges
  • Mal gelesen haben. Der Zorn hat Ihre Augen umnebelt und trägt die
  • Schuld, daß Sie nichts in seinem wahren Lichte gesehen haben. Hie und da
  • leuchtet ein Funke von Wahrheit inmitten eines ungeheuren Haufens von
  • Sophismen und unüberlegter jugendlicher schwärmerischer Verirrungen auf.
  • Aber welcher Mangel an Bildung! Wie kann man es wagen, bei so einem
  • geringen Fond von Kenntnissen von so großen Erscheinungen zu sprechen?
  • Sie scheiden die Kirche vom Christentum, dieselbe Kirche und dieselben
  • Priester, die durch ihren Märtyrertod die Wahrheit jedes Wortes, das aus
  • Christi Munde kam, besiegelt haben, von denen Tausende durch das Messer
  • und das Schwert des Mörders umkamen, für den sie beteten, bis sie
  • schließlich ihre Henker ermüdeten, so daß die Sieger den Besiegten zu
  • Füßen fielen und die ganze Welt sich zu ihrer Lehre bekannte. Und diese
  • selben Priester, diese Bischöfe und Märtyrer, die das Heiligtum der
  • Kirche auf ihren Schultern durch alle Fährnisse hindurchgetragen und
  • gerettet haben, wollen Sie von Christus scheiden, indem Sie sie falsche
  • Ausleger der Lehre Christi nennen! Wer kann denn dann heute Ihrer
  • Ansicht nach Christus besser und genauer auslegen? Etwa die heutigen
  • Kommunisten und Sozialisten, die da behaupten, Christus habe geboten,
  • den Menschen ihr Eigentum wegzunehmen und die auszuplündern, die sich
  • ein Vermögen erworben haben? Kommen Sie doch zur Besinnung -- wohin sind
  • Sie geraten? Sie erklären, daß Voltaire dem Christentum einen Dienst
  • geleistet habe, und sagen, das sei jedem Gymnasiasten bekannt. Als ich
  • noch auf dem Gymnasium war, habe ich selbst _damals_ nicht für Voltaire
  • geschwärmt. Ich war schon damals klug genug, um zu sehen, daß Voltaire
  • ein gewandter Witzling, aber keineswegs ein tiefer Mensch war. Für einen
  • Voltaire konnte weder ein Puschkin, noch ein Ssuworow schwärmen, wie
  • überhaupt kein mehr oder weniger umfassender Geist. Voltaire ist trotz
  • aller seiner glänzenden _Aperçus_ immer nur der Franzose geblieben, der
  • davon überzeugt ist, daß man lachend und scherzend von allen hohen
  • Gegenständen sprechen kann. Von ihm kann man sagen, was Puschkin von den
  • Franzosen im allgemeinen gesagt hat:
  • Der Franzos ist ein Kind,
  • Er stürzt geschwind
  • Einen Thron über Nacht,
  • Schafft Gesetz und Macht,
  • Ist schnell -- wie der Blitz
  • Und leer wie der Witz.
  • Er reizt und macht,
  • Daß man staunt und lacht
  • -- -- -- -- -- -- --
  • Man kann nicht auf Grund einer oberflächlichen journalistischen Bildung
  • über solche Gegenstände urteilen. Dazu muß man die Geschichte der Kirche
  • studiert haben. Dazu muß man die ganze Geschichte der Menschheit
  • verständnisvoll und mit Überlegung aus den Quellen selbst kennen lernen
  • und nicht etwa aus modernen oberflächlichen Broschüren, die Gott weiß
  • wer geschrieben hat. Dieses flache enzyklopädische Wissen zerstreut den
  • Geist nur und konzentriert ihn nicht.
  • Was soll ich Ihnen auf Ihre schroffen Bemerkungen über den russischen
  • Bauern sagen -- Bemerkungen, die Sie mit so viel Selbstvertrauen und
  • Sicherheit vorbringen, als ob Sie Gott weiß wie lange mit den Bauern zu
  • tun gehabt hätten? Was soll ich dazu sagen, wenn doch Tausende von
  • Kirchen und Klöstern, die das russische Land erfüllen und die nicht aus
  • den Mitteln, die von den Reichen gestiftet, sondern aus den armseligen
  • Groschen der Besitzlosen erbaut werden, eine so überzeugende Sprache
  • sprechen! ... Nein, ein Mensch, der sein Leben lang in Petersburg
  • zugebracht hat und es beständig mit leichten Zeitungsaufsätzen
  • französischer Romanschreiber zu tun hat, die sich so in ihre Ideen
  • verrannt haben, und der nicht merkt, in welcher verzerrten Form und wie
  • töricht das Leben bei ihnen dargestellt ist, nein, ein solcher Mensch
  • kann nicht über das Volk urteilen. Gestatten Sie mir auch zu bemerken,
  • daß ich mehr Recht habe, über das russische Volk zu sprechen, _als Sie_.
  • Alle meine Werke zeugen, nach der einstimmigen Überzeugung aller Leute,
  • von einer gründlichen Kenntnis des russischen Wesens; sie sind die
  • Schöpfungen eines Schriftstellers, der das Volk ernsthaft studiert und
  • beobachtet hat und vielleicht schon die Gabe besitzt, sich in seine
  • Lebensgewohnheiten hineinzuversetzen, was auch Sie in Ihren Kritiken
  • zugestanden haben. Was aber wollen _Sie_ zum Beweise Ihrer Kenntnis des
  • russischen Wesens anführen? Was haben Sie geschrieben, woraus eine
  • solche Kenntnis hervorginge? Das ist ein großer Gegenstand, und darüber
  • könnte ich Ihnen ganze Bücher vollschreiben. Sie würden sich schämen,
  • daß Sie den Ratschlägen, die ich einem Gutsbesitzer erteile, solch einen
  • plumpen Sinn untergelegt haben. Diese Ratschläge mögen eine noch so
  • geringe Bedeutung haben, sie enthalten jedenfalls keineswegs einen
  • Protest gegen die Volksbildung ... sondern höchstens einen Protest gegen
  • die Korruption des russischen Volkes durch die Literatur, während doch
  • die Schriftkunde uns gegeben ward, um den Menschen zur höchsten Klarheit
  • zu führen. Überhaupt erinnern Ihre Urteile über die Gutsbesitzer an die
  • Zeiten Von-Wisins. Seit jener Zeit hat sich vieles, sehr vieles in
  • Rußland verändert, und seitdem ist sehr viel Neues entstanden. Daß die
  • Aufsicht und Autorität eines Gutsbesitzers, der die Universität besucht
  • und folglich für vieles ein Gefühl hat, ... weit günstiger und
  • vorteilhafter für die Bauern ist, ... wie es ja auch viele Gegenstände
  • gibt, über die wir rechtzeitig nachdenken sollten, ehe wir mit dem
  • himmelstürmenden Feuer des Jünglings oder Ritters darüber reden ...
  • Überhaupt bemüht man sich bei uns weit mehr um die Änderung der Namen
  • und der Ausdrücke, als um das Wesen der Sache ... Sie sollten sich
  • schämen, in unseren Diminutiven, mit denen wir mitunter sogar unsere
  • Freunde benennen, einen Ausdruck der Knechtung und Unterdrückung zu
  • sehen. Auf solche kindische Folgerungen wird man geführt, wenn man eine
  • falsche Ansicht von den wichtigsten und wesentlichsten Dingen hat.
