- The Project Gutenberg EBook of Sämmtliche Werke 2: Die Toten Seelen II /
- Novellen, by Nikolaj Gogol
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- Title: Sämmtliche Werke 2: Die Toten Seelen II / Novellen
- Die Toten Seelen II / Der Mantel / Die Nase / Das Porträt
- Author: Nikolaj Gogol
- Editor: Otto Buek
- Translator: Otto Buek
- Mario Spiro
- S. Bugow
- Release Date: March 1, 2017 [EBook #54263]
- Language: German
- *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 2: DIE ***
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- Digital Library.
- Nikolaus Gogol
- Tote Seelen, II
- Novellen
- Nikolaus Gogol
- Sämmtliche Werke
- In 8 Bänden
- Herausgegeben
- von
- Otto Buek
- Band 2
- München und Leipzig
- bei Georg Müller
- 1909
- E. R. W.
- Nikolaus Gogol
- Die Abenteuer Tschitschikows oder Die toten Seelen
- Übertragen
- von
- Otto Buek
- Band 2
- München und Leipzig
- bei Georg Müller
- 1909
- E. R. W.
- Inhalt
- Die Abenteuer Tschitschikows, Zweiter Teil Seite 1
- Novellen:
- Der Mantel » 223
- Die Nase » 283
- Das Porträt » 329
- Die Abenteuer des Grafen Tschitschikows
- oder
- Die Toten Seelen.
- Zweiter Teil
- Erstes Kapitel.
- Warum bloß wollen wir die Armut, nichts als die Armut und die
- beklagenswerte Unvollkommenheit unseres Lebens öffentlich zur Schau
- stellen, indem wir die Menschen aus der Wildnis, aus den entlegensten
- Winkeln unseres Vaterlandes ausgraben und hervorziehen? -- Was ist zu
- machen, wenn das nun einmal die Eigenart des Verfassers ist, und wenn er
- selbst so sehr an seiner eigenen Unzulänglichkeit krankt, daß er eben
- nur dies eine kann: die Armut und nichts als die Armut und
- Unvollkommenheit unseres Lebens darstellen, indem er seine Menschen aus
- der Wildnis und aus den entlegensten Winkeln unseres Vaterlandes
- ausgräbt? Und so sind wir denn abermals mitten in die Wildnis
- hineingeraten und wieder auf ein ödes trauriges Nest gestoßen. Und noch
- dazu welch ein Nest und welch eine Wildnis!
- Wie der Riesenwall einer unendlichen Festung mit Türmen und Bastionen,
- zog sich in endlosen Windungen von mehr als tausend Werst eine
- ununterbrochene Gebirgskette hin. Stolz und majestätisch erhob sie sich
- über die grenzenlose Ebene, bald als nackter Ton- und Kalkfelsen, bald
- als senkrecht abstürzende Bergwand, durchsetzt von Spalten und Rissen,
- bald wieder in Form von grünen Kuppen, bedeckt mit jungem Buschwerk, das
- zwischen kahlen Baumstümpfen emporragte und von weitem wie zartes
- Lammfell aussah, bald endlich als dichter dunkler Wald, den die Axt
- seltsamer Weise noch verschont hatte. Der Fluß, der überall zwischen
- hohen Ufern dahinströmte, folgte den Bergen in mancherlei
- Schlangenwindungen, nur hie und da entfernte er sich von ihnen, floß
- zwischen Feldern und Wiesen dahin, schlängelte sich in leuchtenden
- Serpentinen, verschwand plötzlich, noch einmal hell aufblitzend im
- strahlenden Sonnenlicht in einem Gehölz von Birken, Espen oder Erlen und
- tauchte endlich wieder triumphierend aus dem Dunkel hervor, überall
- begleitet von Brücken, Windmühlen und Dämmen, die ihm bei jeder Wendung
- nachzueilen schienen.
- An einer Stelle war die steile Gebirgsmasse besonders dicht mit dem
- Lockenschmuck jungen Baumgrünes überzogen. Durch künstliche Anpflanzung
- hatte sich hier dank den Unebenheiten des Gebirgshanges die Vegetation
- aus Nord und Süd zusammengefunden. Eiche, Ahorn, Birnbäume und
- Weidenbüsche, Beifuß und Birke, Fichten und dicht von Hopfen umrankte
- Ebereschen kletterten überall, _hier_ einträchtig und sich gegenseitig
- im Wachstum unterstützend, _dort_ sich hemmend und eng zusammengedrängt,
- den steilen Berg hinan. Oben am Scheitel mischten sich mit den grünen
- Wipfeln die roten Dächer der Gutsgebäude, die Giebel und Dachfirste der
- dahinter versteckten Bauernhütten, das oberste Stockwerk des
- Herrenhauses mit seinem geschnitzten Balkon und dem halbrunden Fenster
- -- und hoch über dieser Masse nah beieinander liegender Häuser und Bäume
- streckte eine altertümliche Kirche ihre fünf vergoldeten Türme in die
- Luft, deren jeder ein Glockenspiel enthielt. Die Türme waren mit
- goldenen durchbrochenen Kreuzen geschmückt, die mit ebensolchen Ketten
- von gleichem Metall an den Kuppeln befestigt waren, so daß man aus der
- Ferne den Eindruck hatte, als glühte und flimmerte die Luft von
- glänzendem gemünztem Golde, das frei im blauen Äther schwebte, ohne an
- etwas befestigt zu sein. Und diese ganze Masse von Bäumen, Dächern und
- Kreuzen spiegelte sich wie auf den Kopf gestellt lieblich im Flusse
- wieder, wo die hohen mißgestalteten Weidenstämme, die teils vereinzelt
- am Ufersaume, teils tief im Wasser standen, ihre von grünem schleimigen
- Flußschwamm und treibenden Wasserlilien umsponnenen Zweige und Blätter
- in die Fluten hinabtauchten und in die Betrachtung dieses reizenden
- Bildes versunken schienen.
- Dieser Anblick war in der Tat sehr hübsch, aber der Blick aus der Höhe
- ins Tal, von der Terrasse des Hauses in die weite Ferne war noch viel
- schöner. Kein Gast, kein Besucher vermochte es gleichgültig auf dem
- Balkon zu verweilen: der Atem stockte ihm in der Brust vor Staunen und
- Entzücken, und er konnte bloß ausrufen: »Gott wie geräumig und frei ist
- es hier!« Ein unendlicher grenzenloser Raum breitete sich vor ihm aus:
- Hinter den Wiesen, die mit Buschwerk und mit Windmühlen übersät waren,
- erhoben sich dunkle Wälder wie eine Reihe grün schimmernder Zonen;
- hinter den Wäldern leuchteten gelbliche Sanddünen durch die sich mählich
- verfinsternde Luft; auf diese folgten wiederum Wälder, die bläulich
- schimmerten, wie ein sich weithin dehnendes Meer oder eine weite
- Nebelfläche; dahinter lagen wieder Sanddünen, welche zwar nicht mehr so
- hell, wie die ersten, aber doch noch deutlich sichtbar gelb glimmten und
- leuchteten. Am fernen Horizont bemerkte man die Konturen eines
- Bergrückens: das waren Kalkfelsen, die selbst bei schlechtestem Wetter
- beständig in blendender Weiße erstrahlten, wie wenn eine ewige Sonne sie
- beleuchtete. An ihrem Fuße, der zum Teil aus Gipsgestein bestand, hoben
- sich hie und da nebelgrau flimmernde Flecken von dem blendenden Weiß des
- Hintergrundes ab: das waren ferne Dörfer, die jedoch kein menschliches
- Auge erkennen konnte -- nur die goldene Spitze einer Kirche, die hin und
- wieder aufblitzte wie ein glühender Funke, ließ ahnen, das dies ein
- großes, von Menschen bewohntes Dorf sei. Das Ganze aber war in eine
- tiefe Stille getaucht, die nicht einmal von dem kaum bis ans Ohr
- dringenden Lied der Sänger der Lüfte gestört wurde, welche sich in den
- reinen Äther emporschwangen und bald im weiten Raume verloren. Mit einem
- Wort, kein Gast noch Besucher konnte ruhig auf dem Balkon weilen, und
- wenn er einige Stunden in die Betrachtung verloren dagestanden hatte,
- brach er immer wieder in den schon bekannten Ruf aus: »Gott, wie
- geräumig und frei es hier ist.«
- Wer aber war der Bewohner und Besitzer dieses Landgutes, das gleich
- einer uneinnehmbaren Festung dalag und zu dem von dieser Seite nicht
- einmal ein Fahrweg hinführte. Man mußte schon von der andern Seite
- heranzukommen suchen -- wo weit auseinanderstehende Eichen den
- herannahenden Reisenden freundlich begrüßten, indem sie ihre breiten
- Äste weit ausstreckten wie die Arme eines Freundes und ihn bis zu dem
- Hause hingeleiteten, dessen Spitze wir schon von hinten gesehen haben,
- und das jetzt ganz frei und offen dalag, zwischen einer langen Reihe von
- Bauernhütten mit ihren geschnitzten Giebeln und Dachfirsten, und der
- Kirche, die im Golde ihrer Kreuze und des durchbrochenen Schnitzwerkes
- der in der Luft hängenden Ketten erstrahlte.
- Es war der Gutsbesitzer des Tremalachanskschen Kreises Andrei
- Iwanowitsch Tentennikow. Der Glückliche war ein junger Mann von
- dreiunddreißig Jahren, der noch dazu unverheiratet war.
- Was war nun dieser Gutsbesitzer Andrei Iwanowitsch Tentennikow für ein
- Mensch? Wie war sein Wesen; was hatte er für Eigenschaften und für einen
- Charakter? -- Darnach müssen wir uns natürlich bei den lieben Nachbarn
- erkundigen, geneigte Leserinnen. Einer von ihnen, der zu jener Gattung
- verabschiedeter Stabsoffiziere und Lebemänner gehörte, die jetzt schon
- im Aussterben begriffen ist, pflegte sich folgendermaßen über ihn zu
- äußern: »Ein ganz gewöhnlicher Schweinehund!« Ein General, der etwa zehn
- Werst von ihm entfernt wohnte, sagte gewöhnlich: »Der junge Mann ist
- nicht dumm, aber er hat sich gar zu viel in den Kopf gesetzt. Ich könnte
- ihm nützlich sein, denn ich habe gewisse Verbindungen in Petersburg und
- sogar beim ...« Der General beendigte seinen Satz niemals. Der
- Kreisrichter kleidete seine Antwort in folgende Form: »Ich will mir mal
- morgen die rückständigen Steuern von ihm abholen!« und ein Bauer hätte
- auf die Frage, was sein Herr für ein Mensch sei, überhaupt nichts
- geantwortet. Mit einem Wort, die Meinung, die die Nachbarn von ihm
- hatten, war recht ungünstig. Vorurteilslos gesprochen aber war Andrei
- Iwanowitsch eigentlich kein schlechter Mensch, sondern einfach einer von
- denen, die unnütz auf der Erde herumlaufen. Es gibt ja doch ohnedies
- genug Leute, welche unnütz auf der Erde herumlaufen, warum also sollte
- gerade Tentennikow es nicht tun? Übrigens wollen wir hier gleich einen
- kurzen Abriß seines Tagewerks geben, und da bei ihm ein Tag stets dem
- andern glich, so mag der Leser darnach selbst urteilen, was er für einen
- Charakter hatte, und inwieweit sein Leben den ihn umgebenden
- Naturschönheiten entsprach.
- Morgens pflegte er recht spät zu erwachen, dann richtete er sich im
- Bette auf und rieb sich lange die Augen. Zu seinem Pech waren die Augen
- sehr klein, und daher nahm diese Operation sehr viel Zeit in Anspruch.
- Während der ganzen Dauer dieser Handlung stand ein Mann, namens
- Michailo, mit einem Waschbecken und einem Handtuch an der Tür. Dieser
- arme Michailo mußte immer stundenlang so dastehen; dann ging er in die
- Küche und kam noch einmal wieder; aber sein Herr saß noch immer im Bett
- und rieb sich die Augen. Endlich sprang er aber doch auf, wusch sich,
- zog seinen Schlafrock an und trat in den Salon um ein Glas Tee, Kaffee,
- Kakao oder sogar frische Milch zu trinken. Er trank immer in kurzen
- Zügen, indem er die Brotkrumen rücksichtslos umherstreute und die
- Tabakasche überall achtlos hinfallen ließ. So saß er wohl zwei Stunden
- lang beim Frühstück, doch das genügte noch nicht. Dann nahm er noch eine
- Tasse kalten Tee und ging langsam ans Fenster, das in den Hof führte.
- Hier spielte sich jeden Tag folgende Szene ab.
- Vor allem zankte sich der Hausdiener Grigorij in seiner Eigenschaft als
- Aufwärter mit der Schließerin Perphiljewna, die er mit folgenden
- Ausdrücken zu bedenken pflegte: »Ach du Jammerseele, du nichtsnutziges
- Frauenzimmer du! Du solltest doch lieber den Mund halten, du gemeines
- Geschöpf!«
- »Du willst wohl _so_ etwas haben?« heulte die Jammerseele oder
- Perphiljewna, indem sie ihm die geballte Faust hinhielt. Dieses
- Frauenzimmer war nicht ungefährlich und hatte recht derbe und kräftige
- Manieren, trotz ihrer starken Vorliebe für Rosinen, Marmelade und andere
- Süßigkeiten, die sie in ihrem Schranke verschlossen hielt.
- »Du liegst dir ja sogar mit dem Verwalter in den Haaren, du Staubkorn,
- elendiges,« kreischte Grigorij.
- »Der Verwalter ist doch gerad so'n Dieb wie du, du glaubst wohl der Herr
- kennt euch nicht; er ist doch hier und hört alles.«
- »Wo ist der Herr?«
- »Da sitzt er am Fenster und sieht alles.«
- Und in der Tat, der Herr saß am Fenster und sah alles.
- Um dieses Sodom und Ghomorrha noch zu vervollständigen schrie ein Knabe
- auf dem Hofe aus voller Kehle, der von der Mutter eine Ohrfeige bekommen
- hatte, und ein Windspiel stimmte winselnd mit ein, indem es sich mit dem
- Hinterteil auf die Erde setzte; der Koch hatte nämlich kochendes Wasser
- aus dem Fenster gegossen und es verbrüht; mit einem Worte alles heulte
- und plärrte unerträglich. Der Herr sah und hörte sich alles an, aber
- erst als der Lärm so entsetzlich wurde, daß er Tentennikow in seinem
- Nichtstun zu stören begann, schickte er in den Hof hinunter und ließ
- sagen, die da unten möchten doch etwas _leiser lärmen_.
- Zwei Stunden vor dem Mittagessen begab sich Andrei Iwanowitsch in sein
- Zimmer, um an einem großen Werke zu arbeiten, das ganz Rußland von
- sämtlichen nur möglichen Standpunkten: vom bürgerlichen, vom
- politischen, vom philosophischen und religiösen umfassen und beleuchten
- sollte; auch sollte es die schwierigen Aufgaben und Probleme lösen, die
- die Zeit gestellt hatte und klar bestimmen, in welcher Richtung Rußlands
- große Zukunft läge; mit einem Wort, es war ein Werk wie nur ein moderner
- Mensch es planen konnte. Übrigens hatte es zunächst beim Nachdenken über
- dieses grandiose Unternehmen sein Bewenden: man kaute an der Feder, warf
- ein paar Zeichnungen aufs Papier, und schob dann alles wieder beiseite;
- statt dessen wurde ein Buch zur Hand genommen, das man bis zum
- Mittagessen nicht wieder fortlegte. In diesem Buche las man, während die
- Suppe, die Sauce, der Braten und sogar die süße Speise verzehrt wurde,
- ruhig weiter, und es kam mitunter vor, daß manche Speisen ganz kalt und
- andre überhaupt nicht angerührt wurden. Dann trank man noch eine Tasse
- Kaffee und rauchte ein Pfeifchen dazu und spielte noch eine Partie
- Schach mit sich selbst. Was darauf noch weiter bis zum Abendessen getan
- wurde -- ist tatsächlich schwer zu sagen. Ich glaube es wurde überhaupt
- nichts mehr getan.
- So verbrachte der junge dreiunddreißigjährige Mann, der immer im
- Schlafrock und ohne Halsbinde dasaß ganz mutterseelenallein und von
- aller Welt verlassen, seine Zeit. Das Spaziergehen und Herumlaufen
- machte ihm keinen Spaß, er hatte nicht einmal Lust hinaufzugehen, oder
- ein Fenster zu öffnen, um frische Luft in das Zimmer hineinzulassen, und
- der herrliche Anblick des Dorfes, an dem sich Gäste und Besucher nicht
- genug erfreuen konnten, schien für den Besitzer selbst überhaupt nicht
- zu existieren. Aus alledem kann der Leser ersehen, daß Andrei
- Iwanowitsch Tentennikow zu der großen Familie der Leute gehörte, die in
- Rußland nicht alle werden und die man früher bei uns Schlafmützen,
- Faulenzer, Bärenhäuter usw. zu nennen pflegte, und für die ich heute
- wirklich keinen Namen zu finden wüßte. Ob solche Charaktere _geboren_
- werden oder sich allmählich bilden, als ein Produkt trauriger
- Lebensverhältnisse, in deren harte und strenge Umgebung der Mensch
- hineingestellt ist, das ist eine Frage. Statt sie zu beantworten tut man
- vielleicht besser, die Geschichte der Kindheit und der Lehrjahre Andrei
- Iwanowitschs zu erzählen.
- »Anfangs schien alles darauf abzuzielen, daß etwas Vernünftiges aus ihm
- werden sollte. Mit zwölf Jahren kam der etwas kränkliche und
- träumerische, aber begabte und scharfsinnige Knabe in eine Schule, deren
- Direktor ein für jene Zeit wirklich ungewöhnlicher Mensch war. Der
- Abgott der Jünglinge und das bewunderte Vorbild aller Lehrer und
- Erzieher. Alexander Pawlowitsch war mit einem außerordentlichen
- Feingefühl begabt. Wie gut kannte er den russischen Charakter! Wie
- kannte er das kindliche Gemüt! Wie verstand er es, die Kinder zu leiten
- und zu lenken! Es gab keinen Schelm oder Wildfang, der, wenn er etwas
- angestellt hatte, nicht selbst zum Direktor kam, um ihm seine Streiche
- und Untaten zu beichten. Aber das war noch nicht alles: er erhielt eine
- harte Strafe, aber der kleine Schelm ließ darum keineswegs die Nase
- hängen, sondern verließ das Zimmer aufrechter als vorher. Es lag etwas
- wie frischer Mut in seinen Zügen, und eine innere Stimme schien zu ihm
- zu sprechen: »Vorwärts! Erhebe dich schnell wieder und stelle dich ruhig
- wieder auf beide Beine, trotzdem du gefallen bist.« Nie hielt der
- Direktor seinen Zöglingen lange Reden über gutes Betragen. Er pflegte
- nur zu sagen: »Ich verlange von meinen Schülern nur dies eine: daß sie
- vernünftig und verständig sind, sonst nichts! Wer den Ehrgeiz hat, klug
- zu werden, der hat nicht Zeit unartig zu sein; die Unarten müssen von
- selbst verschwinden.« Und so war es in Wirklichkeit, die Unarten
- verschwanden ganz von selbst. Ein Schüler, der kein ernstes Streben
- hatte, lenkte nur die Verachtung seiner Kameraden auf sich. Die
- erwachsenen Esel und Schafsköpfe mußten es sich gefallen lassen von den
- Kleinsten mit den kränkendsten Spitznamen getauft zu werden, und durften
- ihnen kein Härchen krümmen. »Das geht zu weit!« sagten viele, »diese
- Knaben werden allzu gescheit, das muß sie hochmütig machen.« »Nein, das
- geht durchaus nicht zu weit,« antwortete er, »die schwach Begabten
- behalte ich nicht lange in der Schule; es genügt schon, wenn sie den
- einen Lehrgang durchmachen; für die Begabteren habe ich noch einen
- zweiten Kursus.«(1) Und in der Tat, die Begabten mußten noch einen
- zweiten Kursus durchmachen. Manche Unarten und Streiche gestattete er
- und machte gar nicht den Versuch sie zu unterdrücken; in diesem
- Über-den-Strang-Schlagen der Kinder sah er den Beginn der Entwickelung
- ihrer seelischen Regungen und er erklärte, er könne es nicht entbehren,
- sondern brauche es vielmehr wie ein Arzt den Ausschlag, -- um mit
- Sicherheit zu ermitteln, was in des Menschen Innerem eigentlich vorgehe.
- Wie liebten ihn aber auch die Knaben! Nie trifft man eine solche
- Anhänglichkeit und Liebe der Kinder zu ihren Eltern, nie gab es selbst
- in dem unvernünftigen Lebensalter, wo man sich rücksichtslos sinnlosen
- Leidenschaften in die Arme wirft, eine so gewaltige unauslöschliche
- Neigung, wie die Liebe zu ihm. Bis zum Grabe, bis zu den letzten
- Lebenstagen noch, erhoben die dankbaren Zöglinge am Geburtstage ihres
- herrlichen Lehrers, der schon längst gestorben war, auf sein Andenken
- ihren Pokal, schlossen die Augen und vergossen seinetwegen Tränen der
- Rührung. Beim kleinsten Lob aus seinem Munde überlief den Schüler ein
- freudiges Beben und ein ehrgeiziges Streben spornte ihn an, all seine
- Kameraden zu übertreffen. Die Unbegabten hielt er nicht lange in der
- Schule fest; sie brauchten nur einen kurzen Lehrgang durchzumachen; die
- Begabten aber hatten einen doppelten Lehrgang zurückzulegen, und die
- letzte Klasse, die nur aus ganz Auserwählten bestand, hatte gar keine
- Ähnlichkeit mit der anderer Schulen. Erst hier verlangte er all das von
- dem Zögling, was andre unvernünftigerweise schon von den Kindern
- verlangen -- nämlich jenen entwickelteren Verstand, der selbst nicht
- spottet, es aber versteht, jeden Spott ruhig zu ertragen, dem Dummen zu
- verzeihen, sich nicht reizen zu lassen, die Geduld nicht zu verlieren,
- niemals Rache zu üben und sich immer eine stolze Ruhe und
- unerschütterliche Selbstbeherrschung zu bewahren; alles was geeignet
- ist, aus einem Menschen einen starken Mann zu formen, kam hier beständig
- zur Anwendung und er selbst stellte unaufhörlich Versuche und
- Experimente mit seinen Schülern an. O, wie vorzüglich kannte er die
- Wissenschaft des Lebens!
- Die Zahl seiner Lehrer war nicht sehr groß. In den meisten Fächern
- unterrichtete er selbst. Er verstand es, ohne Pedanterie und weitläufige
- Terminologie, ohne großartige Theorien und geschwollene Phrasen das
- eigentliche Wesen, die Seele einer jeden Wissenschaft darzustellen,
- sodaß auch der ungereifte Geist es sofort begriff, wozu er dies Wissen
- nötig hatte. Von allen Wissenschaften wählte er nur die, welche geeignet
- sind, aus dem Menschen einen Bürger seines Vaterlandes heranzubilden.
- Der größte Teil seiner Vorlesungen handelte davon, was den Jüngling in
- der Zukunft erwarte und er verstand es so gut, den ganzen Horizont
- seiner Laufbahn vor ihm aufzurollen, daß der Jüngling schon auf der
- Schulbank mit allen Gedanken und Träumen seiner Seele in seinem
- künftigen Berufe: im Staatsdienste lebte. Er verheimlichte nichts vor
- ihnen: weder die Enttäuschungen noch die Hindernisse, die sich vor dem
- Menschen auf seinem Lebenswege erheben, weder die Versuchungen noch die
- Verführungen, die ihn erwarten, dies alles führte er ihnen in
- ungeschminkter Nacktheit vor Augen, ohne ihnen das Geringste
- vorzuenthalten. Nichts war ihm fremd, wie wenn er selbst alle Ämter und
- Berufe kennen gelernt hatte. Und seltsam, sei es nun, daß der Ehrgeiz in
- ihnen so stark angeregt war, sei es daß im Auge dieses außerordentlichen
- Pädagogen etwas lag, was dem Jüngling ein beständiges »Vorwärts!«
- zuzurufen schien -- dieses Wort, das der Russe so gut kennt und das bei
- seiner feinfühligen Natur so große Wunder wirkt -- genug, die jungen
- Leute fingen sogleich an selbst die Schwierigkeiten aufzusuchen und
- dürsteten förmlich darnach, sich überall dort geschäftig und tätig zu
- zeigen, wo es galt, eine Schwierigkeit oder ein Hindernis zu überwinden
- und einen hohen Mut und Seelenstärke zu beweisen. Nur ganz wenigen
- gelang es diesen Lehrgang zurückzulegen, aber dafür waren es auch lauter
- starke kräftige Männer geworden, die gewissermaßen im Pulverdampfe
- gestanden hatten. Im Dienste wußten sie sich an den exponiertesten
- Stellen zu halten, während viele, die weit klüger waren als sie, es
- nicht lange im Dienste aushielten, ihn wegen kleiner persönlicher
- Unannehmlichkeiten quittierten oder bequem und träge(2) wie sie waren in
- die Hände von Gaunern und Erpressern gerieten. Dagegen standen die
- andern nicht nur fest und ohne zu wanken auf ihrem Posten, sondern
- verstanden es sogar, gereift durch Menschen- und Seelenkenntnis auch auf
- die schlechten und unehrlichen Leute noch einen starken sittlichen
- Einfluß auszuüben.(3)
- Das glühende Herz des ehrgeizigen Knaben pochte lange bei dem bloßen
- Gedanken, daß er endlich auch in diese Klasse versetzt werden würde. Man
- sollte meinen, für unseren Tentennikow hätte es gar nichts Besseres
- geben können als einen solchen Erzieher. Das Unglück wollte es jedoch,
- daß gerade in dem Augenblick, als er in diese Klasse der Auserwählten
- versetzt worden war -- wonach er sich so lebhaft gesehnt hatte -- der
- vortreffliche Lehrer einem unerwarteten Tode zum Opfer fiel. Das war ein
- wahrhaft furchtbarer Schlag, ein schrecklicher unersetzlicher Verlust
- für den jungen Mann. Nun wurde es in der Schule mit einem Male ganz
- anders. An die Stelle des Alexander Petrowitsch trat jetzt ein gewisser
- Fjodor Iwanowitsch. Er ging vor allem daran, allerlei äußere
- Vorschriften und ein strenges Reglement einzuführen und verlangte von
- den Kindern lauter Dinge, die man nur von Erwachsenen verlangen konnte.
- In dem freien Sichgehenlassen sah er nichts wie Ungezogenheit und
- Zügellosigkeit. Wie im bewußten Gegensatz zu seinem Vorgänger erklärte
- er gleich am ersten Tage, er lege gar keinen Wert auf den Verstand und
- die Fortschritte der Schüler in den Wissenschaften, sondern allein auf
- das gute Betragen.(4) Aber seltsam! gerade dies, wonach er so eifrig
- strebte, das gute Betragen konnte Fjodor Iwanowitsch seinen Schülern
- nicht beibringen. Sie machten allerhand schlechte Streiche, suchten sie
- aber geheim zu halten. Am Tage ging alles wie am Schnürchen, dafür gab
- man sich in der Nacht wilden Orgien und Zechereien hin.
- Auch mit den Wissenschaften ging es ganz seltsam. Fjodor Iwanowitsch
- stellte neue Lehrer mit neuen Anschauungen und neuen Grundsätzen an. Sie
- ließen ein wahres Hagelwetter von neuen Worten und Termini auf die
- Schüler niedergehen; sie vernachlässigten in ihrer Darstellung
- keineswegs die logischen Zusammenhänge, sie berücksichtigten die neueren
- Fortschritte der Wissenschaft und Technik, es fehlte ihnen nicht an
- Feuer und wahrhafter Begeisterung -- aber ach bei alledem fehlte es doch
- ihrer Wissenschaft an dem rechten Leben! Ihre tote Wissenschaft erhielt
- in ihrem Munde etwas Starres und noch Totenähnlicheres. Mit einem Wort,
- es ging alles drunter und drüber. Die Achtung vor der Schulobrigkeit und
- Autorität ging ganz verloren, man lachte und spottete über die Lehrer,
- nannte den Direktor Fritze, Pauker und wie die schönen Namen sonst noch
- heißen. Es schlichen sich Laster ein, die durchaus nicht mehr unschuldig
- waren, ja die Schüler machten raffinierte Streiche, daß man sich
- genötigt sah viele von ihnen ganz auszuschließen. In zwei Jahren war die
- Schule kaum noch wiederzuerkennen.
- Andrei Iwanowitsch hatte einen stillen und sanften Charakter. Er fand
- kein Gefallen an den nächtlichen Orgien seiner Kameraden, die vor dem
- Fenster der Wohnung ihres Direktors ganz ungeniert ein Dämchen
- einquartiert hatten, auch machte er ihre schlechten Streiche und frechen
- Reden über die Religion nicht mit, zu denen sie sich nur deshalb
- verstiegen, weil sie zufällig einen recht dummen Popen zum Lehrer
- hatten. Nein, seine Seele ahnte selbst durch den Traum hindurch ihren
- göttlichen Ursprung. Es gelang ihnen nicht, ihn zu verführen, aber er
- ließ sehr bald die Nase hängen. Sein Ehrgeiz war schon erwacht, aber es
- gab leider kein Feld, auf dem er ihn hatte betätigen können. Es wäre
- besser gewesen, wenn dieser Ehrgeiz überhaupt nicht geweckt worden wäre.
- Andrei Iwanowitsch hörte wie sich die Professoren auf dem Katheder
- ereiferten und mußte dabei stets an seinen früheren Lehrer denken, der,
- auch ohne sich aufzuregen, immer klar und verständig blieb. Was hörte er
- nicht alles für Gegenstände und Fächer! Philosophie, Medizin, sogar
- Jurisprudenz, allgemeine Weltgeschichte und zwar in einem solchen
- Umfange, daß der Professor in ganzen drei Jahren kaum über die
- Einleitung und über die Entstehung gewisser deutscher Städte hinauskam
- -- und Gott weiß was er nicht noch alles hörte, aber dies alles blieb in
- seinem Kopfe wie ein Haufe von formlosen Stücken liegen -- dank seinem
- angeborenen Verstande fühlte er nur, daß dies nicht die richtige
- Unterrichtsmethode sein könne, worin aber nun die rechte bestand -- dies
- wußte er selbst nicht. Und oft noch mußte er an Alexander Petrowitsch
- denken, und dann wurde ihm so schwer ums Herz, daß er nicht wußte, wo er
- sich vor Schmerz lassen sollte.
- Aber das eben ist das Glück der Jugend, daß sie noch eine Zukunft hat.
- Je näher die Zeit heranrückte, wo seine Lehrzeit ein Ende nehmen sollte,
- um so lebhafter schlug das Herz in seiner Brust. Er sprach zu sich
- selbst: »Das alles ist ja noch nicht das Leben, das wahre Leben fängt
- erst mit dem Staatsdienst an, da beginnt die Zeit der großen Taten.« Und
- ohne einen Blick auf den herrlichen Winkel zu werfen, der alle Gäste und
- Besucher in Staunen und Entzücken versetzte, ohne dem Grabe seiner
- Eltern einen Besuch abgestattet zu haben, eilte er wie alle ehrgeizigen
- Menschen nach Petersburg, das Ziel aller feurigen jungen Leute, die aus
- allen Gegenden Rußlands hierher zusammenströmen, um in den Staatsdienst
- zu treten, um zu glänzen, Karriere zu machen oder auch nur ganz
- oberflächlich von unserer eiskalten, farblosen, trügerischen
- gesellschaftlichen Bildung zu nippen. Allein Andrei Iwanowitsch sah sich
- in seinem ehrgeizigen Streben sehr bald gehemmt und abgekühlt durch
- seinen Onkel den wirklichen Staatsrat Onufrij Iwanowitsch. Dieser
- erklärte kategorisch, die Hauptsache, auf die alles ankomme, sei eine
- gute Handschrift; alles Übrige sei unrichtig; ohne diese jedoch könne er
- es unmöglich bis zum Minister oder einer höheren Staatsstellung bringen.
- Nur mit großer Müh und durch die hohe Protektion seines Onkels gelang es
- ihm endlich, sich eine kleine Stellung in einem untergeordneten
- Departement zu verschaffen. Als er den prachtvollen hell erleuchteten
- Saal mit dem glänzenden Parkett und all den lackierten Tischen betrat,
- da hatte er den Eindruck, als säßen hier die ersten Würdenträger des
- Reiches, die über das Schicksal des ganzen Landes zu entscheiden hätten,
- und als er dann die Legionen schöner Herren erblickte, die den Kopf auf
- die Schulter gebeugt, dasaßen und laut mit den Federn kritzelten, und
- wie er nun aufgefordert wurde, hinter einem Tische Platz zu nehmen und
- ein Aktenstück abzuschreiben (es hatte wie mit Absicht einen ganz
- unbedeutenden Inhalt; handelte es sich doch um drei Rubel, wegen der
- schon ein halbes Jahr lang hin- und hergeschrieben wurde) da überlief
- den unerfahrenen Jüngling ein ganz merkwürdiges Gefühl. Die um ihn
- herumsitzenden Herren erinnerten ihn lebhaft an kleine Schuljungen! Zur
- Vervollständigung der Ähnlichkeit waren noch einige von ihnen in die
- Lektüre eines dummen Romans, eine Übersetzung aus einer fremden Sprache
- vertieft; sie hielten ihn zwischen den Blättern des Aktenstückes
- versteckt, suchten sich den Anschein zu geben, als seien sie mit der
- Durchsicht der Akten beschäftigt und fuhren jedesmal zusammen, wenn der
- Vorgesetzte in der Türe erschien. Dies alles kam ihm so seltsam vor und
- er konnte das Gefühl nicht los werden, daß seine frühere Tätigkeit
- unendlich viel bedeutender und die Vorbereitung zum Staatsdienst weit
- schöner gewesen war, als der Staatsdienst selbst. Er sehnte sich wieder
- in seine Schulzeit zurück. Plötzlich stand Alexander Petrowitsch wie
- lebendig vor seinem geistigen Blick -- und er konnte nur mit Mühe seine
- Tränen unterdrücken.
- Das ganze Zimmer begann sich zu drehen. Die Tische und die Beamten
- wirbelten durcheinander und fast wäre er in dieser plötzlichen
- Umnachtung zu Boden gesunken. »Nein,« sagte er, als er wieder zu sich
- kam, leise zu sich selber, »ich will dennoch ans Werk gehen, so
- kleinlich es mir auch erscheint.« Nachdem er sich so selbst ermutigt
- hatte, beschloß er, seinen Dienst ruhig weiter zu versehen, wie alle
- andern.
- Wo ist die Welt ganz freudenleer? Auch Petersburg bietet trotz seines
- rauhen, finstern Äußeren mancherlei Genüsse. Draußen herrscht eine
- fürchterliche Kälte von dreiunddreißig Grad; wie ein entfesselter böser
- Geist jagt heulend die Schneesturmhexe, dies Kind des Nordens, durch die
- Luft, wütend fegt sie den Schnee über das Straßenpflaster, klebt den
- Leuten die Augen zusammen, und bestreut die Pelz- und Mantelkragen, die
- Schnurrbärte der Menschen und die Schnauzen der Tiere mit weißem Puder;
- aber anheimelnd blinkt zwischen den durcheinanderwirbelnden
- Schneeflocken hindurch irgendwo hoch oben im vierten Stock ein
- freundlich erleuchtetes Fenster; in einem gemütlichen Zimmer beim Lichte
- bescheidener Stearinkerzen und beim traulichen Gesumm der Teemaschine
- werden hier Herz und Seele erwärmende Gedanken ausgetauscht, erklingt
- manch herrliches, begeistertes Poetenwort, mit dem Gott sein liebes
- Rußland so reichlich beschenkte, und in erhabener Glut erbebt manch
- Jünglingsherz wie nirgends sonst, nicht einmal unter dem schwellenden
- Himmel des Südens.
- Tentennikow gewöhnte sich bald an den Dienst, aber die berufliche
- Tätigkeit wurde ihm nicht zum eigentlichen Ziel und Selbstzweck, wie er
- zuerst geglaubt hatte, sondern sie rückte gewissermaßen an die zweite
- Stelle. Sie diente ihm dazu, seine Zeit besser einzuteilen, und lehrte
- ihn die wenigen freien Augenblicke, die ihm übrig blieben, erst recht
- schätzen. Sein Onkel der wirkliche Staatsrat fing schon an zu glauben,
- daß aus dem Neffen noch etwas Rechtes werden könne, als dieser plötzlich
- einen ganz dummen Streich machte. Hier müssen wir einflechten, daß sich
- unter den vielen Freunden Andrei Iwanowitschs zwei junge Leute befanden,
- die zur Klasse der sogenannten »verbitterten« Menschen gehörten. Das
- waren zwei von jenen seltsamen und unruhigen Charakteren, die nicht nur
- keine _Ungerechtigkeit_ geduldig zu ertragen vermögen, sondern nicht
- einmal das, was ihnen wie eine Ungerechtigkeit erscheint. Von Natur
- gutmütig, aber unklug und systemlos in ihren Handlungen, verlangen sie
- von andern Leuten alle nur möglichen Rücksichten, während sie selbst
- äußerst intolerant gegen andre Menschen sind. Ihre feurige Rede und die
- äußerlich zur Schau getragene edle Entrüstung gegen die Gesellschaft
- machten einen starken Eindruck auf Tentennikow. Im Umgang mit ihnen
- schärften sich seine Nerven und erwachte in ihm eine gewisse
- Empfindlichkeit und Reizbarkeit. Er lernte von ihnen, all jene
- Kleinigkeiten zu bemerken, die er früher kaum beachtet hatte. Fjodor
- Nikolajewitsch Lenitzyn, der Chef einer der Abteilungen, die sich in
- jenem prachtvollen Saal befanden, erregte plötzlich sein Mißfallen. Es
- schien ihm, daß sich Lenitzyn ganz und gar in ein Stück Zucker
- verwandelte und sein Gesicht zu einem widerlich süßen Lächeln verzog,
- wenn er mit Leuten sprach, die über ihm standen, dagegen sofort eine
- essigsaure Miene machte, wenn er sich an seine Untergebenen wandte; daß
- er sich nach Art aller kleinlichen Menschen alle die merkte, die an den
- großen Festtagen nicht zu ihm kamen, um zu gratulieren und es denen
- nicht vergessen konnte, deren Namen er nicht auf der beim Portier
- ausliegenden Liste fand. Infolgedessen faßte er eine unüberwindliche,
- beinahe physische Antipathie gegen ihn. Es war fast so, als stachele und
- reize ihn beständig ein böser Geist, Fjodor Fjodorowitsch eine
- Unannehmlichkeit zu bereiten. Mit einer geheimen Freude suchte er nach
- einer passenden Gelegenheit und sie fand sich sehr bald. Einmal wurde er
- so grob gegen ihn, daß ihm von der vorgesetzten Behörde bedeutet wurde,
- -- er müsse den Chef um Verzeihung bitten oder um seinen Abschied
- einkommen. Er nahm seinen Abschied. Sein Onkel, der wirkliche Staatsrat,
- kam ganz erschrocken zu ihm gelaufen und flehte ihn an: »Um
- Gotteswillen, Andrei Iwanowitsch! Ich bitte dich! Was machst du? Deine
- ganze, so glücklich begonnene Karriere aufs Spiel zu setzen, bloß weil
- du einen Vorgesetzten bekommen hast, der dir nicht gefällt! Was soll das
- nur bedeuten? Wenn jeder es so machen wollte, dann bliebe doch überhaupt
- keiner mehr im Amte. Komm zu dir, sei vernünftig ... Überwinde deinen
- falschen Stolz und deine Eitelkeit, fahre zu ihm hin und sprich dich mit
- ihm aus!«
- »Es handelt sich hier doch gar nicht _darum_, lieber Onkel,« sagte der
- Neffe. »Es wird mir ja garnicht schwer, ihn um Verzeihung zu bitten. Ich
- bin wirklich schuld: er ist mein Vorgesetzter, und ich hätte nicht so
- mit ihm reden dürfen. Aber die Sache ist die: für mich gibt es noch
- einen andern Dienst und eine andre Aufgabe: ich habe dreihundert Bauern,
- mein Gut liegt darnieder, und mein Verwalter ist ein Narr. Der Staat
- wird nicht sehr viel verlieren, wenn ein anderer meinen Platz im Bureau
- einnehmen und meine Akten abschreiben wird, aber er verliert sehr viel,
- wenn dreihundert Bauern ihre Steuern nicht bezahlen können. Bedenken
- Sie, ich bin doch Gutsbesitzer: das ist kein Beruf, bei dem man müßig
- dasitzen könnte. Wenn ich für die Erhaltung, für die Hebung der Lage der
- mir anvertrauten Menschen sorge und dem Staate dreihundert tüchtige,
- nüchterne und fleißige Untertanen auf die Beine stelle, -- habe ich
- damit etwa weniger getan, als irgend ein Departementschef Lenitzyn?«
- Der wirkliche Staatsrat sperrte vor Verwunderung den Mund weit auf;
- einen solchen Redeerguß hatte er nicht erwartet. Er dachte etwas nach
- und begann dann etwa folgendermaßen: »Aber trotzdem ... nein, was denkst
- du nur? Du kannst dich doch nicht auf dem Lande vergraben? Die Bauern
- sind doch kein Umgang für dich! Hier ist's doch anders, da begegnet man
- doch hin und wieder einmal einem General oder einem Fürsten. Und wenn du
- Lust hast, kannst du auch an irgend einem schönen öffentlichen Gebäude
- vorübergehen. Hier gibt es doch Gasbeleuchtung und europäische
- Industrie, dagegen dort! da siehst du doch nichts wie Bauern und
- Bauernweiber. Warum willst du dich unter so ungebildete Menschen
- begeben?«
- Aber diese so überzeugenden Einwände und Vorstellungen des Onkels
- machten keinen rechten Eindruck auf den Neffen. Das Land erschien ihm
- als ein Hort der Freiheit, als Nährmutter schöner Träume und Gedanken,
- als das einzige Feld einer nützlichen Tätigkeit. Er hatte sich schon die
- allerneuesten Werke über Landwirtschaft besorgt. Mit einem Wort, zwei
- Wochen nach dieser Unterhaltung befand er sich schon in der Nähe jener
- Plätze, wo er seine Jugend verlebt hatte, und jenes lieblichen Winkels,
- der jeden Gast und Besucher so in Begeisterung versetzte. Ein ganz neues
- Gefühl bemächtigte sich seiner. Alte längst verblaßte Eindrücke
- erwachten in seiner Seele. Manche Plätze hatte er schon ganz vergessen,
- und neugierig wie ein Neuling betrachtete er die herrlichen Gegenden, an
- denen er vorüberkam. Und plötzlich begann sein Herz aus einem
- unbekannten Grunde heftig zu schlagen. Doch als dann der Weg durch eine
- enge Schlucht in das Dickicht eines gewaltigen Urwaldes führte und er
- oben und unten, über und unter sich dreihundertjährige Eichenstämme, die
- drei Menschen kaum zu umfassen vermochten, untermischt mit Tannen, Ulmen
- und Schwarzpappeln erblickte, die noch höher waren als die gewöhnlichen
- Pappeln und als er dann auf die Frage: »Wem gehört dieser Wald?« die
- Antwort erhielt: »Tentennikow,« und wie dann der Weg den Wald verließ,
- sich an Espenhainen, jungen und alten Weidenbäumen und Sträuchen, und an
- den fernen Gebirgsketten vorüberzog und den Fluß zweimal auf Brücken
- überschritt, ihn bald zur Rechten bald zur Linken lassend und als der
- Reisende auf die Frage: »Wem gehören diese Wiesen und diese
- überschwemmten Felder?« wiederum die Antwort erhielt: »Tentennikow,« und
- als dann der Weg den Berg hinaufklomm und auf dem hohen Plateau weiter
- fortlief, vorbei an Korngarben, Weizen, Roggen und Gerste und sich noch
- einmal an all den Plätzen entlang zog, an denen man schon einmal
- vorbeigekommen war und die nun plötzlich weit näher gerückt schienen,
- und als der Weg immer dunkler wurde und in den Schatten breiter
- weitverzweigter Bäume untertauchte, die dicht beieinander auf dem grünen
- Rasenteppich standen, welcher sich bis zur Grenze des Dorfes hinzog; als
- die mit Schnitzwerk verzierten Bauernhütten, die roten Dächer der
- steinernen Gutsgebäude ihm freundlich entgegenschimmerten, als die
- goldene Spitze des Kirchturms vor ihm aufblitzte und das feurig pochende
- Herz ihm auch ohne zu fragen sagte, wo er sich jetzt befand, -- da
- machten sich die immer höher schwellenden Gefühle in folgenden lauten
- Worten Luft: »War ich nicht ein Narr bis auf den heutigen Tag. Das
- Schicksal hatte mich zum Besitzer eines irdischen Paradieses ausersehen,
- und ich verdammte mich selbst zu niederen Schreiberdiensten, machte mich
- zum Knechte toter Buchstaben. Da habe ich nun viel gelernt, eine
- sorgfältige Erziehung genossen, mich über die Dinge orientiert, mir
- einen großen Schatz von Kenntnissen angeeignet, deren man zur Förderung
- des Guten unter seinen Untergebenen, zur Hebung eines ganzen Gebietes,
- zur gewissenhaften Erfüllung der zahlreichen Pflichten eines
- Gutsbesitzers bedarf, der Verwalter, Richter und Ordnungswächter in
- einer Person ist! Und da gehe ich hin und vertraue diesen Posten irgend
- einem ungebildeten und unfähigen Inspektor an! Und wähle mir statt
- dessen den Beruf eines Gerichtsschreibers und kümmere mich um die
- Prozesse anderer Leute, die ich überhaupt noch nicht gesehen habe und
- deren Wesen und Charakter ich nicht einmal kenne. Wie konnte ich nur
- dies Papierregiment, diese phantastische Verwaltung von Provinzen, die
- vielleicht tausend Werst von mir entfernt sind, die ich noch nie mit dem
- Fuße betreten habe und wo ich einen ganzen Haufen von Dummheiten
- anrichten kann -- der realen Verwaltung meiner eigenen Güter vorziehen?«
- Unterdessen aber erwartete ihn ein andres Schauspiel. Die Bauern hatten
- von der Ankunft ihres Herrn gehört und sich an der Freitreppe des
- Herrenhauses versammelt. Bunte Tücher, Gürtel, Hauben, Bauernkittel und
- die mächtigen malerischen Bärte dieses schönen Menschenschlages drängten
- sich um ihn. Und als dann aus hundert Kehlen der Ruf ertönte:
- »Väterchen! Hast du dich endlich unser erinnert!« und den alten Leuten,
- die noch seinen Großvater und Urgroßvater gekannt hatten unwillkürlich
- die Tränen in die Augen traten, da konnte auch er seine Rührung nicht
- unterdrücken. Und er mußte sich insgeheim fragen: »So viel Liebe! Womit
- habe ich sie nur verdient?« -- »Wohl damit, daß ich sie nie gesehen,
- mich nie um sie gekümmert habe!« Und er schwur sich, von nun an alle
- Mühe und Arbeit mit ihnen zu teilen.
- Und Tentennikow machte sich ganz ernstlich an die Verwaltung und
- Bewirtschaftung seines Gutes. Er setzte den Erbzins herab, verringerte
- die Fronarbeit und ließ den Bauern mehr Zeit für ihre eigenen Arbeiten.
- Den dummen Verwalter jagte er davon und kümmerte sich selbst um alles.
- Er erschien selbst auf den Feldern, auf der Tenne, auf der
- Getreidedarre, in den Mühlen und am Landungsplatz; und er war beim Laden
- und bei der Abfertigung der Barken zugegen, sodaß die Trägen und Faulen
- sich bereits hinter den Ohren am Kopf kratzten. Aber das dauerte nicht
- lange.(5) Der Bauer ist nicht dumm, er begriff bald, daß der Herr zwar
- flink und gewandt sei und wirklich Lust habe, was Tüchtiges zu leisten,
- aber noch nicht recht wisse, wie er es anfangen solle; auch war seine
- Ausdrucksweise gar zu kompliziert und zu gebildet. Schließlich kam es
- soweit, daß sich Herr und Bauer -- es wäre zu viel gesagt -- garnicht
- verstanden, aber doch nicht recht miteinander harmonierten und es nie
- lernten, den gleichen Ton zu treffen.
- Tentennikow bemerkte bald, daß auf dem herrschaftlichen Grund und Boden
- alles bei weitem nicht so gut gedieh, wie auf dem des Bauern: das Korn
- wurde früher ausgesät und ging später auf; und doch konnte man nicht
- sagen, daß die Leute schlecht arbeiteten. Der Herr stand immer selbst
- dabei und ließ den Bauern sogar einen Becher Branntwein reichen, wenn
- sie sich besonders viel Mühe gaben. Trotzdem aber stand bei den Bauern
- der Roggen schon längst in vollen Halmen, der Hafer reifte, die Hirse
- schoß mächtig empor, bei ihm dagegen grünte das Korn noch kaum und die
- Ähren waren kaum gefüllt. Mit einem Wort, der Herr merkte, daß ihn der
- Bauer einfach hinterging trotz aller Erleichterungen und Wohltaten, die
- er ihm angedeihen ließ. Er machte den Versuch, die Bauern zur Rede zu
- stellen, da erhielt er aber folgende Antwort: »Wie können Sie nur
- glauben, gnädiger Herr, daß wir nicht an den Nutzen und Vorteil der
- Herrschaft denken. Sie haben doch selbst gesehen, wieviel Mühe wir uns
- beim Pflügen und Säen gegeben haben! -- Sie haben uns doch sogar einen
- Becher Branntwein geben lassen.« Was konnte er darauf antworten?
- »Warum steht denn aber das Getreide so schlecht?« fragte der Herr
- weiter.
- »Gott weiß es! Der Wurm hat's wohl von unten angenagt! Und dann kommt
- noch der schlechte Sommer dazu: es hat ja nicht ein einziges Mal
- geregnet.«
- Aber der Herr sah, daß der Wurm das Getreide der Bauern verschont hatte,
- und es regnete auch so merkwürdig, sozusagen streifenweise, sodaß nur
- der Bauer Vorteil davon hatte, während auch nicht ein Tropfen das
- herrschaftliche Kornfeld traf.
- Und noch schwerer wurde es ihm mit den Frauen auszukommen. In einem fort
- bettelten sie um Befreiung von der Arbeit und klagten über die Lasten
- des Frondienstes. Seltsam! Er verlangte überhaupt keine Lieferungen von
- Leinwand, Beeren, Pilzen und Nüssen mehr von ihnen, erließ ihnen die
- Hälfte aller andern Arbeiten, weil er glaubte, die Frauen würden die
- freigewordene Zeit für ihre häuslichen Arbeiten verwenden, für die
- Wäsche und Kleidung ihrer Männer sorgen und ihre Gemüsegärten
- vergrößern. Welch ein Irrtum! Statt dessen griff der Müßiggang, das
- Raufen, die Klatschsucht und allerhand Zänkereien derartig unter dem
- schönen Geschlecht um sich, daß die Männer jeden Augenblick zum Herrn
- gelaufen kamen und ihn baten: »Gnädiger Herr, bringen Sie diesen Satan
- von einem Weibe zur Vernunft! Das ist ja der reinste Teufel. Mit der
- kann kein Mensch auskommen!«
- Mehrmals schon hatte er sich überwunden und seine Zuflucht zur Strenge
- nehmen wollen. Aber wie konnte er es übers Herz bringen! Wie konnte er
- streng sein, wenn so eine Frau daher kam und nach rechter Weiberart zu
- heulen begann? Dazu sahen sie alle so krank und elend aus und waren in
- so häßliche widerwärtige Tücher und Lappen gehüllt! (Woher sie sie bloß
- nahmen -- das weiß Gott allein!) »Fort, geh mir aus den Augen, daß ich
- dich nicht zu sehen brauche!« rief der arme Tentennikow und hatte gleich
- darauf das Vergnügen zu sehen, wie das Weib aus dem Tore hinaustrat,
- sich mit einer Nachbarin um irgend eine Rübe zu zanken begann und ihr
- trotz ihrer Kränklichkeit so kräftig den Buckel volldrosch, wie es ein
- gesunder Bauer nicht schöner fertiggebracht hätte.
- Eine Zeitlang wollte er eine Schule für sie gründen, aber das gab eine
- solch tolle Verwirrung, daß er ganz mutlos wurde, den Kopf hängen ließ,
- und bedauerte überhaupt damit angefangen zu haben!
- Bei seiner Tätigkeit als Schiedsrichter und Mittler merkte er
- gleichfalls, daß sich mit all den juristischen Kniffen und Finessen
- nicht viel anfangen ließ, auf die ihn seine philosophischen Professoren
- gebracht hatten. Die eine Partei log, die andre schwindelte nicht
- weniger und schließlich konnte nur der Teufel aus der Sache klug werden.
- Und er erkannte, daß die schlichte Menschenkenntnis weit wertvoller war,
- als alle juristischen Kniffe und philosophischen Bücher; -- er fühlte,
- daß ihm noch etwas fehlte, was dies aber war, das wußte nur Gott allein.