  • Sodann bin ich auch über das kühne Selbstvertrauen und die Sicherheit
  • erstaunt, mit der Sie erklären: »Ich kenne unsere Gesellschaft und den
  • Geist, der sie beseelt.« Wie kann man für dies sich jeden Augenblick
  • verwandelnde Chamäleon einstehen? Durch welche Tatsachen können Sie
  • beweisen, daß Sie die Gesellschaft kennen? Welche Mittel besitzen Sie
  • dazu? Haben Sie etwa irgendwo in Ihren Werken bewiesen, daß Sie ein
  • tiefer Kenner der menschlichen Seele sind? Sie, der Sie fast nie mit den
  • Menschen und der Welt in Berührung kommen, der Sie das friedliche Leben
  • eines Journalisten führen und stets nur mit Feuilletonartikeln
  • beschäftigt sind, wie sollten Sie einen Begriff von jenem furchtbaren
  • Schreckbilde haben, das uns durch unerwartete Erscheinungen in seine
  • Falle lockt; geraten doch alle jungen Schriftsteller in diese Falle
  • hinein, die über alles in der Welt und die ganze Menschheit reden,
  • während es um uns herum genug Dinge gibt, um die wir uns kümmern
  • sollten. Wir sollten zuerst einmal diese Aufgaben erfüllen, dann würde
  • es der Gesellschaft schon ganz von selbst gut gehen. Wenn wir dagegen
  • unsere Pflichten gegen die uns nahestehenden Menschen vernachlässigen
  • und dem Wohl der Gesellschaft nachjagen, so geraten wir auf Abwege ...
  • ebenso ... Ich bin in der letzten Zeit vielen vortrefflichen Menschen
  • begegnet, die über diese Sache völlig die Orientierung verloren haben.
  • Viele denken, wenn sie sehen, daß die Gesellschaft sich auf einem Abweg
  • befindet und daß die Dinge immer verworrener werden, daß man die Welt
  • durch allerhand Reorganisationen und Reformen oder dadurch, daß man sie
  • in dieser oder jener Weise umgestaltet, verbessern könne. Andere
  • glauben, man könne mit Hilfe einer besonderen, recht mittelmäßigen
  • Literatur, die Sie Belletristik nennen, erzieherisch auf die
  • Gesellschaft wirken. Das sind Träume! Abgesehen davon, daß selbst die
  • gelesensten Bücher daliegen, ohne Nutzen zu bringen ... sind auch die
  • Früchte ... wenn überhaupt welche daraus erwachsen, ganz anderer Art,
  • als der Autor glaubt; vielmehr sind sie häufig so beschaffen, daß er
  • entsetzt vor ihnen zurückweicht ... Die Gesellschaft bildet sich von
  • selbst, sie setzt sich aus Einheiten zusammen. Jede dieser Einheiten muß
  • ihre Pflicht und Schuldigkeit tun ... Der Mensch muß eingedenk sein, daß
  • er nichts weniger als ein Stück Materie, daß er kein Vieh ist, sondern
  • ein hoher Bürger des hohen himmlischen Bürgerreichs, und so lange nicht
  • ein jeder wenigstens zum Teil sein Leben dem Geiste dieses himmlischen
  • Bürgerreichs entsprechend gestalten wird, wird es auch im irdischen
  • Gemeinwesen keine Ordnung geben.
  • Sie sagen, Rußland hätte lange vergeblich gebetet. O nein, Rußland hat
  • im Jahre 1612 gebetet und das Land vor den Polen gerettet; dann hat es
  • 1812 noch einmal gebetet und das Land vor den Franzosen gerettet. Oder
  • nennen Sie das beten, wenn ein Tausendstel aller Menschen betet und alle
  • übrigen vom Morgen bis zum Abend bummeln und zechen ... wenn sie bei
  • jeder Schaustellung dabei sind und ihre letzte Habe verpfänden, um nur
  • allen Komfort zu genießen, den uns die europäische Zivilisation samt all
  • ihren Torheiten beschert hat.
  • Nein, lassen wir diese Träume ... Lassen Sie uns ehrlich unsere Pflicht
  • tun. Wir wollen uns bemühen, unsere Talente nicht in der Erde zu
  • vergraben. Wir wollen unser Handwerk gewissenhaft ausüben. Dann wird
  • alles gut gehen, und die Lage der Gesellschaft wird sich ganz von selbst
  • bessern ... Die Gutsbesitzer werden auf ihre Güter zurückkehren. Die
  • Beamten werden erkennen, daß man kein üppiges, verschwenderisches Leben
  • zu führen braucht, und werden aufhören, Geschenke anzunehmen. Die
  • Ehrgeizigen aber werden sehen, daß eine hohe Stellung weder mit einem
  • hohen Gehalt, noch mit großen Geldeinnahmen verknüpft ist ... weder sie
  • noch ich sind geboren ... Gestatten Sie mir, Sie an Ihre frühere
  • Tätigkeit zu erinnern. Der Literat lebt für die Wahrheit. Er soll der
  • Kunst ehrlich dienen und den Seelen dieser Welt Frieden und nicht Haß
  • und Feindschaft einhauchen. Machen Sie den Anfang und fangen Sie noch
  • einmal an, zu lernen! Studieren Sie die Dichter und Weisheitslehrer, die
  • erzieherisch auf den Geist wirken. Die journalistische Tätigkeit laugt
  • die Seele aus, man entdeckt plötzlich eine innere Leere in sich. Denken
  • Sie daran, daß Sie nur eine oberflächliche Bildung genossen und nicht
  • einmal die Universität beendigt haben. Machen Sie das durch die Lektüre
  • großer Werke und nicht durch Beschäftigung mit modernen Broschüren
  • wieder gut, die aus einem erhitzten Gemüt entspringen, das von der
  • geraden gesunden Ansicht der Dinge ablenkt.
  • V.
  • Fragment aus demselben Brief, das an einer anderen Stelle
  • aufgefunden worden ist
  • Sie haben meine Worte über das Lesen und Schreiben ganz buchstäblich
  • verstanden und ihnen einen zu engen, begrenzten Sinn untergelegt. Diese
  • Worte waren an einen Gutsbesitzer gerichtet, dessen Bauern Landwirte
  • sind. Es kam mir beinahe komisch vor, daß Sie aus diesen Worten den
  • Schluß ziehen konnten, als wollte ich die elementare Volksbildung
  • bekämpfen; als ob jetzt davon die Rede wäre -- wo das doch eine Frage
  • ist, die unsere Väter längst gelöst haben! Unsere Väter und Großväter
  • haben, selbst wenn sie selbst Analphabeten waren, entschieden, daß die
  • Elementarbildung etwas Notwendiges sei. Aber darum handelt es sich ja
  • gar nicht. Der Gedanke, der mein ganzes Buch durchzieht, ist dieser: wie
  • man erst _die_ Menschen aufklären könne, die in nahem Verkehr mit dem
  • Volke stehen, und _dann erst_ das Volk selbst. Alle diese kleinen
  • Beamten und Regierungsvertreter, die alle lesen und schreiben können und
  • sich dabei doch soviel Mißbräuche zuschulden kommen lassen ... Glauben
  • Sie mir, es ist viel notwendiger, daß wir die Bücher, die Ihrer Ansicht
  • nach so nützlich für das Volk sind, für diese Leute herausgeben. Das
  • Volk ist weit weniger verdorben, als diese ganze lese- und
  • schreibkundige Gesellschaft. Dagegen Bücher für diese Leute
  • herauszugeben, Bücher, die ihnen das Geheimnis offenbaren, wie man mit
  • dem Volk und mit den ihnen anvertrauten Untergebenen umgehen muß --
  • nicht in dem umfassenden Sinne, wie ihn die oft wiederholten Worte
  • ausdrücken: »_Stiehl nicht, sei rechtschaffen und ehrlich_« oder »Denke
  • daran, daß deine Untergebenen ebensolche Menschen sind wie du« --
  • sondern, die sie belehren, wie man es anfängt, nicht zu stehlen, und daß
  • das Recht wirklich eingehalten werde ...
  • VI.
  • Gogol an W. G. Bjelinski[9]
  • [Fußnote 9: Dieser Brief stellt Gogols Antwort auf Bjelinskis oben
  • mitgeteiltes Schreiben dar. Es ist offenbar ein zweiter Brief, den Gogol
  • an Stelle des oben abgedruckten ersten, später in Stücke gerissenen,
  • geschrieben hat.]
  • Ostende, den 10. August 1847.
  • Ich konnte nicht gleich auf Ihren Brief antworten. Meine Seele ist ganz
  • matt, ich fühle mich in meinem tiefsten Inneren erschüttert. Ich kann
  • wohl sagen, es gibt keine empfindliche Seite in mir, die nicht aufs
  • schwerste getroffen war, noch ehe ich Ihren Brief erhalten hatte. Ich
  • habe Ihren Brief beinahe in einem zustande völliger Gefühllosigkeit
  • gelesen, trotzdem aber war ich nicht imstande, ihn zu beantworten. Und
  • was hätte ich auch antworten sollen! Gott weiß, vielleicht enthalten
  • Ihre Worte wirklich etwas Wahres. Ich will Ihnen nur sagen, daß ich
  • gelegentlich meines Buches ungefähr fünfzig verschiedene Briefe erhalten
  • habe, aber kein einziger gleicht dem anderen, es gibt keine zwei Leute,
  • die dieselbe Ansicht über einen Gegenstand haben: was der eine verwirft,
  • das behauptet der andere. Und doch gibt es auf beiden Seiten gleich edle
  • und gescheite Menschen; die einzige nicht zu bezweifelnde Lehre, die ich
  • aus alledem entnehmen zu können glaubte, war die, daß ich Rußland
  • überhaupt nicht kenne, daß sich sehr vieles verändert hat, seit ich
  • nicht mehr dort war, und daß man heute beinahe alles, was es dort gibt,
  • von neuem kennen lernen muß, und daraus zog ich für meinen Teil
  • folgenden Schluß: daß ich nichts mehr veröffentlichen und vor das
  • Publikum bringen darf; weder lebendige Anschauungen meiner Phantasie,
  • noch selbst zwei Zeilen aus irgendeinem Werk, solange ich nicht in
  • Rußland war, eine Zeitlang dort gelebt und mich mit eigenen Augen von
  • vielem überzeugt und vieles mit eigenen Händen befühlt haben werde. Ich
  • sehe, daß viele, die mich beschuldigt haben, manches nicht zu kennen und
  • manche Seiten des Lebens nicht berücksichtigt zu haben, selbst in vielen
  • Punkten eine große Unkenntnis an den Tag legen und damit beweisen, daß
  • sie selbst viele Seiten des Lebens nicht in Betracht gezogen haben.
  • Nicht alle Klagen sind an unser Ohr gedrungen, und wir haben nicht alle
  • Leiden in ihrer ganzen Schwere ermessen. Mir will es sogar so scheinen,
  • daß nicht jeder von uns die gegenwärtige Zeit versteht, eine Zeit, in
  • der der Geist völliger Disharmonie und Unordnung deutlicher als je
  • zutage tritt. Wie dem auch sein mag, jetzt kommt alles zum Vorschein:
  • jedes Ding will berücksichtigt sein, das Alte und das Neue fordern
  • einander zum Kampfe heraus, und man braucht nur auf der einen Seite in
  • Übertreibungen und Maßlosigkeiten zu verfallen, damit sich auch die
  • andere Seite sofort derselben Übertreibungen und Maßlosigkeiten schuldig
  • macht. Die gegenwärtige Zeit ist das Zeitalter besonnener vernünftiger
  • Überlegung: ohne sich zu erhitzen, wägt sie alles ab und zieht sie alle
  • Seiten der Dinge in Betracht, denn ohne dies ist es unmöglich, die
  • rechte Mitte, das vernünftige Maß der Dinge kennen zu lernen. Sie
  • verlangt von uns, daß wir Umschau halten mit dem vielseitigen Blick des
  • Greises, und daß wir nicht mit dem heißen Draufgängertum der alten
  • Ritter vorgehen. Diesem Zeitalter gegenüber sind wir reine Kinder.
  • Glauben Sie mir, Sie und ich haben beide unsere Pflicht gegen unsere
  • Zeit nicht erfüllt. Ich wenigstens bin mir darüber klar, aber sind auch
  • Sie sich dessen bewußt? Ebenso wie ich die gegenwärtigen Dinge und viele
  • Umstände übersehen habe, die ich hätte berücksichtigen müssen, ebenso
  • haben auch Sie vieles übersehen; wenn ich mich zu sehr in mich selbst
  • zurückgezogen habe, so haben Sie sich zu sehr zerstreut. Wie ich noch
  • vieles kennen lernen muß, was Sie schon wissen und was ich nicht weiß,
  • so müßten Sie wenigstens einen Teil davon kennen lernen, was ich weiß
  • und was Sie zu Unrecht vernachlässigt und übersehen haben. Jetzt aber
  • denken Sie vor allem an Ihre Gesundheit; vergessen Sie die modernen
  • Probleme für eine Weile. Sie werden später mit größerer Frische und also
  • auch mit größerem Nutzen für Sie selbst wie für die Probleme zu diesen
  • zurückkehren. Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, daß Ihnen jener
  • Seelenfriede zuteil werde, der unser höchstes Gut ist, ohne den man
  • nicht wirken und auf keinem Gebiete vernünftig handeln kann.
  • N. Gogol.
  • Nachtrag
  • Band VII und VIII
  • Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden
  • (Die wörtliche Übersetzung des Titels lautet: _Ausgewählte Stellen_ aus
  • dem Briefwechsel mit meinen Freunden.) Den Plan, eine Auswahl von
  • Stücken aus seinem Briefwechsel herauszugeben, faßte Gogol bereits im
  • Beginn des Jahres 1845; an die Ausführung seiner Idee ging er jedoch
  • erst im April 1846 heran. Ehe er das Manuskript an Pletnjew absandte,
  • unterzog er sämtliche Stücke, die er in Buchform herauszugeben gedachte,
  • einer gründlichen Korrektur und Überarbeitung. Zu allererst wurde das
  • VII. Kapitel: _Über Schukowskis Übersetzung der Odyssee._ An W. M.
  • Jasykow (Band VII, Seite 55 ff.) für den Druck umgearbeitet, redigiert
  • und dann am 4. Juli 1846 an Pletnjew zur Veröffentlichung in dessen
  • Zeitschrift gesandt. -- Am 30. Juli desselben Jahres erhält Pletnjew von
  • Gogol aus Schwalbach: _Die Vorrede_ (Band VII, Seite 1 ff.) und die
  • ersten sechs Stücke des »Briefwechsels« zugeschickt. Zwischen dem 13.
  • und 24. August folgen aus Ostende weitere sieben Aufsätze (Nr. 8-14,
  • Band VII, Seite 73-149) und am 12. September neuen Stils -- gleichfalls
  • aus Ostende -- nochmals sieben Kapitel (Nr. 15-21, Band VII, Seite
  • 151-253). Am 26. September sendet Gogol Pletnjew aus Ostende ein viertes
  • Heft mit neun Kapiteln (Band VII, Nr. 22-30, Seite 255-367). Am 3.
  • Oktober neuen Stils schickt Gogol aus Frankfurt zwei Korrekturen zu dem
  • Aufsatz: An _einen hochgestellten Mann_ ein (Band VII, Nr. 28, Seite
  • 323). Am 16. Oktober endlich erfolgt von Frankfurt a. M. aus die
  • Absendung der beiden letzten Kapitel und einer Korrektur zum 10.
  • Kapitel: _Über das Lyrische bei unseren Poeten._ An W. A. Schukowski
  • (Band VII, Seite 85 ff.).
  • Die _Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden_ erschien im
  • Dezember des Jahres 1846. Die Unterschrift des Zensors ist vom 18.
  • August 1846 datiert, bezieht sich jedoch wahrscheinlich nur auf das
  • erste Heft; im Oktober ergaben sich Schwierigkeiten bei der Drucklegung:
  • der Zensor wollte den Abdruck einzelner Partien und sogar ganzer Kapitel
  • nicht gestatten; daher mußten fünf Briefe: Nr. 19, 20, 21, 26 und 28
  • (Band VII, Seite 203, 209, 227, 307 und 323) gänzlich wegfallen. Diese
  • Kapitel, sowie die von der Zensur gestrichenen Partien erschienen später
  • in der »Gesamtausgabe« von Gogols Werken vom Jahre 1867, die von
  • _Tschischow_ veranstaltet wurde. Die von der Zensur beanstandeten
  • Stellen stehen in unserer Ausgabe in eckigen Klammern.