- Und es passierte etwas, was so oft zu passieren pflegt: weder verstand
- der Herr den Bauern noch der Bauer den Herrn; und beide, sowohl der Herr
- wie der Bauer schoben sich gegenseitig die Schuld zu. Dies kühlte den
- Eifer des Gutsbesitzers erheblich ab. Wenn er jetzt hinging, um die
- Arbeiten zu beaufsichtigen, dann ließ er es fast ganz an der früheren
- Aufmerksamkeit fehlen. Während der Heuernte achtete er nicht mehr auf
- den leisen Ton der Sensen, er sah nicht, wie die Heuschober errichtet,
- wie das Heu verladen wurde und bemerkte nicht, daß um ihn herum die
- Erntearbeiten in vollem Gange waren. -- Seine Augen blickten in die
- Ferne; befand er sich abseits von den Arbeiten, so suchte das Auge
- irgend einen Gegenstand in der Nähe oder er blickte nach der Seite, wo
- der Fluß eine Wendung machte, und wo ein Kerl mit roten Beinen und rotem
- Schnabel auf und ab spazierte -- ich meine natürlich einen Vogel und
- keinen Menschen; neugierig beobachtete er, wie der Vogel am Ufer einen
- Fisch fing und ihn eine Zeitlang im Schnabel hielt, tiefsinnig
- überlegte, ob er ihn verschlucken solle oder nicht, und aufmerksam den
- Fluß hinabblickte, wo in der Ferne ein anderer ähnlicher Vogel zu sehen
- war, der noch keinen Fisch gefangen hatte, aber aufmerksam nach dem
- Vogel mit dem Fisch im Schnabel ausschaute. Oder er schloß die Augen,
- richtete den Kopf in die Höhe zu dem blauen Himmelsraume empor, und ließ
- seine Nase den Geruch der Felder einsaugen und die Ohren den Gesang des
- gefiederten luftigen Sängervolkes auffangen, wenn sie sich allenthalben
- im Himmel und auf der Erde zu einem wundersamen Chore vereinen, in dem
- kein Mißklang die schöne Harmonie stört: im Roggen schlägt die Wachtel,
- der Wiesenknarrer pfeift im Grase, die Hänflinge fliegen zwitschernd
- herüber und hinüber, eine Schnepfe blökt während sie sich in die Luft
- schwingt, die Lerchen trillern, sich hoch im blauen Himmelsraum
- verlierend, und wie ein Trompetenton erklingt der Schrei der Kraniche,
- die hoch oben in den Lüften ihre dreieckigen Flugreihen formieren. Die
- ganze Umgegend tönt und klingt und gibt jeden Laut wundersam zurück ...
- O Gott! Wie herrlich ist doch Deine Welt noch in der Wildnis, in dem
- kleinsten Dörfchen, fern von den abscheulichen großen Landstraßen und
- Städten! Aber auch dieses wurde ihm mit der Zeit langweilig. Bald hörte
- er ganz auf, aufs Feld zu gehen, von nun ab hockte er beständig im
- Zimmer und wollte nicht einmal mehr den Verwalter empfangen, wenn dieser
- kam, um ihm seinen Bericht zu erstatten.
- Früher sprach noch von Zeit zu Zeit ein Nachbar bei ihm vor; irgend ein
- Husarenleutnant a. D., ein leidenschaftlicher Raucher, der ganz mit
- Tabakqualm gesättigt war, oder ein radikaler Student, der seine Studien
- nicht vollendet hatte und seine Weisheit aus allerhand modernen
- Broschüren und Zeitungen schöpfte. Aber auch dies begann ihn zu
- langweilen. Die Unterhaltungen dieser Leute kamen ihm bald recht
- oberflächlich vor; ihr europäisch-sicheres und gewandtes Auftreten, die
- Ungeniertheit, mit der sie ihm aufs Knie klopften, ihre Schmeicheleien
- und Familiaritäten erschienen ihm gar zu unverhüllt und offen. Er
- beschloß daher, den Verkehr mit ihnen abzubrechen und entledigte sich
- ihrer in sehr schroffer Weise. Als nämlich ein Repräsentant jener Sorte
- von Obersten und Lebemännern, die heute bereits im Aussterben begriffen
- sind, ein überaus angenehmer Gesellschafter und Freund oberflächlicher
- Unterhaltungen und zugleich der Vordermann und Vertreter jener neuen bei
- uns eben erst aufkommenden Denkart, Warwar Nikolajewitsch
- Wischnepokromow ihn einmal besuchte, um sich so recht von Herzen über
- Politik, Philosophie, Literatur, Moral und sogar über die Finanzlage
- Englands mit ihm auszusprechen, da schickte er seinen Diener hinaus und
- ließ ihm sagen, er sei nicht zu Hause, wobei er zugleich die
- Unvorsichtigkeit hatte, sich am Fenster zu zeigen. Die Blicke des
- Hausherrn und des Gastes begegneten sich. Der eine murmelte natürlich
- »so ein Schweinehund!« durch die Zähne, worauf ihm der andere
- gleichfalls so etwas wie einen Schweinehund nachsandte. Damit endete
- ihre Bekanntschaft. Seitdem besuchte ihn niemand mehr.
- Er war eigentlich recht froh darüber und gab sich ganz dem Nachdenken
- über sein großes Werk über Rußland hin. In welcher Weise dieses geschah
- -- hat der Leser bereits gesehen. In seinem Hause bürgerte sich von
- selbst eine merkwürdige -- liederliche Ordnung ein. Trotzdem kann man
- nicht sagen, daß es keine Augenblicke gab, wo er nicht sozusagen aus
- seinem Schlafe erwachte. Wenn die Post neue Zeitungen und Journale ins
- Haus brachte und er beim Lesen auf den Namen eines alten Kameraden
- stieß, der sich im Staatsdienste zu einer bedeutenden Stellung
- emporgeschwungen hatte, oder sein Teil zum Fortschritt der
- Wissenschaften und der Sache der ganzen Menschheit beigetragen hatte,
- dann schlich sich ein stiller leiser Schmerz in sein Herz und eine
- sanfte, stumme aber bittere Klage über sein tatenloses Leben entrang
- sich seiner Seele. Dann erschien ihm sein ganzes Dasein ekelhaft und
- häßlich. Mit ungewöhnlicher Klarheit erstand vor ihm die längst hinter
- ihm liegende Zeit seiner Schuljahre, und das Bild von Alexander
- Petrowitsch wurde plötzlich vor ihm lebendig, und Tränenbäche stürzten
- ihm aus den Augen .....
- Was bedeuteten diese Tränen? Offenbarte sich etwa in ihnen die tief
- erschütterte Seele, das schmerzliche Geheimnis ihrer Leiden, des
- Schmerzes über den großen und edlen Menschen, der in seinem Innern
- schlummerte und der mitten im Wachstum stecken geblieben war, noch ehe
- er vermocht hatte sich zu entwickeln und zu erstarken? Noch nicht
- erprobt im Kampf mit der Mißgunst des Schicksals, hatte er noch jene
- hohe Reife nicht erreicht, die ihn lehrte, sein eigenes Wesen zu erhöhen
- und zu kräftigen in dem Ansturm gegen Hemmungen und Hindernisse;
- dahingeschmolzen wie glühendes Metall war ein reicher Schatz großer
- herrlicher Gefühle, ohne die letzte Stählung und Härtung erhalten zu
- haben; allzu früh für ihn war der herrliche Lehrer gestorben, und nun
- gab es auf der ganzen Welt keinen Menschen mehr, der fähig gewesen wäre,
- die durch fortwährende Erschütterungen geschwächten Kräfte und den
- jeglicher Widerstandskraft beraubten machtlosen Willen zu heben und zu
- wecken, -- der ihn mit lebendigem Worte ermuntert -- der Seele ein
- belebendes »Vorwärts« zugerufen hätte, ein Ruf, nach dem ein jeder
- Russe, überall in jeder Lebenslage, ob hoch oder niedrig, in jedem Rang,
- Beruf und Stande so lebhaft dürstet.
- Wo ist der, der unserer russischen Seele in ihrer eigenen teuren
- Muttersprache dieses allgewaltige Wort »Vorwärts« zuzurufen vermöchte?
- Wer kennt so gut alle Kräfte und Fähigkeiten, die ganze Tiefe unseres
- Wesens, daß er uns mit einem Zauberwink zum höchsten Leben fortreißen
- könnte? Mit welchen Tränen, mit welcher Liebe würde es ihm der Russe
- danken! Aber Jahrhunderte auf Jahrhunderte verrinnen; in schmachvoller
- Trägheit und sinnloser Geschäftigkeit unreifer Jünglinge versinkt unser
- Geschlecht, und nicht will uns Gott den Mann senden, der es verstünde,
- dieses allgewaltige Wort zu sprechen!
- Und doch hätte ein Ereignis Tentennikow beinahe aus seinem Schlaf
- geweckt und eine völlig Umwälzung in seinem Charakter hervorgebracht. Es
- war eine Art Liebesgeschichte, aber auch sie hatte keine weiteren
- Folgen. In Tentennikows Nachbarschaft, etwa zehn Werst von seinem Gute
- entfernt lebte ein General, der wie wir schon wissen nicht allzu
- freundlich von Tentennikow sprach. Dieser General lebte wie ein echter
- General d. h. wie ein großer Herr, machte ein offenes Haus und liebte
- es, daß seine Nachbarn ihn besuchten und ihm ihre Aufwartung machten; er
- selbst erwiderte natürlich die Besuche nicht, hatte eine rauhe heisere
- Stimme, las viele Bücher und besaß eine Tochter, ein ganz seltsames,
- ungewöhnliches Wesen. Sie hatte etwas so Lebensvolles, wie das Leben
- selbst.
- Ihr Name war Ulenka, sie hatte eine merkwürdige Erziehung genossen. Eine
- englische Gouvernante hatte sie erzogen, die kein Wort russisch
- verstand. Ihre Mutter war schon sehr früh gestorben und der Vater hatte
- keine Zeit sich viel um sie zu kümmern. Übrigens konnte es bei seiner
- unsinnigen Liebe zu seiner Tochter gar nicht anders geschehen, als daß
- er sie schrecklich verwöhnte. Bei ihr atmete alles Selbständigkeit und
- Eigenart, wie bei einem Kinde, das in der Freiheit erzogen ward. Wenn
- jemand gesehen hätte wie ein plötzlicher Zorn strenge Falten in die
- herrliche Stirn grub, wie sie sich leidenschaftlich mit ihrem Vater
- stritt dann hätte er wohl glauben können, sie sei das launischste
- Geschöpf von der Welt. Aber sie wurde nur dann zornig, wenn sie von
- einer Ungerechtigkeit oder Grausamkeit hörte, die einem andern
- widerfahren war. Niemals zürnte oder stritt sie sich um ihrer selbst
- willen und nie suchte sie sich zu rechtfertigen. Wie schnell aber
- verschwand ihr Zorn, wenn sie den, dem sie zürnte, in Unglück und Elend
- sah! Sie hätte jedem, der sie um ein Almosen bat, sofort ihren
- Geldbeutel mit seinem ganzen Inhalt zugeworfen, ohne zu überlegen, ob
- das auch vernünftig sei(6) oder nicht. Es war etwas Heftiges, Ungestümes
- in ihr. Wenn sie sprach, dann schien alles dem Gedanken zu folgen, ja
- ihm voranzueilen: der Ausdruck ihres Gesichtes, ihre Sprache, die
- Bewegungen, ihre Hände; selbst die Falten ihres Kleides schienen
- vorauszuflattern, und man konnte fast glauben, sie müsse selbst mit
- ihren Worten davonfliegen. Sie hatte nichts Verschlossenes an sich, vor
- keinem Menschen hätte sie sich gefürchtet, ihre geheimsten Gedanken zu
- offenbaren, und keine Macht der Welt hätte sie zum Schweigen veranlassen
- können, wenn sie reden wollte. Ihr entzückender Gang, ein Gang, wie nur
- sie allein ihn hatte, war so frei und fest, daß jeder, der ihr
- begegnete, unwillkürlich zur Seite trat und ihr den Weg freigab. In
- ihrer Gegenwart überkam jeden bösen Menschen etwas wie Verlegenheit, und
- er verstummte. Die Kecksten und Frechsten fanden keine Worte und
- verloren ihre ganze Fassung und Sicherheit, während die Blöden sofort
- ganz unbefangen mit ihr zu plaudern begannen wie mit keinem andern
- Menschen auf der Welt und schon nach den ersten Worten schien es einem
- solchen, als hätte er sie schon irgendwo und irgendwann kennen gelernt
- und als hätte er diese selben Züge schon irgendwo gesehen: in seiner
- frühesten Kindheit, an die er sich kaum noch erinnerte, im eigenen
- Vaterhause, an einem glücklichen Abend, während fröhliche Kinderscharen
- spielten und lärmten, und traurig erschien ihm noch lange nachher der
- Ernst und die Reife des Mannesalters.
- Tentennikow ging es mit ihr ganz ebenso wie allen andern Menschen. Ein
- unerklärlich neues Gefühl bemächtigte sich seiner. Ein heller
- Lichtstrahl erhellte einen Augenblick sein monotones und trauriges
- Leben.
- Der General nahm Tentennikow zuerst recht freundlich und herzlich auf,
- eine rechte Harmonie aber wollte sich zwischen ihnen trotzdem nicht
- herstellen. Jede Unterhaltung endigte mit einem Streit, der stets ein
- unangenehmes Gefühl in beiden zurückließ; denn der General konnte keinen
- Widerspruch und keine Gegenrede vertragen. Andererseits war auch
- Tentennikow ein ziemlich empfindlicher junger Mann. Natürlich vergab er
- dem Vater manches um seiner Tochter willen, und der Friede zwischen
- beiden blieb so lange ungestört, bis eines schönen Tages zwei Verwandte
- des Generals: eine Gräfin Boldyrew und eine Fürstin Jusjakow bei ihm zu
- Besuch eintrafen: beide Hofdamen der alten Kaiserin, die aber doch noch
- einige gute Verbindungen mit einflußreichen Personen in Petersburg
- besaßen; der General bemühte sich lebhaft, ihre Zuneigung zu gewinnen.
- Tentennikow kam es so vor, daß der General seit dem Tage ihrer Ankunft
- etwas kälter gegen ihn wurde, ihn kaum noch beachtete und ihn wie eine
- stumme Person behandelte. Er redete ihn oft von oben herab an; nannte
- ihn »mein Bester« oder »Verehrtester« und sagte einmal sogar »du« zu
- ihm. Andrei Iwanowitsch fuhr auf. Er biß die Zähne zusammen, wußte sich
- aber unter ungeheurer Selbstüberwindung soviel Geistesgegenwart zu
- bewahren, um ihm mit sehr sanfter und höflicher Stimme zu erwidern,
- während alles in ihm kochte und rote Flecken auf seinem Gesichte
- hervortraten: »Ich bin Ihnen für Ihre Güte großen Dank schuldig Herr
- General. Mit diesem vertraulichen »du« bieten Sie mir ein enges
- Freundschaftsbündnis an, und verpflichten mich, Sie gleichfalls »du« zu
- nennen. Aber der Unterschied der Jahre macht einen so familiären Verkehr
- zwischen uns vollkommen unmöglich!« Der General wurde verlegen. Er
- suchte seine Gedanken zu sammeln und das rechte Wort zu finden;
- schließlich erklärte er, das »du« sei von ihm durchaus nicht in dem
- Sinne gemeint gewesen, in dem etwa alte Leute es sich erlauben, einen
- jungen Menschen »du« anzureden. Von seinem Generalsrang sagte er kein
- Wort.
- Natürlich brachen beide nach diesem Vorfall jeglichen Verkehr
- miteinander ab, und seine Liebe wurde im Keime erstickt. Das Licht
- erlosch, das einen Moment vor ihm aufgeleuchtet war, und die nun
- herabsinkende Dämmerung war noch finsterer und dunkler, als vordem. Sein
- Leben kehrte wieder in die alten Bahnen zurück und nahm seine frühere
- Gestalt an, die der Leser schon kennen gelernt hat. Und wiederum lag er
- tagelang untätig da. Das Haus starrte vor Schmutz und Unordnung. Der
- Besen steckte tagelang mitten im Zimmer in einem Haufen Schutt. Die
- Unterhosen trieben sich sogar im Salon umher, auf dem eleganten Tisch
- vor dem Sofa lagen ein Paar schmutzige Hosenträger, gleichsam als
- Festgabe für den eintretenden Gast. Tentennikows ganzes Leben wurde so
- armselig und schläfrig, daß nicht nur seine Diener aufhörten, ihn zu
- achten, sondern selbst die Hühner ohne jeden Respekt nach ihm pickten.
- Er konnte stundenlang mit der Feder in der Hand dasitzen und allerhand
- Figuren auf ein vor ihm liegendes Blatt zeichnen: Brezel, Häuser,
- Hütten, einen Bauernwagen, ein Dreigespann usw. Mitunter aber vergaß er
- alles um sich her, und dann bewegte sich die Feder ganz von selbst über
- das Papier ohne daß der Hausherr etwas davon wußte und formte ein
- kleines Köpfchen mit feinen, scharfen Zügen, einem schnellen forschenden
- Blick und einem leicht emporgekämmten Haarbüschel -- und staunend sah
- der Zeichner, daß es das Abbild jenes Wesens war, dessen Porträt kein
- Künstler hätte malen können. Und dann wurde ihm noch wehmütiger und
- schmerzlicher ums Herz; er wollte nicht mehr glauben, daß es ein Glück
- auf dieser Erde gibt, und darnach wurde er nur noch trauriger und
- einsilbiger als vordem. So war die Stimmung Andrei Iwanowitsch
- Tentennikows. Da bemerkte er plötzlich, als er sich eines Tages nach
- seiner Gewohnheit ans Fenster setzte, um in den Hof hinabzusehen, und zu
- seinem Erstaunen weder Grigorij noch Perfiljewna erblickte, daselbst
- eine gewisse Unruhe und Bewegung.
- Der junge Koch und die Aufwartefrau liefen hin um das Tor zu öffnen; es
- tat sich auf, und ließ drei Pferde sehen, ganz wie man sie auf
- Triumphbögen abgebildet findet: eine Schnauze rechts, eine links und
- eine in der Mitte. Hoch über ihnen thronte ein Kutscher und ein
- Bedienter in einem weiten Rock und mit einem Taschentuch um den Kopf.
- Hinter diesen saß ein Herr in Mantel und Mütze, tief eingehüllt in ein
- regenbogenfarbiges Plaid. Als die Equipage vor der Treppe hielt, zeigte
- es sich, daß es nur eine leichte Kutsche auf Federn war. Der Herr, der
- ein ungewöhnlich anständiges Äußeres hatte, sprang beinahe mit der
- Schnelligkeit und Gewandtheit eines Militärs aus dem Wagen und eilte die
- Treppe hinauf.
- Andrei Iwanowitsch bekam Angst. Er hielt den Ankömmling für einen
- Regierungsbeamten. Hier muß ich nachholen, daß er in seiner Jugend in
- eine dumme Geschichte verwickelt gewesen war. Ein paar philosophierende
- Husarenoffiziere, die eine Menge moderner Broschüren gelesen hatten, ein
- Ästhet, der die Universität nicht beendigt hatte, und ein
- heruntergekommener Spieler wollten eine Wohltätigkeitsgesellschaft
- gründen unter der Oberleitung eines Freimaurers, eines alten Gauners,
- der gleichfalls dem Kartenspiel ergeben, aber ein sehr redegewandter
- Herr war. Die Gesellschaft hatte sich ein außerordentlich hohes Ziel
- gesteckt: nämlich die ganze Menschheit von den Ufern der Themse bis
- Kamtschatka, dauernd zu beglücken. Dazu bedurfte man jedoch einer
- ungewöhnlich großen Kasse, und die Geldspenden, die den großmütigen
- Mitgliedern abgenommen wurden, waren unerhört groß. Wo das Geld hinkam,
- das wußte freilich niemand außer dem ersten Vorsitzenden, der die
- Oberleitung in den Händen hatte. Tentennikow wurde durch zwei Freunde in
- diese Gesellschaft eingeführt; das waren zwei von jenen verbitterten
- Menschen, die von Natur gutmütig, sich durch die vielen Toaste auf die
- Wissenschaft, die Aufklärung und ihre künftigen Heldentaten im Dienste
- der Menschheit dem Trunk ergeben hatten und zu berufsmäßigen Säufern
- geworden waren. Tentennikow besann sich noch zur rechten Zeit, und trat
- aus dieser Gesellschaft aus. Aber die Gesellschaft hatte sich schon in
- gewisse andre Operationen eingelassen, mit denen sich ein Edelmann
- eigentlich nicht abgeben sollte, die aber bald darauf zu unangenehmen
- Folgen und sogar zu Konflikten mit der Polizei führten ... Es ist daher
- kein Wunder, daß Tentennikow auch nach seinem Austritt und nachdem er
- alle Beziehungen zu diesen Leuten abgebrochen hatte, seine Ruhe nicht
- ganz wiederfinden konnte: sein Gewissen war nicht vollkommen rein. Und
- daher sah er jetzt nicht ohne Schrecken auf die Türe, die sich gleich
- öffnen mußte.
- Aber seine Angst verflog sofort, als der Gast mit einer schier
- unglaublichen Gewandtheit seine Verbeugung machte, wobei er zum Zeichen
- der Achtung seinen Kopf etwas zur Seite geneigt hielt. In kurzen aber
- bestimmten Worten erklärte dieser, daß er schon seit längerer Zeit teils
- in Geschäften, teils aus Wißbegierde Rußland bereise: unser Land sei
- sehr reich an merkwürdigen Dingen, ganz abgesehen von dem Überfluß an
- Erwerbsmöglichkeiten und den großen Unterschieden in der
- Bodenbeschaffenheit; er sei entzückt von der reizenden Lage des Gutes,
- hätte es aber trotz dieser entzückenden Lage doch niemals gewagt, den
- Gutsherrn durch seinen ungelegenen Besuch zu belästigen, wenn nicht
- seiner Kutsche infolge der Überschwemmungen dieses Frühjahrs und der
- schlechten Wege plötzlich ein Unfall zugestoßen wäre; die Reparatur
- werde nämlich die Meisterhand geübter Schmiedekünstler erfordern. Bei
- alledem aber hätte er es sich, auch wenn mit seiner Kutsche gar nichts
- passiert wäre, dennoch nicht versagen können, ihm persönlich seine
- Aufwartung zu machen.
- Als der Gast seine Rede beendigt hatte, machte er mit geradezu
- bezaubernder Liebenswürdigkeit einen Kratzfuß und ließ dabei seine
- eleganten Lackstiefel mit den reizenden Perlmutterknöpfen sehen, um
- gleich darauf, trotz seiner Körperfülle, mit der Elastizität eines
- Gummiballes ein paar Schritte zurückzuspringen.
- Andrei Iwanowitsch hatte sich schon längst beruhigt; er nahm an, das
- müsse irgend ein wißbegieriger Gelehrter oder Professor sein, der
- Rußland bereist, um Pflanzen oder vielleicht sogar seltene Fossilien zu
- sammeln. Er erklärte sogleich seine Bereitwilligkeit, ihm in allen
- Dingen behilflich zu sein; bot ihm seine Wagenbauer und Schmiede für die
- Reparatur der Kutsche an, bat ihn, sich's bei ihm so bequem zu machen,
- wie in seinem eigenen Hause, ließ den Gast in einem großen Lehnsessel
- _à la Voltaire_ Platz nehmen, und schickte sich an, seine
- Erzählung anzuhören, die sicherlich von allerhand gelehrten
- naturwissenschaftlichen Gegenständen handeln würde.
- Allein der Gast brachte die Rede mehr auf einige Gegenstände des inneren
- Lebens. Er verglich sein Leben mit einem Schiff, das auf hoher See von
- heillosen Stürmen und Winden dahingetrieben werde; erwähnte wie oft er
- schon Amt und Beruf habe wechseln müssen, wieviel er für die Wahrheit
- gelitten habe und wie er infolge der Nachstellungen seiner Feinde schon
- oft in Lebensgefahr geschwebt habe, und noch vielerlei andres, woraus
- Tentennikow ersehen konnte, daß sein Gast eher ein Mann der Praxis sei.
- Zum Schluß führte er sein weißes Batisttaschentuch an die Nase und
- schneuzte sich so laut, wie Andrei Iwanowitsch es noch niemals gehört
- hatte. Mitunter begegnet man wohl in einem Orchester einer solchen
- vertrackten Trompete; wenn die einmal einen Ton von sich gibt, dann
- scheint es einem, als habe es nicht im Orchester, sondern im eigenen
- Ohre gekracht. Ein ähnlicher Laut erdröhnte jetzt durch die plötzlich
- erwachten Gemächer des in ewigen Schlaf versunkenen Hauses, und gleich
- darauf erfüllte die Luft ein intensiver Geruch nach Kölnischem Wasser,
- der sich durch ein leichtes Schütteln des Batisttaschentuches unsichtbar
- im Zimmer verbreitete.
- Der Leser hat vielleicht schon erraten, daß der Gast kein andrer war,
- als unser verehrter, von uns so lange vernachlässigter Pawel Iwanowitsch
- Tschitschikow. Er war etwas älter geworden: diese Zeit war an ihm
- offenbar nicht ohne Stürme und Sorgen vorübergegangen. Selbst der Frack,
- in dem er stets zu erscheinen pflegte, schien etwas abgetragen zu sein;
- auch Kutscher und Equipage, der Diener, die Pferde und das Geschirr
- sahen ein wenig verbraucht und verschlissen aus. Auch seine Finanzlage
- schien nicht allzu glänzend zu sein. Aber der Ausdruck seines Gesichts,
- und der feine Anstand seines Auftretens waren noch ganz dieselben wie
- früher. Ja sein Benehmen und seine Formen waren eher noch etwas
- liebenswürdiger geworden, und er legte die Füße noch gewandter
- übereinander, wenn er im Lehnstuhle Platz nahm. Seine Aussprache war
- fast noch weicher, in seinen Worten und Redewendungen lag beinahe _noch_
- mehr Vorsicht und Mäßigung, in seiner Haltung noch mehr Klugheit und
- Sicherheit, und fast noch mehr Takt in seinem ganzen Betragen. Sein
- Kragen und sein Vorhemd waren weißer und glänzender als Schnee, und
- obwohl er auf Reisen war, klebte auch nicht ein Federchen an seinem
- Frack: er hätte sofort eine Einladung zu einem Geburtstagsdiner annehmen
- können. Kinn und Backen waren so glatt rasiert, daß nur ein Blinder über
- die angenehme Fülle und Rundung nicht in Entzücken geraten konnte.
- Im Hause ging sofort eine gewaltige Umwälzung vor sich, die eine Hälfte,
- die bislang stets in Dunkel und Finsternis gelegen hatte, weil die Laden
- geschlossen und zugenagelt waren, erstrahlte plötzlich in blendender
- Helligkeit. In den schön erleuchteten Zimmern wurden die Möbel
- umgestellt, und bald nahm alles folgendes Aussehen an: das Zimmer,
- welches zum Schlafgemach ausersehen war, wurde mit allen zur
- Nachttoilette nötigen Gegenständen ausgerüstet, die Stube die als
- Arbeitszimmer dienen sollte ... doch halt, zuerst müssen wir wissen, daß
- in diesem Zimmer drei Tische standen: ein Schreibtisch vor dem Sofa, ein
- Spieltisch vor dem Spiegel zwischen den Fenstern und ein dritter
- Ecktisch in einer Zimmerecke, zwischen der Schlafzimmertüre und der in
- den unbewohnten anstoßenden Salon führenden Türe, in dem zerbrochene
- Möbel standen. Dieser Saal diente bis jetzt als Vorzimmer und war etwa
- ein Jahr lang von niemandem betreten worden. Auf diesem Ecktische fand
- die Garderobe ihren Platz, die der Reisende in seinem Koffer mitgebracht
- hatte und zwar: ein Paar zu dem bekannten Frack gehörige Beinkleider,
- ein Paar _neue_ Beinkleider, ein Paar _graue_ Beinkleider, zwei
- Sammetwesten, zwei Atlaswesten und ein Gehrock. Dies alles wurde
- übereinander, in Form einer Pyramide aufgeschichtet, und ein seidenes
- Taschentuch über das Ganze gebreitet. In der andern Ecke zwischen Tür
- und Fenster wurden in langer Reihe die Stiefel aufgestellt: ein Paar
- _nicht mehr ganz_ neue, ein Paar _ganz_ neue, ein Paar Lackschuhe und
- ein Paar Morgenschuhe. Auch sie wurden ebenso schamhaft mit einem
- seidenen Taschentuch zugedeckt -- ganz als ob sie überhaupt nicht
- vorhanden wären. Auf dem Schreibtisch wurden sofort folgende Gegenstände
- in schönster Ordnung gruppiert: die Schatulle, eine Flasche mit
- Kölnischem Wasser, ein Kalender und zwei Romane, von beiden jedoch nur
- der zweite Band. Die reine Wäsche wurde in der Kommode untergebracht,
- die sich schon vorher im Schlafzimmer befand; die Wäsche hingegen, die
- zur Wäscherin geschafft werden sollte, wurde zu einem Bündel
- zusammengebunden und unter das Bett geschoben. Auch der Koffer wurde,
- nachdem er ausgeräumt war, unters Bett gestellt. Der Säbel, der
- unterwegs immer mitgenommen wurde, um den Räubern und Dieben Schrecken
- einzujagen, wurde auch im Schlafzimmer untergebracht und an einem Nagel
- in der Nähe des Bettes aufgehängt. Alles nahm das Aussehen höchster
- Sauberkeit und einer ganz ungewöhnlichen Ordnungsliebe an. Nirgends war
- ein Papierschnitzel, ein Federchen oder ein Stäubchen zu entdecken.
- Selbst die Luft schien gleichsam feiner und besser geworden zu sein: in
- ihr verbreitete sich der angenehme Geruch einer frischen gesunden
- Mannsperson, die ihre Wäsche nicht zu lange trägt, regelmäßig baden geht
- und sich Sonntags mit einem nassen Schwamm abwäscht. In dem Saal, der
- als Vorzimmer diente, schien sich eine Zeitlang der Geruch des Dieners
- Petruschka festsetzen zu wollen, aber Petruschka wurde bald ausquartiert
- und, wie es sich gehörte, in der Küche untergebracht.
- In den ersten Tagen fürchtete Andrei Iwanowitsch ein wenig für seine
- Unabhängigkeit; er hatte einige Sorge, der Gast könne ihn belästigen,
- unliebsame Änderungen in seiner Lebensweise einführen, und die von ihm
- mit soviel Glück aufgestellte Tageseinteilung stören, allein seine
- Besorgnisse waren unbegründet. Unser Freund Pawel Iwanowitsch legte eine
- ganz außerordentliche Elastizität und Fähigkeit an den Tag, sich an
- alles anzupassen. Er sprach sich beifällig über die philosophische
- Langsamkeit seines Wirtes aus und erklärte, sie verheiße ein langes
- Leben. Über sein Einsiedlertum äußerte er sich sehr treffend, es nähre
- in dem Menschen die großen Gedanken. Er warf auch einen Blick auf die
- Bibliothek, sprach sehr lobend über die Bücher im allgemeinen und
- bemerkte, sie bewahrten den Menschen vor dem Müßiggang. Er ließ nur sehr
- wenige Worte fallen, aber alles, was er sagte war ernst und bedeutend.
- In allem, was er tat, aber erwies er sich fast noch liebenswürdiger und
- taktvoller. Er kam und ging immer zur rechten Zeit, plagte den Wirt
- nicht mit Fragen und Wünschen, wenn dieser einsilbig und nicht zur
- Unterhaltung geneigt war; spielte mit Vergnügen eine Partie Schach mit
- ihm, und schwieg gleichfalls mit Vergnügen. Während der eine den
- Tabakrauch in krausen Wolken in die Luft blies, suchte sich der andre,
- da er keine Pfeife rauchte, eine ähnliche Beschäftigung: so holte er zum
- Beispiel seine Tabaksdose aus schwarzem Silber aus der Tasche, nahm sie
- zwischen zwei Finger seiner linken Hand, und drehte sie mit einem Finger
- der rechten rasch um den der linken, ganz so, wie die Erdkugel sich um
- ihre eigene Achse dreht, oder er trommelte mit dem Finger auf dem Deckel
- herum und pfiff eine Melodie dazu. Mit einem Wort, er störte seinen Wirt
- nicht im mindesten. »Zum erstenmal im Leben sehe ich einen Menschen, mit
- dem sich's leben läßt!« sagte Tentennikow zu sich selbst, »diese Kunst
- ist bei uns im allgemeinen recht wenig verbreitet. Unter uns gibt es
- mancherlei Leute: kluge, gebildete und auch wirklich gute Menschen, aber
- Menschen von immer gleichmäßigem Charakter, Menschen, mit denen man ein
- Jahrhundert lang zusammen leben könnte, ohne sich zu zanken -- solche
- Menschen kenne ich nicht. Wieviel solche Leute gibt's denn bei uns
- überhaupt? Dies ist der erste Mensch dieser Art, den ich kennen lerne.«
- So urteilte Tentennikow über seinen Gast.
- Tschitschikow war seinerseits gleichfalls sehr froh, daß er eine
- Zeitlang bei einem so ruhigen und friedlichen Herrn wohnen durfte. Das
- Zigeunerleben hatte er gründlich satt bekommen. Sich einmal einen Monat
- lang ordentlich ausruhen, den Anblick des herrlichen Gutes, den Duft der
- Felder und des beginnenden Frühlings so recht von Herzen genießen zu
- können, das war sogar mit Rücksicht auf die Hämorrhoiden von großem
- Nutzen und Vorteil.
- Man hätte nicht leicht einen schöneren Winkel zu seiner Erholung finden
- können. Der Frühling, dessen Sieg durch starke Fröste aufgehalten worden
- war, entfaltete sich plötzlich in seiner ganzen Pracht, und überall
- sproßte junges Leben. Wälder und Wiesen schimmerten bläulich, aus dem
- frischen Smaragd des ersten Grünes leuchtete hell das Gelb der Kuhblume
- hervor, und die rötlich-violette Anemone neigte sanft ihr zartes
- Köpfchen. Schwärme von Mücken und Scharen von Insekten zeigten sich über
- den Sümpfen, verfolgt von der langbeinigen Wasserspinne, und von allen
- Seiten flüchteten die Vögel in das trockene, schützende Schilfrohr. Hier
- strömte alles zusammen, um einander zu sehen und sich näher kennen zu
- lernen. Plötzlich bevölkerte sich die Erde, die Wälder erwachten, in den
- Wiesen wurde es lebendig und laut. In den Dörfern schlang sich der
- Reigen. Wieviel Raum gab es hier, um sich im Freien zu ergehen. Wie hell
- leuchtete das Grün! Wie frisch war die Luft! Wieviel Vogelsang in den
- Gärten! Paradiesisches Jauchzen und Jubeln des Alls! Das Dorf tönte und
- sang, wie bei einem Hochzeitsfest!
- Tschitschikow ging viel spazieren. Zu Wanderungen und Spaziergängen bot
- sich die reichste Gelegenheit. Bald erging er sich auf dem flachen
- Hochplateau, wo sich die Aussicht auf die unten liegenden Täler, mit den
- großen Seen auftat, welche die über die Ufer getretenen Flüsse
- zurückgelassen hatten, und aus denen ganze Inseln von dunklen noch
- unbelaubten Wäldern hervorragten; oder er schritt mitten durch das
- Dickicht dunkler Wälder, und finsterer Gründe, wo die Bäume mit
- Vogelnestern geschmückt, dicht beisammen standen und die Raben krächzend
- durcheinander flogen, und gleich einer Wolke den Himmel verfinsterten.
- Über trockeneres Erdreich konnte man bis zum Landungsplatz wandern, wo
- die ersten Barken, mit Erbsen, Gerste und Weizen beladen in die See
- stachen, und wo sich das Wasser mit ohrenbetäubendem Getöse auf das
- Mühlrad stürzte, das sich langsam in Bewegung zu setzen begann. Oder er
- ging hin, um sich die ersten Frühjahrsarbeiten anzusehen, und zu
- beobachten, wie sich ein Stück frisch gepflügtes Ackerland mitten durch
- das Grün der Felder zog und der Sämann mit der Hand auf das Sieb
- trommelnd, welches ihm auf der Brust hing, gleichmäßig den Samen
- ausstreute, ohne auch nur ein Körnchen auf der einen oder andern Seite
- zu verschütten.
- Tschitschikow besuchte jedes Fleckchen. Er unterhielt sich und besprach
- alles mit dem Verwalter, mit den Bauern und dem Müller. Er erkundigte
- sich nach allem, nach dem Wo und Wie und fragte wie es mit dem Haushalt
- stehe, wieviel Getreide verkauft werde, was im Frühjahr und Herbst für
- Korn gemahlen wird, wie jeder Bauer heißt, wer mit diesem und jenem
- verwandt ist, wo er seine Kuh gekauft hat, womit er sein Schwein
- füttert, mit einem Wort er vergaß nichts. Er ließ sich auch sagen,
- wieviel Bauern gestorben wären, und erfuhr, daß es nur wenige seien. Als
- kluger Mann erkannte er sofort, daß es nicht allzu glänzend um Andrei
- Iwanowitsch' Haushalt stand. Überall entdeckte er Unterlassungssünden,
- Nachlässigkeit, Diebstahl, auch die Trunksucht war recht verbreitet, und
- er dachte sich: »Was der Tentennikow doch für ein Rindvieh ist! So ein
- Gut! und es so zu vernachlässigen! Man könnte sicherlich ein Einkommen
- von fünfzigtausend Rubeln daraus herauswirtschaften!«
- Mehr als einmal kam ihm bei diesen Spaziergängen der Gedanke, selbst
- einmal -- d. h. natürlich nicht jetzt, sondern später, wenn die
- Hauptsache erledigt sein, und er Geld in Händen haben würde -- selbst
- einmal so ein friedlicher Besitzer eines ähnlichen Gutes zu werden. Und
- sofort tauchte natürlich das Bild eines jungen, frischen Weibchens mit
- weißem Gesicht, aus dem Kaufmannsstande oder sonst einem reichen Kreise
- vor ihm auf. Ja, er träumte sogar davon, daß sie musikalisch sei. Er
- stellte sich auch die junge Generation seiner Nachkommen vor, deren
- Bestimmung es war, die Familie Tschitschikow zu verewigen: einen
- munteren Jungen und eine schöne Tochter, oder sogar zwei Jungen und
- zwei, ja selbst drei Mädel, damit alle wissen sollten, daß er wirklich
- gelebt, existiert, und nicht etwa bloß wie ein Gespenst oder Schatten
- über die Erde gewandelt wäre -- und damit er sich vor dem Vaterlande
- nicht zu schämen brauchte. Dann kam ihm wohl der Gedanke, daß es nicht
- übel wäre, wenn er auch im Rang ein wenig aufrückte: Staatsrat zum
- Beispiel. Das war immerhin ein recht anständiger und achtbarer Titel!
- Was kommt einem nicht alles in den Sinn, wenn man spazieren geht: so
- mancherlei, was den Menschen aus dieser langweiligen, traurigen
- Gegenwart entführt, ihn neckt, reizt, seine Einbildungskraft bewegt und
- ihr selbst dann noch schmeichelt, wenn er überzeugt ist, daß es nie
- eintreffen wird.
- Auch Tschitschikows Bedienten gefiel es recht gut auf dem Lande. Sie
- gewöhnten sich schnell an das neue Leben. Petruschka schloß bald
- Freundschaft mit dem Hausdiener Grigorij, obwohl beide zuerst sehr
- wichtig taten und sich furchtbar aufbliesen. Petruschka suchte Grigorij
- Sand in die Augen zu streuen und mit seiner Erfahrenheit und
- Weltkenntnis zu imponieren; Grigorij aber übertrumpfte ihn sofort mit
- Petersburg, wo Petruschka noch nicht gewesen war. Er machte zwar noch
- einen Versuch zu opponieren und wollte die ganze Entfernung der Gegenden
- geltend machen, die er besucht hatte, aber Grigorij nannte ihm einen
- solchen Ort, den man nicht einmal auf der Karte hätte finden können, und
- er sprach von mehr als dreißigtausend Werst, sodaß der Diener Pawel
- Iwanowitschs ganz verdutzt sitzen blieb, den Mund weit aufriß und von
- allen Knechten und Mägden ausgelacht wurde. Trotzdem nahm die Sache den
- allerschönsten Ausgang; beide Diener schlossen eine enge Freundschaft.
- Am Ende des Dorfes Lyssyer Pimen war eine Schenke, die einem gewissen
- Akulka gehörte, den man den Bauernvater nannte. Hier in diesem Lokal
- konnte man sie zu allen Tageszeiten sehen. Dort wurde die Freundschaft
- besiegelt, damit wurden sie zu »Stammgästen« der Kneipe wie man sich im
- Volke auszudrücken liebt.
- Für Seliphan gab es andre Anziehungspunkte. Jeden Abend wurden im Dorfe
- Lieder gesungen; die Dorfjugend versammelte sich, um den beginnenden
- Frühling durch Gesänge und Tänze zu feiern; es schlang sich der Reigen
- und löste sich wieder. Die schlanken rosigen Mädchen, von einem
- Liebreiz, wie man ihn heute in den größeren Dörfern kaum noch findet,
- machten einen gewaltigen Eindruck auf ihn, sodaß er stundenlang dastehen
- und sie angaffen konnte. Es war schwer zu sagen, welche von ihnen die
- Schönste war; sie hatten alle schneeweiße Busen und Hälse, große runde
- und verschleierte Augen, den Gang eines Pfaus und einen Zopf der bis an
- den Gürtel reichte. Wenn er sie bei ihren weißen Händen faßte, und sich
- mit ihnen langsam im Reigen vorwärtsbewegte oder zusammen mit den andern
- Burschen gleich einer Mauer gegen sie vorrückte, wenn die Mädchen laut
- lachend auf sie zukamen und sangen: »Wo ist der Bräutigam, Bojaren?« und
- wenn dann die Gegend ringsum allmählich in Nacht versank und weit hinter
- dem Flusse das treue Echo der Melodie melancholisch zurücktönte, dann
- wußte er kaum, wie ihm geschah. Und noch lange nachher: am Morgen und in
- der Dämmerung, ob er schlief oder wachte -- immer wieder kam es ihm so
- vor, als halte er ein Paar weiße Hände in seinen Händen und bewege sich
- langsam mit ihnen im Reigen.
- Auch Tschitschikows Pferde fühlten sich in ihrer neuen Wohnung sehr
- wohl. Das Deichselpferd, der Assessor, und selbst der Schecke fanden den
- Aufenthalt bei Tentennikow gar nicht langweilig, den Hafer vortrefflich
- und die Lage der Ställe außerordentlich bequem. Ein jedes hatte seinen
- Stand, der zwar von dem des andern durch einen Verschlag abgeteilt war,
- über den man jedoch leicht hinweggucken konnte. Daher konnte man auch
- die andern Pferde sehen, und wenn es einem unter ihnen, selbst dem das
- in der äußersten Ecke stand, einfiel loszuwiehern, war es den andern
- leicht möglich, dem Kameraden in der gleichen Weise zu antworten.
- Mit einem Wort, alles fühlte sich bei Tentennikow bald wie zu Hause. Was
- jedoch die Angelegenheit anbetraf, wegen der Pawel Iwanowitsch das weite
- Rußland bereiste, nämlich die toten Seelen, so war er in dieser
- Beziehung äußerst vorsichtig und taktvoll geworden, selbst dann wenn er
- es mit kompletten Narren zu tun hatte. Tentennikow aber las doch
- immerhin Bücher, philosophierte, suchte sich über die Ursachen und
- Gründe aller Erscheinungen klar zu werden -- über ihr Warum und Weshalb
- .... »Nein, vielleicht ist es besser, ich fange vom andern Ende an!« So
- dachte Tschitschikow. Er plauderte oft mit den Knechten und Mägden, und
- so erfuhr er unter anderem einmal, daß der Herr früher häufig zu einem
- seiner Nachbarn -- einem General zu Gaste fuhr, daß der General eine
- Tochter habe, daß der Herr für das Fräulein -- und auch das Fräulein für
- den Herrn eine gewisse ... daß sie sich aber plötzlich entzweit und von
- da ab für immer gemieden hätten. Er selbst hatte auch schon bemerkt, daß
- Andrei Iwanowitsch beständig mit Bleistift und Feder allerhand Köpfe
- zeichnete, die einander alle sehr ähnlich sahen.
- Eines Tages nach dem Mittagessen, als er wieder einmal nach seiner
- Gewohnheit die silberne Tabaksdose mit dem Zeigefinger um ihre Achse
- drehte, sagte er zu Tentennikow: »Sie haben alles was das Herz begehrt,
- Andrei Iwanowitsch; nur eins fehlt Ihnen noch.«
- »Das wäre?« fragte jener, indem er eine krause Rauchwolke in die Luft
- blies.
- »Eine Lebensgefährtin,« versetzte Tschitschikow. Andrei Iwanowitsch
- entgegnete nichts, und damit war das Gespräch für dies Mal zu Ende.
- Tschitschikow ließ sich jedoch nicht einschüchtern, suchte sich einen
- andern Zeitpunkt aus -- diesmal war es _vor_ dem Abendbrot -- und sagte
- plötzlich mitten in der Unterhaltung: »Wirklich, Andrei Iwanowitsch, Sie
- sollten heiraten!«
- Aber Tentennikow entgegnete auch nicht ein Wort, gerad als ob ihm dieses
- Thema unangenehm sei.
- Allein Tschitschikow ließ sich nicht abschrecken. Das dritte Mal wählte
- er wieder eine andre Zeit und zwar _nach_ dem Abendbrod, und sprach
- folgendermaßen: »Nein wirklich, von welcher Seite ich mir Ihre
- Lebensverhältnisse auch ansehe, ich komme immer wieder zur Überzeugung,
- daß Sie heiraten müssen. Sie verfallen noch in Hypochondrie.«
- Sei es daß Tschitschikows Worte diesmal besonders überzeugend waren,
- oder daß Andrei Iwanowitsch heute besonders zur Aufrichtigkeit und
- Offenherzigkeit geneigt war, er stieß einen Seufzer aus und sagte, indem
- er wieder eine Rauchwolke aufsteigen ließ: »Bei allen Dingen muß man
- Glück haben, man muß als Sonntagskind geboren werden, Pawel
- Iwanowitsch.« Und er erzählte ihm alles, genau so wie es sich ereignet
- hatte: die ganze Geschichte seiner Bekanntschaft mit dem General und
- ihre Entzweiung.
- Als Tschitschikow die bekannte Affäre Wort für Wort kennen gelernt
- hatte, und hörte, daß wegen des einen kleinen Wörtchens »du« eine so
- große Geschichte entstanden war, blieb er ganz verdutzt sitzen. Mehrere
- Minuten lang sah er Tentennikow prüfend in die Augen, ohne entscheiden
- zu können, ob er ein kompletter Narr oder bloß ein bißchen dumm sei.
- »Andrei Iwanowitsch! ich bitte Sie!« sprach er endlich, indem er jenen
- bei beiden Händen nahm: »Was ist denn das für eine Beleidigung? Was
- finden Sie denn in dem Wörtchen »du« Beleidigendes?«
- »Das Wort selbst enthält natürlich keine Beleidigung,« entgegnete
- Tentennikow: »die Beleidigung lag in dem Sinn, in dem Ausdruck, mit dem
- dieses Wort gesprochen wurde. >Du!< -- das soll heißen: >wisse, daß du
- ein minderwertiges Subjekt bist; ich verkehre nur darum mit dir, weil
- ich keinen besseren habe als dich; jetzt dagegen, wo die Fürstin
- Jusjakin gekommen ist, bitte ich dich, dich daran zu erinnern, wo dein
- eigentlicher Platz ist und dich an die Türe zu stellen.< _Das_ hat es zu
- bedeuten!« Bei diesen Worten funkelten die Augen unseres sanften und
- milden Andrei Iwanowitsch; in seiner Stimme zitterte die Erregung eines
- aufs tiefste beleidigten Gefühls nach.
- »Nun und wenn es sogar etwas Ähnliches zu bedeuten hätte? -- Was ist
- denn dabei?« sagte Tschitschikow.
- »Wie? Sie verlangen von mir, daß ich ihn nach diesem Benehmen noch
- weiter besuche?«
- »Ja, was ist denn das für ein Benehmen? Das kann man doch nicht einmal
- ein Benehmen nennen,« sagte Tschitschikow kaltblütig.
- »Wieso kein >Benehmen<,« fragte Tentennikow erstaunt.
- »Das ist überhaupt kein Benehmen, Andrei Iwanowitsch. Das ist bloß so
- eine Gewohnheit dieser Herren Generäle: sie duzen alle Leute. Und
- schließlich, warum sollte man das einem so verdienten und geachteten
- Mann nicht einmal gestatten?«
- »Das ist ganz was andres,« versetzte Tentennikow, »wäre er nur ein alter
- Herr oder ein armer Kerl, und nicht so eitel, stolz und empfindlich,
- wäre er kein General, dann würde ich es ihm sehr gern erlauben, mich
- _du_ zu nennen, und es sogar mit Respekt aufnehmen.«
- »Tatsächlich, er ist ein Narr!« dachte Tschitschikow. »Einem zerlumpten
- Kerl würde er es gestatten, einem General dagegen nicht!« Und nach
- dieser Erwägung fuhr er laut fort: »Gut, meinetwegen, zugegeben, daß er
- Sie beleidigt hat, aber Sie haben sich doch revanchiert: er hat Sie
- beleidigt, und Sie haben ihm die Beleidigung zurückgegeben. Aber wie
- kann man sich wegen einer solchen Bagatelle entzweien und eine Sache so
- im Stiche lassen, die einem persönlich am Herzen liegt? Nein, da muß ich
- schon um Entschuldigung bitten, das ist doch ... Wenn Sie sich einmal
- ein Ziel gesteckt haben, dann müssen Sie auch drauf los gehen, komme was
- da will. Wer achtet denn darauf, daß die Menschen einen anspeien. Alle
- Menschen bespeien einander. Heute finden Sie keinen Menschen auf der
- ganzen Welt, der nicht um sich schlägt und einen nicht anspuckt.«
- Tentennikow war über diese Worte aufs höchste betroffen, er saß ganz
- verblüfft da und dachte nur: »Ein zu seltsamer Mensch, dieser
- Tschitschikow!«
- »Ist das ein wunderlicher Kauz! dieser Tentennikow!« dachte
- Tschitschikow, und er fuhr laut fort: »Andrei Iwanowitsch, lassen Sie
- mich zu Ihnen sprechen, wie zu einem Bruder. Sie sind noch so
- unerfahren. Erlauben Sie mir, daß ich die Sache ins Reine bringe. Ich
- will zu Seiner Exzellenz hinfahren und ihm erklären, daß die Sache
- Ihrerseits auf einem Mißverständnis beruht, und auf Ihre Jugend und Ihre
- geringe Welt- und Menschenkenntnis zurückzuführen ist.«
- »Ich habe nicht die Absicht, vor ihm zu kriechen!« sagte Tentennikow
- gekränkt »und kann auch Sie nicht dazu zu ermächtigen!«
- »Zum Kriechen bin ich nicht fähig,« versetzte Tschitschikow gleichfalls
- gekränkt. »Ich bin nur ein Mensch. Ich kann mich irren und fehlen, aber
- kriechen -- niemals! Entschuldigen Sie Andrei Iwanowitsch; ich meine es
- zu gut mit Ihnen, als daß sie ein Recht hätten, meinen Worten einen so
- beleidigenden Sinn unterzulegen.«
- »Verzeihen Sie, Pawel Iwanowitsch, ich bin schuld!« sagte Tentennikow
- gerührt und ergriff Tschitschikow dankbar bei beiden Händen. »Ich wollte
- Sie wirklich nicht beleidigen. Ihre gütige Teilnahme ist mir sehr
- wertvoll. Das schwöre ich Ihnen. Aber geben wir dies Gespräch auf, wir
- wollen nie wieder über diese Sache reden!«
- »Dann fahre ich eben, ohne einen besonderen Anlaß, zum General«, sprach
- Tschitschikow.
- »Wozu?« fragte Tentennikow, indem er Tschitschikow verwundert ansah.
- »Ich will ihm meine Aufwartung machen!« versetzte Tschitschikow.
- »Was für ein seltsamer Mensch ist doch dieser Tschitschikow!« dachte
- Tentennikow.
- »Was für ein seltsamer Mensch ist doch dieser Tentennikow!« dachte
- Tschitschikow.
- »Ich fahre morgen gegen zehn Uhr früh zu ihm, Andrei Iwanowitsch. Ich
- glaube je eher man einem solchen Herrn seinen Achtungsbesuch macht, um
- so besser. Leider ist bloß meine Kutsche noch nicht in der rechten
- Verfassung, ich möchte Sie daher nur um die Erlaubnis bitten, Ihren
- Wagen zu benutzen. Ich möchte schon morgen so gegen zehn Uhr zu ihm
- hinfahren!«
- »Aber natürlich. Welch eine Bitte! Sie haben nur zu befehlen. Nehmen Sie
- jeden Wagen, welchen Sie wollen: es steht alles zu Ihrer Verfügung!«
- Nach dieser Unterhaltung verabschiedeten sie sich und begaben sich ein
- jeder auf sein Zimmer, um schlafen zu gehen und nicht ohne beiderseits
- über die Eigenheiten des andern nachzudenken.
- Und doch: war es nicht merkwürdig: als am andern Tage der Wagen vorfuhr
- und Tschitschikow mit der Gewandtheit eines Militärs, in einem neuen
- Frack, weißer Weste und weißer Halsbinde hineinsprang und davonfuhr, um
- dem General seine Aufwartung zu machen: -- da geriet Tentennikow in eine
- solche Aufregung, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. All seine
- eingerosteten und schlummernden Gedanken kamen in Unruhe und Bewegung.
- Eine nervöse Raserei bemächtigte sich plötzlich mit aller Gewalt dieses
- schläfrigen und in Bequemlichkeit und Müßiggang versunkenen Träumers.
- Bald setzte er sich auf das Sofa, bald trat er ans Fenster, bald nahm er
- ein Buch zur Hand, bald wieder versuchte er es, über etwas nachzudenken.
- Verlorene Liebesmüh! Er konnte keinen Gedanken fassen. Oder er versuchte
- es, an gar nichts zu denken. Vergebliches Bemühen! Armselige Bruchstücke
- eines Gedankens, allerhand Gedankenendchen und -fragmente drängten sich
- in sein Hirn und bestürmten seinen Schädel. »Ein merkwürdiger Zustand!«
- sagte er und setzte sich ans Fenster, um auf den Weg hinauszublicken,
- der den dunklen Eichenwald durchschnitt, und an dessen Ende eine
- Staubwolke sichtbar war, welche der davonrollende Wagen aufgewirbelt
- hatte. Doch verlassen wir Tentennikow und folgen wir Tschitschikow.