  • Ferner bat Gogol selbst Pletnjew in einem Brief vom 16. Oktober 1846,
  • »die ganze Stelle zu streichen, die von der Bedeutung der monarchischen
  • Gewalt und ihrer weltlichen Erscheinungsform handelt, und durch den
  • Abschnitt auf der letzten Seite des Heftes zu ersetzen«. Die neue
  • veränderte Fassung des Textes beginnt mit den Worten: »Diese Bedeutung
  • des Herrschers wird allmählich auch in Europa ...« (Band VII, Seite 100,
  • Zeile 3 v. o.) und schließt mit dem Satze: »daher nehmen ihre Töne einen
  • biblischen Charakter an« (Band VII, Seite 102, Zeile 3 v. o.). Wir
  • lassen hier die umgearbeitete Stelle folgen, wie sie von Tschischow nach
  • dem Manuskript nachträglich in seiner Gesamtausgabe der Werke Gogols
  • abgedruckt wurde (Band III, Seite 374 bis 376): »Die souveräne Gewalt
  • des Monarchen wird keineswegs an Bedeutung verlieren, sondern in dem
  • Maße, wie die ganze Menschheit an Bildung zunehmen wird, nur noch
  • wachsen. Je mehr jeder Beruf und Stand die ihm gesteckten gesetzlichen
  • Grenzen einhalten wird und die gegenseitigen Beziehungen aller Menschen
  • genauer bestimmt und normiert werden, um so deutlicher wird sich die
  • Notwendigkeit einer höchsten Obergewalt herausstellen, die die ganze
  • Macht der einzelnen Individuen in sich vereinigt und alle höchsten
  • Vorzüge und Tugenden, die den Menschen geradezu Gott ähnlich machen, in
  • Erscheinung treten läßt -- jene höchsten kollektiven Attribute und
  • Eigenschaften, die der einzelne Mensch nicht besitzen kann. Eine ganze
  • Million wie einen Menschen liebgewinnen -- das ist weit schwerer, als
  • nur wenige unter dieser Million lieben; die Leiden aller Menschen so
  • intensiv mitempfinden wie den Schmerz unseres liebsten Freundes und an
  • die Rettung aller Menschen bis auf den letzten denken, wie man wohl auf
  • die Rettung der eigenen Familie hofft, -- das kann nur _der_ in vollem
  • Maße, dem dies zum unerschütterlichen Gebot gemacht ward und der da
  • fühlt, daß er für die Verletzung dieses Gebotes vor Gott ebenso
  • furchtbare Rechenschaft wird ablegen müssen, wie jedes einzelne
  • Individuum für die Verletzung seiner Pflicht in seinem besonderen
  • Wirkungskreis Rechenschaft geben wird. Wenn diese höchste leitende
  • Obergewalt dahinfiele -- so würde der menschliche Geist verarmen. Diese
  • souveräne Herrschergewalt des Monarchen wird heute nur deshalb
  • angezweifelt, weil ihre ganze Bedeutung weder den Herrschern noch den
  • Untertanen aufgegangen ist. Die monarchische Gewalt -- ist eine Torheit,
  • wenn der Monarch nicht fühlt, daß er das Abbild Gottes auf Erden sein
  • soll. Selbst wenn er noch so sehr das Gute will, wird er sich in seinen
  • Handlungen nicht mehr zurechtfinden können, besonders bei der
  • gegenwärtigen Ordnung der Dinge in Europa; sowie er jedoch zur
  • Erkenntnis kommt, daß er die Aufgabe hat, den Menschen ein Abbild Gottes
  • zu sein, wird für ihn alles klar und deutlich werden und wird auch
  • Klarheit in sein Verhältnis zu seinen Untertanen kommen. Dann wird er
  • sich nicht mehr einen Napoleon, einen Friedrich, einen Peter, eine
  • Katharina oder einen Ludwig zum Muster nehmen, wie überhaupt keinen von
  • den Fürsten, denen die Welt den Namen des Großen beilegt, und deren
  • Bestimmung es war, infolge der zeitlichen Verhältnisse und Umstände
  • außer der königlichen Würde auch noch die Rolle eines Feldherrn,
  • Neugestalters oder Reformators auf sich zu nehmen, kurz nur eine
  • einzelne Seite glanzvoll in sich zu verkörpern, was die unbedeutenderen
  • Nachahmer irreleitet und so viele Fürsten in Versuchung führt. Er wird
  • sich vielmehr die Handlungen Gottes selbst zum Vorbild nehmen, die aus
  • der Geschichte der Menschheit so vernehmbar zu uns reden und die noch
  • deutlicher in der Geschichte _des_ Volkes in Erscheinung treten, das
  • Gott dazu auserwählt hatte, von Ihm Selbst regiert zu werden, um den
  • Königen zu zeigen, wie regiert werden muß. Und wie wahrhaft göttlich hat
  • Er regiert! Wie verstand Er es, Sein Volk mehr denn alle anderen Völker
  • zu lieben! Mit welch väterlicher Liebe lehrte und unterwies Er es und
  • mit welch himmlischer Geduld wartete Er auf seine Wandlung und
  • Besserung. Wie ungern erhob Er Seine strafende Geißel wider Sein Volk!
  • Wie beeilte Er Sich Selbst _dann_ noch nicht, als die Gottlosigkeit und
  • die Sünden des Volkes zum Himmel schrien, es zu strafen, sondern sprach:
  • >Ich will Selbst zur Erde hinabsteigen und zusehen, ob das Unrecht und
  • die Sündhaftigkeit wirklich so groß sind!< Und wer war es, der so
  • sprach? Der Allwissende, für alles Sorgende, der die Könige dieser Erde
  • zur Vorsicht und Behutsamkeit mahnt! Wie Er ja auch Seine Strafen nicht
  • deshalb verhängte, um den Menschen zu vernichten, den zu vernichten ja
  • gar nicht schwer ist, sondern um ihn zu erretten, weil es _sehr_ schwer
  • ist, ihn zu erretten, und um seine gefühllose Natur durch eine starke
  • Erschütterung und ein Weckmittel aufzurütteln, ihm die ganzen Schrecken
  • des Zieles, dem er in seiner Unwissenheit zustrebt, vor Augen zu führen
  • und ihn dadurch zu mahnen, daß es noch Zeit wäre, an seine Rettung zu
  • denken! Wie Er ja auch, da Er die unbestechliche sieghafte Macht Seiner
  • unüberwindlichen Wahrheit und Gerechtigkeit kannte, alles tat, auf daß
  • der schwache und ohnmächtige Mensch ihr nicht unterliege: sandte Er ihm
  • doch Seine Propheten, daß sie erfüllt von Liebe zu ihren Brüdern und,
  • nachdem sie eine Sprache gefunden, die den Menschen verständlich war,
  • sie zur Besinnung brächten; Er, der sich entschloß, da Er endlich sah,
  • daß alles vergeblich war, daß nichts sie zur Vernunft bringen könne und
  • daß es kein Mittel gäbe, die Menschen Seiner unabwendlichen
  • Gerechtigkeit zu entziehen, Sich Selbst für alle zum Opfer zu bringen,
  • um den Preis eines solchen Opfers noch Seine Gerechtigkeit zu besiegen
  • und den Menschen zu beweisen, daß eine solche Liebe höher ist, denn
  • alles, was es gibt, daß sie an sich selbst die höchste himmlische
  • Gerechtigkeit ist! Alles ward von Gott gesagt für den, der vor den
  • Menschen in sich selbst Sein Abbild zur Darstellung bringen will, hat Er
  • ihn doch gelehrt, wie er handeln soll. Um aber die Könige zu
  • unterweisen, wie sie sich gegen Ihn Selbst, den Schöpfer alles
  • Sichtbaren und Unsichtbaren, verhalten sollen, schenkte Er ihnen die
  • Vorbilder der von Ihm Selbst gesalbten Könige David und Salomo, die mit
  • ihrem ganzen Sein in Gott lebten, wie in ihrem eigenen Hause und die in
  • ihrem Königstume das weise Zusammenwirken zweier Mächte -- der
  • geistlichen und weltlichen -- verkörperten, und zwar in der Weise, daß
  • nicht bloß keine von beiden die andere störte und hemmte, sondern daß
  • sie sich gegenseitig noch stärkten und befestigten. So enthält das
  • heilige Buch Gottes eine vollkommene Definition des Monarchen, dieses
  • völlig von uns isolierten Wesens, dem auf Erden eine so schwere Aufgabe
  • zuteil ward: nachdem er alles vollbracht, was jedes Menschen Aufgabe
  • ist, und Christus in seinem ganzen Tun und Handeln bis in die kleinsten
  • Einzelheiten seines Alltagslebens gleichgeworden ist, zu alledem auch
  • noch in den erhabensten Äußerungen seiner Tätigkeit gegenüber allen
  • Menschen Gott Vater gleich zu werden. In diesem Buche ist eine
  • vollkommene Definition des Monarchen enthalten, die man nirgends sonst
  • findet. Auf diese Definition ist noch keiner der europäischen
  • Rechtsgelehrten gekommen, bei uns aber haben die Dichter etwas von ihr
  • geahnt und vernommen, daher nehmen ihre Töne auch einen biblischen
  • Charakter an.«
  • Der ursprüngliche Text der Aufsätze und Privatbriefe Gogols an seine
  • Freunde, die in dem »Briefwechsel« Aufnahme fanden und erst nach einer
  • durchgreifenden Reinigung und Umarbeitung zur Veröffentlichung an
  • Pletnjew gesandt wurden, stammt aus den verschiedensten Zeiten der
  • Periode von 1843-1846, und zwar ist die Zahl der Stücke um so geringer,
  • je mehr wir uns der ersten Hälfte des Jahres 1843 nähern. Von den
  • Briefen dieser Epoche hat Gogol nur sehr wenige der Aufnahme in die
  • Ausgewählten Stellen aus seinem Briefwechsel für würdig erachtet. Aus
  • dem Jahre 1843 stammen die ersten Entwürfe folgender Artikel:
  • 1) _Über den öffentlichen Vortrag russischer Dichtungen_ (Band VII, Nr.