- Zweites Kapitel.
- In einer knappen halben Stunde trugen die braven Rosse Tschitschikow
- über die etwa zehn Werst lange Strecke hinweg -- erst ging es durch den
- Eichwald, dann durch das Kornfeld, das zwischen langen Streifen frisch
- gepflügten Ackerlandes lag und im ersten Grün des Frühlings prangte,
- dann wieder den Rand des Gebirgs entlang, wo sich in einem fort
- herrliche Fernblicke auftaten -- und endlich durch eine breite
- Lindenallee, deren Laub sich eben zu entfalten begann, bis zu dem Gute
- des Generals. Die Lindenallee ging bald in eine Allee schlanker Pappeln
- über, die unten in geflochtene Körbe eingefaßt waren, und führte zuletzt
- auf ein gußeisernes Torgitter, hinter dem man den prächtigen, mit
- reichem krausem Schnitzwerk verzierten Giebel des Herrenhauses
- erblickte, der von acht Säulen mit Korinthischen Kapitälen getragen
- wurde. Überall roch es nach Ölfarbe, die allem einen neuen Anstrich gab,
- und keinem Ding Zeit ließ, alt zu werden. Der Hof war so glatt und
- sauber, daß man über Parkett zu wandeln glaubte. Als der Wagen vor dem
- Hause Halt machte, sprang Tschitschikow respektvoll heraus und betrat
- die Treppe. Er ließ sich gleich beim General anmelden, und wurde direkt
- in dessen Arbeitszimmer geführt. Die majestätische Gestalt des Generals
- machte einen tiefen Eindruck auf unseren Helden. Er hatte einen
- zugeknöpften Sammetschlafrock von himbeerroter Farbe an, sein Blick war
- offen, sein Gesicht männlich, er trug einen großen Schnurrbart und einen
- stattlichen graumelierten Backenbart und Haare, die im Nacken ganz kurz
- geschnitten waren; sein Hals war breit und dick oder »dreistöckig«, wie
- man bei uns zu sagen pflegt, d. h., er wies drei Längsfalten und eine
- Querfalte auf: mit einem Wort, es war einer von jenen prächtigen
- Generalstypen, an denen das Jahr 1812 so reich war. General
- Betrischtschew war, wie wir alle, mit einem ganzen Haufen von Vorzügen
- und Mängeln gesegnet. Diese wie jene waren jedoch, wie das bei uns
- Russen oft zu geschehen pflegt, recht bunt durcheinandergewürfelt:
- Großmut und Aufopferungsfähigkeit, in entscheidenden Momenten auch
- Tapferkeit, Verstand und bei alledem eine genügende Dosis Eitelkeit,
- Ehrgeiz, Eigensinn und kleinliche Empfindlichkeit, ohne die der Russe
- nun einmal nicht auskommen kann, wenn er nichts zu tun hat und nichts
- ihn zum Handeln bestimmt. Er hatte eine starke Abneigung gegen alle die,
- welche ihm den Rang abgelaufen hatten und äußerte sich in sarkastischer
- Weise über sie. Am meisten aber hatte einer seiner früheren Kollegen von
- ihm zu leiden, denn der General war fest davon überzeugt, daß er in
- bezug auf Verstand und Fähigkeiten hoch über jenem stand, und doch hatte
- ihn der andere überholt und war bereits Generalgouverneur zweier
- Provinzen. Unglücklicherweise befand sich auch noch eins von den Gütern
- des Generals in einer dieser Provinzen, sodaß dieser gewissermaßen von
- seinem Kollegen abhängig war. Der General rächte sich reichlich; er
- sprach bei jeder Gelegenheit von seinem Nebenbuhler, kritisierte eine
- jede seiner Verordnungen und erklärte jede seiner Maßnahmen und
- Handlungen für den Gipfelpunkt des Unverstandes und der Torheit. Alles
- an ihm hatte einen gewissen merkwürdigen Anstrich, vor allem auch seine
- Bildung. Er war nämlich ein großer Freund und Vorkämpfer der Aufklärung;
- auch wollte er immer mehr und alles besser wissen, als andre Leute und
- daher hatte er die Menschen nicht gern, die etwas wußten, was ihm
- unbekannt war. Mit einem Wort, er liebte es durch seinen Verstand zu
- glänzen. Einen großen Teil seiner Erziehung hatte er im Auslande
- genossen, trotzdem aber wollte er den russischen Aristokraten spielen.
- Bei einem Charakter, der soviel Härten und soviel starke hervorstechende
- Gegensätze aufwies, war es nur natürlich, daß er im Dienst beständig mit
- Unannehmlichkeiten zu kämpfen hatte, was ihn schließlich auch
- veranlaßte, seinen Abschied zu nehmen. Die Schuld, daß es so gekommen
- war, schob er auf eine gewisse feindliche Partei, denn er hatte nicht
- den Mut, sich selbst für etwas verantwortlich zu machen. Auch nach
- seinem Abschied behielt er seine vornehme und majestätische Haltung. Ob
- er nun einen Frack, einen Gehrock oder einen Schlafrock anhatte -- er
- blieb sich immer gleich. Von seiner Stimme bis zur letzten Geste und
- Bewegung war alles an ihm gebieterisch und majestätisch, und flößte
- jedem unter ihm Stehenden wenn auch nicht Achtung, so doch wenigstens
- Furcht oder Scheu ein.
- Tschitschikow fühlte beides: Ehrfurcht _und_ Scheu. Er neigte den Kopf
- ehrerbietig zur Seite, streckte die Hände aus, wie wenn sie ein Tablett
- mit Teetassen ergreifen wollten, verbeugte sich mit bewundernswürdiger
- Gewandtheit fast bis zur Erde und sagte: »Ich habe es für meine Pflicht
- gehalten, Exzellenz meine Aufwartung zu machen. Die hohe Achtung vor den
- Tugenden der Männer, die das Vaterland auf den Schlachtfeldern
- verteidigten, veranlaßte mich, mich Eurer Exzellenz persönlich
- vorzustellen.«
- Dem General schien diese Introduktion nicht zu mißfallen. Er machte eine
- sehr gnädige Kopfbewegung und sagte: »Ich freue mich sehr, Ihre
- Bekanntschaft zu machen. Bitte nehmen Sie Platz! Wo haben Sie gedient?«
- »Das Feld meiner Tätigkeit,« sprach Tschitschikow, indem er sich im
- Lehnstuhl niederließ -- aber nicht in der Mitte, sondern ein wenig
- seitwärts auf der Kante -- und mit der Hand die Stuhllehne festhielt,
- »das Feld meiner Tätigkeit begann im Kameralhof, Exzellenz, um seinen
- weiteren Verlauf an verschiedenen Stellen zu nehmen; ich habe im
- Hofgericht, in einer Baukommission und im Zollamt gedient. Mein Leben
- läßt sich mit einem Schiff inmitten stürmischer Wogen vergleichen,
- Exzellenz. Ich kann wohl sagen, ich bin mit Geduld aufgesäugt und
- großgepäppelt, ich selbst bin sozusagen die personifizierte Geduld.
- Wieviel ich allein von meinen Feinden zu erdulden hatte, das vermag
- weder ein Wort noch der Pinsel eines Künstlers zu schildern. Erst jetzt
- an meinem Lebensabend suche ich mir einen Winkel, wo ich den Rest meiner
- Tage verbringen kann. Einstweilen habe ich mich bei einem der nächsten
- Nachbarn Eurer Exzellenz niedergelassen ...«
- »Bei wem, wenn ich fragen darf?«
- »Bei Tentennikow, Exzellenz.«
- Der General runzelte die Stirn.
- »Er bereut es schwer, Exzellenz, daß er Eurer Exzellenz nicht die
- schuldige Achtung erwiesen hat.«
- »Achtung! Wovor?«
- »Vor den Verdiensten Eurer Exzellenz,« sagte Tschitschikow. »Er kann
- bloß das rechte Wort nicht finden ... Er sagt: >Wenn ich Seiner
- Exzellenz nur irgendwie ... denn ich weiß doch die Männer zu schätzen,
- die das Vaterland gerettet haben,< sagt er.«
- »Ja, was will er denn? ... Ich bin ihm doch garnicht böse!« versetzte
- der General, der schon weit milder gestimmt war. »Ich habe ihn herzlich
- lieb gewonnen und bin überzeugt, daß er mit der Zeit noch ein sehr
- nützlicher Mensch werden kann.«
- »Sehr richtig bemerkt, Exzellenz,« fiel Tschitschikow ein. »Ein sehr
- nützlicher Mensch; er ist so sprachgewandt und schreibt auch sehr
- schön.«
- »Aber ich glaube er schreibt allerhand Dummheiten. Ich glaube er macht
- Verse oder so etwas.«
- »Oh nein, Exzellenz, durchaus keine Dummheiten. Er schreibt an einem
- sehr ernsten und bedeutenden Werke. Er schreibt .... eine Geschichte,
- Exzellenz ....«
- »Eine Geschichte? ... Was für eine Geschichte?«
- »Eine Geschichte« ... hier hielt Tschitschikow ein wenig inne, war es
- nun, weil ein General vor ihm saß, oder wollte er der Sache bloß eine
- größere Bedeutung beilegen, genug er fügte hinzu: »eine Geschichte der
- Generäle, Exzellenz!«
- »Wie? der Generäle? Welcher Generäle?«
- »Der Generäle im allgemeinen, Exzellenz, überhaupt aller Generäle ...
- das heißt, ich wollte eigentlich sagen, der _vaterländischen_ Generäle.«
- Tschitschikow fühlte, daß er sich gar zu weit verrannt hatte, und war
- daher sehr verlegen. Er hätte vor Ärger ausspucken mögen und sagte zu
- sich selbst: Herrgott, was rede ich da für einen Blödsinn.
- »Entschuldigen Sie, ich verstehe noch nicht ganz ... wie ist denn das?
- Soll es die Geschichte einer bestimmten Epoche, oder sollen es einzelne
- Biographieen werden. Und dann: handelt es sich um sämtliche Generäle die
- existiert, oder nur um die, die am Feldzug des Jahres 1812 teilgenommen
- haben?«
- »Seht richtig, Exzellenz, nur um die letzteren!« Und er dachte sich:
- »Schlagt mich tot, ich verstehe kein Wort!«
- »Ja, warum kommt er denn dann nicht zu mir! Ich könnte ihm äußerst
- interessantes Material geben!«
- »Er hat nicht den Mut, Exzellenz!«
- »Was für ein Unsinn! Wegen irgend eines dummen Wortes, das unter uns
- gefallen ist ... Ich bin doch gar nicht so ein Mensch. Ich will
- meinetwegen selbst zu ihm hinfahren.«
- »Das würde er nie zugeben, er wird selbst kommen,« sagte Tschitschikow,
- er hatte sich schon ganz wieder erholt und dachte sich dabei: »Hm! die
- Generäle kommen mir aber gerade zupaß; und dabei hat meine Zunge doch
- ganz frech darauflos geschwätzt!«
- In dem Arbeitszimmer des Generals hörte man ein Geräusch. Die Nußholztür
- eines geschnitzten Schrankes öffnete sich von selbst. Auf der Rückseite
- der Tür erschien das lebende Bild eines Mädchens, welches die Türklinke
- in der Hand hielt. Wenn auf dem dunkelen Hintergrunde des Zimmers
- plötzlich ein hell von Lampen erleuchtetes Lichtbild erschienen wäre, es
- hätte durch sein plötzliches Erscheinen keinen so gewaltigen Eindruck
- hervorbringen können, wie diese liebliche Gestalt. Sie war offenbar
- hereingekommen, um etwas zu sagen, aber als sie einen unbekannten
- Menschen im Zimmer sah --. Mit ihr zugleich schien ein Sonnenstrahl in
- die Stube gedrungen zu sein, und das ganze finstere Gemach des Generals
- schien zu leuchten und zu lächeln. Tschitschikow konnte sich im ersten
- Moment keine Rechenschaft ablegen, was für ein Wesen eigentlich vor ihm
- stand. Es war schwer zu sagen, in welchem Lande sie geboren war, denn
- man hätte nicht so leicht ein so reines und vornehmes Profil finden
- können, es sei denn auf antiken Kameen. Schlank und leicht wie ein Pfeil
- schien ihre edle Gestalt alles zu überragen. Aber das war nur eine
- schöne Täuschung. Sie war keineswegs sehr groß. Dieser Schein rührte
- bloß von der wunderbaren Harmonie her, in der all ihre Glieder standen.
- Das Kleid, das sie anhatte, schmiegte sich ihrer Gestalt so wohltuend
- an, daß man hätte glauben können, die berühmtesten Schneiderinnen wären
- zusammengekommen, um zu beratschlagen, was ihr am besten stehen möchte.
- Aber auch das war nur eine Täuschung. Sie dachte nicht lange über ihre
- Toilette nach, alles ergab sich wie von selbst: an zwei, drei Stellen
- hatte die Nadel ein kaum zugeschnittenes Stück des einfarbigen Stoffes
- berührt und dieses hatte sich selbst in edlen Falten um ihren Leib
- gelegt; hätte man dieses Gewand samt ihrer Trägerin im Bilde
- festgehalten, so hätten alle modischen Damen und Fräuleins ausgesehen,
- wie bunte Kühe oder irgend eine Schöne vom Trödelmarkt. Und hätte man
- sie mit diesen Falten und in diesem sie umhüllenden Gewande in Marmor
- gehauen, so hätte man dieses Bildnis das Werk eines genialen Künstlers
- genannt. Nur einen Mangel hatte sie: sie war fast zu zart und
- schmächtig.
- »Darf ich Ihnen mein Nesthäkchen vorstellen!« sagte der General, indem
- er sich an Tschitschikow wandte. Ȇbrigens verzeihen Sie, ich kenne
- Ihren Vor- und Vaternamen noch nicht ...«
- »Muß man denn den Vor- und Vaternamen eines Mannes kennen, der sich noch
- durch keinerlei Vorzüge und Tugenden ausgezeichnet hat,« entgegnete
- Tschitschikow, während er seinen Kopf bescheiden auf die Seite neigte.
- »Immerhin ... So etwas muß man doch wissen!«
- »Pawel, Iwanowitsch, Exzellenz!« sagte Tschitschikow, indem er sich
- beinahe mit der Gewandtheit eines Militärs verbeugte und mit der
- Elastizität eines Gummiballs zurücksprang.
- »Ulinka!« fuhr der General fort. »Pawel Iwanowitsch hat mir soeben eine
- äußerst interessante Neuigkeit mitgeteilt. Unser Nachbar Tentennikow ist
- gar kein so dummer Mensch, wie wir angenommen haben. Er arbeitet an
- einem großen Werk: an einer Geschichte der Generäle des Jahres 1812.«
- »Ja, wer hat denn gesagt, daß er dumm ist,« sagte sie schnell. »Das
- konnte doch höchstens dieser Wischnepokromow glauben, dem du so
- vertraust, Papa, und der bloß ein hohler und gemeiner Mensch ist.«
- »Warum denn gemein? Er ist etwas oberflächlich, das ist wahr!« sagte der
- General.
- »Er ist auch etwas gemein und etwas schlecht und nicht nur
- oberflächlich. Wer seine Brüder so behandelt, und seine eigene Schwester
- aus dem Hause jagen konnte, das ist ein abscheulicher, häßlicher
- Mensch.«
- »Aber das erzählt man doch bloß von ihm.«
- »Solche Dinge erzählt man nicht umsonst. Ich kann dich nicht verstehen,
- Papa. Du hast ein selten gutes Herz und doch kannst du mit einem
- Menschen verkehren, der tief unter dir steht und von dem du weißt, daß
- er schlecht ist.«
- »Sehen Sie,« sagte der General lächelnd zu Tschitschikow. »So liegen wir
- uns stets in den Haaren!« Dann wandte er sich wieder zu Ulinka und fuhr
- fort: »Liebes Herzchen! Ich kann ihn doch nicht davonjagen!« sagte der
- General.
- »Warum denn davonjagen? Aber man braucht ihn doch nicht mit soviel
- Achtung zu behandeln und ihn gleich in sein Herz zu schließen!«(7)
- Hier hielt es Tschitschikow für seine Pflicht, gleichfalls ein Wörtchen
- zu sagen.
- »Jedes Wesen verlangt nach Liebe,« sprach Tschitschikow. »Was soll man
- machen? Auch das Tier liebt, daß man es streichelt, es steckt seine
- Schnauze aus dem Stall heraus, als ob es sagen wollte: komm, streichele
- mich.«
- Der General fing an zu lachen. »Ganz recht: so ist es. Es steckt seine
- Schnauze hervor und bittet: da streichele mich! Ha, ha, ha! Nicht bloß
- die Schnauze, der ganze Mensch steckt tief im Dreck, und doch verlangt
- er, daß man ihm sozusagen Teilnahme erweise .... Ha, ha, ha!« Der
- General schüttelte sich vor Lachen. Seine Schultern, welche einstmals
- dicke Achselklappen getragen hatten, bebten, als ob sie auch heute noch
- mit dicken Achselklappen geschmückt wären.
- Auch Tschitschikow lachte kurz auf, stimmte jedoch sein Gelächter aus
- Achtung vor dem General mehr auf den Buchstaben e ab: he, he, he, he,
- he, he! Auch er schüttelte sich vor Lachen, nur bewegten sich seine
- Schultern nicht, denn sie trugen keine dicke Achselklappen.
- »So ein Kerl beschwindelt und bestiehlt erst den Staat und verlangt dann
- noch, daß man ihn dafür belohnen soll! Wer wird sich denn mühen und
- abquälen, ohne Ansporn und Aussicht auf eine Belohnung!« sagte er. »Ha,
- ha, ha, ha!«
- Ein schmerzliches Gefühl verdüsterte das edle, liebliche Gesicht des
- Mädchens: »Papa! Ich verstehe nicht, wie du bloß lachen kannst! Mich
- stimmen solche Schlechtigkeiten und solche gemeine Handlungen bloß
- traurig. Wenn ich sehe, wie irgend ein Mensch ganz öffentlich und vor
- allen Leuten einen Betrug verübt, und ihn nicht die Strafe der
- allgemeinen Verachtung trifft, so weiß ich kaum noch, was in mir
- vorgeht, dann werde ich selbst böse und schlecht; ich denke und denke
- und ....« Sie war nahe daran, in Tränen auszubrechen.
- »Bitte, sei uns nur nicht böse,« sagte der General. »Wir sind doch ganz
- unschuldig an der Sache. Nicht wahr?« fuhr er fort, indem er sich an
- Tschitschikow wandte. »So, nun gib mir einen Kuß und geh auf dein
- Zimmer, ich muß mich gleich umkleiden, denn es ist bald Zeit zum
- Mittagessen.«
- »Du ißt doch bei mir?« sagte der General und warf Tschitschikow einen
- Blick zu.
- »Wenn Eure Exzellenz bloß ...«
- »Bitte ohne Umstände. Es wird wohl noch für dich reichen. Gott sei Dank!
- Wir haben heute Kohlsuppe.«
- Tschitschikow streckte seine beiden Hände aus und ließ den Kopf
- ehrfurchtsvoll herabsinken, sodaß er alle Gegenstände im Zimmer einen
- Augenblick aus den Augen verlor und nur noch die Spitzen seiner Schuhe
- sehen konnte. Nachdem er eine Weile in dieser respektvollen Stellung
- verharrt war, und hierauf den Kopf wieder erhob, sah er Ulinka schon
- nicht mehr. Sie war verschwunden. An ihrer Stelle stand ein Riese von
- einem Kammerdiener mit einem buschigen Schnauzbart und wohlgepflegtem
- Backenbart, der, eine silberne Schüssel und ein Waschbecken in den
- Händen hielt.
- »Du erlaubst wohl, daß ich mich in deiner Gegenwart umkleide!«
- »Sie dürfen sich nicht bloß in meiner Gegenwart umkleiden, vielmehr
- steht es Ihnen frei, in meiner Gegenwart alles zu tun, was Ihnen
- beliebt, Exzellenz.«
- Der General zog die eine Hand aus dem Schlafrock und streifte sich die
- Hemdärmel an den athletischen Armen in die Höhe. Hierauf begann er sich
- zu waschen, wobei er um sich spritzte und prustete wie eine Ente. Das
- Seifenwasser stob nur so durch das Zimmer.
- »Ja, ja, sie wollen alle einen Ansporn und eine Belohnung haben,« sagte
- er indem er sich seinen dicken Hals rings herum sorgfältig abtrocknete
- ... »Streichele ihn, streichele ihn nur. Ohne Belohnung hört er nun
- einmal nicht auf zu stehlen!«
- Tschitschikow befand sich in selten guter Laune. Eine Art Begeisterung
- war plötzlich über ihn gekommen. »Der General ist ein lustiger und
- gutmütiger alter Herr! Man könnte es am Ende versuchen!« dachte er und
- als er sah, daß der Kammerdiener mit dem Waschbecken hinausgegangen war,
- rief er aus: »Exzellenz! Sie sind so gütig und aufmerksam gegen
- jedermann! Ich habe eine große Bitte an Sie zu richten.«
- »Was für eine Bitte?« -- Tschitschikow sah sich vorsichtig um.
- »Ich habe einen Onkel, einen alten sehr gebrechlichen Herrn. Er hat
- dreihundert Seelen und zweitausend ... und ich bin sein einziger Erbe.
- Er kann sein Gut nicht mehr allein verwalten, weil er schon zu alt und
- zu schwach dazu ist, mir aber will er es auch nicht überlassen. Er gibt
- einen höchst seltsamen Grund dafür an: >Ich kenne meinen Neffen nicht,<
- sagt er, >vielleicht ist er ein Verschwender und Tunichtgut. Er soll mir
- erst beweisen, daß er ein zuverlässiger Mensch ist, und sich selbst erst
- einmal dreihundert Seelen erwerben, dann will ich ihm meine dreihundert
- dazugeben.<«
- »Erlauben Sie mal! Ist der Mann denn ganz närrisch?« fragte der General.
- »Das wäre noch nicht das Schlimmste, wenn er bloß ein Narr wäre. Das
- wäre sein eigener Schade. Aber versetzen Sie sich auch in meine Lage,
- Exzellenz ... Denken Sie, er hat eine Schließerin die bei ihm wohnt, und
- diese Schließerin hat Kinder. Da muß man sich doch in acht nehmen, daß
- er ihr nicht noch sein ganzes Vermögen vermacht.«
- »Der alte Narr hat seinen Verstand verloren, das ist das Ganze,« sagte
- der General. »Ich sehe nur keine Möglichkeit, wie ich Ihnen hier helfen
- könnte!« fuhr er fort, indem er Tschitschikow erstaunt ansah.
- »Ich habe eine Idee, Exzellenz. Wenn Sie mir alle toten Seelen, die Sie
- besitzen, überlassen wollten, Exzellenz, ich meine auf Grund eines
- Kaufvertrages, ganz so als ob sie noch am Leben wären, dann könnte ich
- dem Alten diesen Vertrag zeigen, und er müßte mir die Erbschaft
- aushändigen.«
- Jetzt aber lachte der General so laut auf, wie wohl noch nie ein Mensch
- gelacht hat: So lang er war, sank er in den Lehnstuhl, warf den Kopf
- über die Rücklehne und wäre beinahe erstickt. Das ganze Haus kam in
- Bewegung. Der Kammerdiener erschien in der Türe, und die Tochter kam
- ganz erschrocken herbeigelaufen.
- »Papa, was ist geschehen?« rief sie entsetzt und sah ihn bestürzt an.
- Aber der General vermochte lange Zeit hindurch keinen Laut von sich zu
- geben. »Sei ruhig, es ist nichts, liebes Kind. Ha, ha, ha. Geh nur auf
- dein Zimmer. Wir kommen gleich zum Mittagessen. Beunruhige dich nicht.
- Ha, ha, ha.«
- Und nachdem der General ein paarmal nach Luft geschnappt hatte, fing er
- mit erneuter Kraft an zu lachen; laut hallte es durch das ganze Haus,
- vom Vorzimmer bis zur letzten Stube.
- Tschitschikow wurde ein wenig unruhig.
- »Der arme Onkel! Wie der zum Narren gehalten werden soll! Ha, ha, ha.
- Wie der dasitzen wird, wenn er statt der lebenden Bauern lauter tote
- kriegt. Ha, ha!«
- »Es geht schon wieder los!« dachte Tschitschikow. »Ist der kitzlich! Er
- wird noch platzen!«
- »Ha, ha, ha!« fuhr der General fort. »So ein Esel! Wie einem nur so
- etwas einfallen kann: Geh, erwirb dir mal erst selbst dreihundert
- Seelen, dann sollst du noch weitere dreihundert dazu haben! Er ist
- wahrhaftig ein Esel!«
- »Ganz recht, Exzellenz, er ist wirklich ein Esel!«
- »Na, aber dein Scherz ist auch nicht ohne! Den Alten mit toten Bauern
- abzuspeisen! Ha, ha, ha! Bei Gott, ich würde viel drum geben, könnte ich
- nur dabei sein, wenn du ihm den Kaufvertrag überreichst! Was ist er
- eigentlich für ein Mensch? Wie sieht er aus? Ist er sehr alt?«
- »Gegen achtzig Jahre!«
- »Und ist er noch rüstig? Kann er noch gut gehen? Er muß doch noch recht
- kräftig sein, wenn er mit der Schließerin zusammenlebt?«
- »Keine Spur! Exzellenz. Er ist so hilflos wie ein Kind!«
- »So ein Narr! Nicht wahr? Er ist doch ein Narr!«
- »Sehr richtig, Exzellenz! Ein vollkommener Narr!«
- »Und fährt er noch spazieren? Macht er Besuche? Ist er noch gut auf den
- Beinen?«
- »Ja, aber es wird ihm doch schon recht schwer.«
- »So ein Narr! Aber er ist doch noch ganz rüstig? Wie? Hat er noch
- Zähne?«
- »Nur noch zwei, Eure Exzellenz!«
- »So ein Esel! Sei mir nicht böse, Verehrtester. -- Er ist zwar dein
- Onkel, aber ist _doch_ ein Esel.«
- »Freilich ist er ein Esel, Exzellenz. Trotzdem er mein Verwandter ist
- und es mir schwer wird, es einzugestehen, daß Sie recht haben, aber was
- soll ich machen?«
- Der gute Tschitschikow schwindelte. Es wurde ihm durchaus nicht schwer,
- dies einzugestehen, um so weniger, als er schwerlich je solch einen
- Onkel besessen hatte.
- »Eure Exzellenz wollen also die Freundlichkeit haben ...«
- »Dir die toten Seelen abzukaufen? Für diesen großartigen Gedanken sollst
- du sie mitsamt dem Grund und Boden und ihrer jetzigen Wohnung haben. Du
- darfst dir meinetwegen den ganzen Friedhof mitnehmen. Ha, ha, ha, ha.
- Nein dieser Alte! Wird dem ein Streich gespielt! Ha, ha, ha, ha.«
- Und das Gelächter des Generals hallte aufs neue durch alle Zimmer.[1]
- [Fußnote 1: Hier fehlt ein größeres Stück, das den Übergang vom zweiten
- zum dritten Kapitel bilden sollte.
- Anm. d. Herausg.
- ]
- Drittes Kapitel.
- Wenn der Oberst Koschkarjow wirklich verrückt ist, so wäre das garnicht
- übel, sagte Tschitschikow, als er sich wieder unter offenem Himmel auf
- freiem Felde befand. Alle menschlichen Behausungen lagen weit hinter
- ihm; und er sah jetzt nichts mehr als das freie Himmelsgewölbe und zwei
- kleine Wolken in der Ferne.
- »Hast du dich auch ordentlich nach dem Wege zum Obersten Koschkarjow
- erkundigt, Seliphan?«
- »Sie wissen doch, Pawel Iwanowitsch, ich hatte soviel mit dem Wagen zu
- tun, und da fand ich keine Zeit dazu. Aber Petruschka hat den Kutscher
- nach dem Wege gefragt.«
- »So ein Esel! Ich habe dir doch gesagt, daß du dich nicht auf Petruschka
- verlassen sollst; Petruschka ist sicher wieder besoffen.«
- »Das ist doch keine große Weisheit,« sagte Petruschka, indem er sich ein
- wenig auf seinem Sitze umdrehte und nach Tschitschikow hinschielte. »Wir
- müssen bloß den Berg hinabfahren, und dann geht's längs der Wiese
- weiter, das ist das Ganze!«
- »Und du hast wohl nichts außer Fusel in den Mund genommen! Das ist das
- Ganze! Du bist mir der Rechte! Von dir kann man wohl auch sagen: der
- Kerl setzt Europa durch seine Schönheit in Erstaunen.« Nach diesen
- Worten strich sich Tschitschikow über sein Kinn und dachte: »Es ist doch
- ein großer Unterschied zwischen einem gebildeten Mann der besseren
- Stände und so einer groben Lakaienphysiognomie.«
- Unterdessen rollte der Wagen schon den Berg hinab. Und wiederum sah man
- nichts als Wiesen und weite mit Espen-Waldungen bepflanzte Flächen.
- Leicht federnd glitt das bequeme Gefährt vorsichtig die kaum merkliche
- Neigung des Berghanges hinab; dann ging es weiter an Wiesen, Feldern und
- Windmühlen vorbei; donnernd rollte der Wagen über die Brücken und tanzte
- mit Schwanken über das weiche, holprige Erdreich. Doch auch nicht _ein_
- Hügel, noch eine einzige Unebenheit der Straße beunruhigten die weichen
- Partieen unseres Reisenden auch nur im geringsten. Das war die reinste
- Wonne und keine Equipage.
- Weidenbüsche, dünne Erlen und Silberpappeln flogen rasch an ihnen vorbei
- und streiften die beiden auf dem Bocke sitzenden Leibeigenen Seliphan
- und Petruschka beständig mit ihren Zweigen. Dem letzteren rissen sie
- sogar mehrmals die Mütze vom Kopf. Der gestrenge Lakai sprang in einem
- fort vom Bock herab, schalt auf die dummen Bäume und auf den, der sie
- gepflanzt hatte, aber er konnte sich trotzdem nicht entschließen, seine
- Mütze anzubinden, oder sie mit der Hand festzuhalten, denn er hoffte,
- dies sei das letzte Mal gewesen und es werde ihm nun nicht wieder
- passieren. Bald gesellten sich noch Birken und hie und da eine Tanne zu
- den Bäumen. Die Wurzeln waren dicht mit Gras bedeckt, auf dem blaue
- Schwertlilien und gelbe Waldtulpen wuchsen. Der Wald wurde immer
- dunkeler und drohte die Reisenden in undurchdringliche Nacht
- einzuhüllen. Da blitzte plötzlich von allen Seiten zwischen Ästen und
- Baumstämmen ein heller Lichtschimmer, gleich einem leuchtenden
- Spiegelreflexe auf. Die Bäume traten auseinander, die glänzende Fläche
- wurde immer größer ... vor ihnen lag ein See -- ein mächtiger
- Wasserspiegel von etwa vier Werst in die Breite. Auf dem
- gegenüberliegenden Ufer tauchten mehrere kleine Blockhütten auf. Dies
- war das Dorf. Aus den Fluten drangen laute Schreie und Rufe hervor. Etwa
- zwanzig Mann bis an den Gürtel, bis zu den Schultern oder bis zum Halse
- im Wasser stehend, waren damit beschäftigt, ein Netz ans Ufer zu ziehen.
- Dabei war ihnen ein Unfall passiert. Zugleich mit den Fischen war ihnen
- ein wohlbeleibter Mann ins Netz geraten, der ungefähr ebenso breit als
- lang war, und aussah wie eine Wassermelone oder wie ein Faß. Seine Lage
- war eine verzweifelte und er schrie aus voller Kehle: »Dionys, du Klotz!
- gib es doch dem Kosma! Kosma nimm doch dem Dionys das Tauende aus der
- Hand. Stoß doch nicht so, du großer Thomas, komm stell dich hierher, wo
- der kleine Thomas steht. Teufel! Ich sag's euch, ihr werdet noch das
- Netz zerreißen.« Offenbar fürchtete sich die Wassermelone nicht für ihre
- Person: ertrinken konnte sie nicht, dazu war sie zu dick, sie mochte die
- tollsten Purzelbäume schlagen, um unterzutauchen, das Wasser trug sie
- immer wieder empor; ja es hätten sich ihr ruhig noch zwei Personen auf
- den Rücken setzen können, sie hätte sie dennoch über Wasser gehalten wie
- eine eigensinnige Schweinsblase und höchstens ein wenig gestöhnt und mit
- der Nase Blasen ausgepustet. Aber der Mann hatte große Angst, das Netz
- könne reißen und die Fische könnten entschlüpfen, und daher mußten ihn
- mehrere Menschen zugleich mit dem Netz an Stricken ans Ufer ziehen.
- »Das ist wohl der Gutsherr, der Oberst Koschkarjow,« sagte Seliphan.
- »Warum?«
- »Sehen Sie doch bloß, was er für einen Körper hat. Der ist viel weißer
- als bei den andern, und auch sein Umfang ist beträchtlich, wie sich's
- für einen vornehmen Herrn schickt.«
- Unterdessen hatte man den im Netz gefangenen Gutsherrn schon bedeutend
- näher ans Ufer herangezogen. Als er wieder Boden unter seinen Füßen
- fühlte, richtete er sich auf, und bemerkte in demselben Augenblick die
- den Fahrdamm herabrollende Equipage nebst ihrem Insassen Tschitschikow.
- »Haben Sie schon zu Mittag gegessen?« rief der Herr ihm entgegen, indem
- er mit den gefangenen Fischen in der Hand ans Ufer trat. Er steckte noch
- ganz im Netze drin, etwa wie zur Sommerzeit ein Damenhändchen in einem
- durchbrochenen Handschuh, hielt die eine Hand wie einen Schirm über die
- Augen, um sich gegen die Sonne zu schützen und die andre etwas tiefer
- unten, ungefähr in der Stellung der Mediceischen Venus, die eben dem
- Bade entsteigt.
- »Nein,« versetzte Tschitschikow, nahm die Mütze ab und grüßte
- verbindlichst aus der Kutsche.
- »Nun dann danken Sie ihrem Schöpfer!«
- »Wieso?« fragte Tschitschikow neugierig, die Mütze über dem Kopfe
- haltend.
- »Sie werden gleich sehen! He, kleiner Thomas! Laß das Netz los, und nimm
- den Stör aus dem Behälter heraus. Kosma, du Klotz, geh, hilf ihm!«
- Die zwei Fischer zogen den Kopf eines Ungeheuers aus dem Behälter hervor
- -- »Seht mal, was für ein Fürst! Der hat sich aus dem Flusse hierher
- verirrt!« rief der kugelrunde Herr. »Fahren Sie nur in den Hof hinein!
- Kutscher nimm den unterm Weg durch den Gemüsegarten! Lauf doch großer
- Thomas, du Holzklotz, mach das Gartentor auf! Er wird Sie begleiten, ich
- komme gleich nach ...«
- Der langbeinige und barfüßige große Thomas lief, ganz so wie er war, im
- bloßen Hemde vor dem Wagen her durch das ganze Dorf. Vor jeder Hütte
- hingen allerhand Fischereigerätschaften, Netze, Reusen usw.; alle Bauern
- waren Fischer; dann öffnete Thomas das Gitter des Gartens, und der Wagen
- fuhr zwischen Gemüsebeeten hindurch nach einem offenen Platz in der Nähe
- der Dorfkirche. Etwas weiter hinter der Kirche sah man die Dächer der
- Gutsgebäude.
- »Dieser Koschkarjow ist etwas spleenig!« dachte Tschitschikow.
- »So, da bin ich!« erscholl eine Stimme von der Seite! Tschitschikow sah
- sich um. Der Gutsherr fuhr in einem grasgrünen Nankingrock, gelben
- Beinkleidern und ohne Halsbinde wie ein Kupido neben ihm her. Er saß
- seitwärts in der Droschke und nahm den ganzen Sitz ein. Tschitschikow
- wollte ihm etwas sagen, aber der Dicke war bereits wieder verschwunden.
- Gleich darauf erschien sein Wagen wieder an der Stelle, wo das Netz mit
- den Fischen herausgezogen worden war, und wieder hörte man die Stimmen
- rufen: >Großer Thomas, kleiner Thomas! Kosma und Denys!< Als aber
- Tschitschikow bei dem Portale des Herrenhauses vorfuhr, sah er den
- dicken Gutsbesitzer zu seinem größten Erstaunen schon auf der Treppe
- stehen, wo er den Ankömmling in Empfang nahm und freundschaftlichst in
- seine Arme schloß. Wie er so schnell hierhergeflogen war -- dies blieb
- ein Rätsel. Man küßte sich dreimal kreuzweise nach alter russischer
- Sitte: der Gutsherr war ein Mann alten Schlages.
- »Ich habe Ihnen Grüße von Seiner Exzellenz zu überbringen,« sagte
- Tschitschikow.
- »Von welcher Exzellenz?«
- »Von Ihrem Verwandten, dem General Alexander Dimitriewitsch.«
- »Wer ist dieser Alexander Dimitriewitsch?«
- »General Betrischtschew,« versetzte Tschitschikow ein wenig betroffen.
- »Ich kenne ihn nicht,« entgegnete jener erstaunt.
- Tschitschikows Verwunderung wurde mit jedem Augenblick größer.
- »Ja, wie denn nur ...? Ich habe doch hoffentlich das Vergnügen, mit dem
- Herrn Oberst Koschkarjow zu sprechen?«
- »Nein hoffen Sie lieber nicht! Sie befinden sich nicht bei ihm, sondern
- bei mir. Peter Petrowitsch Petuch! Petuch![2] Peter Petrowitsch!«
- versetzte der Hausherr.
- Tschitschikow war starr vor Staunen. »Nicht möglich?« sagte er, indem er
- sich an Seliphan und Petruschka wandte, die gleichfalls mit offenem
- Munde dastanden, und die Augen weit aufsperrten. Der eine saß auf dem
- Bock, der andere stand an der Wagentüre. »Was habt ihr bloß gemacht, ihr
- Esel? Ich hab euch doch gesagt, ihr sollt zum Obersten Koschkarjow
- fahren ... Das ist doch Peter Petrowitsch Petuch ...«
- [Fußnote 2: Petuch = deutscher Hahn.]
- »Das habt ihr fein gemacht, Jungens! Geht in die Küche, laßt euch ein
- Glas Schnaps geben ...« rief Peter Petrowitsch Petuch. »Spannt die
- Pferde aus und geht gleich ins Speisezimmer!«
- »Ich schäme mich wirklich! So ein Irrtum! So plötzlich! ...« stammelte
- Tschitschikow.
- »Durchaus kein Irrtum. Warten Sie mal erst ab, wie Ihnen das Mittagessen
- schmecken wird und dann sagen Sie, ob es ein Irrtum war. Ich bitte
- schön,« sagte Petuch, indem er Tschitschikow am Arme nahm und ihn ins
- Innere des Hauses führte. Hier kamen ihnen zwei Jünglinge in
- Sommeranzügen entgegen; beide so dünn wie ein Paar Weidenruten und wohl
- eine Arschin[3] länger als ihr Vater.
- »Meine Söhne! Sie besuchen das Gymnasium und sind nur während der Ferien
- hier ... Nikolascha bleib hier und unterhalte den Gast; und du,
- Alexascha, komm mit mir.« Mit diesen Worten verschwand der Hausherr.
- Tschitschikow blieb mit Nikolascha zurück und versuchte eine
- Unterhaltung mit ihm anzuknüpfen. Nikolascha schien sich zu einem
- lieblichen Früchtchen entwickeln zu wollen. Er erzählte Tschitschikow
- sofort, es habe gar keinen Zweck, ein Provinzgymnasium zu besuchen, er
- und sein Bruder haben die Absicht, nach Petersburg zu fahren, weil es
- sich ja doch nicht lohne, in der Provinz zu leben ...
- [Fußnote 3: Arschin = 2/3 Meter.]
- »Ich verstehe schon,« dachte Tschitschikow, »euch locken die Boulevards
- und Cafés ...« Dann aber fragte er ihn laut: »Sagen Sie, wie steht es
- mit dem Gute Ihres Vaters?«
- »Ich habe Hypotheken darauf!« fiel hier der Vater selbst ein, der
- plötzlich wieder im Salon auftauchte: »Mehrere Hypotheken.«
- »Schlimm, sehr schlimm!« dachte Tschitschikow: »Bald wird es kein Gut
- mehr geben, auf dem keine Hypotheken lasten. Man muß sich beeilen ...«
- »Sie hätten sich doch etwas Zeit lassen sollen mit den Hypotheken,«
- sagte er mit teilnehmender Miene.
- »O nein. Das macht nichts!« versetzte Petuch. »Man sagt, es sei sogar
- vorteilhaft. Heutzutage nimmt alles Hypotheken auf, man will doch nicht
- hinter den andern zurückbleiben? Und dann, ich habe mein ganzes Leben
- lang hier gelebt; nun will ich es einmal mit Moskau versuchen. Meine
- Söhne reden mir auch immer zu, sie wollen durchaus eine großstädtische
- Bildung haben.«
- »So ein Narr!« dachte Tschitschikow: »er wird alles durchbringen und
- auch seine Söhne zu Verschwendern erziehen. Und dabei hat er ein so
- schönes Gut. Wo man hinschaut, spricht alles von Wohlstand. Die Bauern
- haben es gut, und auch der Herr leidet keinen Mangel. Wenn sie aber erst
- ihre Bildung aus den Restaurants und Theatern beziehen, dann wird alles
- zum Teufel gehen. Er sollte lieber ruhig auf dem Lande bleiben, der
- Windbeutel.«
- »Ich weiß, was Sie jetzt denken!« sagte Petuch.
- »Wie?« sagte Tschitschikow etwas verlegen.
- »Sie denken: >Dieser Petuch ist doch ein Narr: erst lädt er einen zum
- Mittagessen ein, und läßt einen warten. Das Essen ist immer noch nicht
- aufgetragen.< Es kommt, es kommt schon, Verehrtester. Passen Sie auf,
- ein geschorenes Mädel kann sich nicht schneller den Zopf flechten, als
- das Essen auf dem Tisch stehen wird.«
- »Himmel! Da kommt Platon Michailowitsch angeritten!« sagte Alexascha,
- der am Fenster stand und hinausblickte.
- »Er reitet auf seinem Fuchs!« fiel Nikolascha ein, indem er sich aus dem
- Fenster beugte.
- »Wo? Wo?« schrie Petuch und lief gleichfalls ans Fenster.
- »Wer ist das, Platon Michailowitsch?« fragte Tschitschikow Alexascha.
- »Unser Nachbar, Platon Michailowitsch Platonow, ein _vortrefflicher_
- Mensch, ein ganz _ausgezeichneter_ Mensch,« antwortete der Hausherr
- selbst.
- In diesem Augenblick trat Platonow ins Zimmer. Er war ein schöner
- schlanker Mann mit hellblondem lockigem Haar. Ein Ungetüm von einem
- Hunde namens Jarb folgte ihm, laut mit dem Halsband klirrend, auf dem
- Fuße.
- »Haben Sie schon gegessen?«
- »Ja danke!«
- »Sie kommen wohl, um sich über mich lustig zu machen. Was soll ich mit
- Ihnen anfangen, wenn Sie schon gespeist haben?«
- Der Gast lächelte und sagte: »Ich kann Sie beruhigen, ich habe so gut
- wie garnichts gegessen: ich hatte keinen Appetit.«
- »Wenn Sie nur gesehen hätten, was wir heute für einen Fang gemacht
- haben! Was für ein Stör uns ins Netz gegangen ist! Und was für
- Karauschen und Karpfen dazu!«
- »Man ärgert sich beinahe, wenn man Sie sprechen hört. Warum sind Sie
- immer so guter Laune?«
- »Warum sollte ich denn Trübsal blasen? Ich bitte Sie!« sagte der
- Hausherr.
- »Wie? Warum? -- Weil es traurig und langweilig auf der Welt ist.«
- »Sie essen nicht genug, das ist alles. Suchen Sie sich einmal ordentlich
- satt zu essen. Das ist auch so eine moderne Erfindung dieser Trübsinn
- und diese Melancholie. Früher war man nie melancholisch.«
- »Niemals! Ich weiß auch gar nicht, wo ich die Zeit dazu hernehmen soll.
- Am Morgen -- da schläft man, kaum hat man die Augen aufgemacht, so steht
- schon der Koch vor einem, und man muß das Menu für das Mittagessen
- zusammenstellen, dann trinkt man Tee, fertigt den Verwalter ab, geht
- fischen und eh man sich's versieht, ist es schon Zeit zum Mittagessen.
- Nach dem Mittagessen kommt man kaum dazu ein Schläfchen zu tun, denn
- schon wieder ist der Koch da, und man muß das Abendbrot bestellen, nach
- dem Abendbrot kommt wieder der Koch, und man muß wieder ans Mittagessen
- für _morgen_ denken. Wo hat man da Zeit zum Trübsinn?«
- Während beide sich unterhielten, betrachtete Tschitschikow den neuen
- Ankömmling, der ihn durch seine außergewöhnliche Schönheit, seine
- schlanke, wohlgebaute Gestalt, die Frische einer noch unverbrauchten
- Jugendkraft und die jungfräuliche Reinheit seines von keinem Pickel
- verunzierten Teints in Erstaunen setzte. Weder Leidenschaft noch
- Schmerz, noch selbst etwas, was auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit
- einer Gemütsbewegung oder Unruhe hatte, hatten je sein jugendlich reines
- Antlitz berührt oder eine Falte in die ruhige Fläche eingegraben, aber
- freilich hätten sie sie auch nicht beleben können. Sein Gesicht behielt
- stets etwas Schläfriges, trotz des ironischen Lächelns, das es bisweilen
- erheiterte.
- »Auch ich kann, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, nicht recht
- verstehen, wie man mit einem solchen Gesicht, wie das Ihrige traurig
- sein kann!« sagte Tschitschikow. »Wenn man natürlich an Geldmangel
- leidet, oder Feinde hat, ... es gibt ja immer Menschen, die einem
- nachstellen und sogar nach dem Leben trachten ...«
- »Glauben Sie mir,« unterbrach ihn der schöne Gast, »glauben Sie mir, daß
- ich mich der Abwechselung halber mitunter sogar nach irgend einer
- kleinen Aufregung _sehne_? Wenn mich doch jemand ein bißchen ärgern
- wollte, oder etwas derartiges -- aber nicht einmal _das_ passiert einem.
- Das Leben ist bloß langweilig -- das ist alles.«
- »Dann haben Sie wohl nicht genug Land oder vielleicht zu wenig Bauern.«
- »Durchaus nicht. Mein Bruder und ich haben zusammen etwa zehntausend
- Acker und über tausend Seelen.«
- »Merkwürdig. Dann kann ich es nicht verstehen. Aber vielleicht hatten
- Sie unter Mißernten und Epidemieen zu leiden? Haben Sie vielleicht viele
- Bauern verloren?«
- »Im Gegenteil, alles befindet sich in der schönsten Verfassung, mein
- Bruder ist ein vorzüglicher Landwirt.«
- »Und bei alledem sind Sie traurig und verstimmt! Das verstehe ich
- nicht,« sprach Tschitschikow achselzuckend.
- »Passen Sie auf, den Trübsinn wollen wir gleich verjagen,« sagte der
- Hauswirt, »Alexascha, lauf mal rasch nach der Küche und sag dem Koch, er
- soll uns die Fischpastetchen hereinbringen. Wo ist nur der Faulpelz
- Emeljan! Der hält wohl wieder Maulaffen feil. Und dieser Dieb, der
- Antoschka? Warum tragen sie die kalte Platte nicht auf?«
- Jetzt aber öffnete sich die Türe. Der Faulpelz Emeljan und der Dieb
- Antoschka erschienen mit einer Serviette unter dem Arm, deckten den
- Tisch, und stellten einen Untersatz mit sechs Karaffen voll Likören von
- verschiedener Farbe darauf. Um diese gruppierte sich bald eine ganze
- Kette von Tellern, mit allerhand appetitreizenden Speisen. Die Diener
- bewegten sich flink hin und her und trugen immer neue zugedeckte
- Schüsseln herein, in denen man die Butter lustig schmoren hörte. Der
- Faulpelz Emeljan und der Dieb Antoschka machten ihre Sache ganz
- vortrefflich. Sie hatten ihre Spitznamen gewissermaßen bloß zum Ansporn
- und zur Ermunterung erhalten. Der Hausherr war durchaus kein Freund vom
- Schimpfen, dazu war er viel zu gutmütig; aber ein Russe kann halt ohne
- ein gepfeffertes Wort nicht auskommen. Er braucht es ebenso wie sein
- Gläschen Schnaps zur Beförderung der Verdauung. Was ist zu machen! Das
- ist nun einmal seine Natur, daß er die reizlose Kost nicht leiden mag!
- Auf die kalte Platte folgte das eigentliche Mittagessen. Hier
- verwandelte sich unser gutmütiger Hausherr in einen wahren Tyrannen.
- Kaum bemerkte er, daß einer der Gäste nur noch ein Stück auf dem Teller
- hatte, so legte er ihm sofort ein zweites auf, indem er hinzufügte: »In
- der Welt _paart_ sich alles, Mensch, Tier und Vogel!« Hatte einer _zwei_
- Stück auf seinem Teller, so legte er ihm noch ein _drittes_ auf, indem
- er bemerkte: »Das ist doch keine Zahl: zwei! Aller guten Dinge sind
- drei.« Hatte der Gast _drei_ Stücke gegessen, so rief er schon: »Haben
- Sie etwa schon einen dreirädrigen Wagen oder eine dreieckige Hütte
- gesehen?« Auch auf die Zahl _vier_, auf die fünf usw. hatte er ein
- Sprichwort bereit. Tschitschikow hatte sicherlich schon seine zwölf
- Stücke verschlungen und dachte: »Na, jetzt wird dem Hausherrn doch wohl
- nichts mehr einfallen!« Aber er irrte sich: ohne ein Wort zu sagen,
- legte ihm dieser den ganzen Rückenteil eines am Spieß gebratenen Kalbes
- samt den Nieren auf den Teller. Und was für eines Kalbes!
- »Es hat zwei Jahre lang nichts wie Milch bekommen,« sagte der Hausherr.
- »Ich hab's gepflegt wie mein eigenes Kind.«
- »Ich kann nicht mehr!« stöhnte Tschitschikow.
- »Kosten Sie mal erst, und dann sagen Sie: ich kann nicht mehr!«
- »Es geht nicht mehr rein! Ich hab' keinen Platz mehr im Magen.«
- »In der Kirche war auch kein Platz mehr, da kam der Polizeimeister und
- sieh da, es fand sich doch noch ein Plätzchen. Dabei war ein solches
- Gedränge, daß kein Apfel zu Boden fallen konnte. Kosten Sie nur: dieses
- Stückchen -- das ist auch ein Polizeimeister.«
- Tschitschikow kostete, und in der Tat -- das Stück hatte große
- Ähnlichkeit mit dem Polizeimeister, es fand sich richtig noch ein Platz,
- und doch schien sein Magen schon bis oben voll zu sein.
- »So ein Mensch darf nicht nach Petersburg oder Moskau fahren. Bei seiner
- Freigiebigkeit hat er in drei Jahren keinen Heller mehr!« Er wußte noch
- nicht, daß man heute darin schon viel weiter ist: auch ohne allzu
- gastfrei zu sein, kann man dort sein Vermögen in drei Jahren -- was sage
- ich in drei Jahren! -- in drei Monaten durchbringen.
- Unterdessen füllte der Hausherr die Gläser unentwegt nach; was die Gäste
- stehen ließen, das durften Alexascha und Nikolascha austrinken, die ein
- Glas nach dem andern hinter die Binde gossen; man konnte schon hier
- sehen, welches Gebiet menschlichen Wissens sie bei ihrer Ankunft in der
- Hauptstadt besonders pflegen würden. Die Gäste wußten kaum, wie ihnen
- geschah; sie schleppten sich nur mit Mühe auf den Balkon hinaus, um hier
- sogleich in einem Lehnstuhl zu sinken. Der Hausherr aber hatte kaum in
- dem seinen Platz genommen, als er sofort zurücksank und einschlief. Sein
- wohlbeleibtes Ich verwandelte sich in einen großen Blasebalg und ließ
- dem offenen Mund und den Nasenlöchern solche Töne entströmen, wie sie
- selbst unseren modernen Komponisten selten einzufallen pflegen: hier
- mischten sich Trommelwirbel mit Flötenklängen und kurzen abgebrochenen
- Lauten, die am meisten Ähnlichkeit mit Hundegebell hatten.
- »Hören Sie, wie der pfeift?« sagte Platonow.
- Tschitschikow mußte lachen.
- »Freilich; wenn man so ein Mittagessen hinter sich hat, woher soll da
- die Langeweile kommen? Da übermannt einen der Schlaf -- nicht wahr? Ja.
- Sie entschuldigen doch, aber ich kann wirklich nicht verstehen, wie man
- schlechter Laune sein kann: dagegen gibt es doch so viele Mittel.«
- »Und die wären?«
- »Was kann ein junger Mann nicht alles anfangen? Tanzen, musizieren ...
- irgend ein Instrument spielen ... oder ... warum sollte er zum Beispiel
- nicht heiraten?«
- »Wen nur?«
- »Als ob es in der Umgegend keine hübschen reichen Mädchen gäbe!«
- »Es gibt keine!«
- »Nun, dann sieht man sich eben wo anders um. Man macht eine Reise« ...
- Plötzlich fiel Tschitschikow eine großartige Idee ein. »Da haben Sie das
- beste Mittel gegen Trübsinn und Langeweile!« sagte er, indem er Platonow
- in die Augen blickte.