  • 5, Seite 43) und
  • 2) _Die drei ersten Briefe über die Toten Seelen_ (Band VII, Nr. 18,
  • Seite 175).
  • Aus dem Jahre 1844 stammen folgende Aufsätze und Briefe:
  • 1) _Diskussionen._ Aus einem Briefe an L***. (Band VII, Nr. 11, Seite
  • 111.)
  • 2) _Liebt unser russisches Vaterland._ Aus einem Briefe an den Grafen A.
  • T. (Band VII, Nr. 19, Seite 203.) Dieses Stück stammt aus der zweiten
  • Hälfte des Jahres 1844.
  • 3) _Etwas über die Bedeutung des Worts._ (Band VII, Nr. 4, Seite 35.)
  • Diese Betrachtung ist wahrscheinlich Ende Oktober des Jahres 1844
  • niedergeschrieben.
  • 4) _Wie man den Armen helfen soll._ Aus einem Briefe an A. O.
  • Sm--rn--wa. (Band VII, Nr. 6, Seite 49.) Ist gegen Ende des Jahres 1844
  • niedergeschrieben.
  • 5) _Über die Aufgaben der lyrischen Dichtung unserer Zeit._ Zwei Briefe
  • an N. M. Jasykow. (Band VII, Nr. 15, Seite 151.) Der erste Brief ist vom
  • 2. Dezember, der zweite vom 26. Dezember 1844 datiert.
  • 6) _An einen kurzsichtigen Freund._ (Band VII, Nr. 27, Seite 317.)
  • Aus dem Jahre 1845 stammt der erste Entwurf folgender Stücke:
  • 1) _Über Schukowskis Übersetzung der Odyssee._ An N. M. Jasykow. (Band
  • VII, Nr. 7, Seite 55.) Ein Brief, der zu Beginn des Jahres geschrieben
  • ist.
  • 2) _An einen hochgestellten Mann._ (Band VII, Nr. 28, Seite 323.) Die
  • Idee zu diesem Schreiben rührt vom Ende des Jahres 1844 her.
  • Niedergeschrieben wurde es im Februar und März des Jahres 1845.
  • 3) _Vom Theater, von einer einseitigen Ansicht über das Theater und von
  • der Einseitigkeit überhaupt._ An den Grafen A. P. T... (Band VII, Nr.
  • 14, Seite 129) -- ist im März und April 1845 niedergeschrieben.
  • 4) _Lernt Rußland kennen._ Aus einem Briefe an den Grafen P. T. (Band
  • VII, Nr. 20, Seite 209) -- stammt aus derselben Zeit (oder vom Ende des
  • Jahres 1845?).
  • 5) _Mein Testament_ (Band VII, Nr. 1, Seite 9) stammt aus dem Juli(?)
  • 1845.
  • 6) _Über ländliche Pflege und Gerichtsbarkeit_ (Band VII, Nr. 25, Seite
  • 301).
  • 7) _Wessen Los auf Erden das beste ist._ Aus einem Briefe an U. (Band
  • VII, Nr. 29, Seite 359.)
  • Mehr als die Hälfte der Briefe, die in die »Auswahl aus dem Briefwechsel
  • mit meinen Freunden« aufgenommen wurden, stammen aus dem Jahre 1846. In
  • einem Brief aus diesem Jahre schreibt Gogol an Schewyrjow: »Während
  • dieser schweren Zeit der Krankheit, zu der sich auch noch schwere
  • seelische Leiden gesellt haben, war ich genötigt, einen so regen
  • Briefwechsel zu unterhalten, wie ich ihn bisher noch nie geführt habe.
  • Und wie mit Absicht war dies beinahe für alle, die meinem Herzen
  • nahestehen, eine Zeit voll innerer Erlebnisse und Erschütterungen. Sie
  • alle wandten sich, wie von einem dunklen Instinkt getrieben, an mich und
  • verlangten Rat und Hilfe von mir« (vgl. Band VII, Seite 163 ff.).
  • »Während der letzten Zeit«, fährt Gogol fort, »kam es sogar vor, daß ich
  • Briefe von Menschen erhielt, die mir fast gänzlich unbekannt waren, und
  • daß ich ihnen Ratschläge erteilen konnte, die ich früher nie hätte
  • erteilen können.« Am meisten von Krankheit gequält war Gogol in den
  • ersten zwei Monaten des Jahres 1846; dies war auch sonst eine sehr
  • schwere Zeit für ihn. Gogol arbeitete während dieser Monate intensiv an
  • der »Auswahl aus dem Briefwechsel«. »Gleichzeitig brauchte er eine Kur,
  • machte er Reisen, war er von schweren Sorgen gequält und mußte sich um
  • Dinge kümmern, von deren Schwierigkeit seine Freunde keine Ahnung
  • hatten.« Zugleich aber mußte er zahlreiche, sehr verschieden geartete
  • Briefe erwidern, die nicht in leichtfertiger, sondern in wohlüberlegter
  • Weise beantwortet sein wollten. Höchstwahrscheinlich erfolgte die
  • Antwort auf einzelne Briefe vor der Öffentlichkeit, d. h. in der
  • »Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden«, und es wäre
  • vergeblich, nach dem ursprünglichen Text der Briefe, die unmittelbar an
  • die Fragesteller gerichtet waren, zu forschen. »Auf Ihren langen Brief«,
  • schreibt Gogol im Jahre 1846 an die Gräfin ***, »... antworte ich ...