- »Was für eins?«
- »Reisen.«
- »Wohin soll man denn reisen?«
- »Wenn Sie Zeit haben, dann kommen Sie doch mit mir,« sagte Tschitschikow
- und dachte sich, während er Platonow betrachtete: »Das wäre fein. Er
- könnte die Hälfte der Ausgaben tragen, und die Wagenreparatur könnte er
- eigentlich _allein_ übernehmen.«
- »Und wohin fahren Sie?«
- »Augenblicklich reise ich nicht so sehr in eigenen Angelegenheiten als
- im Interesse eines andern. General Betrischtschew ein naher Freund von
- mir, und ich darf wohl sagen mein Wohltäter hat mich gebeten, einige von
- seinen Verwandten zu besuchen ... Das mit den Verwandten ist natürlich
- sehr wichtig, aber eigentlich reise ich doch auch sozusagen zu meinem
- eigenen Vergnügen: denn die Welt kennen lernen, sich in den großen
- Strudel und Wirbel des Menschenvolks zu stürzen -- man mag sagen was man
- will, das ist gewissermaßen ein lebendes Buch und auch eine Art
- Wissenschaft.« Und während er dies sagte, dachte er sich: »Wirklich, es
- wäre fein. Er könnte sogar die _ganzen_ Kosten tragen, am Ende könnten
- wir auch seine Pferde benutzen, unterdessen würden sich die meinigen auf
- seinem Gute ausruhen und ordentlich pflegen.«
- »Warum sollte ich nicht eine kleine Reise wagen?« dachte unterdessen
- Platonow. -- »Zu Hause habe ich ohnedies nichts zu tun, für die
- Wirtschaft sorgt mein Bruder auch ohne mich; sie würde also nicht im
- mindesten unter meiner Abwesenheit leiden. Warum sollte ich also nicht
- mitreisen?« -- »Wären Sie unter Umständen bereit, etwa zwei Tage bei
- meinem Bruder zu Gaste zu bleiben?« sagte er laut. »Sonst läßt mich mein
- Bruder nicht fort.«
- »Aber mit dem größten Vergnügen. Meinetwegen sogar drei Tage.«
- »Nun denn, also abgemacht. Wir fahren!« sagte Platonow lebhaft.
- Tschitschikow schlug ein. »Bravo. Wir fahren!«
- »Wohin? Wohin?« rief der Hausherr, der eben aus dem Schlafe erwacht war,
- und sie erstaunt anstarrte. -- »Nein, liebe Herren, ich habe die Räder
- von Ihrem Wagen abnehmen lassen und Ihren Hengst haben wir fortgejagt,
- Platon Michailowitsch, der ist fünfzehn Werst weit von hier. Nein, heute
- müssen Sie schon die Nacht bei mir bleiben, morgen essen wir etwas
- früher zu Mittag, und dann mögt Ihr meinetwegen reisen.«
- Was sollte man da machen? Man mußte sich schon zum Bleiben entschließen.
- Dafür wurden sie durch einen wundervollen Frühlingsabend schadlos
- gehalten. Der Hausherr gab ein Fest auf dem Flusse. Zwölf Ruderer mit
- vierundzwanzig Rudern führten sie unter frohen Gesängen über den
- spiegelglatten Rücken des Sees. Aus dem See gelangten sie in den Fluß,
- der sich in unabsehbare Ferne vor ihnen ausdehnte und überall von
- flachen Ufern begrenzt war. Sie mußten immerfort über Taue hinwegfahren,
- die quer durch den Fluß gezogen, und an denen Netze befestigt waren.
- Auch nicht eine Welle kräuselte die glatte Wasserfläche; ganz still und
- lautlos glitten die herrlichen Landschaftsbilder an ihnen vorüber, und
- dunkele Gehölze und Haine entzückten ihren Blick durch die mannigfache
- Anordnung und Gruppierung ihrer Bäume. In gleichmäßigem Takt legten sich
- die Bootsknechte in die Ruder; sie erhoben sie alle vierundzwanzig
- plötzlich wie ein Mann in die Höhe -- und wie von selbst, einem leichten
- Vogel gleich, glitt der Kahn über den unbeweglichen Wasserspiegel dahin.
- Ein junger Bursche, ein starker breitschultriger Kerl, der dritte Mann
- vom Steuer, machte den Vorsänger und stimmte mit seiner reinen hellen
- Stimme, die aus einer Nachtigallenkehle zu kommen schien, ein Lied an,
- dann fielen fünf andre ein, sechs weitere lösten sie ab, und laut
- schwoll an und ergoß sich der Gesang: unendlich und grenzenlos, wie
- Rußland selbst. Sogar Petuch ließ sich manchmal fortreißen und
- unterstützte den Chor, wenn es ihm an Kraft fehlte, mit einem Ton, der
- eine gewisse Ähnlichkeit mit Hühnergegacker hatte; ja sogar
- Tschitschikow hatte an diesem Abend das lebhafte Gefühl, daß er ein
- Russe sei. Nur Platonow dachte: »Was ist eigentlich schönes an diesem
- melancholischen Lied? Es stimmt einen nur noch trauriger, als man schon
- ist.«
- Es fing schon an zu dämmern, als man zurückkehrte. Es wurde finster; die
- Ruder schlugen jetzt das Wasser, in dem sich der Himmel schon nicht mehr
- spiegelte. Als man am Ufer landete, war es bereits völlig dunkel.
- Überall waren Holzstöße angezündet, die Fischer kochten auf Dreifüßen
- eine Suppe aus lebendigen noch zappelnden Bärschen. Alles war schon zu
- Hause. Das Vieh und das Geflügel war schon lange in den Ställen, der
- Staub, den sie aufwirbelten, hatte sich gelegt, die Hirten standen an
- den Toren und warteten auf die Milchtöpfe und auf eine Einladung zur
- Fischsuppe. Das leise Gesumme der menschlichen Stimmen klang durch die
- Nacht, und fernes Hundegebell hallte aus einem Nachbardorf herüber. Der
- Mond ging eben auf und begann die dunkele Umgegend in sein Licht zu
- hüllen; bald lag alles hell erleuchtet da. Welch herrliches Bild! Aber
- es gab niemand, der sich daran erfreuen konnte. Statt sich auf ein paar
- feurige Hengste zu schwingen und im tollen Galopp um die Wette durch die
- Nacht zu jagen, saßen Nikolascha und Alexascha stumm da und dachten an
- Moskau, an die Café's und Theater, von denen ihnen ein Kadett, der aus
- der Hauptstadt zu Besuch gekommen war, soviel vorerzählt hatte; ihr
- Vater dachte daran, wie er seine Gäste recht schön abfüttern könnte, und
- Platonow gähnte. Am lebhaftesten war noch Tschitschikow: »nein wirklich,
- ich muß mir auch einmal ein Gut kaufen!« Und er sah sich schon im Geiste
- an der Seite eines strammen Weibchens, umringt von einer ganzen Schaar
- kleiner Tschitschikows.
- Beim Abendessen aß man wieder sehr reichlich. Als Tschitschikow das ihm
- zum Schlafen angewiesene Zimmer betrat und sich zu Bett legte, da
- befühlte er seinen Bauch und sagte: »Die reinste Trommel! Da geht kein
- Polizeimeister mehr hinein!« Die Umstände fügten es so merkwürdig, daß
- sich dicht neben dem Schlafzimmer die Stube des Hausherrn befand. Die
- Zwischenwand war sehr dünn, und daher konnte man alles hören, was
- nebenan gesprochen wurde. Der Hausherr bestellte gerade beim Koch unter
- dem Namen eines frühen Dejeuners ein regelrechtes Mittagsessen für den
- morgigen Tag. Und wie gründlich er das besorgte! Bei einem Toten wäre
- noch der Appetit erwacht!
- »Dann backst du mir eine viereckige Fischpastete,« sagte er, indem er
- mit der Zunge schnalzte und die Luft heftig einsog. »Ein Viertel füllst
- du mit den Bocken des Störs und mit Mark, das andere mit Buchweizenbrei,
- Schwämmen, Zwiebeln, süßer Fischmilch, Hirn und noch so was Ähnlichem,
- na du weißt schon ... Auf der einen Seite mußt du sie recht braun
- backen, auf der anderen braucht sie nicht so durchgebacken zu sein. Vor
- allem achte auf die Füllung -- die muß gründlich geschmort werden, daß
- sie sich auch ordentlich verbindet, weißt du, und ja nicht
- auseinanderfällt, sondern einem im Munde zergeht, wie Schnee; man darf
- es selbst kaum merken.« Während er dies sagte, schnalzte Petuch wieder
- mit der Zunge und gab einen schmatzenden Laut von sich.
- »Hol's der Teufel! Der läßt einen nicht schlafen,« dachte Tschitschikow
- und zog sich die Decke über den Kopf, um nur nichts mehr zu hören. Aber
- das half ihm nichts, auch unter der Decke hörte er Petuch noch.
- »Und garniere mir den Stör auch recht fein mit Sternchen aus roten
- Rüben, mit Stinten und Pfifferlingen; nimm auch noch Rüben, Möhren,
- Bohnen und noch dies und jenes dazu, du weißt schon; also recht viel
- Garnitur, hörst du! Den Schweinemagen mußt du mit Eis füllen, damit er
- auch ordentlich aufgeht!«
- Noch mancherlei andere Leckerbissen bestellte Petuch. Immer wieder hörte
- man ihn sagen: »Brat ihn mir, und back ihn mir auch recht durch, und
- dämpfe sie mir gründlich!« Als er endlich bei einem Truthahn angelangt
- war, schlief Tschitschikow ein.
- Am nächsten Tage aßen sich die Gäste derartig voll, daß Platonow nicht
- mehr auf seinem Pferde sitzen konnte. Petuch's Reitknecht mußte den
- Hengst nach Hause bringen. Dann bestieg man die Equipage. Der
- großschnauzige Hund lief träge hinter dem Wagen her: er hatte sich
- gleichfalls vollgefressen.
- »Nein, das geht zu weit!« sagte Tschitschikow, als sie den Hof verlassen
- hatten.
- »Der Mensch ist immer guter Laune! Das ist das ärgerlichste.«
- »Wenn ich deine siebzigtausend Rubel Rente hätte, dann dürfte mir der
- Trübsinn nicht einmal zur Türe herein!« dachte Tschitschikow. »Da ist
- der Branntweinpächter Murasow -- der hat zehn Millionen. Leicht gesagt,
- zehn Millionen -- das nenne ich ein Sümmchen!«
- »Haben Sie nichts dagegen, wenn wir unterwegs einen kleinen Abstecher
- machen? Ich möchte mich gern noch von meiner Schwester und von meinem
- Schwager verabschieden.«
- »Aber mit dem größten Vergnügen!« sagte Tschitschikow.
- »Er ist ein ganz hervorragender Landwirt. Der erste hier in der Gegend.
- Er bezieht Einkünfte im Werte von zweimal hunderttausend Rubel von einem
- Gut, das vor acht Jahren noch keine zwanzigtausend abwarf.«
- »Aber das muß ja ein äußerst interessanter und hochachtbarer Mensch
- sein! Ich bin sehr begierig, einen solchen Mann kennen zu lernen. Ich
- bitte Sie ... Denken Sie doch nur ... Und wie heißt er?«
- »Kostanshoglo.«
- »Und sein Vor- und Vatername, wenn ich bitten darf?«
- »Konstantin Fjodorowitsch.«
- »Konstantin Fjodorowitsch Kostanshoglo. Ich bin wirklich begierig auf
- seine Bekanntschaft! Von einem solchen Mann kann man viel lernen.«
- Platonow übernahm die schwere Aufgabe, Seliphan zu instruieren, was sehr
- notwendig war, da dieser sich kaum auf dem Bocke zu halten vermochte.
- Petruschka war bereits zweimal kopfüber aus dem Wagen gefallen, und es
- war daher nötig, ihn mit einem Strick an dem Kutschbock festzubinden.
- »So ein Schwein!« Das war alles, was Tschitschikow sagen konnte.
- »Sehen Sie! da fangen seine Güter an!« sagte Platonow. »Das sieht doch
- gleich ganz anders aus!«
- Und in der Tat: vor ihnen lag eine mit jungem Walde bewachsene Schonung,
- -- jedes Bäumchen war schlank und gerade wie ein Pfeil, dahinter sah man
- ein zweites gleichfalls noch junges Wäldchen, und hinter diesem erhob
- sich ein alter Forst voll prächtiger Tannen, eine immer höher als die
- andre. Dazwischen kam wieder eine Schonung, ein Streifen _junger_ und
- dahinter ein Streifen alter Wald. Dreimal nacheinander fuhren sie durch
- den Wald, wie durch ein Tor in einer Mauer: »Dieser ganze Wald ist kaum
- acht bis zehn Jahre alt, ein andrer kann zwanzig Jahre warten, und
- selbst dann ist er noch nicht so hoch.«
- »Wie hat er es aber nur gemacht!«
- »Fragen Sie ihn selbst. Das ist ein so vortrefflicher Kenner des Grund
- und Bodens -- bei dem geht nichts verloren. Er kennt nicht nur den Boden
- ganz genau, er weiß auch, in welcher Nachbarschaft jedes Bäumchen und
- jede Pflanze am besten gedeiht, was für Bäume er neben dem Getreide
- pflanzen muß usw. Jedes Ding erfüllt bei ihm immer gleichzeitig drei bis
- vier Funktionen. Der Wald ist nicht nur des Holzes wegen da, sondern
- auch deswegen, weil die Felder an der und der Stelle so und so viel
- Feuchtigkeit brauchen und so und so viel Schatten spenden, und die
- trockenen Blätter benutzt er zum Düngen des Bodens ... Wenn überall
- rings umher Dürre herrscht, so ist bei ihm alles in schönster Ordnung;
- alle Nachbarn klagen über Mißernte, er allein braucht sich nicht zu
- beklagen. Schade, daß ich selbst so wenig von diesen Dingen verstehe und
- nicht zu erzählen weiß ... Wer kennt bloß all seine Kniffe und
- Kunststücke! ... Man nennt ihn hier allgemein einen Zauberer. Was der
- nicht alles hat! ... Und doch! Trotzalledem ist es langweilig!«
- »Das muß in der Tat ein erstaunlicher Mensch sein!« dachte
- Tschitschikow. »Es ist sehr bedauerlich, daß der junge Mann so
- oberflächlich ist und einem nichts erzählen kann.«
- Endlich tauchte auch das Gut auf. Die zahlreichen auf drei Anhöhen
- gelegenen Hütten nahmen sich von Ferne wie eine Stadt aus. Jeder der
- drei Hügel war von einer Kirche gekrönt, überall sah man mächtige
- Getreide- und Heuschober stehen. »Hm!« dachte Tschitschikow, »man merkt
- gleich, daß hier ein königlicher Gutsbesitzer wohnt!« Die Hütten waren
- alle fest und dauerhaft gebaut; hie und da sah man einen Bauernwagen
- stehn -- und auch der Wagen war stark und neu; die Bauern, denen man
- begegnete, hatten alle kluge und gescheidte Gesichter; auch das Hornvieh
- war von der besten Sorte, und selbst die Schweine der Bauern sahen aus
- wie Aristokraten. Man hatte den Eindruck, dies sei der Ort, wo die
- Bauern wohnen, welche das Silber, wie es im Liede heißt: mit Schaufeln
- nach Hause tragen. Hier gab es keine englischen Parks, noch Rasenplätze,
- noch andre kunstvolle Anlagen, statt dessen zog sich nach alter Sitte
- eine lange Reihe von Kornspeichern und Arbeiterhäusern bis dicht ans
- Herrenhaus, damit der Gutsherr auch alles kontrollieren könne, was rund
- um ihn her vor sich geht; auf dem hohen Dache des Herrenhauses erhob
- sich eine Art Leuchtturm; das war kein architektonischer Schmuck; er war
- nicht dazu da, damit der Hausherr und seine Gäste sich an der schönen
- Aussicht ergötzen könnten, sondern um die Arbeiter auch auf den
- entferntesten Feldern ständig zu beaufsichtigen. Die Reisenden wurden an
- der Haustreppe von flinken Dienern empfangen, die gar keine Ähnlichkeit
- mit dem ewig betrunkenen Petruschka hatten; auch hatten sie keine
- Fräcke, sondern Jacken aus gewöhnlichen selbstgewebtem blauen Tuch an,
- wie sie die Kosacken zu tragen pflegen.
- Die Frau des Hauses kam auf die Treppe hinausgelaufen. Sie hatte eine
- frische Gesichtsfarbe wie Milch und Blut, und war schön wie Gottes
- heller Tag, sie glich Platonow wie ein Ei dem andern, nur mit dem
- Unterschiede, daß sie nicht so matt und schlaff, wie er, sondern immer
- heiter und gesprächig war.
- »Guten Tag, Bruder! Bin ich aber froh, daß du gekommen bist. Konstantin
- ist leider nicht zuhause, aber er muß bald kommen.«
- »Wo ist er denn?«
- »Er hat mit ein paar Händlern im Dorfe zu tun,« sagte sie, während sie
- die Gäste ins Zimmer geleitete.
- Tschitschikow sah sich neugierig in der Wohnung dieses merkwürdigen
- Menschen um, der ein Einkommen von zweimal hunderttausend Rubeln hatte,
- denn er glaubte, er werde aus _dieser_ den Charakter und das Wesen des
- Besitzers erkennen können, wie man etwa von einer Muschel auf die Auster
- oder von dem leeren Schneckengehäuse auf die Schnecke schließt, die es
- einstmals bewohnte und ihren Abdruck darin hinterlassen hat. Aber das
- Wohnhaus erlaubte es nicht, irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Die Zimmer
- waren alle schlicht und einfach ausgestattet und beinahe leer; da gab es
- weder Fresken, noch Bronzen, noch Blumen, noch Etageren mit kostbarem
- Porzellan, ja nicht einmal Bücher. Mit einem Wort, alles deutete darauf
- hin, daß das Wesen, das hier hauste, sich den größten Teil seines Lebens
- garnicht innerhalb der vier Zimmerwände, sondern draußen im Felde
- aufhielt und daß es seine Pläne nicht vorsorglich und sybaritisch im
- weichen Lehnstuhl am Kaminfeuer überlegte und dort seinen Gedanken
- nachhing, sondern daß sie ihm an Ort und Stelle, mitten in der Tätigkeit
- einfielen und auch _dort_ ins Werk gesetzt wurden. In den Zimmern konnte
- Tschitschikow nur die Spuren eines echt weiblichen häuslichen Sinnes
- entdecken: auf den Tischen und Stühlen lagen Bretter von Lindenholz, auf
- denen offenbar zum Trocknen bestimmte Blumenblätter ausgeschüttet waren.
- »Was ist das für ein Plunder, der hier herumliegt, Schwester?« sagte
- Platonow.
- »Das ist doch kein Plunder!« versetzte die Hausfrau. »Das ist das beste
- Mittel gegen Fieber. Voriges Jahr haben wir alle unsere Bauern damit
- kuriert. Hieraus machen wir Likör, und jenes dort soll eingemacht
- werden. Ihr lacht uns immer mit unseren Marmeladen und unserem
- eingelegten Gemüse aus; nachher aber lobt Ihr es selbst, wenn Ihr es
- eßt.«
- Platonow ging ans Klavier und betrachtete die aufgeschlagenen Noten.
- »Herrgott, das alte Zeug!« sagte er, »Schämst du dich gar nicht,
- Schwester?«
- »Nimm mir's nicht übel, Bruder, ich habe nicht Zeit, mich auch noch mit
- Musik abzugeben. Ich habe nicht Zeit, mich auch noch mit Musik
- abzugeben. Ich habe eine achtjährige Tochter, die ich unterrichten muß.
- Soll ich sie etwa einer ausländischen Gouvernante überlassen, bloß damit
- ich genug freie Zeit habe, um mich mit Musik zu beschäftigen? -- Nein
- entschuldige, das tue ich denn doch nicht!«
- »Bist du langweilig geworden, Schwester!« sagte der Bruder und trat ans
- Fenster: »Ah, da ist er ja schon, er kommt, eben kommt er!« rief
- Platonow.
- Tschitschikow lief gleichfalls ans Fenster. Ein Mann von etwa vierzig
- Jahren, mit braunem lebhaftem Gesicht, in einer Jacke von Kamelhaaren
- kam auf das Haus zugeschritten. Auf sein Kostüm pflegte er nicht zu
- achten. Er trug eine Sammtmütze. Ihm zur Seite gingen zwei Männer
- niederen Standes, mit respektvoll entblößtem Haupte, in einer lebhaften
- Unterhaltung begriffen; der eine war ein einfacher Bauer, der andre ein
- durchreisender Händler, ein durchtriebener Kerl in einem Rock mit langen
- Schößen. Da sie alle drei an der Treppe stehen blieben, konnte man ihr
- Gespräch deutlich im Zimmer hören.
- »Das beste was ihr tun könnt, ist folgendes: kauft euch bei eurem Herrn
- los. Ich will euch die Summe meinetwegen vorschießen; ihr könnt sie ja
- allmählich bei mir abarbeiten!«
- »Nein, Konstantin Fjodorowitsch, wozu sollen wir uns loskaufen? Nehmen
- Sie uns lieber ganz zu sich. Bei Ihnen können wir nur Gutes lernen.
- Einen so klugen Mann wie Sie, gibt es nicht wieder auf der ganzen Welt.
- Heutzutage hat man seine Not, man kann sich nicht genug in acht nehmen.
- Die Kneipwirte haben euch solche Schnäpse erfunden, das brennt einem im
- Magen, daß man danach gleich einen ganzen Eimer Wasser austrinken
- möchte: eh man sich's versieht, ist die letzte Kopeke ausgegeben. Die
- Versuchung ist auch allzugroß. Ich glaube der Böse regiert die Welt, bei
- Gott! Was erfinden sie nicht alles, um den Bauern ganz toll zu machen!
- Tabak und all diese Finessen. Was soll man anfangen, Konstantin
- Fjodorowitsch? Man ist auch nur ein Mensch -- man läßt sich halt leicht
- verführen.«
- »Hör mal: hier handelt es sich doch um folgendes. Wenn ihr zu mir kommt,
- dann seid ihr doch auch nicht frei. Es ist wahr, ihr bekommt alles, was
- ihr braucht: eine Kuh und ein Pferd; aber ich verlange auch was von
- meinen Bauern, wie kein anderer Gutsbesitzer. Bei mir müssen sie vor
- allem _arbeiten_ -- das ist das erste; ob nun für mich oder für sich
- selbst, das ist ganz gleich, gefaulenzt wird bei mir nicht. Ich arbeite
- ja auch wie ein Stier, ebensoviel wie meine Bauern, weil ich es an mir
- selbst erfahren habe: all diese Schrullen kommen einem bloß in den Kopf,
- weil man nicht arbeitet. Also denkt mal über die Sache nach und überlegt
- sie euch ordentlich, wenn ihr zusammenkommt.«
- »Wir haben ja schon so viel überlegt, Konstantin Fjodorowitsch. Selbst
- die alten Leute bei uns sagen schon: >bei Ihnen sind die Bauern alle
- reich, das ist doch kein Zufall; auch Ihre Priester sind so mitleidig
- und so gütig. Die unsrigen hat man uns doch weggenommen, und jetzt haben
- wir niemanden, der einen rechtschaffen beerdigen könnte.<«
- »Es ist doch besser, du sprichst noch einmal darüber mit der Gemeinde.«
- »Wie Sie befehlen!«
- »Nicht wahr, Konstantin Fjodorowitsch, Sie sind schon so gut und gehen
- etwas mit dem Preise herunter,« sagte der durchreisende Kaufmann im
- langen blauen Rock, der an der andern Seite von Kostanshoglo schritt.
- »Ich habe dir's schon gesagt, ich lasse nicht mit mir handeln. Ich bin
- nicht so wie andre Gutsbesitzer, bei denen du immer gerade dann
- erscheinst, wenn sie ihre fälligen Schulden bezahlen müssen. Ich kenne
- euch viel zu gut; ihr führt eine Liste über alle, welche Zahlungen zu
- machen haben. Das ist doch sehr einfach. So ein Mann ist in einer
- verzweifelten Lage, da gibt er euch natürlich alles um den halben Preis
- her. Bei mir ist das anders. Was soll ich mit deinem Gelde anfangen? Bei
- mir können die Sachen ruhig drei Jahre lang liegen bleiben; ich habe
- keine Hypothekengelder zu bezahlen!«
- »Sie haben ganz recht, Konstantin Fjodorowitsch. Ich sage das ja auch
- nur, um auch ferner mit Ihnen in Verbindung zu bleiben, und nicht aus
- Habsucht und Eigennutz. Bitte, hier sind dreitausend Rubel Handgeld!«
- Bei diesen Worten zog der Kaufmann ein Päckchen schmutziger Banknoten
- aus der Brusttasche. Kostanshoglo nahm sie sehr kaltblütig, ohne sie
- nachzuzählen in Empfang, und steckte sie in die Rocktasche.
- »Hm,« dachte Tschitschikow, »wie wenn das sein Taschentuch wäre!« Doch
- jetzt erschien Kostanshoglo in der Türe des Salons. Er machte einen
- tiefen Eindruck auf Tschitschikow durch sein verbranntes Gesicht, die
- struppigen schwarzen Haare, welche stellenweise schon einen leichten
- Anflug von Grau erkennen ließen, den lebhaften Ausdruck der Augen und
- seine etwas gallige Art, die auf seine südliche Herkunft hindeutete. Er
- war kein echter Russe. Wußte er doch selbst nicht genau, woher seine
- Vorfahren stammten. Er kümmerte sich jedoch nicht um seinen Stammbaum;
- das paßte nicht in sein System, und er fand, daß sich in der Wirtschaft
- damit nicht viel anfangen ließe. Er selbst hielt sich für einen Russen,
- und kannte auch keine andere Sprache außer der russischen.
- Platonow stellte Tschitschikow vor. Beide küßten sich.
- »Weißt du Konstantin, ich habe mich entschlossen, eine kleine Reise zu
- machen, und mir einige unserer Gouvernements anzusehen. Ich will meine
- Langeweile los werden,« sagte Platonow, »Pawel Iwanowitsch hat mir
- vorgeschlagen, mit ihm zu reisen.«
- »Das ist ja vortrefflich!« sagte Konstanshoglo. »Und welche Gegend
- gedenken Sie zu besuchen?« fuhr er fort, indem er sich liebenswürdig an
- Tschitschikow wandte.
- »Ich muß gestehen,« sagte Tschitschikow, indem er den Kopf höflich auf
- die Seite neigte und mit der Hand über die Stullehne strich, »ich muß
- gestehen, daß ich eigentlich nicht in meinem eigenen, sondern im
- Interesse eines andern reise: ein naher Freund von mir, ich darf wohl
- sagen mein Wohltäter, General Betrischtschew hat mich gebeten, einige
- von seinen Verwandten aufzusuchen. Das mit den Verwandten ist natürlich
- sehr wichtig, aber andererseits reise ich doch auch sozusagen zu meinem
- eigenen Vergnügen, denn ganz abgesehen von dem Nutzen den das Reisen für
- die Hämorrhoiden hat; die Welt kennen zu lernen, sich in den Wirbel und
- Strudel des Menschenvolkes zu stürzen -- das ist sozusagen ein lebendes
- Buch und auch eine Art Wissenschaft.«
- »Sehr richtig! Es ist ganz gut, wenn man sich in der Welt umsieht.«
- »Sehr fein bemerkt! Das ist tatsächlich wahr, es ist wirklich gut. Man
- sieht allerhand Dinge, die man sonst nie gesehen hätte, und trifft mit
- Menschen zusammen, denen man vielleicht niemals begegnet wäre. Manche
- Unterhaltung ist Goldes wert, wie zum Beispiel gleich hier, wo sich mir
- eine so glückliche Gelegenheit bietet ... Ich wende mich an Sie,
- verehrtester Konstantin Fjodorowitsch. Helfen Sie mir, belehren Sie
- mich, stillen Sie meinen Durst und weisen Sie mir den Weg zur Wahrheit.
- Ich lechze nach Ihren Worten, wie nach himmlischem Manna.«
- »Ja, was denn nur? ... Was soll ich Sie denn lehren?« sprach
- Kostanshoglo verlegen. »Ich habe doch selbst nur ein paar Groschen
- Lehrgeld bezahlt.«
- »Die Weisheit, verehrter Mann, lehren Sie mir die Weisheit und die
- Kunst, das schwere Steuer der Landwirtschaft zu regieren, einen sicheren
- Gewinn zu erzielen, Reichtum und Wohlstand zu erwerben und zwar keinen
- eingebildeten, sondern einen wirklichen Wohlstand, denn das ist doch die
- Pflicht eines jeden Bürgers und damit verdient man sich die Achtung
- seiner Mitmenschen.«
- »Wissen Sie was?« sagte Kostanshoglo und sah ihn nachdenklich an,
- »bleiben Sie einen Tag bei mir. Ich will Ihnen die ganze Einrichtung
- zeigen und Ihnen alles erzählen. Eine große Weisheit werden Sie hier
- nicht finden.«
- »Aber natürlich! Bleiben Sie doch!« fiel die Hausfrau ein; dann wandte
- sie sich an ihren Bruder und fuhr fort: »Bleib doch, Bruder, du hast
- doch keine Eile.«
- »Mir ist es einerlei. Wenn Pawel Iwanowitsch nichts dagegen hat?«
- »Nicht das Geringste, mit dem größten Vergnügen ... Da ist nur noch ein
- Umstand: ein Verwandter des General Betrischtschew, der Oberst
- Koschkarow ...«
- »Der ist aber doch verrückt!«
- »Natürlich ist er verrückt! Ich hätte ihn ja auch gar nicht besucht,
- aber General Betrischtschew, wissen Sie, ein guter Freund von mir, und
- sozusagen mein Wohltäter ...«
- »Wissen Sie was? Dann machen Sie es doch so,« sagte Kostanshoglo:
- »fahren Sie doch gleich zu ihm, er wohnt keine zehn Werst von hier. Mein
- Wagen ist angespannt -- setzen Sie sich hinein und fahren Sie hin. Zum
- Tee können Sie schon wieder zurück sein.«
- »Eine großartige Idee!« rief Tschitschikow aus und griff nach dem Hut.
- Der Wagen fuhr vor, und brachte ihn in einer halben Stunde zum Obersten.
- Im Dorfe ging es drunter und drüber: hier wurde gebaut, dort eine
- Reparatur vorgenommen, überall lagen Haufen von Kalk, Ziegelsteinen und
- Balken herum. Daneben sah man ein paar Häuser, die wie Gerichtsgebäude
- aussahen. Auf dem einen befand sich eine Inschrift in goldenen Lettern:
- »Depot für landwirtschaftliche Werkzeuge«, auf einem andern las man:
- »Hauptrechnungskammer«, »Komitee für Gemeindeangelegenheiten«,
- »Normalschule für Landleute«. Mit einem Wort, weiß der Teufel, was es da
- nicht alles gab!
- Er traf den Obersten vor einem Stehpult mit der Feder in den Zähnen. Der
- Oberst empfing Tschitschikow außerordentlich freundlich. Er machte den
- Eindruck eines äußerst gutmütigen und höflichen Menschen; sofort fing er
- an davon zu erzählen, wieviel Mühe es ihn gekostet habe, sein Gut auf
- die Höhe zu bringen, auf der es sich jetzt befindet; er beklagte sich
- schmerzlich darüber, wie schwer es sei, den Bauern begreiflich zu
- machen, was die »höheren Antriebe« sind, die der Mensch nur aus einem
- vernunftgemäßen Luxus, aus der Beschäftigung mit Wissenschaften und
- Künsten gewinnt; daß es ihm noch immer nicht gelungen sei, die
- Bäuerinnen zu veranlassen, doch ein Korsett anzulegen, während er in
- Deutschland, wo er 1814 mit seinem Regiment gestanden, die Tochter eines
- einfachen Bauern kennen gelernt habe, die Klavier spielen konnte;
- dennoch aber werde er den Trotz der Unwissenheit und Unbildung brechen,
- und es bestimmt erreichen, daß seine Bauern Bücher lesen, während sie
- hinter dem Pfluge hergehen und sich auf diese Weise über den
- Franklinschen Blitzableiter, die Georgien Virgils und die chemische
- Analyse des Bodens unterrichten.
- »Daß du dich nur nicht täuschst!« dachte Tschitschikow. »Denken Sie
- bloß, ich habe die »Gräfin Laveillère« bis heute noch nicht gelesen. Ich
- kann immer keine Zeit dazu finden.«
- Der Oberst sprach noch lange darüber, wie man die Menschen wohlhabend
- und glücklich machen könne. Eine besondere große Bedeutung legte er der
- Kleidung bei: er setzte seinen Kopf dafür ein, daß, wenn nur die Hälfte
- aller russischen Bauern Hosen nach deutschem Schnitt anziehen wollte,
- die Wissenschaften emporblühen, der Handel sich heben und das goldene
- Zeitalter für Rußland anbrechen würde.
- Tschitschikow sah ihm aufmerksam ins Gesicht, hörte ihn ruhig an und
- sagte schließlich zu sich selbst: »Ich glaube, mit dem brauche ich mich
- nicht zu genieren;« und er erklärte sofort, er habe tote Seelen nötig,
- zuvor aber müsse ein Kaufvertrag abgeschlossen werden und dazu bedürfe
- es _der_ und _der_ Formalitäten.
- »Soweit ich aus Ihren Worten ersehen kann,« sagte der Oberst, ohne auch
- nur im geringsten in Verlegenheit zu geraten, »ist das ein _Gesuch_, das
- Sie an mich richten! Nicht wahr?«
- »Sehr richtig.«
- »Dann haben Sie wohl die Güte, es schriftlich zu formulieren. Das Gesuch
- muß nämlich erst ins »Bureau für Berichte und Anzeigen«, dort wird es
- signiert, und erst dann kommt es in meine Hände; ich gebe es hierauf an
- das Komitee für Gemeindeangelegenheiten weiter, von dort geht es an den
- Verwalter, der Erhebungen anstellen wird, und der Verwalter läßt es
- endlich zusammen mit dem Sekretär ...«
- »Ich bitte Sie!« sprach Tschitschikow, »auf diese Weise wird sich ja die
- Sache furchtbar in die Länge ziehen. Ein solcher Gegenstand läßt sich
- doch nicht schriftlich behandeln. Das ist ja so eine delikate ...
- Angelegenheit, die ... Die Seelen sind doch gewissermaßen ... schon tot
- ...«
- »Sehr gut. Dann schreiben Sie doch einfach, daß die Seelen gewissermaßen
- schon tot sind.«
- »Nein bitte, wie kann ich das? So etwas kann man doch nicht
- niederschreiben. Wenn sie auch wirklich tot sind, so soll es doch den
- Anschein haben, als ob sie noch leben ...«
- »Gut, dann schreiben Sie eben: _es ist nötig, oder es ist erwünscht,
- oder man legt Wert darauf, daß es den Anschein habe, als ob sie noch
- leben_. Ohne schriftliche Fixierung geht das doch gar nicht. Denken Sie
- bloß an England oder sogar an Napoleon. Ich will Ihnen einen Mann
- mitgeben, der Sie überallhin begleiten wird.«
- Er schellte. Ein Mann erschien in der Türe.
- »Herr Sekretär! Rufen Sie den Kommissar.« Gleich darauf trat auch der
- Kommissar herein, ein Mann, dem man es nicht recht ansehen konnte, was
- er war, ein Bauer oder ein Beamter. »Er wird Sie überall hinführen.«
- Was war da zu machen? Tschitschikow entschloß sich aus Neugierde, dem
- Kommissar zu folgen und diese so überaus wichtigen Instanzen kennen zu
- lernen. Das »Bureau für Berichte und Anzeigen« stand nur auf dem
- Aushängeschild, die Tür war dagegen verschlossen. Der Chef des Bureaus
- Chryljow war in das soeben gegründete Komitee für Gemeindebauten
- versetzt. Seine Stelle versah der Kammerdiener Berjosowski; aber auch
- der war von der Baukommission irgendwohin geschickt worden. Sie gingen
- daher in das Departement für Gemeindeangelegenheiten -- da wurden jedoch
- gerade Reparaturen vorgenommen, hier weckten sie einen Mann, der
- betrunken dasaß und schlief, aber aus dem ließ sich auch nichts
- herausbringen. »Bei uns herrscht eine große Unordnung!« sagte
- schließlich der Kommissar zu Tschitschikow. »Die Leute tanzen unserem
- Herrn alle auf der Nase. Bei uns hängt alles von der Baukommission ab;
- sie holt die Leute von ihrer Arbeit weg und schickt sie überallhin,
- wohin es ihr beliebt. Nur bei der Baukommission kommt man auf seinen
- Vorteil.« Er war offenbar sehr unzufrieden mit der Baukommission.
- Tschitschikow wollte nicht mehr sehn. Als sie zum Obersten
- zurückkehrten, erklärte er diesem, bei ihm herrsche ein großer Wirrwar,
- man könne sich da unmöglich zurechtfinden, und ein Bureau für Berichte
- und Anzeigen gäbe es überhaupt nicht.
- Der Oberst schäumte auf in edlem Zorn und drückte Tschitschikow dankbar
- die Hand. Er griff sofort zur Feder und verfaßte acht in strengstem Tone
- gehaltene Anfragen: mit welchem Rechte die Baukommission eigenmächtig
- über Beamte verfügt habe, die garnicht zu ihrem Ressort gehörten? wie
- der Oberverwalter es habe zulassen können, daß der Vorsitzende sich
- entfernte, um an einer Untersuchung teilzunehmen, ohne seinen Posten
- zuvor einem andern übergeben zu haben? und wie das Komitee für
- Gemeindeangelegenheiten ruhig darüber hinweggehen konnte, daß es
- überhaupt kein Bureau für Anzeigen und Berichte gebe?
- »Das gibt wieder eine tolle Verwirrung!« dachte Tschitschikow und wollte
- schon wegfahren, da aber sagte Koschkarjow:
- »Nein, ich lasse Sie nicht fort. Hier handelt es sich um meine Ehre. Ich
- will Ihnen beweisen, was das ist: eine geregelte, organisierte
- Wirtschaft. Ich will Ihre Sache einem Mann übergeben, der allein soviel
- wert ist, wie alle anderen zusammen: er hat die Universität beendigt.
- Sehen Sie, solche Leibeigene habe ich! Um Ihre kostbare Zeit nicht
- allzulange in Anspruch zu nehmen, bitte ich Sie höflichst, sich
- einstweilen in meine Bibliothek verfügen zu wollen,« fuhr der Oberst
- fort, indem er eine Seitentür öffnete: »Hier finden Sie Bücher, Papier,
- Federn, Bleistifte -- mit einem Wort, alles, was Sie wünschen. Bitte!
- alles steht zu Ihrer Verfügung. Tuen Sie, als ob Sie zu Hause wären. Die
- Aufklärung und Wissenschaft sollte allen offen stehen.«
- So sprach Koschkarjow, während er Tschitschikow in die Bibliothek
- geleitete. Diese war ein mächtiger Saal der von unten bis oben mit
- Büchern vollgepfropft war. Auch ein paar ausgestopfte Tiere befanden
- sich darin. Alle Wissenszweige waren vertreten: da gab es Bücher über
- Forstwissenschaft, Viehzucht, Schweinezucht, Gartenbau,
- Spezialzeitschriften über alle Wissensgebiete, wie sie einen zugeschickt
- werden, bloß damit man auf sie abonniert, die aber kein Mensch liest.
- Als Tschitschikow sich überzeugt hatte, daß dies alles Bücher waren, die
- sich kaum dazu eigneten, einem in angenehmer Weise die Zeit zu
- vertreiben, ging er an den nächsten Schrank, aber o weh! er geriet aus
- dem Regen in die Traufe: dieser enthielt wiederum nichts als
- _philosophische_ Bücher. Das erste, was ihm ins Auge fiel, waren sechs
- gewaltige Bände mit der Ueberschrift: »Einführung in die Lehre vom
- Denken, Theorie der Abstraktion, der Allheit, und Wesenheit in ihrer
- Anwendung auf die Erkenntnis der organischen Prinzipien der Polarität in
- der gesellschaftlichen Produktivität.« Was für ein Buch Tschitschikow
- auch aufschlagen mochte, auf jeder Seite las er immer nur von:
- _Erscheinung_, _Entwickelung_, _Abstraktion_, _Geschlossenheit_, _An und
- Für sich sein_, mit einem Wort, weiß der Teufel, was nicht alles in so
- einem Buche stand! »Das ist nichts für mich,« sagte Tschitschikow, und
- ging an einen dritten Schrank, der wieder lauter _kunstgeschichtliche_
- Bücher enthielt. Er zog einen mächtigen Folianten mit Bildern aus der
- antiken Mythologie hervor, die sich nicht gerade durch übermäßige
- Sittsamkeit auszeichneten und begann darin zu blättern. Solche Bilder
- gefallen besonders Junggesellen in mittleren Jahren, mitunter aber auch
- alten Herren, die ihre Einbildungskraft durch Ballette und ähnliche
- gepfefferte Dinge anzuregen lieben. Nachdem Tschitschikow mit dem einen
- Buche fertig war, wollte er schon zu einem zweiten ähnlichen übergehen,
- als Oberst Koschkarjow mit strahlender Miene und einem Bogen Papier in
- der Tür erschien.
- »Es ist alles erledigt; zur schönsten Zufriedenheit erledigt! Der
- Mensch, von dem ich Ihnen erzählt habe, ist tatsächlich ein Genie. Dafür
- will ich ihn aber auch über alle anderen erheben und ein eigenes
- Departement für ihn einrichten. Sehen Sie doch bloß, was das für ein
- heller Kopf ist, und wie er in ein paar Minuten mit allem fertig
- geworden ist.«
- »Na, Gott sei Dank!« dachte Tschitschikow und schickte sich an, zu
- hören. Der Oberst begann mit der Vorlesung:
- »Indem ich an die Untersuchung des mir von Ew. Hochwohlgeboren erteilten
- Auftrages gehe, habe ich die Ehre, folgendes zu Ew. Hochwohlgeboren
- Kenntnis zu bringen:
- Erstens ist schon in dem Gesuch des Herrn Ritters und Kollegienrates
- Pawel Iwanowitsch Tschitschikow ein grundlegendes Mißverständnis
- enthalten, denn die in den Revisionslisten verzeichneten Seelen werden
- unvorsichtiger Weise _tot_ genannt. Dahingegen wird er wahrscheinlich
- Seelen gemeint haben, die dem Tode nahe sind, keineswegs aber absolut
- tote Seelen. Zudem verrät auch schon diese Bezeichnung eine
- Bildungsstufe, die lediglich aus dem Studium der bloß empirischen
- Wissenschaften geschöpft zu sein scheint, und etwa dem Niveau einer
- Gemeindeschule entspricht, denn die Seele ist _unsterblich_.«
- »So ein Schelm!« sagte Koschkarjow und hielt ein wenig inne. »Hier will
- er Ihnen eines auswischen. Aber nicht wahr? welch eine gewandte,
- schneidige Feder er führt!«
- »Zweitens sind überhaupt keine Seelen vorhanden, weder solche, die dem
- Tode nahe sind, noch irgendwelche andre, die nicht schon hypothekarisch
- belastet wären, denn sie sind nicht nur alle ohne Ausnahmen mit
- einfachen, sondern sogar mit doppelten Hypotheken belastet, sodaß noch
- außerdem hundertfünfzig Rubel pro Kopf auf jede Seele kommen,
- ausgenommen das kleine Dorf Gurmailowka, welches infolge eines Prozesses
- mit dem Gutsbesitzer Perdrschtschew mit Beschlag belegt ist, wie dies in
- Nummer 42 der »Moskauer Nachrichten« zu lesen steht.«
- »Warum haben Sie mir dies denn nicht gleich gesagt? Wozu haben Sie mich
- unnütz aufgehalten?« sagte Tschitschikow ärgerlich.
- »Ich bitte Sie, das mußte sich doch alles erst auf dem richtigen
- Instanzweg ergeben. Das ist doch kein Spaß. Unbewußt und sozusagen
- instinktiv kann jeder Narr sowas rauskriegen, es muß aber mit Bewußtsein
- geschehen.«
- Tschitschikow griff wütend nach seiner Mütze, und lief eilig zum Hause
- hinaus, ohne auch nur die gewöhnlichsten Pflichten des Anstandes zu
- wahren: er war sehr böse. Der Kutscher wartete schon mit dem Wagen vor
- der Tür, er wußte, daß es keinen Zweck hatte, die Pferde auszuspannen,
- denn um Futter für die Tiere zu erhalten, hätte er erst ein
- schriftliches Gesuch einreichen müssen, und der Beschluß, den Pferden
- ihren Hafer auszufolgen, wäre erst am folgenden Tage erschienen. Der
- Oberst lief Tschitschikow jedoch nach; er drückte ihm krampfhaft die
- Hand, preßte sie ans Herz und dankte ihm, daß er ihm Gelegenheit gegeben
- habe, den ganzen Betrieb in der Praxis funktionieren zu sehen. Man müsse
- den Leuten schon hin und wieder einen kleinen Puff versetzen. Sonst
- könne alles leicht einschlafen und der Verwaltungsmechanismus träge
- werden und einrosten. Dieser Vorfall habe ihm einen glücklichen Gedanken
- eingegeben, nämlich den, eine neue Kommission zu gründen, die den Namen
- tragen soll: »Kommission zur Aufsicht über die Baukommission«. Dann
- würde es niemand mehr wagen zu stehlen.
- Unzufrieden und ärgerlich kam Tschitschikow zu später Stunde bei
- Kostanshoglo an. Man hatte schon längst Licht angezündet.
- »Warum kommen Sie so spät?« sagte Kostanshoglo, als Tschitschikow in der
- Türe erschien.
- »Worüber haben Sie so lange mit ihm gesprochen?« fragte Platonow.
- »Einen solchen Narren habe ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen!«
- rief Tschitschikow aus.
- »Das ist noch gar nichts!« meinte Kostanshoglo. »Koschkarjow ist
- trotzdem eine tröstliche Erscheinung. Man braucht solche Leute, weil
- sich in ihnen die Torheiten unserer »weisen Männer« gewissermaßen
- karrikiert und recht drastisch offenbaren. -- All jene Neunmalklugen,
- die, noch ehe sie sich zu Hause ordentlich umgesehen haben, sich in der
- Fremde allerhand Flausen in den Kopf setzen. Sehen Sie doch mal, was wir
- jetzt für Gutsbesitzer bekommen haben: Was die nicht alles für
- Neuerungen einführen: Komptoirs, Manufakturen, Schulen und Kommissionen,
- und weiß der Teufel, was noch alles! So sind aber die gescheidten Leute!
- Kaum daß man sich von der französischen Invasion und dem Jahr 1812
- erholt hat, da fangen sie schon wieder an, Unordnung zu stiften und
- alles einzureißen. Wahrhaftig, die haben schlimmer gehaust als der
- Franzose. Wir werden bald so weit kommen, daß irgend ein Peter
- Petrowitsch Petuch noch einer der tüchtigsten Gutsbesitzer sein wird.«
- »Aber er hat doch schon Hypotheken aufgenommen?« sagte Tschitschikow.
- »Na, natürlich! Alles wandert ins Bankhaus, alles, alles!« Kostanshoglo
- redete sich allmählig immer mehr in Zorn. »Da haben Sie zum Beispiel
- eine Hut- und eine Kerzenfabrik -- natürlich müssen die Werkmeister aus
- London verschrieben werden. Man wird ja zum reinsten Krämer! Der
- Gutsbesitzer -- ein so hochachtbarer Beruf -- wird Fabrikant und
- Manufakturist! Webstühle um Tüllkleider für die »Dämchen« aus der Stadt
- zu fabrizieren, und diese Frauenzimmer ...«
- »Aber du selbst hast doch auch Fabriken,« bemerkte Platonow.
- »Wer hat denn die gebaut?«
- »Das kam ganz von selbst. Es war halt so viel Wolle da, daß ich sie
- nicht absetzen konnte. -- Da fing ich eben an, Stoffe zu weben, lauter
- _dickes_, einfaches Zeug -- das verkaufe ich gleich hier bei mir auf dem
- Markt. Das sind doch bloß Dinge, die die Bauern brauchen, meine eigenen
- Bauern. Oder ein anderes Beispiel: die Fischer haben sechs Jahre lang
- ihre Fischschuppen hier am Ufer hingeworfen. Wo sollte ich bloß hin mit
- ihnen. Ich habe halt angefangen, Leim aus ihnen zu sieden. Das hat mir
- vierzig Tausend eingebracht. So kommt bei mir alles von selbst.«
- »Teufel!« dachte Tschitschikow, indem er ihn bewundernd anblickte.
- »Verstehst du dich aber aufs Geldverdienen!«
- »Das habe ich auch nur gemacht, weil so viele Arbeitslose zu mir
- gelaufen kamen, die ohnedies vor Hunger gestorben wären. Wir hatten ja
- Hungersnot. Alles dank den Herren Fabrikanten, welche das Säen vergessen
- hatten. Solche Fabriken gibt's bei mir in Hülle und Fülle, mein Bester,
- jedes Jahr 'ne andre. Je nachdem, was ich gerade für Abfälle zu
- verwerten habe. Sieh' nur ordentlich bei dir zu Hause nach! Mit jedem
- Plunder kannst du noch was verdienen, sodaß du ihn schließlich
- fortwirfst und sagst: ich will nicht mehr. Ich baue mir ja auch keine
- Häuser mit Säulengängen und Giebeln.«
- »Wirklich erstaunlich ... Das merkwürdigste aber ist, daß man mit jedem
- Plunder was verdienen kann!« sagte Tschitschikow.
- »Aber ich bitte Sie, wenn die Menschen die Dinge doch ganz einfach so
- nehmen wollten, wie sie sind. Aber da will gleich jeder Kunstschlosser
- und Mechaniker sein und holt gleich ein Instrument herbei, um das
- Kästchen zu öffnen, während es doch ganz einfach aufgeht. Und dazu muß
- er erst extra nach England fahren! Das ist es! Solche Narren!« Bei
- diesen Worten spuckte Konstanshoglo aus. »Und dabei kommt er tausendmal
- dümmer zurück, als wie er ins Ausland fuhr.«
- »Aber Konstantin, du regst dich schon wieder auf!« sagte die Frau
- besorgt, »du weißt doch, daß dir das schadet.«
- »Ja, wie soll man sich denn da nicht aufregen! Wenn es sich hierbei noch
- um etwas handelte, was einen nichts angeht. Aber das sind doch alles
- Dinge, die einem am Herzen liegen. Es schmerzt einen doch, wenn man
- sieht, wie der russische Charakter verdorben wird. Es ist jetzt eine Don
- Quixoterie bei uns aufgekommen, die wir früher garnicht gekannt haben!
- Wenn einem die Aufklärung zu Kopfe gestiegen ist, dann wird er gleich
- ein Don Quixote. Gründet allerhand Schulen, von denen sich nicht mal ein
- Narr was träumen läßt. Diese Schulen bilden nur Menschen heran, die zu
- nichts nütze sind, weder auf dem Lande, noch in der Stadt. Höchstens
- lauter Trinker, die einen sehr hohen Begriff von ihrer Würde haben. Oder
- so einer will in Humanität machen -- dann wird er ein Don Quixote der
- Humanität: baut allerhand alberne Krankenhäuser und Asyle mit
- Säulenhallen für 'ne Million, richtet sich selbst zugrunde und bringt
- andere Leute an den Bettelstab. Da habt ihr dann die Humanität!«
- Aber Tschitschikow war es keineswegs um die Aufklärung zu tun. Er wollte
- durchaus näheres darüber erfahren, wie man mit jedem Plunder was
- verdienen könne; jedoch Kostanshoglo ließ ihn nicht zu Worte kommen;
- immer neue, heftige Reden entströmten seinem Munde, er war jetzt schon
- nicht mehr imstande, sie zu unterdrücken.
- »Und dann grübeln sie darüber nach, wie sie den Bauern aufklären sollen
- ... sorgt mal erst dafür, daß er reich und ein tüchtiger Landwirt wird,
- dann wird er schon selbst für seine Bildung sorgen. Sie können sich
- garnicht vorstellen, wie dumm heutzutage alle Leute geworden sind. Was
- diese Federfuchser nicht alles schreiben! Wenn einer ein Buch in die
- Welt setzt, dann stürzen sich gleich alle darauf ... Hören Sie doch, was
- sie jetzt für eine neue Weisheit verkündigen: >Der Bauer führt ein zu
- primitives Leben; er muß auch den Luxus kennen lernen, man muß ihm
- höhere Bedürfnisse beibringen ...< Weil sie selbst dank diesem Luxus zu
- Waschlappen geworden sind und weil es keinen achtzehnjährigen Burschen
- mehr gibt, der nicht schon von allem gekostet, bald keine Zähne mehr im
- Munde, und eine Glatze hat, wie eine Schweinsblase -- darum wollen Sie
- andere Leute gleichfalls anstecken. Wir sollten Gott danken, daß wir
- doch wenigstens noch _einen_ gesunden Stand haben, der noch nichts von
- diesen Launen und Einfällen weiß! Dafür müßten wir Gott unendlich
- dankbar sein. Jawohl -- der Landmann verdient unsere allergrößte Achtung
- -- wozu rührt ihr ihn also an? Gott gebe, daß alle Leute so wären wie
- er.«
- »Sie glauben also, es sei noch das Einträglichste sich mit der
- Landwirtschaft zu beschäftigen?« fragte Tschitschikow.
- »Das Sittlichste, wenn auch nicht gerade das Einträglichste. >Im
- Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen<, heißt es in der
- Bibel. Daran ist nicht zu rütteln und zu deuteln. Es ist durch eine
- hundertjährige Erfahrung erwiesen, daß die Beschäftigung mit dem
- Ackerbau den Menschen reiner, edler, besser und sittlicher macht. Ich
- sage nicht -- daß man nichts andres tun dürfe -- aber der Grund zu allem
- muß in der Landwirtschaft liegen ... das ist's. Die Fabriken werden
- schon ganz von selbst kommen; richtige, vernünftige Fabriken -- in denen
- Dinge hergestellt werden, die der Mensch hier, an Ort und Stelle
- braucht, und nicht all diese Luxusgegenstände, die nur zur Befriedigung
- eingebildeter Bedürfnisse dienen und die heute unsere Menschen nur
- verweichlichen. Nicht solche Fabriken, die um ihrer Existenz willen und
- um nur einen recht großen Absatz zu haben, zu den schändlichsten Mitteln
- ihre Zuflucht nehmen, und das unglückliche Volk verderben und verführen.