  • nicht nur keineswegs in aller Heimlichkeit, sondern wie Sie sehen, _in
  • einem gedruckten Buche_, das vielleicht von der Hälfte aller Menschen in
  • Rußland, die da lesen können, gelesen werden wird« (vgl. Band VII, Seite
  • 309 ff.). Die an Schewyrjow gerichteten Briefe aus der »Auswahl« waren
  • unter den Papieren Schewyrjows nicht zu finden, wahrscheinlich hat er
  • sie auch erst gelesen, als sie bereits gedruckt in Buchform vorlagen. Es
  • ist daher heute noch für den größten Teil der Briefe vom Jahre 1846, die
  • in der »Auswahl« enthalten sind, kaum möglich, die chronologische
  • Reihenfolge genau festzustellen, ebensowenig wie sich zurzeit die Frage
  • beantworten läßt, ob _schriftliche_ Antworten auf die an Gogol
  • gerichteten Fragen vorliegen. In den Papieren Schewyrjows wurde nicht
  • ein Brief Gogols aus dem Jahre 1846 gefunden, der in die Auswahl aus dem
  • Briefwechsel usw. aufgenommen wurde.
  • Aus dem Jahre 1846 stammen folgende Briefe und Aufsätze der »Auswahl«:
  • 1) _Über das Lyrische bei unseren Poeten._ An W. A. Schukowski. (Band
  • VII, Nr. 10, Seite 85.) Dieses Stück wurde 1845 niedergeschrieben und
  • 1846 nochmals umgearbeitet.
  • 2) _Was die Frau ihrem Manne im häuslichen Leben des Alltags und bei den
  • heutigen Zuständen in Rußland sein kann._ (Band VII, Nr. 24, Seite 291.)
  • Dieses Stück stammt etwa aus dem September dieses Jahres und scheint
  • unmittelbar für den Druck bestimmt gewesen zu sein.
  • 3) _Einige Worte über unsere Kirche und unsere Geistlichkeit._ Aus einem
  • Briefe an den Grafen A. P. T. (Band VII, Nr. 8, Seite 73) und
  • 4) _Über denselben Gegenstand._ Aus einem Briefe an den Grafen A. P. T.
  • (Band VII, Nr. 9, Seite 79.) 3 und 4 stammen aus der ersten Hälfte des
  • Jahres 1846.
  • 5) _Der Historienmaler Iwanow._ An M. Ju. Weligurski. (Band VII, Nr. 23,
  • Seite 271.) Dieser Brief, der im Februar oder März dieses Jahres an den
  • Grafen W. abgesandt wurde, wurde nachträglich, d. h. im August oder
  • September, nochmals für den Druck umgearbeitet.
  • 7) _Karamsin._ Aus einem Briefe an N. M. Jasykow. (Band VII, Nr. 13,
  • Seite 123.) Der erste Entwurf dieses Briefes ist am 5. Mai 1846
  • niedergeschrieben.
  • 8) _Über die Aufklärung._ An W. A. Schukowski. (Band VII, Nr. 17, Seite
  • 167.) Stammt aus dem Juni und Juli dieses Jahres.
  • 9) _Was eine Gouverneursgattin ist._ An Fr. A. O. S. (Band VII, Nr. 21,
  • Seite 227.) Der erste Entwurf dieses Briefes stammt aus der zweiten
  • Juli-Hälfte des Jahres 1845, er wurde am 4. Juli 1846 in neuer
  • verbesserter Fassung an Frau A. O. Smirnowa gesandt und endlich im
  • September 1846 und 1847 für die Drucklegung nochmals umgearbeitet.
  • 10) _Rußlands Schrecken und Grauen._ An die Gräfin *** (Band VII, Nr.
  • 26, Seite 307) ist zu Beginn des August 1846 niedergeschrieben.
  • 11) _Wesen und Eigenart der russischen Poesie._ (Band VII, Nr. 31, Seite
  • 369.) Dieser Aufsatz wurde »während dreier Epochen« geschrieben, er ist
  • 1836 oder 1843 (?) begonnen und im September 1846 für die Drucklegung
  • vollendet.
  • 12) _Die Frau in der vornehmen Welt._ An Frau ***. (Band VII, Nr. 2,
  • Seite 21.)
  • 13) _Der Christ schreitet vorwärts._ An Schtsch--w. (Band VII, Nr. 12,
  • Seite 117.)
  • 14) _Ratschläge._ An S. P. Schewyrew. (Band VII, Nr. 16, Seite 161.)
  • 15) _Der vierte Brief über die Toten Seelen._ (Band VII, Nr. 18, IV,
  • Seite 199.)
  • 16) _Der russische Gutsbesitzer._ An B. N. B. (Band VII, Nr. 22, Seite
  • 255.) Die Originalmanuskripte der letzten fünf Briefe sind unbekannt.
  • Wahrscheinlich sind diese Stücke gleich für die »Auswahl« geschrieben.
  • Der erste Brief wurde am 30. Juli druckfertig abgesandt, der zweite am
  • 13. (25.) August, der dritte und vierte am 12. September neuen Stils,
  • der fünfte am 26. September.
  • Die _Vorrede_ (Band VII, Seite 1 ff.) zur »Auswahl« stammt aus dem
  • August des Jahres 1846.
  • Der Aufsatz: _Auferstehungstag_ (Band VII, Nr. 32, Seite 447) trägt kein
  • Datum.
  • * * * * *
  • Der Brief an _Arkadius Ossipowitsch Rosetti_ (Band VIII, Nr. 1, Seite 1)
  • ist in Neapel geschrieben und wurde am 15. April 1847 abgesandt.
  • _Über den »Zeitgenossen«_; (Sowremennik); (Band VIII, Nr. 2, Seite 11),
  • ein Brief an P. A. Pletnjew, ist vom 4. Dezember 1846 datiert.
  • _Die Beichte des Dichters_ (Band VIII, Nr. 3, Seite 33) ist im Mai 1847
  • begonnen und noch in demselben Jahre vollendet.
  • Der Brief an _W. A. Schukowski_ (Band VIII, Nr. 4, Seite 101) wurde am
  • 10. Januar 1848 (den 29. Dezember 1847) aus Neapel an Schukowski
  • gesandt.
  • _Die Betrachtungen über die Heilige Liturgie_ (Band VIII, Nr. 5, Seite
  • 115 ff.) wurden im Januar und Februar des Jahres 1845 in Paris
  • konzipiert und in der ersten Fassung noch vor der Abreise nach Jerusalem
  • (d. h. vor dem Januar 1848) vollendet. Nachträglich wurden sie noch bis
  • zum Jahre 1852 mehrfach umgearbeitet[10].
  • _Hans Küchelgarten._ Dieses Jugendwerk Gogols wurde wahrscheinlich
  • bereits während seiner Schulzeit konzipiert und begonnen. Bald nach
  • Gogols Ankunft in St. Petersburg (1828) ließ er das Werk unter dem
  • Pseudonym _W. Alow_ drucken und gab es den Buchhändlern in Kommission.
  • Es wurde teils gar nicht beachtet teils wie z. B. von Polewoi
  • offenkundig abgelehnt.
  • [Fußnote 10: 1911 ist eine deutsche Übersetzung von K. von Mickwitz in
  • Rendsburg (Heinrich Möller Söhne) erschienen, die dem Herausgeber bei
  • der vorliegenden Ausgabe, besonders für die Ermittlung der Bibelzitate,
  • wertvolle Dienste geleistet hat.
  • Die bibliographischen Anmerkungen und Lesarten zu den bisher
  • aufgeführten Schriften sind der Ausgabe von Tichonrawow und Schenrock
  • entnommen.]
  • _Beilage I-IV. Aus Gogols Briefwechsel mit Bjelinski._ (Band VIII, Seite
  • 369.)
  • Dieser Briefwechsel mit dem berühmten russischen Kritiker Wissarion
  • Bjelinski bildet eine wichtige Ergänzung zu der »Auswahl«, da er ein
  • helles Licht auf die Stimmung wirft, aus der dieses Werk entsprungen
  • ist, und weil er geeignet ist, Gogols Ziele und Absichten, die er mit
  • dem Buche verfolgte, schärfer zu beleuchten und ein Bild von der Wirkung
  • zu geben, die der Briefwechsel auf die Zeitgenossen ausübte. Die
  • »Auswahl aus dem Briefwechsel« bezeichnet einen Wendepunkt in Gogols
  • Leben, das von diesem Augenblick an mit unheimlicher Schnelligkeit der
  • Katastrophe zutreibt. Bald nach dem Erscheinen des ersten Bandes der
  • »Toten Seelen« setzt jene innere Krise ein, die so verhängnisvoll für
  • Gogols Schaffen und sein persönliches Schicksal werden sollte. Der
  • Zweifel an dem Zweck und Sinn des Dichterberufs, insbesondere an der
  • Berechtigung seines eigenen dichterischen Stils steigert sich allmählich
  • bis zu einer selbstquälerischen Melancholie, die das ganze menschliche
  • Tun einseitig in den Blickpunkt der religiösen Zielsetzung einstellte.