- Ich für meinen Teil, werde nie ein solches Unternehmen gründen, und wenn
- die Leute mir noch so viel von seinem Nutzen vorreden, ich werde mich
- nie dazu hergeben, jene sogenannten höheren Bedürfnisse zu erzeugen und
- Tabak, Zucker usw. zu produzieren, und wenn ich eine Million deswegen
- verlieren müßte. Wenn schon das Laster durchaus in die Welt kommen soll,
- dann will _ich_ wenigstens meine Hände nicht mit im Spiele haben! Ich
- will rein dastehen vor Gott ... Zwanzig Jahre lang lebe ich _in_ und
- _mit_ dem Volke; ich weiß, was das für Folgen hat.«
- »Was mich am meisten wundert, ist dies, daß man die Reste und Abfälle so
- gut verwerten und mit jedem Plunder Geld verdienen kann, vorausgesetzt
- natürlich, daß man sparsam und weise zu wirtschaften versteht.«
- »Hm! Und unsere Volkswirtschaftler!« fuhr Kostanshoglo fort, ohne auf
- ihn zu hören, und sein Gesicht nahm einen boshaften und sarkastischen
- Ausdruck an. »Tüchtige Leute diese Herren Ökonomen! Ein Narr sitzt auf
- dem andern. Die Kerls sehen nicht weiter als ihre dumme Nase reicht! Und
- so ein Esel steigt noch aufs Katheder, setzt die Brille auf und ...
- Narren!« Und wieder spuckte er ärgerlich aus.
- »Das ist alles sehr schön und richtig, ärgere dich aber doch bitte nicht
- so,« sagte die Frau, »als ob es nicht möglich ist, über diese Dinge zu
- reden, ohne gleich außer sich zu geraten.«(8)
- »Wenn man Ihnen zuhört, verehrter Konstantin Fjodorowitsch, dann beginnt
- man gewissermaßen den Sinn des Lebens zu verstehen, man erfaßt sozusagen
- den Kern der Sache. Aber gestatten Sie mir, einen Augenblick diese
- allgemeinmenschlichen Dinge beiseite zu lassen, und Ihre Aufmerksamkeit
- auf eine Privatangelegenheit zu richten. Nehmen wir einmal an, ich wäre
- Gutsbesitzer geworden, und hätte die Absicht, in kürzester Zeit zu
- Reichtum und Wohlstand zu gelangen, um damit sozusagen eine ernste
- Bürgerpflicht zu erfüllen, -- wie sollte ich das wohl anfangen?«
- »Wie man es anfangen soll, um reich zu werden?« fiel Kostanshoglo ein:
- »Ganz einfach: ...«
- »Das Abendessen ist fertig,« sagte die Hausfrau, indem sie sich vom Sofa
- erhob; sie ging in die Mitte des Zimmers und hüllte ihren jungen Körper
- zitternd in ihr Tuch.
- Tschitschikow sprang beinahe mit der Gewandtheit eines Militärs vom
- Stuhle auf, hielt ihr höflich den Arm hin und führte sie feierlich durch
- zwei Zimmer hindurch bis in den Speisesaal, wo schon die offene
- Suppenterrine auf dem Tische stand und einen angenehmen würzigen Duft
- von frischen Wurzeln und Frühlingskräutern verbreitete. Alle Anwesenden
- nahmen Platz. Die Bedienten setzten die Speisen in zugedeckten Schüsseln
- nebst allem Zubehör rasch und sicher auf den Tisch nieder und entfernten
- sich. Kostanshoglo liebte es nicht, daß die Dienstboten mit anhörten,
- was bei Tische gesprochen wurde, oder daß sie ihm in den Mund sahen,
- während er aß.
- Nachdem Tschitschikow mit der Suppe fertig war und ein Gläschen von
- einem ganz vorzüglichen Getränk, das wie Ungarwein schmeckte, geleert
- hatte, wandte er sich abermals an den Hausherrn: »darf ich noch einmal
- auf den Gegenstand unseres soeben unterbrochenen Gesprächs zurückkommen,
- Verehrtester. Ich wollte Sie fragen, wie man es anfangen, was man tun
- muß, wie man sich verhalten soll ...«[4]
- * * * * *
- .... »Selbst wenn er vierzigtausend für sein Gut verlangen sollte, würde
- ich sie ihm an Ihrer Stelle sofort auf den Tisch legen.«
- »Hm!« Tschitschikow wurde nachdenklich. »Und warum kaufen Sie es denn
- nicht selber?« sagte er dann mit einer gewissen Schüchternheit.
- »Alles hat seine Grenze. Ich habe schon mit _meinen_ Gütern genug zu
- tun. Und dann schreien unsere Adeligen ohnedies schon, daß ich mir ihre
- verzweifelte Lage zunutze mache und ihre Ländereien für einen Spottpreis
- aufkaufe. Das habe ich bald satt.«
- [Fußnote 4: Hier fehlen zwei Seiten im Manuskript. Dazu hat Schewyrew in
- der ersten Auflage folgende Bemerkung gemacht: Das Gespräch zwischen
- Tschitschikow und Kostanshoglo weist hier eine größere Lücke auf. Man
- muß annehmen, daß Kostanshoglo Tschitschikow den Vorschlag macht, das
- Gut seines Nachbars Chlobujew zu erwerben.
- Anm. des Herausgebers.
- ]
- »Daß doch die Menschen immer schlecht von einem reden müssen!« sagte
- Tschitschikow.
- »Und erst in unserer Provinz! Das können Sie sich garnicht vorstellen:
- man nennt mich hier garnicht anders als einen Filz und Geizhals. Sich
- selbst verzeihen sie alles. Da heißt es immer: >Ich habe freilich alles
- durchgebracht; aber das kommt daher, weil ich eben höhere Bedürfnisse
- hatte, weil ich die Handelsleute und Industriellen (er sollte lieber
- sagen, die Lumpen und Gauner!) unterstützte; freilich wenn man wie ein
- Schwein lebt, so wie dieser Kostanshoglo< ...«
- »Ich wollte, ich wäre selbst ein solches Schwein!« sagte Tschitschikow.
- »Alles Unsinn! Was sind das für höhere Bedürfnisse! Wem wollen sie denn
- was weismachen? Wenn sie sich auch ein paar Bücher anschaffen, -- sie
- lesen sie ja doch nicht. Na, und was übrig bleibt, das sind schließlich
- die Kosten und der ... Und das alles kommt bloß daher, weil ich keine
- Diners gebe und ihnen kein Geld leihen will. Diners gebe ich nun einmal
- nicht, weil mir das unbequem ist: das bin ich halt nicht gewöhnt. Will
- einer zu mir kommen und an meiner Tafel mitessen -- mit dem größten
- Vergnügen. Und daß ich kein Geld leihe -- das ist ganz einfach nicht
- wahr. Wenn jemand zu mir kommt, der wirklich Not leidet und mir genau
- Rechenschaft gibt, was er mit meinem Gelde anzufangen gedenkt: wenn ich
- aus seinen Worten entnehme, daß er einen vernünftigen Gebrauch davon
- machen und daß ihm das Geld einen wirklichen Gewinn eintragen wird, dann
- werde ich es ihm nicht abschlagen und nicht einmal Zinsen dafür
- verlangen.«
- »Das muß ich mir merken,« dachte Tschitschikow.
- »So einem werde ich es nie abschlagen,« fuhr Kostanshoglo fort. »Aber
- mein Geld aus dem Fenster zu schmeißen, fällt mir auch nicht ein. Nein,
- da muß man mich schon entschuldigen. Hol's der Teufel! Da kriegt einer
- den Einfall, seiner Maitresse ein Diner zu geben, oder er will sein Haus
- luxuriös ausstatten; will wie ein Verrückter, mit irgend einem
- Frauenzimmer auf den Maskenball gehen, oder ein Jubiläum feiern, weil er
- so und soviel Jahre lang müßig auf der Welt herumläuft -- und dazu soll
- ich ihm noch Geld leihen!«
- Hier spuckte Kostanshoglo ärgerlich aus und hätte in Gegenwart seiner
- Frau beinah ein paar unanständige Schimpfworte fallen lassen. Der
- dunkele Schatten einer finsteren Hypochondrie verdüsterte sein Gesicht.
- Zahlreiche Quer- und Längsfalten bedeckten seine Stirn, ein deutliches
- Zeichen dafür, wie heftig sich in ihm die Galle regte.
- »Gestatten Sie mir, hochverehrter Herr, Ihre Aufmerksamkeit noch einmal
- auf den Gegenstand unseres soeben unterbrochenen Gesprächs
- zurückzulenken,« sagte Tschitschikow und stürzte noch ein Gläschen
- Himbeerlikör herunter, der wirklich ganz vorzüglich war. »Nehmen wir
- einmal an, ich kaufte jenes Gut, das Sie zu erwähnen geruhten, was
- denken Sie wohl? wie schnell und in wie langer Zeit könnte man wohl so
- reich werden, daß ...«
- »Wenn Sie durchaus _schnell_ reich werden wollen,« unterbrach ihn
- Kostanshoglo kurz und streng, »dann werden Sie niemals reich werden;
- wenn Sie dagegen die feste Absicht haben, reich zu werden, und nicht
- nach der Zeit fragen, dann werden Sie sehr schnell zu Ihrem Ziele
- kommen.«
- »Wirklich?« sagte Tschitschikow.
- »Ja,« versetzte Kostanshoglo kurz, es schien fast, daß er sich über
- Tschitschikow ärgerte, »man muß die Arbeit lieb haben, ohne das kann man
- nichts erreichen. Man muß an der Landwirtschaft Freude haben! -- Jawohl!
- Und glauben Sie mir -- sie ist gar nicht langweilig. Das ist auch so ein
- neuer Einfall, daß es auf dem Lande langweilig ist ... ich für meinen
- Teil käme vor Langerweile um, wenn ich auch nur einen Tag in der Stadt
- verbringen müßte, so wie diese Herrschaften ihre Zeit totschlagen: in
- ihren Klubs, und Restaurants und Theatern. Narren! Nichts als Narren.
- Eine ganze Generation von lauter Eseln! Ein Landwirt hat keine Zeit zur
- Langenweile. In seinem Leben gibt es keine leeren Zwischenräume -- jeder
- Augenblick ist ausgefüllt. Schon diese Mannigfaltigkeit seiner
- Beschäftigung, seiner Tätigkeit! -- und welch einer Tätigkeit! -- diese
- Tätigkeit hat etwas wahrhaft Erhebendes für Herz und Geist! Sagt was ihr
- wollt, der Mensch geht hier doch gewissermaßen Hand in Hand mit der
- Natur, wird zum Mitwisser und Mitarbeiter an der ganzen Schöpfung, an
- allem, was rund herum um ihn vorgeht. Sehen Sie doch nur hin, was das
- ganze Jahr über alles geschafft werden muß: wie noch vor Anbruch des
- Frühlings alles auf dem Posten ist und auf seine Ankunft wartet: da muß
- die Aussaat vorbereitet, das Korn in den Scheunen noch einmal
- durchgesehen, gemessen und getrocknet, da muß nachgerechnet werden,
- wieviel Arbeit zu allem erforderlich sein wird. Alles wird im voraus
- überlegt und dann ein Überschlag gemacht. Und wenn dann das Eis bricht
- und die Flüsse frei werden, wenn dann alles trocken ist und die Erde
- sich lockert -- dann arbeitet in den Gärten und Gemüsebeeten der Spaten,
- und Pflug und Egge im Felde: man pflanzt, man setzt, man sät. Verstehen
- Sie, was das heißt? Das ist wohl eine Kleinigkeit? Es ist die künftige
- Ernte, die hier vorbereitet wird! Der Segen des ganzen Landes wird hier
- ausgesät. Die Nahrung für Millionen! ... Dann kommt der Sommer ... Nun
- beginnt die Heuernte, man mäht und mäht ... Doch jetzt kommt die
- Erntezeit; erst der Roggen, dann der Weizen, dann Gerste und Hafer.
- Alles ist in fieberhafter Tätigkeit; da heißt's keinen Augenblick
- verlieren, man möchte zwanzig Augen haben, und doch hätte keines Zeit
- zum Ruhen. Und wenn dann alles fertig ist und auf die Tenne gebracht und
- zu Garben zusammengebunden ist -- dann muß man schon wieder weiter
- denken; der Acker muß für die Wintersaat gepflügt, die Scheunen, die
- Darren, die Viehställe müssen geputzt werden, dazu kommt noch die ganze
- Frauenarbeit -- wenn man dann die Summe zieht, so sieht man erst, was
- man geleistet hat; aber da ist ja ... Und erst der Winter! Da wird auf
- allen Tennen gedroschen und dann das gedroschene Korn von den Darren in
- die Scheunen gebracht. Man geht in die Mühlen und in die Fabriken,
- besucht die Arbeitswerkstätten und die Bauern und sieht, was sie tun und
- treiben. Ach, ich kann Ihnen sagen, wenn ein Zimmermann mit der Axt
- umzugehen weiß, dann kann ich zwei Stunden lang dastehen und ihm
- zuschauen, so ein Vergnügen macht mir's, ihn arbeiten zu sehen. Und wenn
- man fühlt, daß diese ganze Tätigkeit einen Sinn und ein Ziel hat, wie um
- uns her alles wächst und sich mehrt und Frucht und Gewinn bringt -- ich
- kann Ihnen garnicht sagen, was dann in einem vorgeht. Nicht deshalb,
- weil sich das Geld vermehrt -- Geld ist natürlich auch eine schöne Sache
- -- aber weil das alles das Werk deiner Hände ist; weil du siehst, daß du
- selbst die Ursache, der Schöpfer von alledem bist, und daß du wie irgend
- ein Magier oder Zauberer nichts wie Wohlstand, Glück und Überfluß über
- alles ausschüttest. Nun, sagen Sie, können Sie sich einen höheren Genuß
- vorstellen?« fuhr Kostanshoglo fort und blickte empor; die Falten waren
- verschwunden. Wie ein König am Tage seiner feierlichen Krönung, so
- strahlte er in heller Freude, und sein Gesicht schien zu leuchten.
- »Nein, Sie werden auf der ganzen Welt keinen ähnlichen Genuß finden!
- Denn hierin ahmt der Mensch den Schöpfer nach: Gott hat sich das
- Schaffen als den höchsten aller Genüsse vorbehalten, und er verlangt vom
- Menschen, daß auch er gleich Ihm um ihn herum Glück und Wohlergehen
- schaffe. Und das nennt man eine langweilige Beschäftigung!«
- Wie der Gesang eines Paradiesvogels erschienen Tschitschikow die
- süßtönenden Reden des Hausherrn, an denen er sich garnicht satt hören
- konnte. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Seine Augen strahlten
- einen fettigen Glanz aus und nahmen einen zuckersüßen Ausdruck an; er
- hätte immer weiter zuhören mögen.
- »Konstantin, ich glaube, es ist Zeit, daß wir uns erheben,« sagte die
- Hausfrau und stand auf. Alle folgten ihr. Tschitschikow bot der Wirtin
- den Arm und führte sie in den Salon zurück, aber diesmal fehlte es
- seinen Bewegungen an der gewohnten Leichtigkeit und Gewandheit, denn
- seine Gedanken wurden von anderen weit wichtigeren Fragen bewegt.
- »Du magst sagen, was du willst, es ist trotz alledem trostlos und
- langweilig,« erklärte Platonow, der hinter ihnen herging.
- »Der Gast ist kein dummer Kerl,« dachte der Hausherr; »er ist
- aufmerksam, sehr gesetzt und würdig in seinen Reden und vor allem kein
- Schwätzer.« Bei diesem Gedanken wurde er noch fröhlicher; die
- Unterhaltung schien ihn warm gemacht zu haben, und er freute sich, daß
- er einen Menschen gefunden hatte, der es verstand, seine weisen
- Ratschläge mit Verstand entgegenzunehmen.
- Und als man dann in dem gemütlichen Zimmer, in dem einige Kerzen ein
- angenehmes Licht verbreiteten, dem Balkon gegenüber Platz nahm, als die
- Sterne hoch über den Baumwipfeln des schlafenden Gartens freundlich zu
- ihnen durch die Glastür hereinblinkten, da wurde es Tschitschikow so
- wohlig zu mute, wie schon lange nicht mehr: wie wenn er sich endlich
- nach langen Irrfahrten unter dem trauten Dach des Vaterhauses befände,
- wie wenn er schon alles sein eigen nannte, wonach sein Herz begehrte,
- und mit dem Worte »Genug« seinen Pilgerstab in die Ecke gestellt hätte.
- Diese beglückende Stimmung verdankte er den klugen Reden des gastfreien
- Hausherrn. Für jeden Menschen gibt es gewisse Worte, die ihm lieber und
- vertrauter sind, als alle andern Worte. Und oft geschieht es, daß man
- irgendwo in einem entlegenen Nest, unter lauter Larven einen Menschen
- findet, dessen erwärmende Unterhaltung einen den unwegsamen Weg, die
- Unbequemlichkeiten des Nachtlagers, den Mißton des heutigen Treibens und
- den Trug vergessen läßt, der den Menschen umgarnt. Mit unbegreiflicher
- Lebhaftigkeit prägt sich ein so verbrachter Abend für alle Zeiten
- unserer Erinnerung ein, mit rührender Treue bewahrt sie uns jede noch so
- kleine Einzelheit auf: wer zugegen war, wo ein jeder saß, was er in der
- Hand hielt: die Wände, die Zimmerecken und jede unbedeutende
- Kleinigkeit.
- Ganz so erging es Tschitschikow an jenem Abend, alles prägte sich seinem
- Gedächtnis tief ein: das freundliche schlicht möblierte Zimmer, der
- gutmütige Ausdruck im Gesicht des klugen Hausherrn, ja selbst das
- Tapetenmuster, die Pfeife mit dem Bernsteinmundstück, die Platonow
- gereicht wurde, der Rauch, den er Jarb in seine dicke Schnauze blies,
- Jarbs ärgerliches Schnauben, das Lachen der lieblichen Hausfrau, ihre
- vorwurfsvollen Worte: »Laß ihn doch, quäl doch das Tier nicht so.« Die
- lustig flackerndern Kerzen, das zirpende Heimchen in der Zimmerecke, die
- Glastür, die Frühlingsnacht, die über die hohen Baumwipfel schwebend zu
- ihnen hineinblickte, der schwarze mit funkelnden Sternen übersäte
- Himmel, und der helle Gesang der Nachtigallen, die ihr Lied aus der
- Tiefe grünblättriger Haine laut hinausschmetterten in die herrliche
- Nacht ...
- »Wie Ihre Reden mein Herz laben! hochverehrter Konstantin
- Fjodorowitsch!« sagte Tschitschikow. »Ich kann wohl sagen, ich habe in
- ganz Rußland keinen Menschen getroffen, der Ihnen an Verstand
- gleichkäme.«
- Der andere lächelte, fühlte er doch selbst, daß Tschitschikow unrecht
- hatte. »Nein, nein, wenn Sie einen wirklich klugen Menschen kennen
- lernen wollen, -- hier ist einer, von dem man tatsächlich sagen kann: --
- das ist ein kluger Mensch; ich bin nicht wert, ihm die Schuhriemen
- aufzubinden.«
- »Wer ist denn das?« fragte Tschitschikow erstaunt.
- »Das ist unser Branntweinpächter Murasow.«
- »Ich höre schon zum zweiten Mal von ihm!« rief Tschitschikow aus.
- »Das ist ein Mensch! Der könnte nicht bloß ein Gut, der könnte einen
- ganzen Staat verwalten. Hätte ich ein Königreich, ich würde ihn sofort
- zu meinem Finanzminister ernennen.«
- »Man sagt, er sei ein Mann, der jeden Maßstab der Wahrscheinlichkeit
- übersteigt: er soll sich zehn Millionen erworben haben.«
- »Ach was zehn! Die vierzig sind schon überschritten. Bald wird halb
- Rußland ihm gehören!«
- »Was sagen Sie!« rief Tschitschikow, indem er den Mund öffnete und sein
- Gegenüber erstaunt anstarrte.
- »Unbedingt! Das ist ganz klar. Wer nur ein paar Hunderttausende besitzt,
- der wird langsam reich, wer dagegen Millionen hat, der hat sozusagen
- einen gewaltigen Wirkungsradius: was er ergreift, das verdoppelt und
- verdreifacht sich in seiner Hand: er hat ein zu weites Feld, einen zu
- großen Spielraum. Da gibt's keine Nebenbuhler. Mit ihm kann sich keiner
- messen. Er kann die Preise ansetzen, sie können nicht sinken, denn es
- ist ja niemand da, der ihn unterbieten könnte.«
- »Herrgott, Herrgott!« sagte Tschitschikow und schlug ein Kreuz.
- Tschitschikow sah Kostanshoglo ins Auge, und der Atem wollte ihm
- ausgehen: »Das ist ja geradezu unfaßbar! Man wird ganz starr vor
- Schrecken! Man bewundert die Weisheit der Schöpfung, wenn man einen
- Käfer betrachtet; ich für meinen Teil finde es weit wunderbarer, daß
- solch gewaltige Summen durch die Hand _eines_ Sterblichen gehen können.
- Darf ich Sie noch nach einer Sache fragen: sagen Sie, bei der Gründung
- dieses Vermögens ist es doch wohl nicht ganz sauber zugegangen?«
- »Im Gegenteil, der Mann steht völlig rein da, er hat sich stets nur der
- saubersten Mittel bedient.«
- »Das ist unmöglich, das kann ich nicht glauben! Wenn es sich bloß um
- Tausende handelte, aber hier geht es um Millionen ...«
- »Umgekehrt. Tausende erschwindelt man sich, die Millionen dagegen werden
- leicht erworben. Ein Millionär braucht die krummen Wege nicht: er
- braucht nur immer geradeauszugehen und zu nehmen, was vor ihm liegt. Ein
- andrer kann's eben nicht aufheben, es fehlt ihm die Kraft dazu -- der
- Millionär aber hat keine Nebenbuhler, sein Wirkungsradius ist zu groß ..
- ich sage Ihnen ja, was er ergreift, verdoppelt und verdreifacht sich ...
- Was bringen dagegen ein paar Tausende ... zehn bis zwanzig Prozent.« ...
- »Was ich am unbegreiflichsten finde, ist, daß er mit ein paar Kopeken
- angefangen haben soll!«
- »Das ist nun mal nicht anders. Das ist eben der Lauf der Dinge,« sagte
- Kostanshoglo. »Wer reich geboren und erzogen ist, und von Jugend auf
- immer mit Tausenden zu tun hat, der erwirbt sich nicht noch was hinzu,
- der hat schon allerhand Launen, Bedürfnisse und weiß Gott was noch
- alles! Man muß von Anfang an anfangen und nicht mit der Mitte -- mit der
- Kopeke und nicht mit dem Rubel -- von unten und nicht von oben: dann
- erst lernt man die Welt und die Menschen ordentlich kennen, unter denen
- man später leben muß. Wenn man erst das eine und das andre am eignen
- Leibe gespürt und die Erfahrung gemacht hat, daß jede Kopeke, wie es
- heißt, mit einem Rubel festgenagelt ist, und wenn man erst alles
- durchgemacht und alle Prüfungen überstanden hat, dann wird man klug und
- besitzt Erfahrung genug, um keine Schnitzer zu machen und bei seinen
- Unternehmungen nicht Schiffbruch zu leiden. Glauben Sie mir, ich spreche
- die Wahrheit. Man muß von Anfang anfangen und nicht mit der Mitte. Wer
- mir sagt: >Gib mir hunderttausend Rubel, dann sollst du sehen, wie
- schnell ich reich werde,< dem glaube ich nicht; der spekuliert auf das
- Glück und geht nicht sicher. Man muß mit der Kopeke anfangen.«
- »In diesem Falle müßte ich einmal sehr reich werden,« versetzte
- Tschitschikow und mußte unwillkürlich an die toten Seelen denken: »denn
- ich fange in der Tat mit nichts an.«
- »Konstantin, es ist wirklich Zeit, daß wir Pawel Iwanowitsch etwas Ruhe
- gönnen; er will sicher schlafen gehen,« sagte die Hausfrau, »du aber
- plauderst immer weiter.«
- »Natürlich werden Sie reich werden,« erwiderte Kostanshoglo, ohne auf
- seine Frau zu hören. »Passen Sie auf, das Gold wird Ihnen noch einmal in
- Strömen zufließen. Sie werden gar nicht wissen, wo Sie damit hin
- sollen.«
- Pawel Iwanowitsch war ganz wie verzaubert, er schwebte wie in einem
- herrlichen Reiche schmeichelnder Träume und Hoffnungen. Es war ihm ganz
- wirr im Kopfe. Seine feurige Einbildungskraft webte goldene Blumen in
- den silbernen Teppich seines mächtig anschwellenden Reichtums, und immer
- wieder klangen ihm Kostanshoglos Worte in den Ohren: »Das Gold wird
- Ihnen noch einmal in Strömen zufließen.«
- »Wirklich Konstantin, für Pawel Iwanowitsch ist es Zeit schlafen zu
- gehen.«
- »Was hast du nur? Geh doch schlafen, wenn du Lust hast,« sagte der
- Hausherr und hielt inne; Platonow schnarchte so laut, daß das ganze
- Zimmer dröhnte, und neben ihm lag Jarb, der fast noch lauter schnarchte,
- als sein Herr. Jetzt erst merkte Kostanshoglo, daß es in der Tat Zeit
- zum Schlafengehen war, er rüttelte daher Platonow auf und sagte:
- »Schnarch doch nicht so!«, dann wünschte er Tschitschikow eine gute
- Nacht, alle gingen auseinander, und bald lag jeder in seinem Bett in
- tiefen Schlaf versunken.
- Nur Tschitschikow konnte nicht einschlafen. Seine Gedanken wollten nicht
- zur Ruhe kommen. Er sann unaufhörlich darüber nach, wie er es anfangen
- sollte, der Besitzer eines wirklichen, echten und keines bloß
- eingebildeten oder phantastischen Gutes zu werden. Nach dem Gespräch mit
- dem Hausherrn war ihm mit einem Male alles klar! Die Möglichkeit, reich
- zu werden, lag in greifbarer Deutlichkeit vor ihm! Der so schwierige
- Beruf des Landwirts erschien ihm plötzlich so leicht, so einfach und
- natürlich, und ganz wie geschaffen für seine Natur! Wenn er nur erst
- seine Hypothek auf diese Toten hätte und Besitzer eines reellen Gutes
- wäre. Schon sah er sich im Geist alles verwalten und lenken -- ganz wie
- Kostanshoglo es ihn gelehrt hatte -- gewandt, umsichtig und sicher, ohne
- vorzeitige Neuerungen einzuführen, ehe er das Alte gründlich kennen
- gelernt hatte; alles sah er sich mit eigenen Augen an, er kannte alle
- Bauern persönlich, versagte sich jeden Luxus und Überfluß und widmete
- sich allein der Arbeit und dem Haushalt. Er genoß schon im voraus die
- große Freude, die ihn erwartete, wenn überall strenge Ordnung herrschen,
- alle Räder der Wirtschaftsmaschine sich munter bewegen und eins das
- andere vorwärts stoßen und zur Tätigkeit anspornen würde. Überall Leben
- und geschäftige Tätigkeit; wie in einer lustig klappernden Mühle sich
- das Korn im Handumdrehen verwandelt, so sollten in seiner Mühle alle
- Abfälle und jeglicher Plunder zu Staub zermahlen werden, um als bares
- Geld wieder herauszukommen. Sein wunderbarer Gastfreund stand beständig
- vor ihm und verließ ihn keinen Augenblick. Das war der erste Mann in
- ganz Rußland, vor dem er eine ganz persönliche Hochachtung empfand. Bis
- auf den heutigen Tag hatte er einen Menschen nur wegen seiner Titel und
- Würden oder weder seines hohen Einkommens geachtet: des Verstandes wegen
- hatte er eigentlich noch nie jemand besonders hoch geschätzt.
- Kostanshoglo war der erste Mann, mit dem es ihm anders ging.
- Tschitschikow fühlte, daß er sich mit diesem Menschen auf keine Kniffe
- und Kunststücke einlassen dürfe, und daher beschäftigte ihn jetzt ein
- ganz anderes Projekt -- der Ankauf des Chlobujewschen Gutes. Er besaß
- selbst zehntausend Rubel, fünfzehntausend hoffte er von Kostanshoglo
- leihen zu können; hatte dieser doch selbst erklärt, er sei bereit, jedem
- zu helfen, der zu Reichtum und Wohlstand kommen wolle; den Rest --
- dachte er durch eine Hypothek zu decken, schlimmstenfalls aber konnte er
- den Verkäufer warten lassen. Das ging schließlich auch: mochte jener
- sich doch mit den Gerichten herumplagen, wenn es ihm Spaß machte! Und
- lange noch lag er so da und dachte darüber nach, bis schließlich
- Morpheus, der, wie man zu sagen pflegt, das ganze Haus schon vier
- Stunden lang in seinen Armen hielt, sich auch seiner erbarmte. Bald war
- Tschitschikow in einen tiefen Schlaf versunken.
- Viertes Kapitel.
- Am folgenden Tage ging alles, wie es sich nicht besser wünschen ließ.
- Kostanshoglo schoß Tschitschikow bereitwilligst zehntausend Rubel vor,
- ohne Zinsen oder eine Bürgschaft zu verlangen; dieser mußte ihm bloß
- eine gewöhnliche Quittung ausstellen: so gern half er jedem, der sich
- Besitz und Wohlstand erwerben wollte. Aber mehr noch; er erbot sich,
- Tschitschikow persönlich zu Chlobujew zu begleiten, um das Gut mit ihm
- zusammen in Augenschein zu nehmen. Tschitschikow war in der besten
- Laune. Nach einem reichlichen Frühstück machten sich alle auf den Weg,
- nachdem alle drei in Pawel Iwanowitschs Wagen Platz genommen hatten: die
- leeren Kutschen des Hausherrn folgten ihnen in einiger Entfernung nach.
- Jarb lief voraus und scheuchte die Vögel am Wege. Fünfzehn Werst lang
- sah man auf beiden Seiten nichts als Wälder und Ackerland, das zu
- Kostanshoglos Gute gehörte. Sowie aber dieses zu Ende war, änderte sich
- das Bild ganz plötzlich; das Korn stand niedrig, und statt der Wälder
- erblickte man überall nichts als Baumstümpfe. Trotz der hübschen Lage
- merkte man es dem Nachbargut an, daß es schon lange Zeit vernachlässigt
- worden war. Zuerst kam man an einem neuen steinernen Hause vorüber, das
- aber unbewohnt war, denn es war noch nicht vollendet; auf dieses folgte
- ein zweites bewohntes, das dem Gutsherrn gehörte. Die Gäste fanden den
- Gutsherrn noch ungekämmt und verschlafen; er war nämlich erst vor kurzem
- aufgestanden. Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein; sein Halstuch saß
- schief, sein Rock war geflickt, und der eine Stiefel hatte ein Loch.
- Er war hocherfreut über die Ankunft der Gäste, als ob Gott weiß was
- geschehen wäre: man hätte glauben können, er sähe seine Brüder nach
- langer Trennung zum ersten Male wieder.
- »Konstantin Fjodorowitsch! Platon Michailowitsch! Nein solch eine
- Freude. Ich muß mir wirklich die Augen reiben! Ich dachte schon, zu mir
- kommt keiner mehr. Jeder geht mir aus dem Wege, wie der Pest: alle Leute
- denken, ich will sie um Geld anbetteln. Ja, ja, Konstantin
- Fjodorowitsch. Das Leben ist schwer. Ich sehe -- ich bin selbst schuld
- an allem. Aber, was soll ich tun? Ich lebe wie ein Schwein. Verzeihen
- Sie bitte, meine Herren, daß ich Sie in einem solchen Kostüm empfange:
- Sie sehen, meine Stiefel sind durchlöchert. Was darf ich Ihnen
- vorsetzen?«
- »Bitte, ganz ohne Umstände! Wir wollen ein Geschäft mit Ihnen machen.
- Hier haben Sie einen Käufer für Ihr Gut; Pawel Iwanowitsch
- Tschitschikow,« sagte Kostanshoglo.
- »Ich freue mich von Herzen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Bitte, lassen
- Sie mich Ihre Hand drücken!«
- Tschitschikow reichte ihm beide Hände.
- »Ich würde Ihnen gern mein Gut zeigen, verehrtester Pawel Iwanowitsch,
- es ist sehr interessant ... Aber darf ich zuvor fragen, meine Herren, ob
- Sie auch gegessen haben?«
- »Freilich haben wir gegessen,« versetzte Kostanshoglo, der ihn möglichst
- schnell los sein wollte. »Wir wollen keine Zeit verlieren und das Gut
- gleich jetzt besichtigen.«
- »Gut, dann wollen wir gehen.« Chlobujew nahm seine Mütze in die Hand.
- »Kommen Sie, Sie sollen selbst sehen, wie unordentlich und liederlich
- ich bin.«
- Die Gäste setzten ihre Hüte auf und schritten die Dorfstraße hinab.
- Zu beiden Seiten der Straße standen finstere elende Hütten mit winzigen
- Fenstern, die mit alten Lappen zugestopft waren.
- »Ja, kommen Sie, Sie sollen selbst sehen, wie unordentlich und
- liederlich ich bin,« sagte Chlobujew. »Es war natürlich sehr vernünftig
- von Ihnen, daß Sie schon gegessen haben. Sie werden mir's nicht glauben,
- Konstantin Fjodorowitsch, ich habe nicht einmal ein Huhn mehr im Hause,
- soweit ist's mit mir gekommen!«
- Er seufzte, und da er wohl ahnte, daß er bei Konstantin Fjodorowitsch
- nur wenig Teilnahme finden werde, nahm er Platonow unter den Arm und
- ging mit ihm voraus, indem er seine Hand kräftig an sich drückte,
- Kostanshoglo und Tschitschikow blieben ein wenig zurück und folgten
- ihnen Arm in Arm in einiger Entfernung.
- »Man hat's nicht leicht, Platon Michailowitsch, wahrhaftig!« sagte
- Chlobujew zu Platonow. »Sie können sich's garnicht vorstellen, wie
- schwer man es hat! Kein Geld, kein Korn, keine Stiefel -- für Sie sind
- das freilich alles bloß Worte einer fremden Sprache. Das wäre natürlich
- nicht so schlimm, wenn man noch jung und unverheiratet wäre. Aber wenn
- all diese Sorgen und dies Ungemach einen im Alter überfallen und man hat
- noch dazu ein Weib und fünf Kinder -- dann verliert man den Mut, ob man
- will oder nicht ...«
- »Und wenn Sie das Gut verkaufen -- glauben Sie, daß Ihnen damit geholfen
- wäre?« fragte Platonow.
- »Ach was! Geholfen!« versetzte Chlobujew mit einer hoffnungslosen
- Gebärde. »Es wird _doch_ alles bei der Bezahlung der Schulden
- draufgehen, ich selbst werde keine tausend Rubel übrig behalten!«
- »Und was wollen Sie dann anfangen?«
- »Das weiß Gott allein.«
- »Warum tun Sie denn gar nichts, um aus diesen Verhältnissen
- herauszukommen?«
- »Was soll ich denn machen?«
- »Nehmen Sie doch irgend eine Stellung an.«
- »Ich habe ja keinen Rang und keine Titel. Was kann ich für eine Stellung
- annehmen? Ich kann höchstens einen ganz unbedeutenden Posten erhalten.
- Und was soll ich mit einem Gehalt von fünfhundert Rubeln anfangen? Ich
- habe doch eine Frau und fünf Kinder.«
- »Nehmen Sie doch eine Stellung als Verwalter auf einem Gute an.«
- »Wer wird mir denn sein Gut anvertrauen, wo ich selbst alles
- durchgebracht habe!«
- »Ja aber man muß doch etwas unternehmen, wenn man vor dem Hungertode
- steht. Ich will meinen Bruder fragen, ob er Ihnen nicht durch irgend
- einen Bekannten eine Stelle in der Stadt verschaffen kann.«
- »Nein, Platon Michailowitsch,« sagte Chlobujew seufzend und drückte
- Platonow kräftig die Hand. »Ich tauge doch zu nichts mehr! Ich bin
- vorzeitig alt geworden, und leide an Kreuzschmerzen und an Rheumatismus.
- Das sind die alten Sünden! Was kann ich denn leisten? Wozu soll ich den
- Staat plündern? Es gibt jetzt ohnedies genug Leute, die nur deshalb in
- den Staatsdienst treten, weil sie ein warmes Plätzchen haben wollen.
- Gott behüte! Ich will nicht, daß den armen Leuten noch neue Steuern
- aufgehalst werden, damit ich nur mein Gehalt ausbezahlt bekomme!«
- »Das sind die Folgen seiner ausschweifenden Lebensweise!« dachte
- Platonow. »Das ist noch schlimmer als meine Lethargie.«
- Während sie so sprachen, ging Kostanshoglo mit Tschitschikow hinter
- ihnen her; er war ganz außer sich vor Wut.
- »Da, sehen Sie,« sagte er, indem er mit dem Finger auf das Dorf wies:
- »was er aus den Bauern gemacht hat! Dieses Elend! Nicht mal Pferd und
- Wagen haben sie mehr. Wenn eine Viehseuche im Lande ausbricht, -- dann
- darf man nicht mehr an sein eigenes Hab und Gut denken: da verkauft man
- eben alles und schafft neues Vieh für den Bauer an, damit er auch nicht
- _einen_ Tag ohne die notwendigen Arbeitswerkzeuge bleibt. Aber das da
- läßt sich nicht so schnell wieder gut machen. Dazu braucht man viele
- Jahre. Der Bauer ist ja auch schon ganz verändert, er bummelt und säuft.
- Wenn man ihn nur ein einziges Jahr lang ohne Arbeit sitzen läßt, dann
- hat man ihn für alle Zeiten verdorben: er gewöhnt sich daran, in Lumpen
- herumzulaufen und findet Geschmack am Vagabundenleben ... Und sehen Sie
- einmal das Land an. Nun was sagen Sie,« fuhr er fort, indem er auf die
- Wiesen deutete, die gleich hinter den Hütten sichtbar wurden. »Alles
- Land, das jedes Frühjahr überschwemmt ist. Ich würde da Flachs säen, der
- mir allein fünftausend Rubel einbringen würde, und dann würde ich Rüben
- pflanzen, die mir noch einmal viertausend eintragen müßten ... Sehen Sie
- sich bloß einmal den Roggen dort am Abhange an; da hat einer ein paar
- Körner verschüttet. Denn er hat ja doch kein Korn gesät -- das weiß ich.
- Und dort -- diese Schlucht! Da würde ich einen Wald anlegen. Die Stämme
- sollten mir bald bis an den Himmel reichen. Und so einen Schatz, so ein
- herrliches Stück Land läßt er brach liegen! Wenn man schon keinen Pflug
- hat, um es zu pflügen, dann nimmt man den Spaten, gräbt es um und
- pflanzt Gemüse darauf. Das gäbe einen prächtigen Gemüsegarten! Aber man
- muß den Spaten selbst in die Hand nehmen, muß Frau und Kinder und alle
- Dienstboten zu Hilfe nehmen, und arbeiten bis man hinfällt! Und wenn man
- schließlich selbst dabei zugrunde geht, dann hat man doch wenigstens
- seine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit getan, und ist doch nicht
- krepiert wie ein Schwein, weil man sich bei Tisch zu voll gefressen
- hat!« Hier spuckte Kostanshoglo zornig aus und eine finstere Wolke
- umschattete seine Stirn.
- Als sie sich dem Abhang näherten und in die mit wildem Beifuß bewachsene
- Schlucht hinabsahen, da leuchtete plötzlich eine Windung des Flusses
- hell auf, hinter ihm erhob sich ein dunkler Gebirgszug, und ein Teil vom
- Hause des Generals Betrischtschew, das in der Perspektive viel näher
- erschien, tauchte aus dem Gebüsch auf. Dahinter bemerkte man einen
- lockigen, mit Wald bewachsenen Berg, der in der Entfernung bläulich
- flimmerte. Dieser Berg brachte Tschitschikow auf den Gedanken, das
- könnte wohl das Gut Tentennikows sein, und er sagte, »wenn man hier
- einen Wald anpflanzen würde, -- dann gäbe es einen Anblick, der sich,
- was Schönheit anbelangt, ruhig mit ....«
- »Ach! Sie sind ein Freund von schönen Ausblicken,« sagte Kostanshoglo
- plötzlich, und sah ihn sehr streng an. »Nehmen Sie sich in acht, wenn
- Sie zuviel auf die schöne Aussicht geben, können Sie eines Tages ohne
- Brot und auch ohne alle Aussichten dasitzen. Fragen Sie lieber nach dem
- Nutzen und nicht nach der äußeren Schönheit. Die Schönheit wird schon
- von selbst kommen. Das beste Beispiel sind die Städte: die
- allerschönsten Städte sind die, welche gleichsam von selbst aus dem
- Boden gewachsen sind, wo jeder sich ein Haus nach seinem eigenen
- Geschmack und Bedürfnis gebaut hat. Die Städte dagegen, die alle nach
- einer Schablone gebaut sind, -- sehen aus wie Kasernen. Vergessen Sie
- die Schönheit und denken Sie vor allem an den Nutzen und an Ihre
- Bedürfnisse.«
- »Wie schade, daß man so lange warten muß! Man möchte alles recht schnell
- so sehen, wie man es zu haben wünscht ...«
- »Sie sind doch kein fünfundzwanzigjähriger Jüngling ...! Man merkt
- gleich den Petersburger Beamten ...! Geduld! Arbeiten Sie mal erst sechs
- Jahre nacheinander. Pflanzen, säen, graben Sie, ohne einen Augenblick
- auszuruhen. Es ist schwer, gewiß, es ist sogar _sehr_ schwer. Aber wenn
- Sie den Boden erst einmal gründlich aufgerüttelt haben, sodaß er Ihnen
- selbst hilft, so ist das gleich eine ganz andre Sache, als Ihre .... Ja,
- ja, Verehrtester, dann werden Sie merken, daß außer Ihren _siebzig_ noch
- _siebenhundert_ andre, _unsichtbare_ Hände an der Arbeit waren! Alles
- verzehnfacht sich! Ich brauchte jetzt keinen Finger zu rühren -- und
- doch ginge alles wie von selbst. Ja die Natur liebt die Geduld: das ist
- ein Gesetz, das uns der Herr selbst gegeben hat, _Er_ der die Geduldigen
- selig pries.«
- »Wenn man Sie reden hört, dann fühlt man neue Kraft durch seine Adern
- rinnen. Man bekommt Mut und Lust zum Schaffen!«
- »Sehen Sie doch, wie das Stück Land dort gepflügt ist!« rief
- Kostanshoglo mitleidig und bitter aus, indem er auf den Abhang zeigte.
- »Ich kann es hier nicht länger aushalten; diese Unordnung und
- Verwahrlosung bringt mich um. Sie können den Kauf mit ihm auch ohne mich
- abschließen. Nehmen Sie diesem Narren diesen Schatz so schnell als
- möglich ab. Er schändet bloß Gottes herrliche Natur!« Kostanshoglo war
- sehr aufgeregt und sah finster und ärgerlich drein. Er nahm Abschied von
- Tschitschikow, holte Chlobujew ein und verabschiedete sich gleichfalls
- von ihm.
- »Aber ich bitte Sie, Konstantin Fjodorowitsch!« sagte der Hausherr
- erstaunt, »Sie sind doch erst eben gekommen und wollen schon wieder
- fort!«
- »Ich kann nicht länger bleiben. Ich muß unbedingt wieder nach Hause
- fahren,« versetzte Kostanshoglo. Er verabschiedete sich, stieg in den
- Wagen und fuhr davon.
- Chlobujew schien den Grund seines plötzlichen Verschwindens begriffen zu
- haben.
- »Konstantin Fjodorowitsch hat's nicht ausgehalten,« sagte er, »für einen
- so tüchtigen Landwirt wie er ist es freilich kein Vergnügen, diese
- schreckliche Wirtschaft mit anzusehn. Glauben Sie mir, Pawel
- Iwanowitsch, ich habe in diesem Jahr nicht einmal Korn gesät. Mein
- Ehrenwort! Ich hatte keinen Samen, ganz abgesehen davon, daß ich keinen
- Pflug und kein Pferd habe, um zu pflügen. Man sagt, Ihr Bruder sei ein
- so vorzüglicher Wirt, Platon Michailowitsch; von Konstantin
- Fjodorowitsch will ich gar nicht reden! -- Das ist ein Napoleon in
- seinem Fach. Ich habe mich schon oft gefragt: Warum mußten sich soviel
- Geist und Verstand in einem Kopfe vereinigen. Warum konnte nicht auch
- für meinen Schädel wenigstens ein Tröpfchen übrig bleiben. Nehmen Sie
- sich in acht, meine Herren; beim Übergang über diesen Steg ist die
- größte Vorsicht geboten, wenn Sie nicht in die Pfütze plumpsen wollen.
- Ich habe im Frühjahr die Bretter ausbessern lassen ... Am meisten tun
- mir meine armen Bauern leid ... sie brauchen ein gutes Beispiel, aber
- was kann _ich_ ihnen für ein Beispiel geben? Was soll ich machen? Nehmen
- Sie sie mir ab, Pawel Iwanowitsch. Wie soll ich sie an Ordnung gewöhnen,
- wenn ich selbst ein so unordentlicher Mensch bin? Ich hätte sie am
- liebsten ganz freigelassen, aber das hätte ja auch keinen Sinn. Ich weiß
- sehr gut, daß man erst _andre Menschen_ aus ihnen machen muß, Menschen,
- die zu leben verstehen. Dazu bedürfte es eines gerechten und strengen
- Mannes, der immer mit ihnen zusammenlebt und sie durch sein eigenes
- Beispiel und seine unermüdliche Tätigkeit ... Ein Russe -- das sehe ich
- an mir selbst -- kann nicht ohne einen Menschen auskommen, der ihn
- aufmuntert und anspornt, sonst schläft er ein und versauert.«
- »Seltsam,« sagte Platonow, »woran liegt das bloß; daß der Russe immer
- gleich einschläft, und daß der gemeine Mann ein Taugenichts und ein
- Trunkenbold wird, wenn man ihn aus dem Auge läßt!«
- »Das macht der Mangel an Bildung,« bemerkte Tschitschikow.
- »Weiß Gott, woran das liegt. Wir haben doch auch eine gewisse Bildung,
- haben die Universität besucht, und wozu taugen wir? Was habe ich zum
- Beispiel gelernt? Verstehe ich es denn zu leben, eher habe ich es
- gelernt, mein Geld für allerhand Luxus und überflüssige Finessen
- auszugeben; und ich kenne bloß solche Dinge, die einen Geld kosten? --
- Aber glauben Sie nur nicht, daß das daher kommt, weil ich einen
- schlechten Unterricht genossen habe. -- Durchaus nicht, der Unterricht
- war nicht schlechter als der meiner Kameraden. Zweien oder dreien von
- ihnen hat er ja auch genützt, aber vielleicht nur deshalb, weil sie auch
- ohnedies gescheit und begabt genug waren, die übrigen haben für nichts
- Interesse, als wie man seine Gesundheit ruiniert und andern Leuten ihr
- Geld abnimmt. Bei Gott. Wissen Sie, was ich glaube: mitunter kommt es
- mir fast so vor, als ob der Russe -- ein verlorener Mensch ist. Wir
- wollen alles und können nichts. Alles verschieben wir auf morgen, dann
- nehmen wir uns vor, ein neues Leben zu beginnen, und strenge Diät zu
- halten; ja prosit, noch am selben Abend schlägt man sich den Bauch so
- voll, daß einem die Augenlider zusinken und man die Zunge kaum bewegen
- kann -- dann sitzt man da wie eine Eule und glotzt die andern Leute an
- -- wahrhaftig. Und so sind wir alle!«
- »Ja,« sagte Tschitschikow lächelnd, »so was kann vorkommen!«
- »Wir sind garnicht zum Vernünftigsein geboren. Ich glaube nicht, daß es
- vernünftige Menschen unter uns gibt. Selbst wenn ich mit meinen eigenen
- Augen sehe, daß ein Mensch ein geordnetes Leben führt, Geld verdient und
- erspart, dann traue ich ihm trotzdem nicht. Lassen Sie ihn erst einmal
- alt werden, früher oder später fällt er doch dem Teufel in die Krallen
- und bringt seinen letzten Heller durch. Und so sind alle: die Gebildeten
- wie die Ungebildeten. Nein, es fehlt uns eben noch etwas, ich weiß
- freilich selbst nicht recht, was es ist.«
- Auf dem Rückwege genoß man denselben Anblick. Eine grauenhafte Unordnung
- machte sich überall in unangenehmer Weise bemerkbar. Das einzige Neue
- war eine große Pfütze inmitten der Straße. Alles bot das Bild einer
- furchtbaren Verwilderung und Vernachlässigung dar: beim Gutsherrn wie
- beim Bauern. Ein böses Weib in einem fettigen groben Leinenrock hatte
- ein kleines Mädchen halbtot geprügelt und schimpfte nun, was das Zeug
- hält, auf eine dritte Person, indem sie alle Teufel zu Hilfe rief. Etwas
- weiter standen zwei Bauern und sahen mit stoischem Gleichmut zu, wie das
- betrunkene Weib sich ereiferte und schimpfte. Der eine kratzte sich die
- hintere Partie und der andere gähnte. Dieses Gähnen schien sich auch den
- Häusern und Gebäuden mitzuteilen, selbst die Dächer schienen zu gähnen.
- Dieser Anblick wirkte ansteckend auf Platonow, er konnte sich nicht
- enthalten gleichfalls zu gähnen. -- Ein Flicken saß auf dem andern. Bei
- einer Hütte ersetzte ein Haustor das Dach, die morschen, eingefallenen
- Fensterrahmen wurden von Stangen gestützt, welche aus der
- herrschaftlichen Scheune entwendet waren. Wie man sieht, hielt man sich
- im Haushalt an das System der Fabel von »Trischkas Kaphtan«, man trennte
- die Aufschläge und Rockschöße ab, um die Löcher im Ärmel zu stopfen.
- »Das ist gerade kein beneidenswerter Zustand,« sagte Tschitschikow, als
- sie nach gründlicher Besichtigung vor dem Hause anlangten ... Man begab
- sich ins Zimmer, und die Gäste waren erstaunt über die seltsame Mischung
- von Armut und dem Flitterglanz eines modernen Luxus. Auf dem Tintenfaß
- saß eine Figur, die wohl Shakespeare darstellen sollte, auf dem Tische
- lag ein eleganter Elfenbeinstift, mit dem sich der Hausherr den eigenen
- Rücken kratzte. Die Hausfrau war modern und geschmackvoll gekleidet, sie
- sprach von der Stadt, und vom Theater, das dort gerade eröffnet worden
- war. Die Kinder waren lustig und munter. Die Knaben und die Mädchen
- trugen hübsche und geschmackvolle Kleider. Es wäre freilich besser
- gewesen, sie hätten bunte Leinenröcke und schlichte Hemdchen angezogen,
- und wären im Hofe herumgelaufen ganz wie die einfachen Bauernkinder.
- Bald erschien auch eine Dame, die der Hausfrau einen Besuch machte, eine
- schreckliche Schwätzerin, die furchtbar viel unnützes und törichtes Zeug
- plapperte. Die Damen zogen sich zurück, und die Kinder liefen gleich
- darauf auch fort. Die Herren blieben allein im Zimmer.
- »Also, was ist Ihr Preis?« sagte Tschitschikow. »Ich muß gestehen, es
- wäre mir lieb den äußersten Preis zu erfahren, denn das Gut ist in einer
- viel schlechteren Verfassung, als ich annahm.«
- »Oh, in der allerschlechtesten Verfassung, Pawel Iwanowitsch,« versetzte
- Chlobujew. »Aber das ist noch nicht alles. Ich will Ihnen nichts
- verheimlichen: von den hundert Seelen, die in der Revisionsliste stehen,
- sind nur noch fünfzig am Leben; die Cholera hat bei uns furchtbar
- aufgeräumt; der Rest ist ohne Paß davongelaufen. Sie können Sie auch zu
- den Toten zählen; wenn man sie von Gerichts wegen zurückholen wollte,
- dann würde das solche Unkosten verursachen, daß das ganze Gut den
- Gerichten verfiele. Ich fordere daher auch nur fünfunddreißigtausend.«
- Tschitschikow fing natürlich an zu handeln.
- »Ich bitte Sie? Fünfunddreißigtausend! Fünfunddreißigtausend für so ein
- Gut! Nein sagen wir doch lieber fünfundzwanzigtausend.«
- Platonow wurde verlegen. »Kaufen Sie es nur, Pawel Iwanowitsch,« sagte
- er. »Für so ein Gut kann man schon eine solche Summe bezahlen. Wenn Sie
- keine fünfunddreißigtausend dafür geben wollen, dann kaufen wir es, mein
- Bruder und ich.«
- »Also gut, ich bin einverstanden,« sagte Tschitschikow ganz erschrocken.
- »Nur eins; ich kann die Hälfte der Summe erst nach einem Jahr bezahlen.«
- »Nein, Pawel Iwanowitsch! Darauf kann ich mich leider in keinem Fall
- einlassen; Sie müssen mir gleich jetzt die Hälfte geben, und die andre
- in spätestens zwei Wochen. Die Bank würde mir ja dies Geld auszahlen,
- wenn ich nur soviel hätte, um ...«
- »Ja, wie denn nur? Ich weiß wirklich nicht,« sagte Tschitschikow, »ich
- habe ja überhaupt nur zehntausend Rubel flüssig.« Er log. Wenn man das
- von Kostanshoglo entliehene Geld hinzurechnete, verfügte er im ganzen
- über zwanzigtausend Rubel. Aber man entschließt sich bekanntlich nicht
- leicht, eine so große Summe auf den Tisch zu legen.
- »Nein; ich bitte Sie, Pawel Iwanowitsch. Ich versichere Ihnen, ich
- brauche unbedingt fünfzehntausend.«
- »Ich will Ihnen fünftausend Rubel leihen,« unterbrach ihn Platonow.