  • Der religiös-sittliche Zweck allein darf Inhalt und Wesensart der
  • dichterischen Produktion bestimmen. Damit nimmt Gogols Schaffen immer
  • mehr jenen didaktischen Charakter an, wie er so deutlich in dem
  • Briefwerke zum Ausdruck kommt. Das Entwerfen von Mustern sittlicher
  • Größe und Schönheit, Belehrung und Erziehung werden nun zu den höchsten
  • Aufgaben des Dichters. Zugleich aber drängt sich immer kräftiger jener
  • rückwärtsgewandte Zug zu einer passiven, heteronomen sittlichen
  • Lebensauffassung vor, die in der demütigen Unterwerfung unter die
  • gottgewollten Bindungen, in ihrer fügsamen Hinnahme den Sieg der Tugend
  • und damit die Selbsterlösung aus der Wirrnis und den Unzulänglichkeiten
  • der menschlichen Zustände erblickt. Diese Geistesstimmung konnte den
  • »Briefwechsel« zu dem Grundbuch des rückständigen Rußland machen, zu dem
  • Arsenal aller reaktionären Ideologien, die auf alle folgenden
  • Generationen, so z. B. noch auf Dostojewski, bis in die neuere und
  • neueste Epoche fortwirkten. Gegen diese Tendenzen richtete sich schon zu
  • Gogols Zeit der stürmische Protest der europäisch gesinnten russischen
  • Jugend, wie er aus dem von wundervoller Leidenschaft durchpulsten Brief
  • Bjelinskis zu uns spricht. Dieser Brief wird sicherlich Gogol nicht
  • gerecht. In seinem prachtvollen Empörungsausbruch übersieht Bjelinski
  • die radikalen Konsequenzen, die sich aus Gogols Standpunkt ergeben und
  • für die der Zensor ein feineres Verständnis zeigte, als er nicht
  • unbeträchtliche Teile aus dem »Briefwechsel« herausstrich, ebenso wie
  • Bjelinski die tiefen inneren sittlichen Probleme des menschlichen und
  • künstlerischen Gewissens verkennt, die in diesem Werk ihren Ausdruck
  • finden. Und doch liegt in dieser Ungerechtigkeit zugleich eine höhere
  • geschichtliche Gerechtigkeit. In einer von freudigen Hoffnungen
  • kommender großer Ereignisse erfüllten Zeit, die schon den großen
  • Frühlingssturm des Jahres 1848 vorausahnte und sich auf ihn rüstete,
  • mußte Gogols Predigt als ein Produkt dunkelster Reaktion, als das Werk
  • eines finsteren rückwärtsdrängenden Geistes erscheinen.
  • Die Empörung über das Buch war allgemein, nicht allein bei den
  • sogenannten Westlingen und den radikalen Slawophilen, sondern selbst bei
  • Gogols nächsten Freunden, die über den hochmütigen lehrhaften Ton, den
  • Gogol hier angeschlagen hatte, ungehalten waren. 1847 veröffentlichte
  • Bjelinski im zweiten Heft des »Sowremjennik« (Zeitgenossen) eine
  • außerordentlich ungünstige Kritik, die sich zwar aus Zensurrücksichten
  • eines maßvollen Tones befleißigte, aber Gogol, der bisher in Bjelinskis
  • Kritiken nur begeisterter Zustimmung begegnet war, aufs tiefste
  • verletzte. Da er sich den Grund zu Bjelinskis ablehnendem Urteil nicht
  • erklären konnte, war er geneigt, ihn auf persönliche Motive
  • zurückzuführen, wie dies aus Gogols durch die Rezension hervorgerufenem
  • Schreiben an Bjelinski deutlich hervorgeht.
  • Bjelinski befand sich um diese Zeit auf Veranlassung seiner Freunde in
  • Salzbrunn, wo er eine Kur gegen die Schwindsucht brauchte. An einem
  • Julitag des Jahres 1847 setzte er sich hin und verfaßte jenen berühmten
  • Brief (Band VIII, Seite 361), der eine so große Rolle in dem geistigen
  • Freiheitskampf Rußlands gespielt hat.
  • Dieser Brief ist das Manifest des revolutionären Rußland geworden. Zwei
  • weltgeschichtliche Gegensätze stoßen hier in heftigem Zusammenprall
  • aufeinander. Europäertum und konservatives Altrussentum halten hier ihre
  • große Abrechnung. Licht, Sonne, Heiterkeit, Klarheit, freie
  • Selbstbestimmung auf der einen, Dumpfheit, Enge, Gebundenheit, Autorität
  • auf der anderen Seite sind die Losungen, um die in diesem Briefwechsel
  • gekämpft wird. Und es unterliegt keinem Zweifel, auf wessen Seite der
  • Sieg sich neigt. Die Wirkung des Briefes war unbeschreiblich. In tausend
  • Abschriften wanderte er von Hand zu Hand, und bald gab es in den
  • entlegensten Provinzen, wie Asksakow schreibt, keinen Schullehrer, der
  • den Brief nicht auswendig kannte. In allen oppositionellen Konventikeln
  • wurde er mit Begeisterung gelesen und heimlich weiterverbreitet. Bloß
  • der Tod (Bjelinski starb am 28. Mai 1848) rettete den Autor vor der
  • Rache des Despotismus. Mußten doch zahlreiche junge Leute, darunter auch
  • Dostojewski, wegen dieses Schreibens nach Sibirien wandern, lediglich
  • weil sie der Polizei nicht von dessen Existenz Mitteilung gemacht
  • hatten. So kämpfte in diesem Brief der Geist des verstorbenen Bjelinski
  • noch nach seinem Tode tapfer weiter fort, wenn auch zunächst noch mit
  • geschlossenem Visier. Lange war der Brief in Rußland gänzlich verboten.
  • Alexander Herzen veröffentlichte ihn zum erstenmal in seinem in London
  • erscheinenden »Polarstern«. Danach wurde er im Auslande und endlich 1872
  • auch in Rußland auszugsweise unter Weglassung der schärfsten Stellen
  • nachgedruckt. Der vollständige Abdruck im Jahre 1906 in der Bibliothek
  • Swetotsch (Die Fackel) durch Wengerow bezeichnet einen neuen Abschnitt
  • in der Geschichte des Briefes und zugleich eine neue Epoche in der
  • russischen Revolution.
  • Chronologische Tabelle der Werke Gogols
  • Die Zahl des Bandes, in dem die einzelnen Schriften erschienen
  • sind, steht in eckigen Klammern hinter der Jahreszahl.
  • Hans Küchelgarten (um 1828) [VIII]
  • Abende auf dem Gutshof bei Dikanka
  • I. Teil 1831 [III]
  • Abende auf dem Gutshof bei Dikanka
  • II. Teil 1832 [III]
  • Arabesken 1834 [VI]
  • Mirgorod, Teil I und II 1834 [IV]
  • Über die Strömungen der Zeitschriftenliteratur 1835 [VI]
  • der Jahre 1834-1835
  • Der Revisor 1836 [V]
  • Die Equipage 1836 [IV]
  • Die Nase 1836 [II]
  • Petersburger Skizzen 1837 [VI]
  • Italienische Sommernächte 1839 [VI]
  • Szenen aus einer unvollendeten Komödie -- Der 1832-1842 [V]
  • Morgen eines vielbeschäftigten Herrn -- Der
  • Prozeß -- Das Vorzimmer -- Fragment
  • Eine Heiratsgeschichte 1833-1842 [V]
  • Die Toten Seelen, I. Teil 1835-1842 [I]
  • Die Spieler 1836-1842 [V]
  • Nach dem Theater 1836-1842 [V]
  • Das Porträt 1837-1842 [II]
  • Der Mantel 1839-1842 [II]
  • Rom 1839-1842 [VI]
  • Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden 1846 [VII u.