- »Unter diesen Umständen könnte ich's vielleicht wagen!« sagte
- Tschitschikow und dachte sich: »Hm, das trifft sich aber gut, daß er mir
- was leihen will.« Er ließ sich seine Schatulle aus dem Wagen bringen und
- nahm sofort die für Chlobujew bestimmten zehntausend Rubel heraus; die
- übrigen fünftausend versprach er ihm morgen mitzubringen; wohl gemerkt,
- er _versprach_ es nur, in Wahrheit wollte er ihm nur dreitausend geben,
- den Rest dachte er ihm später nach zwei oder drei Tagen auszuhändigen;
- wenn es ging, wollte er ihn jedoch noch länger warten lassen. Pawel
- Iwanowitsch wurde es ganz _besonders_ schwer, sich von seinem Gelde zu
- trennen. Wenn es aber unbedingt notwendig war, so schien es ihm immer
- noch besser, das Geld wenigstens _einen_ Tag später, als verabredet,
- auszuzahlen. Das heißt, eigentlich machte er es genau so, wie wir alle.
- Es macht uns doch allen Spaß, unseren Schuldner etwas warten zu lassen:
- mag er sich doch seine Absätze ablaufen und eine Weile im Vorzimmer
- sitzen! Als ob er wirklich durchaus nicht mehr warten könnte! Was geht
- es uns an, daß ihm vielleicht jede Stunde teuer ist, und daß seine
- Geschäfte darunter leiden! »Kommen Sie nur morgen wieder, Verehrtester,
- heute habe ich leider keine Zeit!«
- »Und wohin wollen Sie ziehen, wenn das Gut verkauft ist?« fragte
- Platonow Chlobujew. »Haben Sie denn noch ein andres Gütchen?«
- »Nein, ich muß schon in die Stadt übersiedeln, dort habe ich ein eigenes
- Häuschen. Ich hätte das ja auch ohnedies machen müssen: wenn nicht für
- mich, so um meiner Kinder willen: sie müssen doch was lernen, ich muß
- ihnen einen Religionslehrer, einen Tanzlehrer und Musiklehrer halten. Wo
- wollen Sie die auf dem Lande hernehmen?«
- »Er hat keinen Bissen Brot im Hause, und will seinen Kindern
- Tanzunterricht geben lassen!« dachte Tschitschikow.
- »Merkwürdig!« dachte Platonow.
- »Aber wir müssen doch unser Geschäft auch begießen!« sagte Chlobujew:
- »He Kirjuschka! Hol doch mal schnell eine Flasche Champagner!«
- »Er hat kein Stück Brot im Hause, dafür aber Champagner!« dachte
- Tschitschikow.
- Platonow wußte dagegen überhaupt nicht, was er denken sollte.
- Zu seinem Champagner war Chlobujew fast gegen seinen Willen gekommen. Er
- hatte in die Stadt nach Kwas schicken lassen, aber im Kaufladen wollte
- man ihm keinen Kwas[5] leihen. Was sollte er tun? Man mußte am Ende doch
- seinen Durst stillen. Da erschien ein französischer Weinreisender aus
- Petersburg, der überließ seinen Wein allen Leuten auf Kredit. So blieb
- denn Chlobujew nichts übrig, und er mußte ihm auch ein paar Flaschen
- Champagner abnehmen.
- [Fußnote 5: Eine Art Weißbier.]
- Der Champagner stand bald auf dem Tische. Jeder trank drei Gläser, und
- die Stimmung wurde bald animiert, Chlobujew taute auf, wurde
- liebenswürdig und geistreich und ließ eine Menge Anekdoten und Witze vom
- Stapel. Aus seinen Reden sprach eine große Welt- und Menschenkenntnis!
- Wie scharf und richtig faßte er die Dinge auf, wie sicher und treffend
- konnte er die Gutsherren aus der Nachbarschaft mit ein paar Worten
- charakterisieren, wie klar erkannte er all ihre Fehler und Mängel, wie
- gut war ihm die Geschichte aller Gutsbesitzer, die sich ruiniert hatten,
- bekannt; wie komisch und originell wußte er ihre kleinen Eigenheiten und
- Gewohnheiten zu beschreiben: die Gäste waren ganz bezaubert von seiner
- Unterhaltung, und hätten ihn bereitwilligst für den Gescheitesten aller
- Menschen erklärt.
- »Ich verstehe nicht, wie Sie bei soviel Geist und Verstand nicht Mittel
- und Wege finden, um sich zu helfen,« sagte Tschitschikow.
- »An den Mitteln fehlt es mir nicht,« sagte Chlobujew und rückte sogleich
- mit einem ganzen Haufen von Projekten heraus. Aber sie waren alle so
- unsinnig, so seltsam, und ließen so sehr jegliche Welt- und
- Menschenkenntnis vermissen, daß man nur mit den Achseln zucken und sagen
- konnte: »Herrgott! welch eine unendliche Kluft liegt doch zwischen der
- Welt- und Menschenkenntnis und der Fähigkeit, sie auszunutzen!« All
- seine Pläne hatten zur Voraussetzung, daß er sich plötzlich hundert-
- oder sogar zweihunderttausend Rubel verschaffen könnte. Wenn ihm das
- gelänge, dann glaubte er, würde alles in den rechten Gang kommen, die
- Wirtschaft würde aufblühen, alle Löcher würden sich verstopfen lassen,
- die Einkünfte würden sich vervierfachen, und bald würde er auch in der
- Lage sein, all seine Schulden zu bezahlen. Und er schloß seine Rede mit
- folgenden Worten: »Aber was soll man machen? Es gibt halt keinen solchen
- edlen Mann, der sich entschließen würde, mir zweihundert- oder
- meinetwegen auch nur hunderttausend Rubel zu leihen. Es ist wohl nicht
- Gottes Wille.«
- »Das fehlte noch, daß Gott solch einem Narren zweimalhunderttausend
- Rubel in den Schoß werfen sollte!« dachte Tschitschikow.
- »Ich habe ja freilich noch eine Tante, eine dreifache Millionärin,«
- sagte Chlobujew, »eine sehr fromme alte Dame: für Kirchen und Klöster
- hat sie immer was übrig, aber wenn's gilt, seinem Nächsten zu helfen,
- dann ist sie sehr spröde. Wissen Sie, so eine Tante alten Schlages, es
- lohnt sich schon, sie einmal näher anzusehen. Sie hat allein gegen
- vierhundert Kanarienvögel, dazu Möpse, Gesellschafterinnen und Bediente,
- wie man sie heute garnicht mehr findet. Der jüngste ihrer Diener ist
- mindestens sechzig Jahre alt, trotzdem sie ihn immer: »He Bursche!«
- ruft. Wenn sich ein Gast nicht so benimmt, wie sie es wünscht, dann läßt
- sie bei Tisch die Schüssel an ihm vorbeigehen, und die Bedienten tun
- natürlich, was sie befiehlt. Na, was sagen Sie?«
- Platonow lächelte.
- »Und wie ist ihr Familienname?« fragte Tschitschikow.
- »Sie wohnt in unserm Städtchen und heißt Alexandra Iwanowna
- Chanassarowa.«
- »Warum wenden Sie sich denn nicht an sie?« fragte Platonow teilnehmend.
- »Ich meine, wenn sie sich in die Lage Ihrer Familie versetzte, könnte
- sie es Ihnen garnicht abschlagen.«
- »O nein. Das bringt sie doch fertig. Meine Tante hat eine recht robuste
- Natur. Die Alte ist hart wie ein Kieselstein, Platon Michailowitsch!
- Außerdem sind aber noch genug andre Leute da, die sich bei ihr
- einzuschmeicheln suchen und beständig um sie herum sind. Da ist sogar
- einer, der es auf einen Gouverneursposten abgesehen hat und sich für
- einen Verwandten ausgibt .... Tu mir den Gefallen,« sagte er plötzlich
- zu Platonow, »nächste Woche gebe ich ein Diner, zu dem ich alle
- Honoratioren der Stadt einladen will.«
- Platonow riß die Augen auf. Er wußte noch nicht, daß es in Rußland -- in
- den Residenzen und Provinzstädten -- solche Lebenskünstler gibt, deren
- Existenz ein unauflösliches Rätsel bildet. So ein Mann hat sein ganzes
- Vermögen durchgebracht, steckt bis über die Ohren in Schulden, weiß
- nicht, wo er einen Groschen hernehmen soll und gibt dennoch plötzlich
- ein großes Diner. Alle Teilnehmer an diesem Fest behaupten, es sei das
- letzte, morgen werde der Hausherr in den Schuldturm kommen. Aber siehe
- da: es vergehen zehn Jahre -- unser Hexenmeister behauptet nach wie vor
- seinen Platz in der Gesellschaft, steckt tiefer in Schulden denn je, und
- gibt noch immer Diners, von denen alle Gäste glauben, es seien die
- letzten, und noch immer ist alles überzeugt, daß der Hausherr morgen in
- den Schuldturm kommen werde.
- Chlobujews Haus in der Stadt war ein höchst seltsames und eigenartiges
- Ding. Heute hielt dort ein Priester im Meßgewande eine Andacht ab,
- morgen übten französische Schauspieler ein Stück ein. Es gab Tage, wo es
- keine Brotkrume im Hause gab, was aber nicht ausschloß, daß bald darauf
- ein großes Fest stattfand, an dem viele Schauspieler und Künstler
- teilnahmen, die in höchst nobler Weise bewirtet und beschenkt wurden.
- Dann kamen wieder so trübe Zeiten, daß ein anderer sich an Chlobujews
- Stelle längst erhängt oder erschossen hätte; aber was ihn immer wieder
- rettete, war seine Religiosität, die sich merkwürdigerweise aufs beste
- mit seinem liederlichen Lebenswandel vertrug. In solchen Augenblicken
- las er die Lebensbeschreibungen von Märtyrern und Asketen, die ihren
- Geist dazu erzogen hatten, alles Unglück mit Gleichmut zu ertragen und
- sich darüber zu erheben. Dann wurde er ganz weich und gerührt, und seine
- Augen füllten sich mit Tränen. Er fing an zu beten -- und seltsam! --
- immer kam ihm von irgend einer Seite eine unerwartete Hilfe; sei es nun,
- daß sich ein alter Freund an ihn erinnerte und ihm Geld schickte, oder
- daß irgend eine zufällig vorüberreisende unbekannte Dame, die von ihm
- gehört hatte, ihm in einer plötzlichen großmütigen Regung ihres
- weiblichen Herzens ein größeres Geschenk machte; oder er gewann einen
- Prozeß, von dem er selbst noch nie etwas gehört hatte. Dann pries er
- demütig die unerschöpfliche Barmherzigkeit der Vorsehung, ließ
- Dankgebete abhalten, und begann von neuem sein liederliches Leben.
- »Er tut mir leid, er tut mir wirklich sehr leid,« sagte Platonow zu
- Tschitschikow, nachdem sie sich von ihm verabschiedet und ihren Wagen
- wieder bestiegen hatten.(9)
- »Ein verlorener Mensch!« versetzte Tschitschikow. »Solche Leute sollte
- man nicht bedauern.«
- Bald hatten sie ihn vergessen. Platonow dachte nicht mehr an ihn, weil
- ihn die Menschen bei seiner Trägheit und Apathie ebensowenig
- interessierten wie die ganze übrige Welt. Sein Herz krampfte sich
- mitleidig zusammen, wenn er andre Leute leiden sah, aber diese
- Empfindungen hinterließen keine dauernden Eindrücke in seiner Seele.
- Schon nach wenigen Augenblicken war Chlobujew vergessen. Platonow dachte
- nicht mehr an ihn, weil er kaum an sich selbst dachte. Auch
- Tschitschikow hatte Chlobujew vergessen, weil seine Gedanken allen
- Ernstes auf sein soeben erworbenes Gut gerichtet waren. Jedenfalls wurde
- er jetzt, wo er plötzlich kein bloß eingebildeter, sondern leibhaftiger
- Besitzer eines keineswegs phantastischen Landgutes geworden war,
- nachdenklich, seine Gedanken und Pläne wurden ruhiger und gesetzter und
- verliehen seinem Gesicht unwillkürlich einen bedeutenden Ausdruck:
- »Geduld und Arbeit! Das ist keine Hexerei, die habe ich sozusagen mit
- der Muttermilch eingesogen. Das ist für mich nichts neues. Aber werde
- ich in meinem Alter auch noch soviel Geduld aufbringen wie in meinen
- jungen Jahren?« Genug, wie dem auch sein mochte, wie er die Sache auch
- ansah, von welcher Seite er sie betrachtete, er überzeugte sich, daß er
- mit dem Kauf ein gutes Geschäft gemacht hatte. Er konnte ja auch eine
- Hypothek auf das Gut aufnehmen, nachdem er zuvor das beste Land in
- kleine Parzellen geteilt und verkauft hatte. Aber er konnte die Sache
- schließlich auch selbst in die Hand nehmen, und ein tüchtiger Landwirt
- nach der Art Kostanshoglos werden; er durfte sicherlich auf dessen Rat
- und Beistand rechnen, jetzt wo er sein Nachbar geworden, und wo er ihm
- zu so großem Danke verpflichtet war. Ja, man konnte es auch
- folgendermaßen machen: man konnte das Land weiter verkaufen
- (selbstverständlich nur dann, wenn man sich selbst nicht mit der
- Bewirtschaftung des Gutes befassen wollte) und nur die toten und
- flüchtigen Bauern behalten. Das hätte noch einen andern Vorteil: man
- konnte überhaupt ganz vom Schauplatz verschwinden und Kostanshoglo das
- von ihm entliehene Geld gar nicht zurückgeben. Ein sonderbarer Gedanke!
- Man kann nicht sagen, daß _Tschitschikow_ auf diesen Gedanken gekommen
- war, er stand vielmehr plötzlich wie von selbst vor ihm, neckte,
- verspottete ihn und blinzelte ihn listig an. Ein leichtsinniger,
- liederlicher Gedanke! Wer wohl der Schöpfer solcher Gedanken ist, die so
- plötzlich über uns kommen? ... Tschitschikow empfand eine große Freude,
- daß er Gutsbesitzer geworden war -- kein bloß eingebildeter oder
- phantastischer, nein ein wirklicher wahrhafter Gutsbesitzer, der ein
- _Grundstück_, ein Stück Land und Leibeigene -- keine bloß vorgestellten,
- nur in der Phantasie existierenden, sondern wirkliche lebendige Arbeiter
- besaß. Und allmählich fing er an, auf seinem Platz herumzuhopsen, sich
- die Hände zu reiben und sich selbst zuzublinzeln, er ballte die Hand,
- legte sie an den Mund wie eine Trompete und begann einen lustigen Marsch
- zu blasen, ja er rief sich sogar ganz laut ein paar aufmunternde Worte
- zu, und gab sich Kosenamen wie: mein Schnäuzchen, oder mein kleiner
- Kapaun! Aber er besann sich gleich darauf, daß er ja nicht allein sei,
- wurde plötzlich wieder still und suchte den Eindruck zu verwischen, den
- der Ausbruch einer ungezügelten Freude auf seinen Nachbar gemacht haben
- mochte; und als Platonow, der die ihm zu Ohren gekommenen Töne für Worte
- hielt, welche an ihn gerichtet waren, Tschitschikow ansah und fragte:
- »Wie meinen Sie?« da antwortete jener verlegen: »Nichts, garnichts.«
- Jetzt erst sah er sich um und bemerkte, daß sie schon längst durch eine
- herrliche Allee fuhren, eine reizende Mauer aus Birkenstämmen zog sich
- zu beiden Seiten den Weg entlang. Die hellen Stämme der Espen und Birken
- glänzten wie ein schneeweißer Staketenzaun; schlank und leicht hoben sie
- sich von dem zarten Grün der kaum entfalteten Blätter ab. Die
- Nachtigallen im Gebüsch schlugen laut um die Wette. Gelbe Waldtulpen
- schimmerten hell auf dem Grase. Tschitschikow konnte sich nicht recht
- darüber klar werden, wie er plötzlich an diesen herrlichen Fleck gelangt
- war, denn noch kurze Zeit vorher hatten sie sich auf offenem Felde
- befunden. Zwischen den Bäumen hindurch sah man eine weiße steinerne
- Kirche, und auf der andern Seite hinter der Allee -- ein Gitter. Am Ende
- des Weges tauchte jetzt ein Herr auf, der ihnen entgegenzugehen schien:
- er trug eine Mütze und einen Knotenstock in der Hand. Ein englischer
- Schäferhund auf langen dünnen Beinchen lief vor ihm her.
- »Da ist ja mein Bruder!« sagte Platonow, »Kutscher, halten Sie doch!«
- Mit diesen Worten sprang er aus dem Wagen. Tschitschikow folgte seinem
- Beispiel. Die Hunde schlossen sofort Freundschaft und beschnupperten
- sich gegenseitig. Der mit den dünnen Beinen hieß Asor, schnell näherte
- er sich seinem Kameraden Jarb und fuhr ihm mit seiner flinken Zunge über
- die Schnauze, dann leckte er Platonow die Hände und sprang schließlich
- an Tschitschikow empor und küßte ihn aufs Ohr.
- Die Brüder umarmten sich.
- »Aber lieber Platon, was machst du mir für Geschichten?« sagte der
- Bruder, und blieb stehen. Sein Name war Wassilij.
- »Was meinst du?« versetzte Platonow phlegmatisch.
- »Aber ich bitte dich! Drei Tage lang läßt du überhaupt nichts von dir
- hören. Petuchs Stallknecht hat deinen Hengst mitgebracht. >Er ist mit
- einem Herrn weggefahren<, sagt er. Hättest du mir doch nur ein Wort
- gesagt, wohin, wozu und auf wie lange du verreist bist, lieber Bruder,
- wer tut denn nur so was? Gott allein weiß, was ich mir all diese Tage
- für Gedanken gemacht habe!«
- »Was soll ich machen? Ich habe es vergessen,« versetzte Platonow. »Wir
- haben Konstantin Fjodorowitsch einen Besuch gemacht; er läßt dich
- grüßen; deine Schwester ebenfalls. Pawel Iwanowitsch, darf ich Ihnen
- meinen Bruder Wassilij vorstellen. Lieber Wassilij, dies ist Pawel
- Iwanowitsch Tschitschikow.«
- Beide Herrn, die hiermit aufgefordert wurden, sich näher kennen zu
- lernen, drückten sich die Hand, nahmen ihre Mützen ab und küßten sich.
- »Wer mag wohl dieser Tschitschikow sein?« dachte Wassilij. »Mein Bruder
- Platon ist nicht gerade wählerisch in seinen Bekanntschaften.« Er
- betrachtete Tschitschikow aufmerksam, soweit dies der Anstand zuließ,
- und überzeugte sich, daß dieser, nach seinem Äußern zu urteilen, ein
- sehr respektabler Herr war.
- Tschitschikow betrachtete Wassilij seinerseits gleichfalls so
- aufmerksam, als dies der Anstand gerade zuließ und sah, daß der Bruder
- etwas kleiner war als Platon; sein Haar war etwas dunkeler und sein
- Gesicht lange nicht so hübsch, wie das des Bruders, aber in seinen Zügen
- lag viel mehr Leben, Bewegung und Herzensgüte. Man sah es ihm gleich an,
- daß er nicht so schläfrig war wie Platon. Aber hierauf achtete Pawel
- Iwanowitsch nur wenig.
- »Weißt du, Wassja, ich habe mich entschlossen, mit Pawel Iwanowitsch
- eine kleine Reise durch das heilige Rußland zu machen. Vielleicht werde
- ich so meine Melancholie los.«
- »Ja, wie kommst du nur plötzlich auf so etwas?« sagte der Bruder
- Wassilij ganz erstaunt; er hätte beinahe noch hinzugefügt: »Und zu
- alledem willst du noch mit einem Menschen reisen, den du zum ersten Mal
- siehst, der vielleicht ein übler Kerl oder weiß Gott was nicht alles
- ist.« Voller Mißtrauen schaute er nach Tschitschikow hin, aber er war
- erstaunt über sein respektables Äußeres.
- Sie traten rechts durchs Tor in einen altertümlichen Hof: auch das Haus
- sah recht altertümlich aus; heute werden keine solchen Häuser mehr
- gebaut: es hatte ein hohes Dach, und überall waren Schutzdächer
- angebracht. Zwei gewaltige Linden standen in der Mitte des Hofes und
- warfen einen mächtigen Schatten, der fast die Hälfte der ganzen Fläche
- einnahm. Rings um sie herum standen mehrere Bänke. Blühende
- Fliederbüsche und Faulbäume faßten den Hof wie ein Perlenhalsband ein;
- eine Mauer friedigte ihn ein, welche ganz unter Blättern und Blüten
- verschwand. Das Herrenhaus war von allen Seiten geschlossen, nur eine
- kleine Tür und ein paar Fenster guckten freundlich unter den Ästen
- hervor. Hinter den schnurgeraden Baumstämmen sah man die Küche, die
- Vorratskammern und die Keller. Sie alle befanden sich im Garten. Die
- Nachtigallen schlugen laut und erfüllten ihn mit ihrem Gesang.
- Unwillkürlich zog ein beseeligendes Gefühl des Friedens in das Herz ein.
- Alles gemahnte an jene sorglosen Zeiten, wo die Menschen noch friedlich
- und gütlich nebeneinander lebten, und wo noch alles schlicht und einfach
- herging. Bruder Wassilij lud Tschitschikow ein, Platz zu nehmen, und man
- ließ sich auf den Bänken unter den Linden nieder.
- Ein siebzehnjähriger Bursche in einem hübschen rosafarbenen Hemde
- brachte ein Tablett herein und stellte es vor ihnen auf den Tisch. Es
- war mit Karaffen voll Fruchtlimonaden der verschiedensten Arten und
- Farben besetzt. Hier waren alle Sorten vertreten: die einen waren dick
- und zähe wie Öl, andere moussierten wie Brauselimonaden. Nachdem der
- Bursche die Karaffen auf den Tisch gestellt hatte, ergriff er die
- Schaufel, die an einem Baume lehnte, und ging in den Garten. Die
- Gebrüder Platonow hatten wie ihr Schwager Kostanshoglo keine
- Dienstboten, sondern eigentlich nur Gärtner. Alle Knechte mußten der
- Reihe nach dieses Amt übernehmen. Bruder Wassilij behauptete immer, die
- Dienstboten bildeten keinen besonderen Stand: einem etwas reichen oder
- bringen, das könne ein jeder und dazu brauche man sich keine besonderen
- Bedienten zu halten; der Russe sei nur solange brav und fleißig, tüchtig
- und kein Faulpelz, als er Hemd und Bauernkittel trage, sowie er sich
- einen deutschen Rock anschaffe, werde er plötzlich plump und
- ungeschickt, er fange an zu faulenzen, wechsele sein Hemd nicht mehr,
- und gehe überhaupt nicht mehr ins Bad; er liege nur noch in seinem
- deutschen Rocke herum und schlafe, bis sich in seinem neuen Kleide
- zahllose Scharen von Wanzen und Flöhen einnisten. Vielleicht hatte er in
- diesem Punkte nicht ganz unrecht. Auf dem Gute der Brüder waren die
- Bauern ganz besonders vornehm und reich: der Kopfputz der Frauen
- schimmerte von Gold, und die Ärmel ihrer Hemden waren schön gestickt wie
- ein türkischer Schal. »Unser Haus ist berühmt wegen seiner Limonaden,«
- sagte Wassilij.
- Tschitschikow nahm das erste Fläschchen und schenkte sich ein Glas ein:
- es schmeckte ganz wie Lindenmeth, den er einst in Polen getrunken hatte:
- es moussierte wie Champagner, und die Kohlensäure stieg ihm in
- angenehmem Bogen aus dem Mund in die Nase. »Der reinste Nektar!« sagte
- er. Er schenkte sich noch ein Gläschen aus einer zweiten Karaffe ein --
- und siehe da, es schmeckte noch besser.
- »Das Getränk aller Getränke!« sagte Tschitschikow. »Ich kann wohl sagen,
- bei Ihrem verehrten Schwager Konstantin Fjodorowitsch, habe ich den
- besten Likör, bei Ihnen dagegen die herrlichste Limonade getrunken, die
- ich jemals gekostet habe.«
- »Der _Likör_ kommt ja auch von uns: den hat meine Schwester gemacht. Und
- nach welcher Richtung gedenken Sie jetzt zu reisen? Welche Orte wollen
- Sie besuchen?« fragte Bruder Wassilij.
- »Ich reise,« versetzte Tschitschikow, indem er sich ein wenig auf der
- Bank hin und her schaukelte, sich vornüber beugte und mit der Hand über
- das Knie strich: »ich reise eigentlich nicht so sehr in eigenem
- Interesse, wie in dem eines andern. General Betrischtschew, ein guter
- Freund von mir, und ich kann wohl sagen mein Wohltäter, hat mich
- gebeten, einige von seinen Verwandten zu besuchen. Die Sache mit den
- Verwandten ist natürlich sehr wichtig, andererseits aber reise ich doch
- auch wieder gewissermaßen in eigenen Angelegenheiten: denn ganz
- abgesehen von der guten Wirkung, die das Reisen auf die Hämorrhoiden
- hat, man erweitert seine Weltkenntnis, stürzt sich in den Strudel und
- Wirbel des Menschenvolkes -- und das ist an und für sich schon sozusagen
- ein lebendiges Buch und auch eine Art Wissenschaft.«
- Bruder Wassilij wurde nachdenklich. »Der gute Mann spricht etwas
- geschraubt, es liegt aber doch was Wahres in seinen Worten,« dachte er.
- Er schwieg eine Weile still und sagte, indem er sich an seinen Bruder
- Platon wandte: »Weißt du, Platon, ich fange an zu glauben, eine Reise
- könnte dich wirklich etwas aufrütteln. Du leidest an einer Art geistigen
- Schlafkrankheit, du bist einfach eingeschlummert, -- und nicht etwa weil
- du übersättigt oder übermüdet bist, sondern weil es dir an lebendigen
- Empfindungen und Eindrücken fehlt. Mir geht es gerade umgekehrt. Ich
- wünschte, ich könnte nicht so stark und lebhaft empfinden und mir die
- Dinge nicht so sehr zu Herzen nehmen.«
- »Wozu nimmst du dir auch alles zu Herzen,« sagte Platon. »Du suchst
- selbst nach Gründen oder erfindest dir welche, um dir Sorgen zu machen
- und dich unnütz aufzuregen.«
- »Man braucht sie doch garnicht zu erfinden, wenn man auf Schritt und
- Tritt Unannehmlichkeiten hat,« versetzte Wassilij. »Hast du gehört, was
- uns Lenitzyn in deiner Abwesenheit für einen Streich gespielt hat? -- Er
- hat das Stück Haideland, auf dem wir Johannisnacht feiern, einfach
- annektiert. Erstlich gebe ich dies Stück für kein Geld her ... Hier
- feiern meine Bauern jedes Jahr Johannisnacht, mit diesem Flecke sind
- soviel Erinnerungen für das ganze Gut verbunden; mir ist eine alte Sitte
- -- etwas Heiliges, und ich bin bereit jedes Opfer für sie zu bringen.«
- »Er wird das wohl nicht gewußt haben, als er es sich nahm,« sagte
- Platonow, »er ist noch ganz neu hier im Lande, er kommt doch erst eben
- aus Petersburg; man muß ihm die Sache klar machen.«
- »Oh er weiß alles ganz genau. Ich habe zu ihm geschickt, und es ihm
- sagen lassen. Er hat mir nur Grobheiten an den Kopf geworfen.«
- »Du hättest eben selbst hinfahren und ihm alles erklären sollen.
- Besprich doch die Sache mit ihm selbst.«
- »Nein, danke schön. Er spielt mir zu sehr den großen Herrn. Zu dem fahre
- ich nicht hin. Fahr du doch hin, wenn du durchaus willst.«
- »Ich würde schon fahren, aber du weißt ja, ich mische mich nicht in
- diese ... Er könnte mich ja _auch_ übers Ohr hauen und betrügen.«
- »Wenn Sie wünschen, so will ich zu ihm hinfahren,« sagte Tschitschikow,
- »erklären Sie mir nur, worum es sich handelt.«
- Wassilij sah ihn an und dachte: »Dem scheint das Reisen großen Spaß zu
- machen.«
- »Können Sie mir nicht ungefähr andeuten, was er für ein Mensch und was
- das für eine Angelegenheit ist?« fuhr Tschitschikow fort.
- »Es ist mir sehr peinlich, Sie mit einem so unangenehmen Auftrag zu
- betrauen. Meiner Ansicht nach ist er ein schlechter Kerl: er gehört dem
- ärmeren Adel unserer Provinz an, und hat sich in Petersburg
- hinaufgedient, nachdem er die illegitime Tochter irgend eines großen
- Herrn geheiratet hat, und spielt jetzt den vornehmen Mann. Er will hier
- den Ton angeben. Aber die Leute hierzulande sind auch nicht dumm, sie
- kümmern sich den Teufel um die Mode, und Petersburg ist für sie garnicht
- maßgebend.«
- »Natürlich,« sprach Tschitschikow, »und worum handelt es sich?«
- »Sehen Sie, er hat ja das Land wirklich nötig, wenn er nicht so
- rücksichtslos gewesen wäre, hätte ich ihm gern an einer andern Stelle
- umsonst ein Stück abgetreten ... So aber könnte der hochnäsige Mensch
- noch glauben ...«
- »Ich bin der Ansicht, es ist besser man sucht sich friedlich zu
- verständigen: vielleicht ist die ganze Affäre ... Mit hat schon mancher
- seine Sache anvertraut, und noch keiner hat es bereut ... General
- Betrischtschew hat mir ja auch ...«
- »Aber es ist mir so peinlich, daß Sie meinetwegen mit einem solchen
- Menschen reden sollen ...«[6]
- * * * * *
- »...(10) Besonders wenn man berücksichtigt, daß dies ein Geheimnis war,«
- sagte Tschitschikow, »denn das eigentlich Schädliche hierbei ist nicht
- so sehr das Verbrechen wie das Ärgernis, das damit gegeben wird.«
- »Ja wohl, Sie haben ganz recht,« fiel Lenitzyn ein, indem er den Kopf
- ganz auf die Seite neigte.
- »Wie angenehm es doch ist, sich mit einem andern einig zu wissen,«
- sprach Tschitschikow. »Ich habe da auch eine Sache, die man in gewissem
- Sinne gesetzlich und ungesetzlich zugleich nennen kann; oberflächlich
- betrachtet scheint sie ungesetzlich zu sein, _tatsächlich_ steht sie
- jedoch keineswegs im Widerspruch mit den Gesetzen. Ich brauche eine
- Hypothek, aber ich kann es doch niemandem zumuten, das Risiko auf sich
- zu nehmen und zwei Rubel für die lebendige Seele zu bezahlen. Wenn ich
- Pech habe -- und Bankrott mache -- was Gott verhüte, -- dann hat der
- Besitzer das Nachsehen: da habe ich mich denn entschlossen, mir den
- Umstand zunutze zu machen, daß es tote und flüchtige Bauern gibt, die
- noch nicht aus der Revisionsliste gestrichen sind; womit ich zugleich
- ein christliches Werk tue und ihrem armen Besitzer die Steuern abnehme,
- die er für sie bezahlen muß. Wir wollen der Formalität wegen nur einen
- Kaufvertrag abschließen, wie wenn es sich um lebende handelte.«
- [Fußnote 6: Hiermit schließt die 96. Seite des Manuskripts, weiter
- fehlen zwei Seiten. In der ersten Auflage des zweiten Bandes hat S.
- Schewyrew folgende Anmerkung zu dieser Stelle gemacht: »Hier ist eine
- Lücke im Manuskript, welche wohl die Erzählung enthielt, wie
- Tschitschikow sich aufmachte, um den Gutsbesitzer Lenitzyn zu besuchen.«
- Anm. des Herausgebers.
- ]
- »Hm! Das ist aber eine höchst merkwürdige Geschichte!« dachte Lenitzyn
- und rückte mit dem Stuhle ein wenig zurück. »Diese Sache ist allerdings
- derartig ....« begann er.
- »Ein Ärgernis kann es ja hierbei nicht geben, weil die Sache doch geheim
- bleibt,« versetzte Tschitschikow; »zudem sind wir doch beide
- wohlgesinnte und zuverlässige Menschen.«
- »Hm, aber trotzdem, die Sache ist so eigentümlich ..«
- »Ein Ärgernis kann es nicht geben,« entgegnete Tschitschikow offen und
- ehrlich. »Es ist doch genau so eine Sache wie die, von der wir soeben
- gesprochen haben: wir beide sind gutgesinnte, verständige, reife Leute,
- die eine Stellung in der Gesellschaft einnehmen -- und dann bleibt doch
- alles geheim.« Und während er dies sagte, sah er ihm offen und ehrlich
- ins Auge.
- Obgleich Lenitzyn sehr gewandt, sicher und ein gewiegter Geschäftsmann
- war, geriet er diesmal ganz aus der Fassung, um so mehr als er sich
- durch einen merkwürdigen Zufall gleichsam in seinem eigenen Netze
- gefangen hatte. Er war gar keiner schlechten Handlung fähig und wollte
- nichts Unrechtes tun, auch nicht im geheimen. »Ist das aber eine
- sonderbare Geschichte!« dachte er: »Darnach schließe noch einer
- Freundschaft mit einem anständigen Menschen. Eine schöne Geschichte!«
- Aber das Schicksal und die Verhältnisse schienen Tschitschikow ganz
- besonders günstig zu sein. Wie um beiden aus dieser kritischen Situation
- zu helfen, trat plötzlich die junge Hausfrau, Lenitzyns Gattin, ins
- Zimmer; sie war bleich, klein und mager, nach Petersburger Mode
- gekleidet und hatte eine große Schwäche für Menschen, die in jeder
- Hinsicht korrekt und _comme il faut_ waren. Gleich darauf brachte die
- Amme Lenitzyns sein Söhnchen auf dem Arme herein, das erste Kind, die
- Frucht einer zärtlichen Liebe der jungen Gatten. Tschitschikow sprang
- schnell auf, ging gewandt und sicher auf die Hausfrau zu, neigte den
- Kopf leicht auf die Seite und bezauberte die Petersburger Dame und nach
- ihr auch das Kindchen durch seine Liebenswürdigkeit. Der Knabe fing zwar
- zuerst an zu heulen, aber Tschitschikow gelang es schnell, ihn zu
- beruhigen: er rief ihm: La, la, la, la mein Herzchen, zu, schnippte mit
- den Fingern, zeigte ihm ein reizendes Karneolsiegel, das er an der
- Uhrkette trug, und brachte das Kind bald so weit, daß es sich ruhig auf
- den Arm nehmen ließ. Dann packte er es, hob es fast bis zur Decke hinauf
- und entlockte dem Knaben zur höchsten Freude beider Eltern ein
- liebliches Lächeln. Aber war es nun das ungewohnte Vergnügen oder hatte
- es einen andern Grund, plötzlich passierte dem Kleinen etwas höchst
- Peinliches.
- »Ach Gott, ach Gott!« schrie Lenitzyns Gattin auf; »er hat Ihnen den
- ganzen Frack verdorben!«
- Tschitschikow warf einen Blick auf sein Kostüm; in der Tat: der eine
- Ärmel des neuen Fracks war hin: »Daß dich doch der Teufel holte, kleiner
- Satan!« dachte er ärgerlich.
- Der Herr des Hauses, die Hausfrau und die Amme: alles lief hinaus, um
- Kölnisches Wasser zu holen: dann kamen sie von allen Seiten angelaufen
- und versuchten ihn abzuwischen.
- »Es macht nichts, es macht nichts, das ist ja eine Kleinigkeit!« sagte
- Tschitschikow und suchte seinem Gesicht einen möglichst freundlichen
- Ausdruck zu verleihen: »Ein Kind in diesem goldenen Alter kann einem
- doch nichts verderben,« wiederholte er, trotzdem aber dachte er sich:
- »So ein Schelm, daß dich doch die Wölfe fräßen, hat der mich aber schön
- zugerichtet, der verdammte kleine Schelm!«
- Indessen dieser scheinbar so unbedeutende Vorfall hatte den Hausherrn
- ganz zu Tschitschikows Gunsten umgestimmt. Wie konnte er einem Gast
- etwas abschlagen, der seinen Kleinen in so harmloser Weise unterhalten
- und geliebkost, und seine Güte so großmütig mit dem eigenen Frack
- bezahlt hatte? Um den Menschen kein schlechtes Beispiel zu geben,
- beschloß man die Sache im geheimen zu erledigen, denn nicht sowohl die
- Sache selbst, als das Ärgernis, zu dem sie Anlaß gab, konnte ja Schaden
- stiften.
- »Doch nun erlauben Sie mir, Ihnen zum Dank für Ihre Güte auch einen
- kleinen Dienst zu leisten. Ich möchte die Vermittlerrolle in Ihrem
- Streit mit den Gebrüdern Platonow übernehmen. Sie brauchen doch Land?
- Nicht wahr?«
- Fünftes Kapitel.[7]
- Jedermann sucht sein Schäfchen ins Trockene zu bringen. »Was mich
- zwickt, das zwick' ich wieder,« sagt ein russisches Sprichwort.
- Tschitschikow begab sich nun auf eine kleine Entdeckungsreise durch
- seine Koffer und Kisten; sie war von Erfolg gekrönt, und so wanderte
- denn während dieser Expedition mancherlei aus den Koffern in die
- Privatschatulle hinüber. Mit einem Wort, es wurde alles aufs beste
- erledigt. Tschitschikow hatte ja nicht gestohlen, sondern nur die
- Gelegenheit benutzt. Wir suchen doch auch aus allem Möglichen Nutzen zu
- ziehen: der eine aus Staatswäldern, der andere aus Staatsgeldern, ein
- dritter bestiehlt seine eigenen Kinder wegen irgend einer durchreisenden
- Schauspielerin, ein vierter -- seine Bauern, um sich Möbel vom Hombs
- oder eine Equipage anzuschaffen. Was ist zu machen, wo es heute soviel
- Verführungen in der Welt gibt: teuere Restaurants mit geradezu
- wahnsinnigen Preisen, Redouten, Gartenfeste, Zigeuner, Bälle usw. Es ist
- doch so schwer, darauf zu verzichten, wenn alle Leute ringsherum
- dasselbe tun, -- und dann ist es doch auch Mode, da soll sich einer von
- alledem fernhalten! Tschitschikow hätte eigentlich schon unterwegs sein
- sollen, aber die Wege waren nicht in Ordnung. Unterdessen sollte in der
- Stadt noch eine andere Messe eröffnet werden: nämlich die für die
- vornehmen Leute.(11) Auf der andern Messe wurde mehr mit Pferden, Vieh,
- Rohprodukten und allerhand Waren gehandelt, welche die Bauern auf den
- Markt brachten und die von Viehhändlern und Kaufleuten aufgekauft
- wurden. Nun aber wurde alles, was auf der Messe zu Nischnij Nowgorod von
- den Händlern an Handelsartikeln für den Bedarf der vornehmeren Leute
- aufgekauft worden war, hierhergebracht. Da fand sich alles zusammen:
- alle Räuber und Plünderer der russischen Geldbeutel, Franzosen mit
- Pomade, und Französinnen mit Hüten, die Räuber des mit Schweiß, Mühe und
- Blut erworbenen Geldes -- diese ägyptische Heuschreckenplage, wie
- Kostanshoglo sich auszudrücken liebte, dieses Ungeziefer, das nicht nur
- alles auffrißt, sondern auch noch seine Eier zurückläßt und sie in die
- Erde verscharrt.
- [Fußnote 7: In dem Manuskript trägt dieser Abschnitt keine
- Kapitelüberschrift; er stammt also aus einem ganz frühen Entwurf, in dem
- die Kapiteleinteilung noch nicht durchgeführt war.
- Der Herausgeber.
- ]
- Nur die Mißernte hielt viele Gutsbesitzer zu Hause zurück. Dafür machten
- die Beamten, die ja unter keinen Mißernten leiden, ihren Beutel um so
- weiter auf, und ihre Frauen taten leider desgleichen. Sie hatten ihre
- Köpfe noch voll von allerhand Büchern, die in der letzten Zeit in der
- Welt verbreitet worden waren, um den Menschen neue Bedürfnisse
- einzupflanzen, und nun _dürsteten_ sie förmlich nach neuen Genüssen. Ein
- Franzose eröffnete ein neues Lokal, einen öffentlichen Garten, wie man
- ihn in der Provinz noch nie gesehen hatte, wo man angeblich zu besonders
- billigen Preisen soupieren konnte; zudem erhielt man die Hälfte auf
- Kredit. Dies genügte, daß nicht nur alle Abteilungschefs, sondern selbst
- alle kleineren Beamten, die schon im voraus mit den Geldgeschenken ihrer
- Klienten rechneten, dorthin strömten. Auch wünschte man seine Pferde und
- seinen Kutscher öffentlich sehen zu lassen. Hier floß alles zusammen,
- hier trafen sich Leute jeden Standes, um sich zu vergnügen und zu
- zerstreuen ... Trotz des scheußlichen Wetters und dem Kot auf den
- Straßen flogen überall elegante Equipagen hin und her. Woher sie kamen,
- das weiß Gott allein, aber sicherlich hätten sie sich auch in Petersburg
- ruhig sehen lassen können. Die Kaufleute und Kommis lüfteten leicht ihre
- Mützen und sprachen die vorübergehenden Damen höflich an. Nur hie und da
- sah man Männer mit langen Bärten und ballonartigen Pelzmützen. Alles
- hatte einen europäischen Anstrich; überall begegnete man Herren mit
- schönrasierten Gesichtern und ... hohlen Zähnen.
- »Bitte hierher, hierher! Aber bitte treten Sie doch nur einen Augenblick
- in meinen Laden. Mein Herr, mein Herr!« hörte man hie und da kleine
- Jungen schreien.
- Aber die vornehmen Herren und Damen, die so vertraut mit dem
- europäischen Wesen waren, hatten nur einen Blick der Verachtung für sie;
- nur ganz selten setzte einer eine würdige Miene auf und machte ... Pst;
- dort wieder hörte man jemand rufen: Hier gibt's Stoffe, helle, dunkle,
- bunte usw.
- »Haben Sie einen glänzenden preißelbeerfarbenen Stoff für einen
- Herrenanzug?« fragte Tschitschikow.
- »Die schönsten Stoffe,« versetzte der Kaufmann, während er mit der einen
- Hand die Mütze abnahm und mit der andern auf den Laden deutete.
- Tschitschikow trat ein. Der Kaufmann hob geschickt das Brett des
- Ladentisches in die Höhe und stand gleich darauf auf der andern Seite,
- mit dem Rücken zu den Stoffen, die in Rollen übereinander aufgeschichtet
- waren und die ganze Wand vom Fußboden bis zur Decke einnahmen. Das
- Gesicht dem Käufer zugewandt, stützte er sich mit beiden Händen auf den
- Tisch und sagte, indem er seinen Oberkörper leicht hin- und herwiegte:
- »Was für einen Stoff wünschen Sie?«
- »Einen glänzenden Stoff, olivengrün oder flaschengrün, etwas was dem
- Preißelbeerrot nahekommt,« versetzte Tschitschikow.
- »Ich darf Ihnen versichern, daß ich Ihnen nur das Allerbeste vorlegen
- werde. Sie können höchstens in den zivilisiertesten Hauptstädten Europas
- etwas Besseres finden. He! Bursche! Hol doch mal den Stoff Nummer 34
- herunter! Nein, nicht doch! nicht den! Wozu strebst du immer über deine
- Sphäre hinaus, wie so ein Proletarier! So! Wirf ihn mir zu! Bitte! Das
- ist ein Stoff, kann ich Ihnen sagen!« Und der Kaufmann rollte den Stoff
- auf und hielt ihn Tschitschikow direkt unter die Nase, sodaß dieser den
- seidenen Glanz nicht bloß fühlen, sondern auch riechen konnte.
- »Ganz schön, aber das ist nicht das, was ich haben will,« sagte
- Tschitschikow. »Ich habe im Zollamt gedient, da brauche ich etwas
- Erstklassiges, das Beste, was es überhaupt gibt, und dann muß der Stoff
- mehr rötlich, weniger flaschengrün und mehr preißelbeerfarben sein.«
- »Ich verstehe: Sie wollen genau die Farbe, die gerade modern zu werden
- beginnt. Da habe ich einen ganz vorzüglichen Stoff. Ich mache Sie
- freilich darauf aufmerksam, daß er sehr teuer ist, dafür ist er aber
- auch von allererster Qualität.«
- Der Europäer kletterte hinauf. Wieder fiel ein Ballen auf den Tisch. Er
- rollte ihn mit einer Gewandtheit auf, wie man sie nur in der guten alten
- Zeit hatte, und vergaß dabei ganz, daß er schon einem späteren
- Geschlechte angehörte. Dann kam er hinter dem Tisch hervor, hielt den
- Stoff ans Licht, indem er mit den Augen blinzelte und sagte: »Eine
- wunderbare Farbe! Navarinoscher[8] Rauch mit Feuerglanz!«
- Der Stoff fand Tschitschikows Beifall; man einigte sich über den Preis,
- obwohl dieser prifix (_prix-fix_) war, wie der Kaufmann behauptete. Dann
- spannte er ihn geschickt zwischen beiden Händen, und wickelte ihn
- hierauf nach echt russischer Art, d. h. mit unglaublicher Schnelligkeit
- in ein Stück Papier. Hierauf drehte und wendete er das Paket noch ein
- paar Mal hin und her, indem er einen dünnen Bindfaden herumlegte, und es
- mit einem energischen Knoten verschnürte. Eine Schere schnitt den
- Bindfaden durch, und in demselben Augenblick lag alles in dem
- bereitstehenden Wagen. Der Kaufmann lüftete den Hut und grüßte. Es hatte
- seine guten Gründe, warum der Kaufmann den Hut abnahm: das war eine
- Anspielung, daß der Käufer sofort zahlen solle.(12)
- »Haben Sie dunkles Tuch?« hörte man jetzt eine Stimme sagen.
- »Teufel! das ist Chlobujew,« sagte Tschitschikow leise zu sich selber
- und drehte jenem den Rücken zu; er wollte nicht, daß Chlobujew ihn sehe,
- denn er hielt es für unklug, sich mit ihm in Verhandlungen über die
- Erbschaft einzulassen. Aber jener hatte ihn schon gesehen und erkannt.
- [Fußnote 8: Gemeint ist die Farbe des Rauches der Navarinoschen
- Seeschlacht.]
- »Wie? Pawel Iwanowitsch, Sie gehen mir doch nicht etwa absichtlich aus
- dem Wege? Ich kann Sie nirgends finden, und doch liegen die Verhältnisse
- so, daß ich ernstlich mit Ihnen reden muß.«
- »Verehrtester, Verehrtester!« sagte Tschitschikow, indem er ihm beide
- Hände drückte; »glauben Sie mir, ich habe es mir schon selbst so oft
- vorgenommen, mit Ihnen zu sprechen, aber ich hatte leider nie Zeit!«
- Tatsächlich aber dachte er: »Wenn dich doch der Teufel holte!« Plötzlich
- jedoch erblickte er den eben eintretenden Murasow. »Herrgott! Afanassij
- Wassiljewitsch! Wie befinden Sie sich?«
- »Und Sie?« sagte Murasow, indem er den Hut abnahm. Auch der Kaufmann und
- Chlobujew nahmen ihre Mützen ab.
- »Ich habe immer Kreuzschmerzen, auch der Schlaf läßt zu wünschen übrig.
- Vielleicht weil ich mir zu wenig Bewegung mache!«
- Aber statt näher auf Tschitschikows Klagen und den Grund seiner
- Schmerzen einzugehen, wandte sich Murasow an Chlobujew: »Ich sah Sie in
- den Laden treten, Ssemjon Ssemjonowitsch, und da bin ich Ihnen
- nachgegangen. Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen, können Sie mir
- nicht einen Besuch machen?« »Aber natürlich, natürlich!« versetzte
- Chlobujew eilig, und beide gingen hinaus.
- »Was mögen sie wohl miteinander zu reden haben?« dachte Tschitschikow.
- »Afanassij Wassiljewitsch -- ist ein sehr würdiger und kluger Mann,«
- sagte der Kaufmann; »er ist außerordentlich tüchtig in seinem Fach, aber
- er hat keine Bildung. Ein Kaufmann ist doch sozusagen Negotiant und
- nicht bloß Kaufmann. Damit sind aber doch gewissermaßen auch allerhand
- Budgets und Reaktionen verbunden, sonst sind wir dem Pauperismus
- verfallen.« Tschitschikow zuckte die Achseln.
- »Pawel Iwanowitsch, ich suche Sie überall!« rief plötzlich eine Stimme.
- Es war Lenitzyn. Der Kaufmann nahm ehrfürchtig den Hut ab.
- »Sie? Fjodor Fjodorowitsch?«
- »Um Gottes willen, kommen Sie, lassen Sie uns schnell zu mir nach Hause
- fahren, ich muß mit Ihnen sprechen,« sagte jener. Tschitschikow sah ihn
- an -- er sah ganz bleich aus und seine Gesichtszüge waren entstellt.
- Tschitschikow bezahlte und verließ den Laden.
- »Ich warte auf Sie, Ssemjon Ssemjonowitsch,« sagte Murasow, als er
- Chlobujew eintreten sah. »Bitte kommen Sie doch zu mir ins Zimmer!« Und
- er geleitete Chlobujew in die Stube, die der Leser schon kennen gelernt
- hat. Selbst bei einem Beamten, der jährlich nur siebenhundert Rubel
- Gehalt bezieht, hätte man kein unansehnlicheres, schlichter
- ausgestattetes Zimmer finden können.
- »Sagen Sie, ich nehme an, daß sich Ihre Verhältnisse gebessert haben?
- Ihre Tante hat Ihnen doch sicher etwas hinterlassen.«
- »Was soll ich sagen, Afanassij Wassiljewitsch? Ich weiß wirklich nicht,
- ob sich meine Verhältnisse gebessert haben. Ich habe bloß fünfzigtausend
- Bauern und dreißigtausend Rubel bar erhalten; damit mußte ich einen Teil
- meiner Schulden bezahlen -- und jetzt sitze ich wieder da und habe
- nichts. Was aber die Hauptsache ist, die Geschichte mit dieser Erbschaft
- ist nicht einmal ganz sauber. Es sind da allerhand Gaunereien und
- Betrügereien vorgekommen, Afanassij Wassiljewitsch! Ich will es Ihnen
- gleich erzählen, Sie werden staunen, was alles in der Welt vorkommt.
- Dieser Tschitschikow ...«
- »Erlauben Sie mal, Ssemjon Ssemjonowitsch; ehe wir von diesem
- Tschitschikow reden, wollen wir erst einmal von Ihnen selbst sprechen.
- Sagen Sie mal! wieviel Geld würde Ihrer Meinung nach erforderlich sein,
- um Ihre Gläubiger zu befriedigen; wieviel brauchen Sie, um wieder in
- geordnete Verhältnisse zu kommen?«
- »Meine Verhältnisse sind sehr schlecht,« versetzte Chlobujew. »Um da
- herauszukommen, alle Schulden zu bezahlen und ein bescheidenes Auskommen
- zu haben, dazu brauche ich mindestens hunderttausend Rubel, wenn nicht
- noch mehr! Mit einem Wort: das ist einfach unmöglich.«
- »Nun, und wenn Sie dies alles hätten, wie würden Sie dann Ihr Leben
- einrichten?«
- »Oh, dann würde ich mir eine kleine Wohnung mieten und mich ganz der
- Erziehung meiner Kinder widmen. An mich selbst darf ich gar nicht mehr
- denken. Mit meiner Karriere ist es zu Ende; in den Staatsdienst kann ich
- doch nicht mehr eintreten: ich tauge ja doch zu nichts mehr!«
- »Das bliebe doch ein müßiges Leben, und Sie wissen, Müßiggang ist aller
- Laster Anfang, da nahen sich einem allerhand Versuchungen, an die ein
- fleißiger und tätiger Mensch garnicht einmal denkt.«
- »Ich kann halt nicht mehr, ich tauge zu nichts mehr! ich bin schon zu
- stumpf und apathisch, um etwas anzufangen. Zu alledem leide ich noch an
- Kreuzschmerzen.«
- »Aber wie kann man nur ohne Arbeit leben? Wie können Sie es bloß auf der
- Welt aushalten ohne ein Amt und eine Tätigkeit? Ich bitte Sie! Blicken
- Sie doch um sich! Jedes Wesen auf Gottes Erde erfüllt eine gewisse
- Bestimmung und hat seine Funktion. Selbst der Stein ist nur dazu da,
- damit ihn jemand gebraucht oder bei einem nützlichen Werke verwendet,
- und der Mensch, das klügste, vernünftigste aller Geschöpfe sollte sein
- Leben tatenlos hinbringen -- das ist doch unmöglich.«
- »So ganz ohne Tätigkeit bin ich doch auch nicht. Ich kann mich doch mit
- der Erziehung meiner Kinder beschäftigen.«
- »Nein, Ssemjon Ssemjonowitsch! Nein. Das ist das allerschwerste. Wie
- soll _der_ Kinder erziehen, der es nicht einmal verstanden hat, sich
- selbst zu erziehen, Kinder kann man doch nur durch sein eigenes Beispiel
- erziehen, indem man ihnen das Leben _vorlebt_. Und sagen Sie ehrlich,
- kann _Ihr_ Leben ihnen zum Vorbild dienen? Von Ihnen könnten sie
- schließlich doch nur lernen, wie man die Zeit müßig hinbringt, oder sie
- mit Kartenspiel totschlägt. Nein, Ssemjon Ssemjonowitsch, lassen Sie
- lieber _mich_ Ihre Kinder erziehen. Sie werden sie nur verderben.