  • VIII]
  • Die Beichte des Dichters 1846 [VIII]
  • Betrachtungen über die Heilige Liturgie 1845-1848 [VIII]
  • Brief an Schukowski 1848 [VIII]
  • Die Toten Seelen, II. Teil 1845-1852 [II]
  • Inhalt des siebenten Bandes
  • Aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden I Seite
  • Vorrede 1
  • I Mein Testament 9
  • II Die Frau in der vornehmen Welt 21
  • III Die Bestimmung der Krankheiten 30
  • IV Etwas über die Bedeutung des Wortes 35
  • V Über den öffentlichen Vortrag russischer Dichtungen 43
  • VI Wie man den Armen helfen soll 49
  • VII Über Schukowskis Übersetzung der Odyssee 55
  • VIII Einige Worte über unsere Kirche und unsere Geistlichkeit 73
  • IX Über denselben Gegenstand 79
  • X Über das Lyrische bei unseren Poeten 85
  • XI Diskussionen 111
  • XII Der Christ schreitet vorwärts 117
  • XIII Karamsin 123
  • XIV Vom Theater, von einer einseitigen Ansicht über das 129
  • Theater und von der Einseitigkeit überhaupt
  • XV Über die Aufgaben der lyrischen Dichtung unserer Zeit 151
  • XVI Ratschläge 161
  • XVII Über die Aufklärung 167
  • XVIII Vier Briefe an verschiedene Personen über die »Toten 175
  • Seelen«
  • XIX Liebt unser russisches Vaterland 203
  • XX Lernt Rußland kennen! 209
  • XXI Was eine Gouverneursgattin ist 227
  • XXII Der russische Gutsbesitzer 255
  • XXIII Der Historienmaler Iwanow 271
  • XXIV Was die Frau ihrem Manne im häuslichen Leben des Alltags 291
  • und bei den heutigen Zuständen in Rußland sein kann
  • XXV Über ländliche Rechtspflege und Gerichtsbarkeit 301
  • XXVI Rußlands Schrecken und Grauen 307
  • XXVII An einen kurzsichtigen Freund 317
  • XXVIII In einen hochgestellten Mann 323
  • XXIX Wessen Los auf Erden das beste ist 359
  • XXX Ein Geleitspruch 363
  • XXXI Wesen und Eigenart der russischen Poesie 369
  • XXXII Auferstehungstag 447
  • Inhalt des achten Bandes
  • Aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden II Seite
  • An Arkadius Ossipowitsch Rosetti 1
  • Über den »Zeitgenossen« (Sowremjennik) 11
  • Die Beichte des Dichters 33
  • An W. A. Schukowski 101
  • Betrachtungen über die Heilige Liturgie 115
  • Einleitung 121
  • Das Offertorium (_Proscomidia_) 125
  • Die Liturgie der Katechumenen 145
  • Die Liturgie der Gläubigen 169
  • Schluß 217
  • Jugendschriften 223
  • 1834 225
  • Über eine Geschichte der kleinrussischen Kosaken 231
  • Zwei Kapitel aus der kleinrussischen Erzählung »Der 235
  • schreckliche Eber«
  • I Der Lehrer 237
  • II Der Erfolg der Gesandtschaft 251
  • Das Weib 263
  • Fragmente
  • Gedichte und poetische Versuche 275
  • Sturm 277
  • Albumblatt 279
  • Hans Küchelgarten 283
  • Beilage: Aus Gogols Briefwechsel mit Bjelinski
  • I Gogol an Bjelinski 349
  • II Aus einem Briefe Gogols an N. I. Prokopowitsch 355
  • III Bjelinskis Brief an Gogol 361
  • IV Gogol an Bjelinski 381
  • V Fragment aus demselben Brief, das an einer anderen Stelle 395
  • aufgefunden worden ist
  • VI Gogol an W. S. Bjelinski 399
  • Nachtrag 405
  • Berichtigungen
  • Zu Band V, Seite 479, Zeile 5 von unten: Prozeß. Das Bedientenzimmer
  • usw. statt _Bedientenzimmer_ lies _Vorzimmer_ (Die Bedientenstube).
  • Seite 480, Zeile 2 von unten statt _Die Bedientenstube_ lies _Das
  • Vorzimmer_ (Die Bedientenstube).
  • Zu Band VI, Seite 538, Zeile 6 statt 1835 lies 1836.
  • Druck von Mänicke und Jahn, Rudolstadt
  • Anmerkungen zur Transkription
  • Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten. Auch
  • Variationen in der Transliteration der russischen Namen wurden nicht
  • verändert.
  • Offensichtliche Fehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt, teilweise
  • unter Verwendung der russischen Originaltexte (vorher/nachher):
  • ... Deutsch von Ullrich Steindorf ...
  • ... Deutsch von Ulrich Steindorff ...
  • [S. 1]:
  • ... An Arkadius Ossipowitsch Rossetti ...
  • ... An Arkadius Ossipowitsch Rosetti ...
  • [S. 13]:
  • ... auf: warum heißt die Zeitschrift »Der Zeitgenosse«. Wir ...
  • ... auf: warum heißt die Zeitschrift »Der Zeitgenosse«? Wir ...
  • [S. 15]:
  • ... ließ. Mein hartnäckiges Zureden und mein Verspechen, ...
  • ... ließ. Mein hartnäckiges Zureden und mein Versprechen, ...
  • [S. 37]:
  • ... sowie ferner mit dem Unterschied, das sich dies alles in ...
  • ... sowie ferner mit dem Unterschied, daß sich dies alles in ...
  • [S. 64]:
  • ... würden, Aufzeichnungen über sich selbst zu machen, und ...
  • ... würde, Aufzeichnungen über sich selbst zu machen, und ...
  • [S. 101]:
  • ... An W. A. Schukkowski ...
  • ... An W. A. Schukowski ...
  • [S. 156]:
  • ... Nachdem die Lobhymmen beendigt sind, beginnen die ...
  • ... Nachdem die Lobhymnen beendigt sind, beginnen die ...
  • [S. 159]:
  • ... ausdrucksvoll, so daß jedes Wort einem jeden vernehmich ...
  • ... ausdrucksvoll, so daß jedes Wort einem jeden vernehmlich ...
  • [S. 179]:
  • ... alle Tage unseres Lebens.« Und im vollen Bewußsein ...
  • ... alle Tage unseres Lebens.« Und im vollen Bewußtsein ...
  • [S. 183]:
  • ... an Gott den Vater, den allmächtigen Schöpfer Himmels ...
  • ... an Gott den Vater, den allmächtigen Schöpfer des Himmels ...
  • [S. 184]:
  • ... dem heiligen Hochalter, der den heiligen Abendmahlstisch ...
  • ... dem heiligen Hochaltar, der den heiligen Abendmahlstisch ...
  • [S. 372]:
  • ... behaupten nnd es als eine große Wahrheit hinstellen, ...
  • ... behaupten und es als eine große Wahrheit hinstellen, ...
  • [S. 378]:
  • ... Sie haben dies natürlich aus Unvorsichtigkeit und getan, ...
  • ... Sie haben dies natürlich aus Unvorsichtigkeit getan und, ...
  • [S. 411]:
  • ... um um den Preis eines solchen Opfers noch Seine Gerechtigkeit ...
  • ... um den Preis eines solchen Opfers noch Seine Gerechtigkeit ...
  • [S. 417]:
  • ... Über den »Zeitgenossen«; (Sowremjennik); ...
  • ... Über den »Zeitgenossen«; (Sowremennik); ...
  • [S. 427]:
  • ... Das Offertorium (Prosconidia) | 125 ...
  • ... Das Offertorium (Proscomidia) | 125 ...
  • End of the Project Gutenberg EBook of Sämmtliche Werke 8: Briefwechsel II,
  • Hans Küchelgarten, by Nikolaj Gogol
  • *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 8: ***
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