- Überlegen Sie sich doch die Sache einmal recht ordentlich. Was Sie zu
- Grunde gerichtet hat, das ist der Müßiggang -- daher müssen Sie _ihn_
- vor allem meiden. Ein Mensch kann doch nicht ohne allen Halt im Leben
- sein. Er muß doch irgendwelche Pflichten haben. Selbst der Tagelöhner
- hat seinen Beruf. Er hat zwar nur ein kärgliches Einkommen, aber er muß
- es sich selbst verdienen, und daher hat er auch ein Interesse an seiner
- Tätigkeit.«
- »Bei Gott, Afanassij Wassiljewitsch! Ich habe es versucht, ich habe mir
- redliche Mühe gegeben! Was soll ich machen? Ich bin schon zu alt, jetzt
- bin ich nicht mehr fähig, etwas Neues zu unternehmen. Sagen Sie doch
- nur: was soll ich denn anfangen? Ich kann doch nicht in den Staatsdienst
- treten? Oder soll ich mich etwa noch mit fünfundvierzig Jahren neben
- einen jungen Anfänger ins Bureau, hinter den Tisch setzen? Und dann bin
- ich unfähig, Geschenke anzunehmen -- -- ich werde mir selber nur schaden
- und andern im Wege sein. Außerdem haben sich unter den Beamten auch
- schon Kasten gebildet. Nein, Afanassij Wassiljewitsch, ich hab's mir
- schon überlegt, ich hab's versucht und darüber nachgedacht, was ich wohl
- für eine Stellung annehmen könnte -- nein ich tauge nicht dazu. Ich
- passe höchstens noch ins Armenhaus.«
- »Das Armenhaus ist für _die_ da, die im Leben etwas geleistet und
- gearbeitet haben; _die_ dagegen, die sich amüsiert haben, solange sie
- jung waren, bekommen zur Antwort, was die Ameise zum Grashüpfer sagte:
- >Geh, tanze weiter!< Aber auch im Armenhaus wird gearbeitet, auch da muß
- man sich nützlich machen; dort spielt man nicht etwa Whist, Ssemjon
- Ssemjonowitsch,« fuhr Murasow fort, indem er Chlobujew fest ins Gesicht
- sah, »Sie betrügen sich nur selbst und mich dazu.«
- Murasow sah ihm ernst und lange ins Gesicht, aber der arme Chlobujew
- vermochte nichts zu antworten, und er fing an, Murasow leid zu tun.(13)
- »Hören Sie, Ssemjon Ssemjonowitsch ... Sie beten doch, Sie gehen in die
- Kirche und lassen keine Frühmesse und keinen Abendgottesdienst aus.
- Trotzdem es Ihnen schwer wird, stehen Sie ganz früh auf und gehen --
- gehen um vier Uhr morgens in die Kirche, wo noch alles in tiefem Schlafe
- liegt.«
- »Das ist etwas andres -- Afanassij Wassiljewitsch. Hier weiß ich, daß
- ich das nicht um der Menschen willen, sondern um _Dessen_ willen tue,
- der uns alle in dieses Leben gesandt hat. Was soll ich machen! Ich
- glaube, daß Er mir gnädig sein wird, daß Er mir verzeihen und mich in
- Gnaden aufnehmen wird, so häßlich und schlecht ich auch bin, während
- mich die Menschen mit dem Fuße fortstoßen und meine besten Freunde mich
- verraten und nachher noch sagen werden, sie hätten es in der besten
- Absicht getan.«
- Ein bitteres Gefühl spiegelte sich in Chlobujews Gesicht. Dem alten
- Herrn traten die Tränen in die Augen ...
- »Dann dienen Sie doch wenigstens _Dem_, Der allen Wesen so gnädig ist.
- Er freut sich ebenso sehr über die Arbeit, wie über ein Gebet. Suchen
- Sie sich irgend eine Beschäftigung, ganz gleich was für eine, wenn es
- nur eine _Beschäftigung_ ist. Arbeiten Sie, als ob Sie es für _Ihn_ und
- nicht für die Menschen täten. Schöpfen Sie meinetwegen Wasser in einem
- Sieb, aber denken Sie, daß Sie es um Seinetwillen tun. Schon das wäre
- ein Vorteil, Sie würden wenigstens keine Zeit und Gelegenheit finden,
- was Schlechtes zu tun: Ihr Geld zu verspielen, zu schmausen und zu
- schlemmen, unmäßig zu leben und den oberflächlichen weltlichen Genüssen
- nachzugehen. Ach Ssemjon Ssemjonowitsch. Kennen Sie Iwan Potapowitsch?«
- »Jawohl. Ich kenne und schätze ihn sehr hoch!«
- »Das war doch wirklich ein tüchtiger Kaufmann: er hatte über eine halbe
- Million; wie er aber sah, daß ihm alles zum Vorteil ausschlägt -- da
- wurde er unmäßig und ließ sich gehen. Er ließ seinem Sohn französischen
- Unterricht geben und verheiratete seine Tochter an einen General. Von da
- ab sah man ihn nicht mehr im Laden oder in der Börsenstraße; wenn er
- einen Freund auf der Straße traf, dann schleppte er ihn gleich mit ins
- Gasthaus, um mit ihm Tee zu trinken. Da konnte er tagelang bei seinem
- Tee sitzen. Der Erfolg war natürlich, daß er Bankrott machte. Zu alledem
- hatte er noch Unglück mit seinem Sohn ... Sehen Sie, jetzt dient er bei
- mir als Kommis. Er hat ganz von Anfang angefangen. Seine Verhältnisse
- haben sich gebessert. Er könnte sich ganz leicht wieder eine halbe
- Million verdienen. Aber nun _will_ er nicht mehr. >Jetzt bin ich halt
- Kommis, und als Kommis will ich auch sterben. Nun bin ich frisch und
- gesund geworden,< sagte er, >damals aber hatte ich einen dicken Bauch
- und die beginnende Wassersucht ... Nein ich danke,< sagte er. Tee nimmt
- er überhaupt nicht mehr in den Mund. Kohlsuppe und Brei, das ist seine
- ganze Nahrung. Jawohl! Und so fromm ist er geworden, wie keiner von uns,
- und er tut soviel Gutes für die Armen, wie selten einer; mancher andere
- würde auch gerne helfen, wenn er nicht sein ganzes Vermögen
- durchgebracht hätte.«
- Der arme Chlobujew war nachdenklich geworden. Der Alte ergriff seine
- beiden Hände: »Ssemjon Ssemjonowitsch! Wenn Sie wüßten, wie leid Sie mir
- tun! Ich habe die ganze Zeit über an Sie gedacht. Hören Sie, Sie wissen
- doch, daß in unserem Kloster ein Eremit lebt, der nie einen Menschen
- sieht. Das ist ein Mann von großem Verstande, oh, von einem solchen
- Verstande, ich kann's gar nicht sagen. Er sagt auch nie ein Wort. Aber
- _wenn_ er einmal einen Rat erteilt ... Ich erzählte ihm einmal, ich habe
- einen kranken Freund, den Namen nannte ich ihm nicht ... Er hörte mich
- ruhig an und unterbrach mich dann plötzlich mit folgenden Worten:
- >Gottes Sache vor allem. Da baut man Kirchen und es ist kein Geld da:
- man muß Geld für den Kirchenbau sammeln!< Und damit schlug er die Türe
- zu. Ich dachte lange nach, was das wohl bedeuten könne >Offenbar will er
- mir keinen Rat erteilen<, sagte ich mir. Und so ging ich denn zu unserm
- Archimandriten. Kaum hatte ich sein Zimmer betreten, so fragt er mich
- schon, ob ich nicht einen Menschen kenne, den man beauftragen könne,
- Geld für den Bau einer Kirche zu sammeln, es müßte aber ein Mann aus dem
- Adels- oder aus dem Kaufmannsstande sein, der eine bessere Erziehung
- genossen habe und sich der Sache annehmen wolle, als ob sein ganzes Heil
- davon abhänge? Ich blieb ganz bestürzt stehen. Gott im Himmel. Das ist
- ja das Amt, das der Mönch Ssemjon Ssemjonowitsch übertragen will. Das
- Wandern wäre ja sehr gut gegen seine Krankheit. Wenn er mit seinem Buche
- vom Gutsbesitzer zum Bauern und vom Bauern zum Bürger gehen wird, wird
- er sehen, wie die Menschen leben und was ein jeder für Bedürfnisse hat.
- Wenn er dann wiederkommt, nachdem er mehrere Provinzen durchwandert hat,
- wird er Land und Leute besser kennen, als alle Stadtbewohner. Und solche
- Menschen brauchen wir ja gerade! Der Fürst hat mir erklärt, er gäbe viel
- dafür, wenn er solch einen Beamten finden könnte, der die Verhältnisse
- nicht aus den Büchern und Akten, sondern _tatsächlich_ kennt, so wie sie
- in Wirklichkeit sind, denn aus den Akten kann man, wie man sagt,
- überhaupt nichts mehr erfahren: so verwickelt seien die Dinge.«
- »Sie haben mich ganz verwirrt und ratlos gemacht, Afanassij
- Wassiljewitsch,« sagte Chlobujew, indem er Murasow erstaunt anblickte.
- »Ich kann nicht einmal glauben, daß Sie das zu _mir_ sagen: dazu bedarf
- man eines unermüdlichen, tatkräftigen Menschen. Und dann kann ich doch
- nicht Frau und Kinder verlassen, die ja nicht einmal was zu essen
- haben?«
- »Um Frau und Kinder brauchen Sie sich nicht zu sorgen. Für die will ich
- schon Sorge tragen, und an Lehrern soll es den Kindern nicht fehlen. Es
- ist doch besser und anständiger, Geld und milde Gaben für ein
- gottgefälliges Werk zu sammeln, als mit dem Felleisen herumzugehen und
- zu betteln. Ich gebe Ihnen einen einfachen Wagen, Sie brauchen aber
- keine Angst zu haben, daß er Sie zu sehr durchrütteln wird: das wird
- Ihnen nur gut tun, das ist ganz gesund. Und dann gebe ich Ihnen noch
- etwas Geld auf den Weg, damit Sie auf Ihrer Reise denen etwas geben
- können, die am meisten Not leiden. Sie werden auf diese Weise manch
- gutes Werk tun können: Sie werden schon keine Fehler machen und wirklich
- nur _denen_ geben, die es wert sind. Wenn Sie so das Land bereisen,
- werden Sie die Menschen tatsächlich kennen lernen ... und es wird Ihnen
- nicht so gehen, wie irgend einem Beamten, vor dem alle Angst haben ...
- Mit Ihnen wird jeder gern sprechen wollen, weil er weiß, daß Sie Geld
- für die _Kirche_ sammeln.«
- »Ich sehe in der Tat, daß dies ein vortrefflicher Gedanke ist, und ich
- wünschte mir wirklich, ich könnte auch nur einen kleinen Teil davon
- ausführen; aber ich fürchte, es übersteigt meine Kräfte!«
- »Ja, was übersteigt denn unsere Kräfte nicht?« versetzte Murasow. »Es
- gibt doch gar nichts, wozu unsere Kräfte ausreichen; alles geht über
- unsere Kraft. Ohne Hilfe von oben kann uns überhaupt nichts gelingen.
- Aber das Gebet gibt uns Kraft. Der Mensch schlägt ein Kreuz, sagt: >Gott
- hilf!< rudert und erreicht schließlich doch das Ufer. Darüber brauchte
- man nicht erst lange zu grübeln. So etwas muß man einfach als eine
- göttliche Mission auffassen. Der Wagen steht schon bereit für Sie;
- laufen Sie jetzt schnell zum Archimandriten, holen Sie sich das Buch,
- bitten Sie ihn um seinen Segen und dann machen Sie sich auf den Weg.«
- »Nun gut, ich gehorche Ihnen und nehme es als einen Wink von oben. --
- Gott sei mir gnädig!« sagte er zu sich selbst und fühlte plötzlich, wie
- Mut und Kraft sein Herz durchfluteten. Es war fast, als ob sein Geist
- aus einem tiefen Schlafe erwachte, beseelt von der Hoffnung auf einen
- Ausweg aus seiner traurigen und verzweifelten Lage. Ein Lichtschimmer
- blitzte in der Ferne auf ...
- Doch verlassen wir Chlobujew und wenden wir uns wieder zu
- Tschitschikow.(14)
- * * * * *
- Unterdessen wurden bei den Gerichten immer neue Klagen eingereicht. Es
- tauchten plötzlich Verwandte auf, von denen niemand je etwas gehört
- hatte. Wie die Geier auf das Aas, so stürzte sich alles auf das
- ungeheuere Vermögen, das die Alte hinterlassen hatte: es regnete nur so
- von Denunziationen, man beschuldigte Tschitschikow und behauptete, das
- letzte Testament sei gefälscht, genau ebenso wie das erste; man brachte
- Beweise vor, daß er größere Geldsummen gestohlen und unterschlagen habe.
- Ja, man beschuldigte ihn sogar, tote Seelen gekauft und während seiner
- Dienstzeit im Zollamt zollpflichtiges Gut über die Grenze geschmuggelt
- zu haben. Alle alten Geschichten wurden ausgegraben, seine ganze
- Vergangenheit wurde wieder ans Licht gezogen. Gott allein weiß, wie man
- das alles herausgeschnüffelt und in Erfahrung gebracht hatte, jedenfalls
- waren plötzlich schwer belastende Dinge ans Licht gekommen, von denen
- Tschitschikow glaubte, niemand außer ihm und den vier Wänden, innerhalb
- deren er lebte, könne davon Kenntnis haben. Einstweilen war dies alles
- noch ein gerichtliches Geheimnis, noch war es ihm selbst nicht zu Ohren
- gekommen, obwohl ein vertrauliches Schreiben seines Rechtsanwaltes, daß
- ihm bald zugestellt wurde, ihn davon in Kenntnis setzte, daß die Sache
- bald losgehen müsse. Der Brief war nur ganz kurz: »Ich beeile mich,
- Ihnen mitzuteilen, daß uns in Ihrer Sache mancherlei Scherereien
- bevorstehen, aber lassen Sie sich einen guten Rat geben: regen Sie sich
- nicht unnütz auf. Die Hauptsache ist jetzt -- Ruhe. Wir wollen die Sache
- schon wieder einrenken.« Dieser Brief beruhigte ihn vollkommen. »Ein
- Genie!« sagte Tschitschikow. Um seine glückliche Stimmung zu
- vervollständigen, brachte ihm in diesem Augenblick der Schneider auch
- noch den neuen Anzug. Eine unbändige Lust packte ihn, sich selbst in dem
- neuen Frack von Navarinoscher Rauchfarbe mit Feuerglanz zu sehen. Er zog
- die Beinkleider an, die ihm überall so vorzüglich saßen, daß man ihn
- ruhig hätte abkonterfeien dürfen. Die Hosen lagen ganz eng an und ließen
- seine prachtvollen Lenden und die vollen Waden sehen; der Stoff
- schmiegte sich so glatt an, und ließ alle feinsten Einzelheiten
- erkennen, was ihnen eine noch größere Biegsamkeit und Elastizität
- verlieh. Als er hinten die Hosenschnalle anzog, da glich sein Bauch
- einer Trommel. Er schlug mit der Bürste darauf und sagte: »So ein
- Trottel! Und _doch_, im ganzen genommen, wirkt er höchst malerisch.« Der
- Frack schien noch besser genäht zu sein, als die Hosen: da gab es auch
- nicht ein Fältchen, im Rücken saß er vorzüglich, die Taille war schön
- geschwungen und ließ die ganze Statur genau hervortreten. Auf
- Tschitschikows Bemerkung, der rechte Ärmel drücke ihn etwas unter der
- Achselhöhle, antwortete der Schneider bloß mit einem Lächeln: darum saß
- er auch um so besser in der Taille. »Sie können ganz ruhig sein, Sie
- können ganz ruhig sein, was die Arbeit angeht,« wiederholte er mit
- unverhohlener Freude: »So einen Frack bekommen Sie überhaupt nicht
- wieder außer etwa in Petersburg.« Der Schneider stammte selbst aus
- Petersburg, und auf seinem Schilde stand zu lesen: »_Ein Ausländer aus
- London und Paris_«. Er liebte es nicht zu spaßen und wollte mit den
- beiden Städten ein für allemal allen andern Schneidern den Mund stopfen,
- damit in Zukunft keiner seinen Kunden mehr mit einer dieser Städte
- kommen sollte. Mochte er doch irgend ein »Karlseruh« oder »Kopenhaga«
- auf sein Schild setzen.
- Tschitschikow bezahlte den Schneider in nobelster Weise und begann sich,
- nachdem er allein geblieben war, aufmerksam im Spiegel zu betrachten:
- und zwar ganz wie ein Künstler, d. h. nach ästhetischen Gesichtspunkten
- und gewissermaßen _con amore_. Es stellte sich heraus, daß alles noch
- weit schöner war, als früher: seine Wangen waren noch interessanter,
- sein Kinn noch anziehender geworden; der weiße Kragen paßte vorzüglich
- zur Farbe der Wangen, die blaue Atlaskrawatte ließ den Kragen noch
- weißer erscheinen und das modern gefaltete Vorhemdchen verlieh der
- Krawatte einen besonderen Farbenton, die nobele Sammetweste bildete
- einen ausgezeichneten Fond für das Vorhemdchen und der Frack von
- Navarinoscher Rauchfarbe mit Feuerglanz leuchtete wie Seide und
- vervollständigte noch die Harmonie des Ganzen. Er drehte sich rechts --
- und siehe, alles war vortrefflich; er drehte sich links -- und es war
- noch besser! Er hatte die Figur eines Kammerherrn oder eines vornehmen
- Mannes, der fließend französisch parliert und, selbst wenn er wütend
- wird, es nicht wagt, ein russisches Schimpfwort zu gebrauchen, sondern
- sich aus Zartgefühl auch hierbei noch der französischen Sprache bedient.
- Hierauf neigte er seinen Kopf ein wenig auf die Seite und versuchte es,
- eine Pose anzunehmen, als spräche er mit einer Dame in mittleren Jahren,
- von modernster und exquisitester Bildung; das war einfach ein Tableau,
- etwas für einen Künstler: rein zum Malen! Zu seinem Pläsier machte er
- noch einen leichten Luftsprung: etwas wie ein Entrechat, sodaß die
- Kommode erzitterte und ein Fläschchen mit Kölnischem Wasser
- herunterfiel; aber das störte ihn nicht im mindesten. Er nannte das
- Fläschchen, wie es sich gehörte, ein albernes Ding, und dachte: »Zu wem
- soll ich jetzt zu allererst hingehen? Am besten, ich gehe ...« Da ertönt
- plötzlich im Flur etwas wie Sporengeklirr, und in der Türe erscheint ein
- Gendarm: bis an die Zähne bewaffnet, als wollte er ein ganzes Heer
- repräsentieren, und sagt: »Sie haben sich sofort beim Generalgouverneur
- zu melden!« Tschitschikow war ganz starr vor Schrecken. Vor ihm stand
- ein Schreckbild mit einem mächtigen Schnauzbart, einem wallenden
- Pferdeschweif, der ihm vom Kopfe herabfiel, eine Schärpe über der
- _rechten_ und eine Schärpe über der _linken_ Schulter und einen
- gewaltigen Pallasch an der Seite. Ja, es schien ihm, als ob er an der
- andern Seite noch ein Gewehr und weiß der Teufel was sonst noch alles
- hängen hatte: eine ganze Armee in einer Person! Er wollte etwas
- einwenden, aber die Schreckensgestalt antwortete grob: »Sie haben sofort
- mitzukommen!« Hinter der Vorzimmertür sah er noch eine andre ähnliche
- Schreckensgestalt auftauchten; er warf einen Blick durchs Fenster: auf
- der Straße vor seinem Hause hielt eine Equipage. Was war da zu machen?
- Er mußte sich dazu bequemen, und ganz so wie er da war, in seinem Frack
- von Navarinoscher Rauchfarbe mit Feuerglanz im Wagen Platz nehmen.
- Zitternd und zähneklappernd machte er sich auf den Weg und fuhr,
- begleitet von dem Gendarm direkt zum Generalgouverneur.
- Im Vorzimmer ließ man ihm gar nicht erst Zeit sich zu sammeln. »Treten
- Sie ein, der Fürst erwartet Sie schon!« sagte der diensthabende Beamte.
- Wie durch einen leichten Nebel sah er das Vorzimmer, voller Kuriere, die
- allerhand Pakete in Empfang nahmen, und hierauf einen Saal, den er
- durchschreiten mußte, und er dachte: »Wie? Wenn sie mich nun plötzlich
- ergreifen, und ohne gerichtliche Untersuchung und ohne alle Formalitäten
- einfach nach Sibirien befördern!« Sein Herz fing heftig an zu klopfen,
- weit heftiger als bei dem eifersüchtigsten Liebhaber. Endlich tat sich
- die verhängnisvolle Tür auf: vor ihm lag ein Zimmer mit zahlreichen
- Schränken und Tischen, die mit Büchern und Portefeuilles bedeckt waren:
- der Fürst stand vor ihm, schrecklich in seinem Zorn wie der
- personifizierte Rachegott.
- »Alleszermalmer!« dachte Tschitschikow, »er wird mich zerreißen, wie der
- Wolf das Lamm!«
- »Ich habe Sie geschont, ich habe Ihnen erlaubt, in der Stadt zu bleiben,
- während Sie eigentlich ins Zuchthaus gehörten; Sie aber haben sich von
- neuem durch den gemeinsten Schurkenstreich befleckt, mit dem sich jemals
- ein Mensch beschmutzt hat!« Die Lippen des Fürsten bebten vor Zorn.
- »Was ist das für ein gemeiner Schurkenstreich, Durchlaucht?« sagte
- Tschitschikow, der am ganzen Leibe zitterte.
- »Die Frau,« sagte der Fürst, indem er näher auf ihn zuging und
- Tschitschikow gerade in die Augen blickte: »die Frau, die das Testament
- auf Ihr Geheiß unterschrieben hat, ist verhaftet worden, und wird Ihnen
- gegenübergestellt werden.«
- Tschitschikow wurde es dunkel vor den Augen.
- »Durchlaucht! Ich will Ihnen die ganze Wahrheit sagen. Ich bin schuldig,
- ja ich bin schuldig; aber nicht so schuldig, wie Sie glauben, meine
- Feinde haben mich verleumdet.«
- »Sie _kann_ niemand verleumden, denn in Ihnen steckt unendlich viel mehr
- Gemeinheit und Niedertracht, als der schlimmste Lügner ersinnen kann.
- Ich glaube, Sie haben in Ihrem ganzen Leben keine ehrliche Tat
- vollbracht. Jede Kopeke, die Sie besitzen, ist erschwindelt und
- ergaunert. Es gibt eine Art von Raub und Verbrechen, auf die die Knute
- und Sibirien stehen! Nein, Ihr Maß ist voll! Du wirst sofort ins
- Gefängnis abgeführt werden; dort magst du zusammen mit den gemeinsten
- Schurken und Räubern auf die Entscheidung deines Schicksals warten. Und
- das kannst du als Gnade ansehen, denn du bist noch weit schlimmer als
- sie: sie sind einfache Leute, in Pelz und Kittel, du dagegen ...« Er
- warf einen Blick auf den Frack von Navarinoscher Rauchfarbe mit
- Feuerglanz, ergriff die Glockenschnur und klingelte.
- »Durchlaucht!« schrie Tschitschikow, »haben Sie Erbarmen! Sie sind doch
- auch Familienvater. Ich flehe Sie um Gnade an: nicht für mich, für meine
- alte Mutter!«
- »Du lügst!« rief der Fürst zornig. »Genau so hast du damals für deine
- Kinder und deine Familie, die du nie besessen hast, um Gnade gefleht!
- Jetzt ist es die Mutter!«
- »Durchlaucht! Ja ich bin ein Schurke, ein gemeiner niederträchtiger
- Schuft!« sagte Tschitschikow ... »Ich habe wirklich gelogen, denn ich
- hatte weder Kinder noch Familie; aber Gott sei mein Zeuge, ich hatte
- stets die Absicht, mich zu verheiraten, meine Pflicht als Mensch und
- Bürger zu erfüllen, um mir später einmal die Achtung meiner Vorgesetzten
- und Mitbürger zu verdienen! ... Aber welch ein unglückliches
- Zusammentreffen der Umstände! Durchlaucht! Mit meinem Schweiß und Blut
- mußte ich mir mein tägliches Brot verdienen. Und dabei diese
- Versuchungen und Verführungen auf Schritt und Tritt ... nichts als
- Feinde und Gegner ... Räuber und Mörder ... Mein ganzes Leben war wie
- ein stürmischer Wirbel oder ein schwankender Kahn auf offenem Meer, ein
- Spielball der Winde und Wellen. Ich bin -- auch nur ein Mensch --
- Durchlaucht!«
- Tränenströme stürzten aus seinen Augen. Er warf sich vor dem Fürsten auf
- die Kniee, wie er ging und stand: im Frack von Navarinoscher Rauchfarbe
- mit Feuerglanz, mit der Sammetweste und seidenen Krawatte, in den
- herrlich sitzenden Hosen und seiner schönen Frisur, die eine Wolke von
- Wohlgeruch und feinstem Eau-de-Cologne-Duft aussendete; er beugte sich
- tief vor dem Fürsten und schlug mit dem Kopf gegen den Fußboden.
- »Fort, fort von mir! Ein Soldat soll kommen und ihn mitnehmen!« sagte
- der Fürst zu den eintretenden Gendarmen.
- »Durchlaucht!« schrie Tschitschikow und umklammerte mit beiden Armen den
- einen Stiefel des Fürsten.
- Der Fürst zuckte zusammen, ein Schauder rann ihm durch alle Adern.
- »Fort, fort mit ihm! sag ich!« rief er, indem er seinen Fuß aus der
- Umklammerung Tschitschikows zu befreien versuchte.
- »Durchlaucht! Ich rühre mich nicht vom Fleck, bis Sie mir verziehen
- haben,« sagte Tschitschikow, ohne den Fuß des Fürsten loszulassen, sodaß
- dieser, als er einen Schritt machte, ihn mitsamt seinem Frack von
- Navarinoscher Rauchfarbe mit Feuerglanz auf dem Fußboden nach sich
- schleifte.
- »Fort! Gehen Sie, sag ich Ihnen!« rief der Fürst mit jenem
- unerklärlichen Gefühl des Ekels und Widerwillens, das ein Mensch beim
- Anblick eines häßlichen Insekts empfindet, ohne doch den Mut zu haben,
- es zu zertreten. Er riß seinen Fuß mit solcher Gewalt los, daß
- Tschitschikow einen Tritt vor Nase, Lippen und das wohlgerundete Kinn
- erhielt, aber er gab den Stiefel doch nicht frei und klammerte sich nur
- noch stärker an ihn. Zwei kräftige Gendarmen schleppten ihn nur mit Mühe
- fort, sie nahmen ihn unter den Arm und führten ihn durch die lange
- Zimmerflucht hinaus. Er war bleich und niedergeschlagen und befand sich
- in jenem furchtbaren und gefühllosen Zustande, wo der Mensch den
- finsteren und unabwendlichen Tod vor Augen sieht, dieses entsetzliche
- Schreckbild, das unserem ganzen Wesen so sehr widerspricht.
- In der Tür, die auf die Treppe führte, begegnete ihnen Murasow. Ein
- Hoffnungsstrahl erhellte plötzlich Tschitschikows verdüstertes Gemüt.
- Mit geradezu unnatürlicher Kraft hatte er sich plötzlich aus den Händen
- beider Gendarmen losgerissen und warf sich nun vor dem erstaunten
- Murasow auf die Kniee.
- »Pawel Iwanowitsch, Bester! was ist Ihnen?«
- »Retten Sie mich! Man führt mich ins Gefängnis, aufs Schafott.«
- Hier aber packten ihn die Gendarmen und führten ihn hinaus, ohne ihn
- ausreden zu lassen.
- Eine feuchte dumpfe Zelle, in der es nach den Stiefeln und Fußlappen der
- Garnisonsoldaten duftete, ein ungestrichener Tisch, zwei schlechte
- Stühle, ein vergittertes Fenster und ein verfallener Ofen, der beständig
- rauchte, ohne zu wärmen -- das war der Raum, in dem unser Held
- untergebracht wurde, er, der bereits begonnen hatte, die Wonnen des
- Lebens zu kosten und in seinem eleganten neuen Frack von Navarinoscher
- Rauchfarbe mit Feuerglanz die Aufmerksamkeit seiner Mitbürger auf sich
- zu lenken. Man erlaubte ihm nicht, seine Sachen zu ordnen, er durfte
- nicht einmal seine Schatulle mit dem Gelde mitnehmen, das er sich mühsam
- erworben hatte ... All seine Papiere, die Verträge über den Kauf der
- toten Bauern -- alles war jetzt in den Händen der Beamten. Er fiel auf
- die Erde und hoffnungsloser Gram fing an, einem gierigen Wurme gleich an
- seinem Herzen zu nagen. Immer heftiger zerfleischte er sein armes
- wehrloses Herz. Noch ein Tag, noch ein einziger Tag voll solchen
- Schmerzes, und wer weiß, ob Tschitschikow überhaupt noch auf der Welt
- gewesen wäre. Aber auch über Tschitschikow wachte eine schirmende und
- rettende Hand. Eine Stunde darauf öffnete sich die Türe des Gefängnisses
- und hereintrat: »der alte Murasow«.
- Hätte jemand einem müden und erschöpften, von brennendem Durste
- gequälten und mit dem Staube und Schmutze des Weges bedeckten Wanderer
- ein paar Tropfen frischen Quellwassers in die trockene Kehle geträufelt,
- -- es hatte ihn nicht so beleben können, wie dies Ereignis unsern armen
- Tschitschikow.
- »Mein Retter!« rief Tschitschikow plötzlich, indem er vom Fußboden aus,
- auf den er sich in seinem herzzerreißenden Schmerz niedergeworfen hatte,
- nach Murasows Hand griff, sie schnell küßte und an seine Brust drückte.
- »Gott lohne es Ihnen, daß Sie zu mir Unglücklichem kommen!«
- Und er brach in Tränen aus.
- Der Greis sah ihn mit traurigem schmerzlichem Blicke an und sagte nur:
- »Pawel, Pawel Iwanowitsch! Pawel Iwanowitsch! Was haben Sie getan?«
- »Was soll ich machen! Er hat mich zugrunde gerichtet, der Verfluchte!
- Ich konnte nicht Maß halten; und verstand es nicht, zur rechten Zeit
- aufzuhören. Er hat mich verführt, der verfluchte Satan, daß ich alle
- Grenzen menschlicher Vernunft und Besonnenheit überschritt! Ja, ich habe
- gefehlt, ich habe schwer gefehlt! Und doch wie konnte man mich so
- behandeln. Einen Edelmann, ohne Untersuchung und ohne gerichtliches
- Urteil ins Gefängnis zu werfen! ... Einen Edelmann, Afanassij
- Wassiljewitsch! Man mußte mir doch wenigstens Zeit lassen, nach Hause zu
- gehen und meine Sachen zu ordnen? Es liegt ja noch alles so herum wie
- früher, und es ist niemand da, der sich darum kümmert. Meine Schatulle!
- Afanassij Wassiljewitsch! O meine Schatulle! Da steckt doch mein ganzes
- Vermögen drin, das ich mir im Schweiße meines Angesichts mit meinem
- Blut, durch jahrelange Mühen und Entbehrungen erworben habe. Meine
- Schatulle, Afanassij Wassiljewitsch! Sie werden mir ja alles stehlen und
- fortschleppen! O mein Gott, mein Gott!«
- Er konnte sich nicht mehr beherrschen, und außerstande den Schmerz
- niederzukämpfen, der sein Herz krampfhaft erschütterte, fing er laut an
- zu schluchzen, mit einer Stimme, die durch die dicken Mauern des
- Gefängnisses hindurch drang und weithin widerhallte; er ergriff die
- Atlaskrawatte und den Kragen seines Anzugs und riß den herrlichen Frack
- von Navarinoscher Rauchfarbe mit Feuerglanz in Stücke.
- »Ach Pawel Iwanowitsch, wie hat Sie doch die Gier nach Wohlstand und
- Reichtum verblendet, daß Sie sich nicht klar wurden über Ihre furchtbare
- Lage!«
- »O mein Wohltäter! retten Sie mich, retten Sie mich!« schrie der arme
- Pawel Iwanowitsch ganz verzweifelt, indem er vor ihm auf die Kniee sank.
- »Der Fürst liebt Sie. Für Sie wird er alles tun!«
- »Nein, Pawel Iwanowitsch, ich kann nichts für Sie tun, selbst wenn ich
- es wollte, und so sehr ich es auch wünschte. Sie sind in die Macht des
- unerbittlichen Gesetzes und nicht in menschliche Hände gefallen!«
- »Er hat mich verführt; der Satan! der Verdammte, dieser Auswurf des
- Menschengeschlechtes!«
- Und er rannte mit dem Kopfe gegen die Wand und schlug so stark mit der
- Faust auf den Tisch, daß er sich seine Hand blutig schlug; aber er
- fühlte weder den Schmerz im Kopfe, noch die furchtbare Wucht des
- Schlages.
- »Pawel Iwanowitsch, beruhigen Sie sich; denken Sie lieber daran, sich
- mit Ihrem _Gotte_ auszusöhnen und nicht mit den Menschen; denken Sie an
- Ihre arme Seele!«
- »O welch ein schreckliches Schicksal, Afanassij Wassiljewitsch. Ward je
- einem Menschen ein solch furchtbares Los zuteil? Mit welch geradezu
- mörderischer Geduld und Ausdauer habe ich mir jede Kopeke erspart;
- wahrlich mit harter Mühe und Arbeit, im Schweiße meines Angesichts habe
- ich sie erworben. Ich habe doch niemand beraubt oder die Staatskasse
- bestohlen, wie es andre Leute machen. Und wozu habe ich Kopeke auf
- Kopeke gespart? Um den Rest meiner Tage anständig zu verleben; um meiner
- Frau und meinen Kindern etwas zu hinterlassen, denn ich wollte mir eine
- Familie gründen, zum Wohle des Staates und um meinem Vaterlande zu
- dienen. Das war mein einziges Ziel. Ich habe unrecht getan; ich leugne
- es nicht, ich habe mich schwer vergangen ... aber was soll ich tun? Und
- doch wich ich erst da vom geraden Wege ab, als ich sah, daß der gerade
- Weg nicht zum Ziele führt, und daß der krumme eben der kürzere ist. Aber
- ich habe doch gearbeitet und mich ehrlich angestrengt. Wenn ich jemand
- was fortgenommen habe, so nahm ich's nur den Reichen. Es gibt doch
- Schurken beim Gericht, die der Krone Tausende stehlen, die armen Leute
- plündern und denen, die nichts haben, die letzte Kopeke wegnehmen! Nein,
- sagen Sie, hab ich nicht Unglück? -- noch jedes Mal, wenn ich die
- Früchte meiner Mühe zu ernten, sie schon sozusagen mit Händen zu greifen
- glaubte, brach ein Sturm über mich herein, strandete ich an einem Riff,
- und mein ganzes Schiff zerschellte. Einmal hatte ich schon
- dreihunderttausend Rubel Kapital in Händen und ein dreistöckiges Haus
- dazu, zweimal schon habe ich mir ein Gut gekauft ... Ach Afanassij
- Wassiljewitsch. Womit verdiente ich diese Schicksalsschläge? Glich denn
- nicht schon ohnedies mein Leben einem schwankenden Kahn auf stürmischem
- Ozean? Wo bleibt da die ewige Gerechtigkeit? Wo der Lohn für meine
- Geduld und meine unerhörte Ausdauer? Dreimal mußte ich von Anfang
- anfangen: nachdem ich alles verloren, begann ich von neuem, mit wenigen
- Kopeken in der Tasche, während sich ein anderer längst dem Trunke
- ergeben hätte und in der Schenke verkommen wäre. Wie vieles mußte ich in
- mir unterdrücken, wieviel mußte ich aushalten! Wahrlich, jede Kopeke ist
- sozusagen mit dem ganzen Aufgebot meiner Geisteskraft errungen! Wie
- leicht hatten es andre Leute, für mich aber war jede Kopeke wie das
- Sprichwort sagt mit einem silbernen Nagel festgenagelt, und diese
- festgenagelte Kopeke mußte ich mir, Gott sei mein Zeuge, mit geradezu
- eiserner Geduld und Unermüdlichkeit erringen.«
- Er fing an zu schluchzen, ein unerträglicher Schmerz zerriß sein Herz;
- kraftlos sank er auf einen Stuhl nieder und riß dabei den einen
- herabhängenden halbzerfetzten Frackschoß vollends ab; er schleuderte ihn
- weit von sich, fuhr sich mit beiden Händen durch sein Haar, um dessen
- Pflege er sonst so eifrig bemüht war, und zerraufte es unbarmherzig; er
- schien sich an seinem eigenen Schmerze zu weiden, und sein durch nichts
- zu beschwichtigendes Herzeleid mit dem physischen Schmerz betäuben zu
- wollen.
- Murasow saß ihm lange stumm gegenüber, in die Betrachtung dieses
- seltsamen noch nie gesehenen Schauspieles versunken. Unterdessen wand
- sich der unglückliche erbitterte Mensch, der sich noch vor kurzem mit
- der Gewandtheit und Ungezwungenheit eines Weltmannes oder Militärs
- bewegt hatte, in einem unwürdigen Aufzuge, mit zerzausten Haaren,
- zerrissenem Frack, aufgeknöpften Beinkleidern und mit blutender Hand zu
- seinen Füßen, fortwährend bittere Flüche gegen die feindlichen Mächte
- ausstoßend, die den Menschen befehden.
- »Ach Pawel Iwanowitsch, Pawel Iwanowitsch! Was hätte aus Ihnen für ein
- Mensch werden können, wenn Sie sich mit derselben Kraft und Ausdauer
- einer ehrlichen Arbeit gewidmet und sich ein edleres Ziel gesteckt
- hätten. Herrgott! wieviel Gutes hätten Sie stiften können! Wenn doch nur
- _einer_ der Menschen, die das Gute lieben, soviel Anstrengungen machte,
- wie Sie es taten, um Kopeke auf Kopeke zu häufen, wenn sie es doch
- verständen, ihre Eigenliebe und ihren Ehrgeiz so für das Gute zu opfern,
- ohne sich selbst zu schonen, wie Sie sich nicht schonten, um Ihren
- Besitz zu mehren! -- Gott, wie herrlich würde es dann auf unserer Erde
- aussehen! ... Pawel Iwanowitsch, Pawel Iwanowitsch! Nicht das ist das
- Traurige, daß Sie schuldig wurden und sich an andern vergingen, sondern
- daß Sie sich so schwer an sich selbst vergangen haben: an Ihren reichen
- Kräften und Fähigkeiten, die Ihnen zuteil wurden. Es war Ihre
- Bestimmung: ein großer Mann zu werden, Sie aber haben Ihre Kräfte
- verzettelt und sich selbst zugrunde gerichtet.«
- Es gibt unergründliche Tiefen der menschlichen Seele: wie weit sich auch
- der irrende Mensch vom geraden Wege entfernt haben, wie verstockt auch
- der unverbesserliche Verbrecher in seinen Gefühlen sein mag, wie trotzig
- er auf seinem lasterhaften Leben beharren mag: wenn man ihm sein
- besseres Selbst und seine von ihm selbst in den Kot gezogenen Tugenden
- vorhält, dann bäumt sich alles in ihm, und tieferschüttert steht er da.
- »Afanassij Wassiljewitsch,« sagte der arme Tschitschikow und ergriff
- Murasows beide Hände. »Oh! wenn es mir gelänge, frei zu kommen und mein
- Vermögen zurückzugewinnen! Ich schwöre Ihnen, ich würde von nun ab ein
- ganz neues Leben beginnen! Retten Sie mich, o mein Wohltäter, retten Sie
- mich!«
- »Was kann ich nur tun? Ich müßte wider das Gesetz streiten. Aber selbst
- wenn ich mich dazu entschließen könnte, vergessen Sie eines nicht: der
- Fürst ist sehr gerecht, -- er wird unter keinen Umständen nachgeben.«
- »O, mein Wohltäter! Sie können alles erreichen! Mich schreckt das Gesetz
- nicht -- gegen das Gesetz werde ich schon Mittel und Wege finden -- was
- mich empört, ist dies: daß ich unschuldig ins Gefängnis geworfen wurde,
- wie ein Hund, daß mein ganzes Vermögen, meine Papiere, meine Schatulle
- .... O, retten Sie mich! Helfen Sie mir!«
- Er umklammerte die Füße des alten Mannes und benetzte sie mit seinen
- Tränen.
- »Ach, Pawel Iwanowitsch, Pawel Iwanowitsch!« sagte der alte Murasow,
- indem er den Kopf schüttelte: »wie hat Sie doch dieser Reichtum
- verblendet! Sie denken nur an ihn und hören nicht auf Ihre arme Seele?«
- »Ich will auch an meine Seele denken, nur retten Sie mich!«
- »Pawel Iwanowitsch!« sprach der alte Murasow und hielt einen Augenblick
- inne. »Es liegt nicht in meiner Macht, Sie zu retten -- das sehen Sie
- doch selbst. Aber ich verspreche Ihnen, alles zu tun, was ich nur kann,
- um Ihr Los zu erleichtern, und Sie zu befreien. Ich weiß nicht, ob mir
- dies gelingen wird, aber ich werde mir die größte Mühe geben. Sollte ich
- jedoch wider Erwarten Glück haben: Pawel Iwanowitsch -- dann bitte ich
- mir einen Lohn für meine Bemühungen aus. Pawel Iwanowitsch, ich flehe
- Sie an: lassen Sie ab von dieser Gier und Jagd nach dem Erwerb. Ich gebe
- Ihnen mein Ehrenwort: wenn ich mein ganzes Vermögen verlöre -- und es
- ist weit größer als das Ihrige -- ich würde ihm keine Träne nachweinen.
- Wahrlich, was liegt am Besitz, den man mir jeden Tag konfiszieren kann,
- worauf es ankommt, das sind die Güter, die mir niemand zu nehmen oder zu
- stehlen vermag! Sie haben doch schon lange genug auf dieser Welt gelebt.
- Sie nennen ja Ihr Leben selbst einen schwankenden Kahn auf wogendem
- Meer. Sie besitzen genug, um den Rest Ihrer Tage sorglos verleben zu
- können. Lassen Sie sich in einem stillen Erdenwinkel nieder; in der Nähe
- einer Kirche, nahe bei schlichten braven Menschen, oder wenn Sie schon
- den glühenden Wunsch haben, Nachkommen zu hinterlassen, so heiraten Sie
- ein armes braves Mädchen, das an einfache Verhältnisse und an ein
- mäßiges Leben gewöhnt ist. Vergessen Sie diese lärmende Welt und all
- ihre Launen und Verführungen: es schadet gar nichts, wenn auch die Welt
- Sie vergißt: sie kann uns keinen Frieden gewähren, Sie sehen ja selbst:
- sie ist voller Feinde, Verführungen und Verrätereien.«
- »Unbedingt, ganz unbedingt! Ich hatte schon die Absicht und wollte eben
- ein ordentliches Leben beginnen, wollte mich ganz der Landwirtschaft
- widmen und meine Bedürfnisse einschränken. Der Dämon der Verführung hat
- mich verwirrt und vom rechten Wege abgeführt, dieser Satan, dieser
- verfluchte Teufel, o diese Schlangenbrut!«
- Ganz neue, ungeahnte Gefühle, die er sich nicht zu erklären vermochte,
- durchdrangen plötzlich seine Brust, es war, als ob sich in ihm etwas
- regte; und aus tiefem Schlummer erwachte etwas ganz Fernes, längst
- Vergessenes ... etwas, das eine strenge tote Lehre in frühester Kindheit
- im Keime erstickt hatte, das eine trübselige, trostlose Jugend, die Enge
- des Vaterhauses, die Einsamkeit seines traurigen Lebens fern von der
- Familie, die Armut und Armseligkeit der ersten Eindrücke in ihm
- unterdrückt hatten; und alles das, was das harte und kalte Auge des
- Schicksals, das ihn traurig und wie durch ein trübes, vom Schneesturme
- verwehtes Fenster angeblickt, in sein Inneres zurückgeschreckt hatte,
- schien sich nun plötzlich losreißen und nach außen drängen zu wollen.
- Ein Stöhnen entrang sich seiner Brust, er bedeckte sein Antlitz mit
- beiden Händen und sprach mit schmerzdurchzitterter Stimme: »Wahrhaftig,
- Sie haben recht!«
- »Ihre Menschenkenntnis und Ihre Erfahrung haben Ihnen nicht geholfen,
- weil Sie sie in den Dienst des Unrechts stellten. Hätten Sie doch einer
- gerechten Sache gedient! ... Ach Pawel Iwanowitsch, warum haben Sie sich
- selbst zugrunde gerichtet. Erwachen Sie: noch ist es nicht zu spät, noch
- ist es Zeit ...«
- »Nein, es ist zu spät, zu spät!« stöhnte Tschitschikow mit einer Stimme,
- bei deren Klang Murasow fast das Herz springen wollte. »Ich fange an zu
- fühlen, zu begreifen, daß ich irrte und weit, weit vom rechten Wege
- abwich, aber ich kann nicht mehr anders! Nein, ich bin einmal so
- erzogen. Mein Vater hat mir beständig Moral gepredigt, hat mich
- geschlagen und mich schöne Sittensprüche abschreiben lassen, während er
- selbst vor meinen Augen den Nachbarn ihr Holz wegstahl und mich zwang,
- ihm dabei behilflich zu sein. Ich selbst war Zeuge, wie er einen
- falschen Prozeß begann und ein armes Waisenmädchen verführte, deren
- Vormund er war. Das lebendige Beispiel wirkt mehr als alle
- Moralpredigten. Ich sehe und fühle es sehr gut, daß ich ein schlechtes
- Leben führe, Afanassij Iwanowitsch, und doch verabscheue ich das Laster
- nicht: ich bin stumpf geworden, ich liebe das Gute nicht, und mir fehlt
- jene herrliche Neigung zu gottgefälligen Werken, die uns bald zur
- zweiten Natur, zur Gewohnheit wird ... Ich kann nicht mit demselben
- Eifer dem Guten dienen, der mich beseelt, wenn mir Reichtum und
- Wohlstand als Preis winken. Ich spreche die Wahrheit -- was soll ich
- machen?«
- Der Greis seufzte tief auf ....
- »Pawel Iwanowitsch! Sie haben soviel Willenskraft, soviel Geduld und
- Ausdauer. Die Arznei schmeckt bitter, und doch schluckt sie der Kranke,
- denn er weiß: nur so kann er genesen. Sie lieben das Gute nicht -- so
- zwingen Sie sich, das Gute zu tun, ohne es zu lieben. Das wird Ihnen
- noch höher angerechnet werden, als dem, der das Gute tut, weil er es
- lieb hat. Versuchen Sie es, sich nur ein paar Mal zu zwingen ... dann
- wird die Liebe schon von selbst kommen. Glauben Sie mir, es läßt sich
- alles erreichen. Es ist uns gesagt worden: Das Reich Gottes muß errungen
- werden. Es muß mit Gewalt erstürmt, mit Gewalt erworben und errungen
- werden. Ach, Pawel Iwanowitsch! Wahrlich: Sie besitzen diese Kraft, die
- so vielen andern fehlt, diese eiserne Geduld, und Sie sollten
- unterliegen? Wahrhaftig! ich glaube fürwahr: Sie waren ein _Held_, ein
- _Heros_ heute in unserer Zeit, wo alle Menschen so schwach, so energie-
- und willenlos sind.«
- Man sah förmlich, wie diese Worte Tschitschikow in die Seele drangen und
- den Ehrgeiz, der tief auf ihrem Grunde schlummerte, aufstachelten. War
- es auch kein bestimmter Entschluß, so war es doch etwas Starkes, Festes,
- was einem Entschlusse sehr ähnlich sah, das jetzt in seinen Augen
- aufblitzte ....
- »Afanassij Wassiljewitsch!« sprach er mit fester Stimme: »wenn es Ihnen
- gelingen sollte, mir die Freiheit und die Mittel zu verschaffen, damit
- ich diese Stadt wenn auch nur mit einem kleinen Vermögen verlassen kann,
- dann gebe ich Ihnen mein Wort, ich will ein neues Leben beginnen: dann
- kaufe ich mir ein kleines Gut, werde Landwirt und fange an zu sparen,
- nicht für mich selbst, sondern um andern zu helfen und Gutes zu tun,
- soweit es in meinen Kräften steht; ich will versuchen, mich selbst und
- all diese städtischen Diners und Schlemmereien zu vergessen, und ein
- einfaches nur der Arbeit gewidmetes Leben zu führen.«
- »Gott stärke Sie in diesem Entschluß!« sagte hocherfreut der alte Mann.
- »Ich will all meine Kräfte einsetzen, um den Fürsten zu bewegen, daß er
- Ihnen die Freiheit schenkt. Ob es mir gelingen wird, oder nicht, das
- weiß Gott allein. Auf jeden Fall wird Ihr Los erleichtert werden. O,
- mein Gott! Umarmen Sie mich, und lassen Sie sich umarmen! Wie haben Sie
- mich erfreut! Und nun behüte Sie Gott, ich gehe sofort zum Fürsten.«
- Tschitschikow blieb allein.
- Sein ganzes Wesen war aufs tiefste erschüttert. Er war ganz weich
- geworden. Auch das Platin, das härteste aller Metalle, das dem Feuer am
- längsten widersteht, schmilzt am Ende, wenn man die Flamme in der Esse
- anfacht, die Blasebälge stärker tritt und des Feuers Hitze zu
- unerträglicher Glut anschwillt -- allmählich wird es weißer und immer
- weißer -- das _eigensinnige_ Metall, bis es sich endlich verflüssigt: so
- gibt auch der stärkste Charakter nach in der Esse der Leiden und
- Schicksalsschläge, wenn sie immer heftiger auf ihn niederhageln und mit
- ihrer unerträglichen Glut die harte Rinde seines Wesens erweichen ...
- »Zwar verstehe und fühle ich es selbst nicht, doch aber will ich all
- meine Kräfte einsetzen, um es andre fühlen zu machen; zwar bin ich
- selbst schlecht, doch aber will ich all meine Kraft zusammennehmen, um
- andre zu bessern; zwar bin ich selbst ein schlechter Christ, doch aber
- will ich alles daransetzen, um kein Ärgernis zu geben. Ich werde selbst
- Hand anlegen und auf dem Lande im Schweiße meines Angesichts tätig sein;
- ich werde mir eine ehrliche Arbeit suchen, um auch auf andre einen guten
- Einfluß auszuüben. Bin ich denn zu gar nichts mehr nütze? Ich habe doch
- eine gewisse Befähigung zur Landwirtschaft, ich bin sparsam, flink,
- gewandt und besonnen, ich habe sogar Energie und Ausdauer. Man muß nur
- wollen ...«
- So dachte Tschitschikow und schien mit halberwachten Seelenkräften etwas
- ahnend zu ergreifen. Es war fast, als fühlte er mit dunklem Instinkt,
- daß es eine Aufgabe gibt, die der Mensch hier auf Erden zu erfüllen hat,
- und die sich überall, in jedem Erdenwinkel erfüllen läßt, trotz aller
- widrigen Verhältnisse, trotz aller Zweifel und Unruhe, die den Menschen
- auf jedem Posten bestürmen, auf den er gestellt ist. Und das werktägige
- Leben, fern vom Lärm der Städte und den Versuchungen und Verführungen,
- die der müßige, von der Arbeit entwöhnte Mensch erdacht hat, stand
- plötzlich so deutlich vor ihm, daß er seine peinliche Lage beinahe
- vergaß und vielleicht sogar geneigt gewesen wäre, der Vorsehung für
- diesen harten Schicksalsschlag zu danken, wenn er seine Freiheit und
- wenigstens einen _Teil_ seines Vermögens wiedererlangt hätte ... Aber da
- öffnete sich die kleine Türe zu seiner schmutzigen Zelle, und herein
- trat ein Beamter namens Ssamoswistow, ein flotter Bursche und Epikuräer,
- ein breitschultriger, schlanker, hochgewachsener Mann, ein
- ausgezeichneter Kamerad, ein Zechbruder und ein geriebener Kerl, wie ihn
- seine eigenen Freunde nannten. In Kriegszeiten hätte der Mensch wahre
- Wundertaten vollbracht: irgend einen Patrouillenritt durch gefährliche
- und unwegsame Gegenden ausführen, oder dem Feind eine Kanone vor der
- Nase wegstehlen -- das wäre so etwas für ihn gewesen. Aber da es keine
- militärische Stelle für ihn gab, auf der man vielleicht einen
- anständigen Menschen aus ihm hätte machen können, so gab er sich die
- größte Mühe, allen Menschen schlechte Streiche zu spielen. Merkwürdig!
- Er hatte höchst sonderbare Ansichten und Grundsätze: seinen Freunden war
- er ein guter Kamerad, er verriet sie niemals und hielt ihnen gegenüber
- stets sein Wort; seine Vorgesetzten dagegen hielt er für eine Art
- feindliche Batterie, durch die man sich durchschlagen mußte, wobei es
- erlaubt war, jeden schwachen Punkt, jede Bresche und Fahrlässigkeit
- seitens des Gegners auszunutzen.
- »Ich weiß schon, ich habe schon von Ihrer Sache gehört!« sagte er, als
- er merkte, daß sich die Tür hinter ihm fest geschlossen hatte. »Macht
- nichts, macht nichts! Lassen Sie den Mut nicht sinken; wir bringen alles
- wieder in Ordnung. Wir werden uns alle für Sie bemühen. Wir stehen Ihnen
- ganz zur Verfügung. Dreißigtausend Rubel -- für uns alle zusammen und
- die Sache ist gemacht.«
- »Wirklich?« rief Tschitschikow aus, »und ich werde ganz freigesprochen?«
- »Ganz und gar! Sie bekommen sogar noch Schadenersatz für Ihre Verluste.«
- »Und für Ihre Bemühungen?«
- »Dreißigtausend. Alles inbegriffen -- für die Unsrigen, für die Leute
- des Generalgouverneurs und für den Sekretär.«
- »Aber erlauben Sie, wie kann ich nur? ... Meine Sachen ... meine
- Schatulle ... das ist doch alles versiegelt, in den Händen der Polizei
- ...«
- »In einer Stunde haben Sie alles wieder! Schlagen Sie ein?«
- Tschitschikow reichte ihm seine Hand. Sein Herz klopfte, er glaubte
- nicht recht, das es möglich sei ...
- »Doch nun leben Sie wohl. Unser gemeinsamer Freund bittet mich Ihnen zu
- sagen: die Hauptsache ist: ruhig Blut und Geistesgegenwart!«
- »Hm!« dachte Tschitschikow, »ich verstehe: der Rechtsanwalt!«
- Ssamoswistow entfernte sich. Als Tschitschikow sich wieder allein in
- seiner Zelle befand, wollte er noch immer nicht recht an dessen Worte
- glauben, aber es verging keine halbe Stunde, da wurde ihm schon seine
- Schatulle gebracht: die Papiere, das Geld -- alles war in schönster
- Ordnung. Ssamoswistow spielte die Rolle eines Inspektors: er gab den
- Posten einen Rüffel, weil er nicht wachsam genug sei, gab dem
- Gefängnisaufseher den Befehl, noch ein paar Soldaten zur Verstärkung der
- Wache kommen zu lassen, beschlagnahmte die Schatulle und entnahm ihr
- sämtliche Papiere, die Tschitschikow im geringsten kompromittieren
- konnten, dann band er alles zusammen, versiegelte es und beauftragte
- einen Soldaten, das Paket sofort Tschitschikow zu überbringen, unter dem
- Vorwand, es befänden sich Bettwäsche und die notwendigsten Stücke der
- Nachttoilette darin, sodaß Tschitschikow zugleich mit seinen Papieren
- noch warme Sachen erhielt, mit denen er seinen sterblichen Leib zudecken
- konnte. Diese prompte Zustellung bereitete ihm eine unsagbare Freude. Er
- faßte wieder Hoffnung und schon fing er aufs neue an, von allerhand
- schönen Dingen zu träumen: vom Theater und einer reizenden Tänzerin, der
- er die Kur machte. Das Gut und die ländliche Stille verblaßten merklich,
- dagegen malte sich ihm die Stadt und ihr lärmendes Getriebe in weit
- helleren und klareren Farben ... »O Leben!«
- Unterdessen hatte vor den Gerichten und Tribunalen ein Prozeß von
- geradezu grenzenlosen Dimensionen begonnen. Die Federn der Schreiber
- waren emsig an der Arbeit; gescheite Leute schnupften Tabak, zerbrachen
- sich die Köpfe, und hatten einen beinahe künstlerischen Genuß beim
- Studium dieser herrlichen schwungvoll geschriebenen Akten. Der
- Rechtsanwalt lenkte und leitete wie ein verborgener Zauberkünstler den
- ganzen Mechanismus; noch ehe jemand Zeit hatte sich umzusehen, hatte er
- alle in seinem Netze gefangen. Der Wirrwarr wurde immer größer.
- Ssamoswistow übertraf sich selbst durch seine geradezu unerhörte
- Kühnheit und Frechheit. Er brachte in Erfahrung, wo die jüngst
- verhaftete Frau untergebracht war, ging sofort hin und trat mit der
- sicheren und kecken Miene eines Chefs oder Vorgesetzten ein, so daß der
- Posten »Honneur« machte und stramm stand. »Stehst du schon lange hier?«
- -- »Seit heute morgen, Euer Gnaden!« -- »Wirst du bald abgelöst?« -- »Um
- drei Uhr, Euer Gnaden!« -- »Ich werde dich brauchen. Ich werde dem
- Offizier sagen, daß er statt deiner einen andern herschicken soll.« --
- »Zu Befehl, Euer Gnaden!« Hierauf fuhr er nach Hause, und um nur ja
- niemand in die Sache zu verwickeln und alle Spuren zu verwischen, zog er
- sich sofort um. Er verkleidete sich als Gendarm und klebte sich einen
- künstlichen Schnurrbart und Backenbart an, sodaß ihn der Teufel selbst
- nicht erkannt hätte. Er ging in das Haus, wo Tschitschikow wohnte,
- ergriff das erste beste Weib, das ihm unter die Hände kam, übergab sie
- zwei jungen forschen Beamten, die auch eingeweiht waren, und erschien
- plötzlich ganz wie es sich gehört mit einem großen Schnauzbart und einem
- Gewehr vor dem Posten: »Marsch ... der Kommandeur hat mich hierher
- geschickt; ich soll dich ablösen.« Er löste den andern ab und pflanzte
- sich selbst mit dem Gewehr in der Hand vor dem Eingang auf. Das war
- alles, was er brauchte. Unterdessen hatte man das eine Weib mit einem
- andren vertauscht, das überhaupt nichts wußte, und keine Ahnung von der
- ganzen Sache hatte. Das erste Weib wußte man so gut zu verstecken, daß
- später kein Mensch mehr herauskriegen konnte, wo es eigentlich geblieben
- war. Während Ssamoswistow so seine Rolle als Soldat spielte, vollbrachte
- der Rechtsanwalt seinerseits wahre Wundertaten auf dem bürgerlichen
- Schauplatz! Er ließ dem Gouverneur durch eine dritte Person mitteilen,
- daß der Staatsanwalt die Absicht habe, ihn zu denunzieren; dem
- Gendarmerieoberst ließ er mitteilen, daß ein Beamter, der sich im
- geheimen in der Stadt aufhielte, ihn denunzieren wolle; dem
- geheimnisvollen Beamten brachte er die Überzeugung bei, daß es einen
- noch geheimnisvolleren Beamten gäbe, der ihn denunzieren wolle -- und er
- brachte alle dadurch in eine solche Lage, daß sich jeder an ihn wenden
- mußte, um sich Rat und Beistand zu holen. Es entstand ein furchtbarer
- Wirrwarr: eine Denunziation jagte die andre, es kamen unerhörte Dinge an
- den Tag, wie sie hier unter der Sonne noch nie vorgekommen, und sogar
- solche, die _überhaupt_ nicht vorhanden waren. Jeder Plunder fand seine
- Verwendung, alles wurde hervorgeholt und ans Licht gezogen: daß einer
- ein unehelicher Sohn war, was für einen Beruf und Stand er hatte, daß er
- sich eine Maitresse hält, und wessen Frau einem andern nachläuft.
- Skandalgeschichten und allerhand schmutzige Affären wurden mit dem Fall
- Tschitschikow und den Toten Seelen derartig vermengt und in Verbindung
- gebracht, daß man absolut nicht herauskriegen konnte, welche von diesen
- Affären den tollsten Unsinn darstellte: beide waren einander wert. Als
- dann schließlich die Akten beim Generalgouverneur einliefen, konnte der
- arme Fürst überhaupt nichts mehr verstehn. Der Beamte, der den Befehl
- erhalten hatte, einen Extrakt oder Auszug aus den Akten zu machen, ein
- gewandter und gescheiter Mann, verlor darüber beinahe den Verstand, er
- konnte den roten Faden in der ganzen Sache durchaus nicht finden. Der
- Fürst hatte gerade um diese Zeit große Sorgen wegen einer ganzen Reihe
- anderer Angelegenheiten, von denen eine unangenehmer war, als die andre.
- In einem Teil der Provinz war eine Hungersnot ausgebrochen. Die Beamten,
- die hingeschickt worden waren, um Brot unter die Hungernden zu
- verteilen, hatten die Lebensmittel nicht in der richtigen Weise
- verwendet. In einem andern Teil der Provinz regten sich die Sektierer.
- Jemand hatte das Gerücht unter ihnen verbreitet, daß der Antichrist
- gekommen sei, der nicht einmal die Toten in Ruhe lasse und tote Seelen
- aufkaufe. Sie taten Buße, sündigten weiter und machten unter dem
- Vorwande, den Antichristen fangen zu wollen, ein paar Nicht-Antichristen
- den Garaus. An einer andern Stelle waren Unruhen unter den Bauern
- ausgebrochen; sie hatten sich gegen die Gutsbesitzer und gegen den
- Gendarmerieobersten empört. Ein paar Landstreicher hatten das Gerücht
- verbreitet, jetzt sei die Zeit gekommen, wo die Bauern Gutsbesitzer
- werden und Fräcke anziehen müßten, während die Gutsbesitzer den
- Bauernkittel anlegen und selbst Bauern werden müßten -- und ein ganzer
- Bezirk hatte daraufhin, ohne zu überlegen, daß es unter diesen Umständen
- ja viel zu viele solche Gutsbesitzer und Gendarmerieoffiziere geben
- werde -- die Steuern verweigert. Man mußte zu Zwangsmaßregeln greifen.
- Der arme Fürst war ganz verstimmt und befand sich in der höchsten
- Aufregung. Da teilte man ihm mit, der Branntweinpächter Murasow sei
- gekommen. »Er soll eintreten!« sagte der Fürst. Der Greis betrat das
- Zimmer.
- »Da haben Sie Ihren Tschitschikow. Sie setzten sich für ihn ein und
- versuchten, ihn zu verteidigen. Jetzt hat man ihn bei einer Sache
- ertappt, zu der sich der schlimmste Dieb und Räuber nicht hergegeben
- hätte.«
- »Erlauben Sie mir, Ihnen mitzuteilen, Durchlaucht, daß ich die ganze
- Sache nicht recht gut verstehe.«
- »Die Fälschung eines Testaments, und was für eine Fälschung! ... Darauf
- steht öffentliche Züchtigung mit der Knute!«
- »Durchlaucht -- was ich jetzt sage, sage ich nicht, um Tschitschikow zu
- verteidigen -- aber das ist doch alles noch garnicht bewiesen: die
- Untersuchung hat ja noch garnicht stattgefunden.«
- »Wir haben Beweise: die Frau, die die Rolle der Toten spielte, ist
- verhaftet. Ich will sie sofort in Ihrer Gegenwart verhören.« Der Fürst
- klingelte und befahl, die Frau holen zu lassen.
- Murasow schwieg still.
- »Eine niederträchtige Gaunerei! Und ist es nicht eine Schande, daß die
- höchsten Beamten der Stadt, ja sogar der Gouverneur selbst in sie
- verwickelt sind. Er wenigstens dürfte doch nicht da sein, wo die Diebe
- und Faulenzer ihr Wesen treiben!« sagte der Fürst heftig.
- »Aber der Gouverneur ist doch einer der Erben; er hatte doch gewisse
- Rechte und Ansprüche darauf; und daß auch die andern von allen Seiten
- herbeigelaufen kamen und mit daran profitieren wollten -- das ist doch
- nur _menschlich_, Durchlaucht! Eine reiche Frau stirbt, sie hinterläßt
- ein Testament, das weder klug noch gerecht ist, und nun strömen von
- allen Seiten Menschen zusammen, die gern was verdienen möchten -- das
- ist doch alles so menschlich, so natürlich ...«
- »Ja, aber wozu all diese schmutzigen Geschichten? ... Die Schurken!«
- sagte der Fürst empört. »Ich habe nicht einen einzigen anständigen
- Beamten: lauter Lumpen.«
- »Durchlaucht! wer von uns ist denn gut, d. h. ganz so, wie er sein
- sollte? Alle Beamten unserer Stadt sind doch Menschen, die haben ihre
- Vorzüge und ihre Tugenden, es gibt sehr viele unter ihnen, die ihre
- Sache wirklich verstehen und tüchtige Fachleute sind, aber wer ist denn
- frei von Sünde?«
- »Hören Sie, Afanassij Wassiljewitsch: sagen Sie mir bitte -- Sie sind
- der einzige ehrliche Mensch, den ich kenne -- was macht es Ihnen
- eigentlich für ein Vergnügen, allerhand Schurken und Gauner in Schutz zu
- nehmen?«
- »Durchlaucht!« versetzte Murasow: »wie die Menschen auch sein mögen, die
- Sie Schurken und Gauner nennen -- sie bleiben immer doch Menschen. Wie
- soll man denn den Menschen nicht in Schutz nehmen, wenn man weiß, daß er
- die Hälfte all seiner Übeltaten aus Roheit und Unwissenheit begeht. Wir
- tuen doch selbst auf Schritt und Tritt unrecht und stürzen jeden
- Augenblick andere Menschen ins Unglück, oft ohne jede böse Absicht.
- Durchlaucht haben doch auch neulich sehr ungerecht gehandelt!«
- »Wie?« rief der Fürst erstaunt aus. Er war aufs höchste überrascht durch
- die unerwartete Wendung, die die Unterhaltung nahm.
- Murasow wartete ein wenig und schwieg: er schien zu überlegen und sagte
- schließlich: »Nun, denken Sie zum Beispiel an den Fall Derpennikow.«
- »Aber Afanassij Wassiljewitsch! Das war doch ein Verbrechen gegen den
- Staat, das nahezu an Landesverrat grenzt!«
- »Ich verteidige ihn nicht. Aber ist es denn gerecht, einen Jüngling, der
- sich infolge seiner Unerfahrenheit von anderen verführen und fortreißen
- läßt, ebenso hart zu bestrafen, wie einen der Rädelsführer? Dieser
- Derpennikow mußte doch dieselbe Strafe erleiden wie irgend ein
- Woronoi-Drjannoi, und doch war ihr Vergehen ganz verschieden.«
- »Um Gottes willen ...« sagte der Fürst, dem man seine Aufregung deutlich
- anmerkte: »Wissen Sie etwas davon? Sprechen Sie, ich bitte Sie! Ich habe
- erst neulich nach Petersburg geschrieben und gebeten, man möge sein Los
- mildern.«
- »Nein, Durchlaucht, ich sage nicht, daß ich etwas weiß, was Sie nicht
- auch wissen. Es gibt allerdings einen Umstand, der ihm von Nutzen sein
- könnte, aber er würde selbst nichts davon hören wollen, weil das einem
- andern schaden würde. Ich meine bloß dies: ob Sie sich damals nicht
- vielleicht allzusehr übereilt haben? Verzeihen Sie mir, Durchlaucht, ich
- urteile nach meinem eigenen schwachen Verstande. Sie haben mir mehrmals
- geboten, aufrichtig zu sein. Als ich noch Direktor war, da hatte ich
- auch viele Arbeiter unter mir: gute und schlechte. Ich hätte damals auch
- das frühere Leben meiner Leute berücksichtigen müssen, denn wenn man
- nicht alles ganz kaltblütig überlegt, sondern die Menschen gleich
- anschreit -- dann schüchtert man sie nur ein, und kriegt überhaupt
- nichts aus ihnen heraus; zeigt man ihnen dagegen Teilnahme und fragt sie
- nach allem, wie ein Bruder den Bruder fragt -- dann sagen sie einem
- alles ganz von selbst und bitten gar nicht darum, daß man Gnade walten
- lassen solle; sie sind auch garnicht erbittert und zürnen niemandem,
- weil sie sehen, daß nicht wir sie bestrafen wollen, sondern das Gesetz.«
- Der Fürst versank in Nachdenken, doch in diesem Augenblick trat ein
- junger Beamter ins Zimmer und blieb mit dem Portefeuille unter dem Arm
- ehrfurchtsvoll an der Türe stehen. Sorge und angestrengte Tätigkeit
- spiegelten sich auf seinem jungen und noch frischen Gesicht. Man sah es
- ihm an, daß er Beamter für besondere Aufträge war. Dies war einer der
- wenigen Menschen, die wirklich mit Liebe bei der Sache waren und denen
- das Aktenstudium Freude machte. Er hatte weder einen brennenden Ehrgeiz,
- noch einen heißen Durst nach Geld und Reichtum, noch suchte er es den
- andern gleichzutun, er arbeitete nur aus dem Grunde, weil er überzeugt
- war, daß er hier an dieser Stelle an seinem Platze war, wie an keiner
- andern der Welt, und daß das seine Lebensaufgabe sei. Wenn es galt, eine
- verwickelte Sache Schritt für Schritt zu verfolgen, zu analysieren, sie
- in ihre Teile zu zerlegen, in diesem Labyrinth den leitenden Faden zu
- entdecken, und alles aufzuklären, -- dann war er in seinem Element. Er
- fand sich reichlich belohnt für seine Mühe und Arbeit und die vielen
- schlaflosen Nächte, wenn die Sache sich endlich aufzuhellen begann, wenn
- ihre geheimsten Triebfedern ans Licht kamen und er fühlte, daß er
- imstande war, sie mit wenigen Worten klar und deutlich darzulegen, sodaß
- sie jedem einleuchtete und vollkommen durchsichtig wurde. Man kann wohl
- sagen, kein Schüler freut sich so sehr, wenn ihm endlich der Sinn eines
- schwierigen Satzes oder die wahre Bedeutung des Gedankens eines großen
- Schriftstellers aufgeht, als er sich freute, wenn es ihm gelungen war,
- eine verwickelte Sache zu entwirren. Dafür aber ....
- »... mit Brot in den Gegenden wo Hungersnot herrscht; ich kenne diesen
- Teil besser als die Beamten: ich will selbst untersuchen, was und
- wieviel ein jeder braucht. Und wenn Euere Durchlaucht gestatten, will
- ich auch persönlich mit den Sektierern reden. Unsereiner, d. h. ein
- einfacher Mann, kann sie ja doch leichter zum Reden bringen, und
- vielleicht gelingt's mir mit Gottes Hilfe, die Sache auf friedlichem
- Wege zu schlichten. Die Beamten aber werden doch nicht mit ihnen fertig:
- da kommt es höchstens zu weitläufigen Schreibereien; sie werden ja schon
- so nicht mehr klug aus den Akten und sehen bald über all dem Papier die
- Sache selbst nicht mehr. Ich will auch von Ihnen kein Geld dafür haben,
- denn bei Gott, in solch einer Zeit wäre es wirklich eine Schande, noch
- an seinen Vorteil zu denken, wo die Menschen vor Hunger sterben. Ich
- habe noch etwas Korn in Reserve: außerdem habe ich schon nach Sibirien
- schicken lassen; bis zum nächsten Sommer erhalte ich wieder neues
- geliefert.«
- »Gott allein kann es Ihnen vergelten, Afanassij Iwanowitsch, Sie leisten
- mir einen sehr großen Dienst damit. Ich sage Ihnen kein Wort mehr, weil
- hier -- das werden Sie selbst fühlen -- weil hier jedes Wort ohnmächtig
- wäre. Aber lassen Sie mich wenigstens noch eins über jene Bitte sagen.
- Sagen Sie selbst: habe ich denn das Recht, ganz über eine solche Sache
- hinwegzugehen, wäre es anständig und ehrlich von mir, diesen Schurken zu
- verzeihen?«
- »Bei Gott! Durchlaucht, so darf man sie nicht nennen, um so mehr, da es
- viele ehrenwerte Männer unter ihnen gibt. Die Lage der Menschen ist oft
- schwer, Durchlaucht, oft sogar sehr schwer. Mitunter scheint es, daß ein
- Mensch nach allen Seiten hin schuldig ist, und wenn man dann näher
- zusieht -- ist _er_ es garnicht gewesen.«
- »Aber was werden sie selbst sagen, wenn ich sie laufen lasse? Es gibt
- doch Leute unter ihnen, die nachher noch hochnäsiger werden und am Ende
- noch behaupten werden, sie hätten uns eingeschüchtert. Sie werden die
- ersten sein, die keine Achtung für ....«
- »Durchlaucht, erlauben Sie mir, Ihnen meine Ansicht zu sagen: lassen Sie
- sie alle rufen, erklären Sie ihnen, daß Ihnen alles bekannt ist,
- schildern Sie ihnen Ihre eigene Lage, so wie Sie sie mir eben
- geschildert haben, und fragen Sie sie um Rat: was ein jeder von ihnen an
- Ihrer Stelle gemacht hätte.«
- »Ja, glauben Sie denn, daß sie besseren Regungen zugänglich sind außer
- allerhand Intrigen und dem Wunsch, sich zu bereichern? Glauben Sie mir,
- sie werden mich auslachen.«
- »Das glaube ich nicht, Durchlaucht. Jeder Mensch, selbst der, der
- schlechter ist als die andern, hat ein gesundes Gefühl für das Rechte.
- Es sei denn etwa irgend ein fremder Wucherer oder einer, der kein Russe
- ist .. Nein, Durchlaucht, Sie haben es nicht nötig, sich zu verstecken.
- Sagen Sie es ihnen ganz offen, wie Sie es mir gesagt haben. Sie schmähen
- sie ja doch und sagen, Sie seien ein stolzer und ehrgeiziger Mensch, der
- gar nichts hören will und sehr selbstbewußt ist -- nun so mögen sie die
- Dinge sehen, wie sie sind. Was liegt Ihnen schließlich daran? Ihre Sache
- ist doch gerecht und gut. Sprechen Sie zu ihnen, als legten Sie nicht
- vor ihnen, sondern vor Gott selbst Rechenschaft ab.«
- »Afanassij Iwanowitsch,« sagte der Fürst nachdenklich: »ich will es mir
- überlegen, einstweilen aber danke ich Ihnen herzlich für Ihren Rat.«
- »Und wie ist es mit Tschitschikow, Durchlaucht? Wollen Sie ihm die
- Freiheit schenken?«
- »Sagen Sie diesem Tschitschikow, er soll machen daß er fortkommt, und
- zwar so schnell als möglich; je weiter er von hier ist, desto besser.
- Ihm könnte ich niemals verzeihen.«
- Murasow verneigte sich und begab sich vom Fürsten direkt zu
- Tschitschikow. Er fand ihn bereits in der besten Laune, in höchster
- Seelenruhe mit einem respektablen Mittagessen beschäftigt, das ihm in
- mehreren Porzellanschüsseln aus einem gleichfalls recht respektablen
- Restaurant in die Zelle gebracht worden war. Aus seinen ersten Worten
- konnte der alte Herr sofort erkennen, daß Tschitschikow schon mit
- einzelnen von den gerissenen Beamten gesprochen hatte. Er begriff sogar,
- daß hier auch der gelehrte Rechtsanwalt seine unsichtbare Hand mit im
- Spiel hatte.
- »Hören Sie, Pawel Iwanowitsch,« sagte er, »ich bringe Ihnen die
- Freiheit, aber unter einer Bedingung, daß Sie sofort die Stadt
- verlassen. Packen Sie alle Ihre Sachen, und machen Sie, daß Sie
- fortkommen; Sie dürfen es keinen Augenblick aufschieben, sonst
- verschlimmern Sie nur Ihre Lage. Ich weiß, daß Ihnen irgend ein Mensch
- hier Verhaltungsmaßregeln gibt; daher will ich Ihnen verraten, daß man
- noch einer andern Affäre auf der Spur ist, und keine Macht der Erde wird
- ihn mehr retten können. Es macht ihm natürlich Spaß, auch andere Leute
- zugrunde zu richten, da es ihm allein zu langweilig wäre, aber die Sache
- wird bald aufgedeckt sein. Ich habe Sie in der besten Geistesverfassung
- zurückgelassen, in einer besseren als jetzt. Ich rate Ihnen daher
- ernstlich, folgen Sie meinem Rat. Ja, ja, es kommt wirklich nicht auf
- den Besitz allein an, um dessentwillen die Menschen sich miteinander
- streiten und einander umbringen, als ob es möglich wäre, hier auf Erden
- ein geordnetes Leben zu beginnen, ohne an das künftige zu denken.
- Glauben Sie mir Pawel Iwanowitsch, solange die Menschen nicht all das
- fahren lassen, um dessentwillen sie sich in dieser Welt auffressen und
- zerfleischen, und nicht daran denken, ihren _geistigen_ Besitz in
- Ordnung zu bringen -- wird es auch um den irdischen Besitz nicht
- wohlbestellt sein. Es werden Zeiten der Hungersnot und der Armut kommen,
- wie für ein ganzes Volk, so auch für den Einzelnen ... Das ist doch so
- klar. Sagen Sie, was Sie wollen, der Körper hängt doch von der Seele ab.
- Wie aber kann man dann verlangen, daß alles gut gehe? Denken Sie nicht
- an die toten Seelen, sondern an Ihre eigene lebendige Seele, und machen
- Sie sich mit Gottes Hilfe auf den Weg zu einem neuen Leben! Ich verreise
- auch morgen. Beeilen Sie sich! Es kann Ihnen schlecht gehen, -- wenn ich
- nicht mehr da bin.«
- Der Alte verstummte und ging hinaus. Tschitschikow versank in
- Nachdenken. Der Sinn des Lebens erschien ihm abermals in seiner hohen
- Bedeutung. »Murasow hat recht,« sagte er, »es wird Zeit, einen andern
- Weg einzuschlagen.« Mit diesen Worten verließ er das Gefängnis. Der
- Wachposten trug ihm die Schatulle nach ..... Seliphan und Petruschka
- waren ganz selig, als sie sahen, daß ihr Herr wieder frei war, und
- freuten sich, als ob Gott weiß was passiert wäre. »Nun, meine Lieben,«
- sagte Tschitschikow, indem er sich gnädig an sie wandte: »jetzt müssen
- wir packen und abreisen.«
- »Seien Sie unbesorgt, Pawel Iwanowitsch. Sie sollen sehen, wie wir
- fliegen werden,« sprach Seliphan: »Wir werden jetzt einen guten Weg
- haben: es ist reichlich Schnee gefallen. Es ist wirklich Zeit, daß wir
- die Stadt verlassen. Wahrhaftig, ich habe sie bald so satt, daß ich sie
- garnicht mehr ansehen mag.«
- »Geh zum Wagenbauer und sage ihm, er soll unsere Kutsche auf ein
- Schlittengestell setzen,« versetzte Tschitschikow und ging selbst in die
- Stadt. Aber er konnte sich doch nicht entschließen, Abschiedsbesuche zu
- machen. Nach diesem unglücklichen Vorfall war es ihm peinlich, um so
- mehr, da in der Stadt allerlei äußerst ungünstige Gerüchte über ihn
- zirkulierten. Er suchte jeder Begegnung mit Bekannten sorgfältig aus dem
- Wege zu gehn und trat nur ganz unbemerkt in den Laden jenes Kaufmannes,
- bei dem er den Stoff von Navarinoscher Rauchfarbe mit Feuerglanz gekauft
- hatte; er erstand noch einmal vier Arschin zu einem Frack und Hosen und
- begab sich hierauf selbst zu demselben Schneider, der ihm den Anzug
- genäht hatte. Dieser erklärte sich bereit, seinen Fleiß und Eifer für
- den doppelten Preis gleichfalls zu verdoppeln und ließ das Völkchen
- seiner Gehilfen die ganze Nacht hindurch bei Kerzenlicht mit Schere,
- Bügeleisen und Zähnen arbeiten, sodaß der Frack noch am nächsten Tage
- fertig war. Die Pferde waren schon angespannt, aber Tschitschikow wollte
- den Frack dennoch erst anprobieren. Er war sehr schön, ganz ebenso schön
- wie der erste. Aber ach! Tschitschikow bemerkte etwas Glänzendes, weiß
- Schimmerndes zwischen seinen Haaren und murmelte schmerzlich: »Wie
- konnte ich mich auch so der Verzweiflung hingeben? Vor allem aber hätte
- ich mir die Haare nicht ausraufen dürfen!« Nachdem er seine
- Schneiderrechnung bezahlt hatte, setzte er sich in seinen Wagen und
- verließ die Stadt in einer seltsamen Gemütsverfassung. Das war nicht
- mehr der alte Tschitschikow: das war nur noch eine Ruine des früheren
- Tschitschikow. Man konnte seinen inneren Seelenzustand mit einem
- zerstörten Gebäude vergleichen, das nur deswegen niedergerissen wurde,
- um ein neues daraus zu erbauen, mit dessen Wiederaufbau man jedoch noch
- nicht begonnen hat, weil der Architekt den definitiven Plan noch nicht
- gesandt und die Arbeiter im Zweifel sind, was sie tun sollen. Eine
- Stunde vor ihm war der alte Murasow zusammen mit Potapytsch in einem mit
- Matten gedeckten Zeltwagen abgefahren, und eine Stunde nach
- Tschitschikows Abreise erging der Befehl an die Beamten, vor dem Fürsten
- zu erscheinen: er verreise nach Petersburg und wolle sie vorher alle,
- bis auf den letzten noch einmal sehen.
- In dem großen Saal des Hauses, welches der General-Gouverneur bewohnte,
- war die gesamte Beamtenschaft der Stadt versammelt vom Gouverneur bis
- zum letzten Titularrat: die Bürovorsteher und Abteilungschefs, allerhand
- Räte, Assessoren, Kislojedow, Krasnonossow, Samoswistow, solche die
- Geschenke annahmen und solche, die keine annahmen, ganze und halbe
- Heuchler und Pharisäer, und solche, die gar nicht heuchelten. Sie alle
- warteten nicht ohne Unruhe und Aufregung auf das Erscheinen des
- Generalgouverneurs. Endlich betrat der Fürst den Saal, er war weder
- finster noch heiter: sein Blick war ebenso fest wie sein Schritt. Die
- ganze Beamtenschaft verbeugte sich -- viele verneigten sich tief bis zur
- Erde. Der Fürst antwortete mit einer leichten Verbeugung und begann
- folgendermaßen:
- »Ehe ich nach Petersburg reise, hielt ich es für richtig, Sie noch
- einmal zu sehen und Ihnen wenigstens zum Teil den Anlaß zu meiner Reise
- mitzuteilen. Es hat sich hier eine sehr unangenehme und peinliche Sache
- abgespielt. Ich nehme an, daß viele von den Anwesenden wissen, welche
- Sache ich meine. Diese Sache hat zur Aufdeckung einer ganzen Reihe von
- Vorgängen geführt, die nicht weniger schmachvoll sind, und in die sogar
- solche Männer verwickelt scheinen, die ich bisher für rechtschaffen und
- ehrlich hielt. Mir ist auch die geheime Absicht bekannt, alles so zu
- verwirren und durcheinanderzubringen, daß es völlig unmöglich werde,
- diesen Fall auf dem formalen Rechtsweg zu entwirren und zu erledigen.
- Ich weiß auch, wer der Hauptschuldige ist, obwohl er es sehr klug und
- fein verstanden hat, alle Beweise für seine Teilnahme zu beseitigen. Nun
- aber habe ich mich entschlossen, der Sache nicht auf dem formalen
- Rechtswege noch auf dem Aktenwege nachzugehen, sondern sie wie in
- Kriegszeiten vor das Kriegsgericht zu bringen und rasch zu erledigen.
- Ich hoffe, daß der Kaiser mir die Vollmacht dazu geben wird, wenn ich
- ihm den ganzen Vorfall ausführlich darlege. In einem solchen Fall, wo es
- nicht möglich ist, den bürgerlichen Rechtsweg zu beschreiten, wo ganze
- Schränke mit Akten verbrennen, und wo man sich bemüht, durch einen
- Haufen von falschen Zeugnissen und unbegründeten Denunziationen eine
- schon an sich recht dunkle Affäre noch mehr zu verdunkeln -- da halte
- ich das Kriegsgericht für das einzige zuverlässige Mittel, und ich
- wünsche Ihre Meinung darüber zu hören.«
- Der Fürst hielt einen Augenblick inne, als erwarte er eine Antwort. Alle
- standen stumm da, den Blick zu Boden gesenkt. Viele waren sehr bleich
- geworden.
- »Außerdem ist mir noch eine Sache bekannt geworden, obgleich ihre
- Urheber der festen Überzeugung leben, daß niemand etwas davon erfahren
- konnte. Auch dieser Fall soll nicht auf dem Aktenwege erledigt werden,
- da ich selbst hier der Ankläger und Supplikant bin, und Sie können
- sicher sein, daß ich zwingende und evidente Beweise vorlegen werde.«
- Einer der Beamten zuckte zusammen, und einzelne von den Ängstlicheren
- wurden gleichfalls bestürzt und verlegen.
- »Es versteht sich von selbst, daß der Hauptschuldige und Anstifter
- seiner Titel und Ränge entkleidet und daß sein Eigentum konfisziert
- werden wird. Die übrigen werden ihrer Ämter enthoben. Es versteht sich
- von selbst, daß zugleich mit ihnen auch viele Unschuldige werden mit
- leiden müssen. Aber was soll ich machen? Die Sache ist zu schmählich und
- schreit nach einer gerechten Strafe und Ahndung. Obwohl ich weiß, daß
- dies nicht einmal andern zur Lehre dienen wird, da wieder andere an ihre
- Stelle treten und die, welche bis zu heutigem Tage ehrlich waren,
- unehrlich und solche, denen man Vertrauen schenken wird, zu Betrügern
- und Verrätern werden werden -- obwohl ich dies alles weiß, bin ich
- gezwungen, so hart und grausam zu verfahren, denn das Gesetz ist
- verletzt und fordert strengste Ahndung. Ich weiß, daß man mir Härte und
- Grausamkeit vorwerfen wird, aber ich weiß auch ... daß ich Sie in ein
- gefühlloses Werkzeug der Gerechtigkeit verwandeln muß, das auf die
- Häupter der Schuldigen herabfallen soll.«
- Ein Zittern lief unwillkürlich über alle Gesichter.
- Der Fürst war sehr ruhig. Weder Zorn noch Empörung spiegelte sich in
- seinen Zügen.
- »Jetzt bittet euch derselbe, in dessen Händen das Schicksal vieler liegt
- und den selbst keine Bitten zu erreichen vermochten, jetzt fleht er euch
- alle an: Alles soll vergessen, jede Schuld soll getilgt und vergeben
- sein: ich will euer aller Fürsprecher sein, wenn ihr meine Bitte
- erfüllen wollt. Meine Bitte aber ist diese: Ich weiß, daß kein Mittel,
- keine Einschüchterung und keine Strafe imstande ist, das Unrecht
- auszurotten, es hat schon zu tief Wurzeln gefaßt. Die schimpfliche
- Sitte, Geschenke anzunehmen, ist zur Notwendigkeit und zum Bedürfnis
- geworden, selbst bei solchen Leuten, die nicht mit der Anlage zum Bösen
- geboren wurden. Ich weiß wohl, daß es für viele beinahe unmöglich ist,
- gegen die allgemeine Strömung zu schwimmen. Und doch muß ich heute, in
- einem entscheidenden und großen Augenblick, wo das Vaterland in Gefahr
- ist, und wo ein jeder Bürger alles auf sich nimmt und alles zum Opfer
- bringt, -- einen Ruf an Sie ergehen lassen, oder doch wenigstens an die
- unter Ihnen, die noch ein russisches Herz in der Brust tragen, und für
- die _Großherzigkeit_ und _Edelmut_ noch keine leeren Worte geworden
- sind. Wozu wollen wir hier davon reden, wer von uns am meisten schuldig
- ist? Vielleicht trage ich die größte Schuld; vielleicht habe ich Sie
- zuerst allzu strenge und unfreundlich empfangen; vielleicht habe ich
- durch meinen übertriebenen Argwohn so manchen unter euch abgestoßen, der
- den ehrlichen Willen hatte, mir nützlich zu sein, obgleich auch ich
- meinerseits etwas tun konnte .... Wenn Sie wirklich wollten, daß die
- Gerechtigkeit auf der Seite Ihres Landes sei, wenn Sie Ihr Vaterland
- wirklich lieb gehabt hätten, dann durften Sie sich nicht durch den Stolz
- und die Härte meines Auftretens gekränkt fühlen; Sie mußten Ihren
- Ehrgeiz und Ihre verletzte Eitelkeit unterdrücken und Ihr eigenes Ich
- zum Opfer bringen. Ich hätte Ihre Selbstlosigkeit und Ihre hohe Liebe
- zum Guten unmöglich nicht bemerken und mein Ohr unmöglich Ihren
- verständigen und nützlichen Ratschlägen verschließen können. Am Ende muß
- sich doch der Untergebene an den Charakter seines Vorgesetzten und nicht
- der Vorgesetzte an seine Untergebenen anpassen. Jedenfalls wäre das
- richtiger und bequemer, denn die Untergebenen haben nur _einen_
- Vorgesetzten, während der Vorgesetzte viele Hunderte von Untergebenen
- hat. Aber lassen wir es jetzt beiseite, wer hier die meiste Schuld
- trägt. Jetzt handelt es sich darum, daß uns die Pflicht auferlegt ward,
- das Vaterland zu retten; unser Vaterland geht nicht daran zugrunde, daß
- zwanzig fremde Völkerstämme uns mit Krieg überziehen, es geht zugrunde
- an _uns_ selbst; denn neben der rechtmäßigen Regierung und Verwaltung
- hat sich noch eine andre Regierung gebildet, die weit stärker ist als
- jede gesetzliche Macht. Man hat bestimmte Forderungen aufgestellt, alles
- ist genau taxiert und abgeschätzt, und die Preise sind bereits allgemein
- bekannt gegeben. Und kein Regierender vermag es, selbst wenn er weiser
- wäre als alle Gesetzgeber und Regierenden der Welt, das Übel wieder
- auszurotten, und wenn er die schlechten Beamten tausendmal in ihren
- Machtbefugnissen beschränkte, indem er noch andre Beamten anstellte, um
- jene zu beaufsichtigen. Alles ist umsonst, bis ein jeder von uns fühlen
- lernt, daß er ganz so, wie er sich in der Zeit der Volksaufstände
- wappnete ... heute wappnen muß gegen Unrecht und Unwahrheit. Als Russe,
- als ein Mensch, der durch die heiligen Bande der Blutsverwandtschaft mit
- euch verbunden ist, in dessen Adern dasselbe Blut fließt wie in den
- euren, wende ich mich in diesem Augenblick an euch. Ich wende mich an
- die unter euch, die einen Begriff davon haben, was eine vornehme
- Denkungsart ist. Ich fordere euch auf, euch an die Pflicht zu erinnern,
- die dem Menschen vorgezeichnet ist, an jedem Punkte, wo er steht. Ich
- bitte euch, euch dieser eurer Pflicht und der Bedeutung eures irdischen
- Berufes klarer bewußt zu werden, weil uns dieses nur dunkel vorschwebt,
- und weil wir kaum ...«
- Novellen
- übersetzt von
- Mario Spiro und S. Bugow
- Der Mantel
- In einer Ministerial-Abteilung ...
- Aber es ist sicher besser, ich sage nicht in welcher. In Rußland nämlich
- gibt es keine empfindlichere Menschenklasse, als die der Ministerial-,
- Armee- und Kanzleibeamten, kurz, aller derer, die man im allgemeinen
- unter dem Namen »Bürokraten« zusammenzufassen pflegt. Hält sich
- heutzutage der eine von ihnen für auch nur ein wenig in seiner Ehre
- gekränkt, so bildet er sich sogleich ein, daß in seiner Person auch die
- ganze Gesellschaft eine Unbill erlitten hat. So soll neulich einmal ein
- Kreisrichter -- ich weiß nicht mehr, in welcher Stadt -- einen Bericht
- abgefaßt haben, in dem er dartun wollte, daß man den Erlassen der
- Regierung nicht mehr die gebührende Achtung entgegenbringe, erfreche man
- sich doch sogar, dem geheiligten Titel eines Kreisrichters eine
- verächtliche Nebenbedeutung beizulegen. Und zum Beweise dafür hatte er
- seinem Berichte einen riesigen Folianten beigelegt, eine Art Roman, in
- dem man auf jeder zehnten Seite einem völlig berauschten Kreisrichter
- begegnen konnte. Um also von vornherein allen künftigen Reklamationen
- den Riegel vorzuschieben, habe ich es vorgezogen, den Schauplatz der
- folgenden Vorgänge undeutlich zu lassen und mich mit der Angabe: In
- einer Ministerialabteilung zu begnügen. In einer Ministerialabteilung
- war ein Individuum beschäftigt, natürlich ein Beamter, der -- ich kann
- es leider nicht verschweigen -- ein wenig schlicht und unbedeutend
- aussah. Er war recht klein, und pockennarbig, hatte rote Haare, die ihm
- jedoch an der Stirn bereits ausgefallen waren, und war sogar etwas
- kurzsichtig, beide Wangen waren voller Runzeln, und sein Gesicht hatte
- eine bleiche Farbe, wie bei allen Leuten, die an Hämorrhoiden leiden.
- Was soll man machen. So sah nun mal unser Held aus, so hatte ihn das
- Petersburger Klima verunstaltet. Was seinen Rang im Amte betrifft --
- denn bei uns ziemt es sich vor allem, den Rang eines Beamten
- festzustellen -- so war er das, was man im allgemeinen unter einem
- ewigen »Titular-Rat«[9] versteht; d. h. er war einer jener Unseligen,
- die bekanntlich schon so oft die ironischen Pfeile gewisser
- Schriftsteller herausgefordert haben, einer Menschenklasse, die die
- beklagenswerte Angewohnheit hat, Arme, die sich nicht zu verteidigen
- vermögen, anzugreifen. Der Familienname dieses Beamten war
- Baschmatschkin (zu deutsch Schuhmann). Dieser Name läßt deutlich
- erkennen, daß er von dem Worte Schuh herstammt; wann und zu welcher Zeit
- er jedoch von einem Schuh hergeleitet worden ist, das ist völlig
- unbekannt. Der Vater, der Großvater und sogar der Schwager unseres
- Beamten, sowie überhaupt sämtliche Baschmatschkins hatten immer nur
- Stiefel getragen, die sie sich dreimal im Jahre neu sohlen ließen. Der
- Vor- und Vatername unseres Helden war Akakij Akakiewitsch. Vielleicht
- wird der Leser diese Namen etwas seltsam und gesucht finden, aber ich
- kann ihm die Versicherung geben, daß dem nicht so ist, sondern daß die
- Umstände es zur Unmöglichkeit gemacht hatten, ihm andere Namen zu geben.
- Man höre, wie das kam! Akakij Akakiewitsch wurde, wenn mich nicht alles
- trügt, in der Nacht zum 23. März geboren. Seine verstorbene Mutter, die
- einen Beamten geheiratet hatte, eine gute, einfache Frau, ging
- natürlich, wie sich's auch gebührt, sofort daran, ihren Neugeborenen
- taufen zu lassen. Die Mutter lag noch im Bette, das sich der Türe
- gegenüber befand, zu ihrer Rechten stand der Pate, Iwan Iwanowitsch
- Jeroschkin, eine sehr gewichtige Persönlichkeit seines Amtes, Bürochef
- im Senate, -- und ihm zur Linken die Patin Arina Semenowna
- Biellobruschkow, die Frau eines Polizei-Inspektors, die mit mancherlei
- Vorzügen ausgestattet war. Man schlug der Wöchnerin drei Namen zur
- Auswahl vor: Mokius, Sosias oder den des Märtyrers Chosdasat.
- [Fußnote 9: Die russische bürokratische Hierarchie oder der Tschin
- zerfällt in vierzehn Klassen. Der Titular-Rat gehört der neunten an.]
- »Nein,« dachte sie, »die gefallen mir alle nicht!«
- Um ihren Wünschen Rechnung zu tragen, schlug man im Kalender ein anderes
- Blatt auf und legte den Finger auf drei andere Namen: Trifili, Dula und
- Warachatius. »Aber das ist ja wie eine Strafe Gottes!« rief die alte
- Mutter aus. »Hat man jemals solche Namen gesehen? Wahrhaftig, heute höre
- ich sie zum ersten Male in meinem ganzen Leben. Wenn es wenigstens noch
- Waradat oder Baruch wäre, aber Trifili und Warachatius!«
- Man blätterte von neuem im Kalender und fand nun Pawsikachi und
- Wachtissi.
- »Nein, nun wird es mir klar,« rief die Alte, »es soll nicht sein! So mag
- er denn meinetwegen den Namen seines Vaters bekommen, wenn man nun
- einmal keinen besseren wählen kann. Der Vater heißt Akaki. So mag der
- Sohn denn auch Akaki heißen!« Und so taufte man ihn denn auf den Namen
- Akaki Akakiewitsch. Das Kind wurde über den Taufstein gehalten:
- natürlich schrie es hierbei und verzog das Gesicht zu einer Grimasse,
- wie wenn es hätte ahnen können, daß es eines Tages Titular-Rat werden
- würde. So aber spielte sich dies alles ab. Wir haben diese Tatsachen
- deshalb so breit erzählt, damit der Leser sich davon überzeugen kann,
- daß es gar nicht anders hätte kommen können und daß ein anderer Name für
- den kleinen Akaki unmöglich gewesen wäre.
- Zu welcher Zeit Akaki Akakiewitsch in die Kanzlei eintrat und wer ihm
- dort einen Platz verschaffte, vermag heute niemand mehr zu sagen. Wie
- viele Vorgesetzte aller möglichen Schattierungen auch schon aufeinander
- gefolgt waren, er nahm unentwegt seinen alten Platz ein, man sah ihn
- stets auf demselben Stuhle sitzen, in derselben Haltung, über dieselbe
- Arbeit gebeugt, mit demselben Range, so daß man hätte glauben können,
- daß er schon in diesem Zustande fertig auf die Welt gekommen sei, mit
- seinen kahlen Schläfen und in seiner Dienstuniform. -- In der Kanzlei,
- in der er angestellt war, nahm niemand auch nur die geringste Rücksicht
- auf ihn. Selbst die Bureaudiener erhoben sich nicht bei seinem
- Eintritte, sie beachteten ihn nicht im mindesten und rechneten mit ihm
- nicht mehr als mit einer Fliege, die gerade davongeflogen war. Seine
- Vorgesetzten behandelten ihn mit kalter Herrschsucht. Die Gehilfen des
- Bureauchefs dachten nicht einmal daran, ihm zu sagen, wenn sie vor ihm
- einen Stoß von Papieren aufhäuften:
- »Haben Sie doch die Güte, dieses hier abzuschreiben!« --
- oder etwa:
- »Das ist etwas sehr Interessantes, eine äußerst angenehme Arbeit!«
- oder irgend ein angenehmes Wort, wie es unter wohlerzogenen Beamten am
- Platze ist.
- Akaki nahm jedoch stets die Akten an, ohne danach zu fragen, wer sie vor
- ihm hingelegt hatte, und ob der Betreffende überhaupt dazu berechtigt
- gewesen war. Er nahm sie und begann sie sofort getreulich abzuschreiben.
- Seinen Kollegen, die bei weitem jünger als er waren, diente er als
- Gegenstand für ihre Spöttereien und zur Zielscheibe für ihre
- Geistesblitze -- soweit man bei Beamten und besonders bei Kanzleibeamten
- überhaupt von Geist reden kann. Bald erzählten sie sich eine Menge
- erfundener Geschichten über ihn und über die Frau, bei der er wohnte,
- eine siebzigjährige Greisin. Man sprach davon, daß sie ihn hin und
- wieder verprügle, man fragte ihn, wann er denn mit ihr vor den Altar
- treten wolle. Oder man ließ auch auf sein Haupt Papierkügelchen
- herabregnen und wollte ihm dann weismachen, daß es Schneeflocken wären.
- Aber Akaki schenkte diesen Attacken nicht die geringste Beachtung; er
- erweckte den Eindruck, als wüßte er garnichts von der Gegenwart der
- andern. Alle diese kleinen Quälereien taten seiner Beharrlichkeit im
- Arbeiten keinen Abbruch, und trotz all dieser Versuchungen lief ihm auch
- nicht ein einziger Schreibfehler unter. Wurde ihm jedoch einmal der
- Scherz zu unerträglich, zerrte man ihn etwa am Arme und hinderte ihn am
- Schreiben, so sagte er auch dann nur:
- »Lassen Sie mich doch in Ruhe! Warum wollen Sie mich denn durchaus
- beleidigen?« Und es lag etwas merkwürdig Rührendes in diesen Worten und
- in der Art, wie er sie sprach.
- Eines Tages geschah es, daß ein junger Mann, der soeben eine Anstellung
- im Bureau erhalten hatte und nach dem Beispiel der andern sich auf seine
- Kosten lustig machen wollte, beim Klange dieser Stimme dastand, als
- hätte er einen Stich ins Herz bekommen, -- und von nun an sah er den
- alten Beamten mit ganz andern Augen an.
- Man hätte meinen können, daß eine übernatürliche Macht ihn von seinen
- Kollegen, die er soeben erst kennen gelernt und die er zuerst für
- gebildete und anständige Leute gehalten hatte, trennte. Ja bald empfand
- er vor ihnen nur noch einen starken Widerwillen. Und noch viel später
- mitten in der lustigsten Gesellschaft stand ihm das Bild dieses alten
- kleinen Titularrates mit der kahlen Stirn vor Augen und in seinen Ohren
- tönten die Worte wider:
- »Lassen Sie mich doch! Weshalb wollen Sie mich denn durchaus
- beleidigen?«
- Und er hörte mit diesen Worten auch noch andere, die in ihnen
- schlummerten:
- »Bin ich nicht euer Bruder?«
- Der junge Mann verbarg sein Gesicht in den Händen, und oft noch zuckte
- er später bei der Erkenntnis zusammen, daß das menschliche Herz doch nur
- wenig menschliche Empfindung in sich berge, und daß soviel Härte und
- Roheit selbst denen eigen wäre, die eine feine und vornehme Erziehung
- genossen hätten, und o Gott! auch in denen, die im allgemeinen für
- gütige und ehrenwerte Menschen galten.
- Nirgends konnte man einen Beamten finden, der seinen Pflichten mit
- gleichem Eifer oblag wie unser Akaki Akakiewitsch. Was sage ich, mit
- gleichem Eifer -- arbeitete er doch mit Liebe, mit Leidenschaft. Wenn er
- Akten abschrieb, so öffnete sich vor ihm eine überaus schöne, eine
- freundliche Welt. Man konnte von seinen Zügen das Vergnügen, das ihm das
- Kopieren bereitete, ablesen. Es gab für ihn Lieblingsbuchstaben, die er
- mit einer ganz besonderen Genugtuung malte -- in der wahren Bedeutung
- des Wortes; kam er an eine wichtige Stelle, so wurde er ein ganz
- anderer: er lächelte, seine Augen funkelten, seine Lippen bewegten sich,
- -- und wer ihn kannte, konnte leicht aus seiner Physiognomie ersehen,
- welchen Buchstaben er jetzt gerade druckte.
- Wäre er nach Verdienst belohnt worden, so hätte er sich zu seinem
- eigenen Erstaunen vielleicht zum Range eines Staatsrates erhoben
- gesehen. Aber, wie seine witzigen Kollegen sagten, durfte er in seinem
- Knopfloche nichts wie eine Schnalle tragen, und seine ganze
- Beharrlichkeit trug ihm nur Hämorrhoiden ein.
- Übrigens muß ich hier hinzufügen, daß er eines Tages doch eine gewisse
- Aufmerksamkeit erregte. Ein Direktor, ein anständiger, wohlgesinnter
- Mann, der ihn für seinen langen Dienst belohnen wollte, befahl, ihm eine
- wichtigere Arbeit anzuvertrauen als die, die in der Kopierung der
- gewöhnlichen Akten bestand, und zwar sollte er einen Bericht an irgend
- eine andere Behörde abfassen, die Titel verschiedener Akten ändern und
- im ganzen Texte das Pronomen der ersten Person durch das der dritten
- ersetzen.
- Akaki machte sich an die Arbeit, aber sie erregte ihn derartig, sie
- kostete ihn solche Anstrengungen, daß ihm der Schweiß von der Stirn rann
- und er endlich ausrief:
- »Nein, gebt mir lieber etwas zum Abschreiben!«
- Und von nun an ließ man ihn bis an sein Lebensende kopieren.
- Es schien fast, als ob außer seinen Kopieen nichts auf der Welt für ihn
- existiere. An seinen Anzug dachte er nie. Seine ursprünglich grüne
- Uniform hatte allmählich eine mehlig-rote Farbe angenommen; sein Kragen
- war so eng und so niedrig, daß sein Hals, der eigentlich kurz war,
- beträchtlich über ihn hinausragte und abnorm lang erschien, ähnlich wie
- bei jenen Gipskatzen mit beweglichen Köpfen, die die fremden Hausierer
- in den russischen Dörfern feilbieten, um sie an die Bauern zu verkaufen.
- Stets gab es irgend ein Ding, das an seiner Kleidung haften geblieben
- war, -- bald ein Faden, bald ein Strohhalm. Außerdem hatte er eine ganz
- besondere Vorliebe dafür, gerade in dem Momente unter einem Fenster
- vorbeizugehen, wo man aus ihm einen nichts weniger als reinlichen
- Gegenstand auf die Straße warf, und nur selten war sein Hut nicht mit
- einer Melonenschale oder ähnlichem Plunder garniert. Niemals fiel es ihm
- ein, sich mit dem, was auf den Straßen vor sich ging und alltäglich vor
- sich geht, zu beschäftigen, mit Dingen, die die kecken forschenden
- Blicke seiner jungen Kollegen unbedingt auf sich zogen; ja, die waren
- gewohnt, wenn sie spazieren gingen, auf dem entgegengesetzten Trottoir
- sofort alles Merkwürdige herauszufinden, wenn etwa ein Sterblicher mit
- zerrissenen Beinkleidern sich zeigte, was ihnen stets ein boshaftes
- Lächeln entlockte.
- Akaki Akakiewitsch seinerseits sah nur die geraden und regelmäßigen
- Linien seiner Kopieen vor sich, und er mußte schon plötzlich an die
- Schnauze eines Pferdes, das ihm seinen vollen Atem ins Gesicht blies,
- geraten, um sich zu erinnern, daß er sich nicht vor seinem Pult befand,
- vor seinen schönen kalligraphischen Musterbeispielen, sondern mitten auf
- der Straße. Und kam er nach Hause, so setzte er sich sofort zu Tisch,
- schlang hastig seine Kohlsuppe hinunter und verzehrte dann unbekümmert
- um das, was man ihm vorsetzte, irgend ein Stück Rindfleisch mit
- Knoblauch -- samt den Fliegen und andern Lieblichkeiten, die Gott und
- der Zufall dazugetan hatten. Hatte er seinen Magen gefüllt, dann stand
- er auf, holte ein kleines Tintenfaß aus der Tasche und begann
- pflichtgemäß die Akten abzuschreiben, die er sich nach Hause mitgenommen
- hatte. Hatte er zufällig gerade keine dienstlichen Schriftstücke
- abzuschreiben, so kopierte er zu seinem eigenen Vergnügen Dokumente,
- denen er eine besondere Wichtigkeit beimaß -- nicht wegen ihrer mehr
- oder weniger interessanten Fassung, sondern weil sie an irgend eine
- hochgestellte Persönlichkeit gerichtet waren.
- Selbst dann, wenn der graue Himmel St. Petersburgs von dem Schleier der
- Nacht verhüllt ist und der ganze Beamtenstab sein Mahl je nach seinen
- gastronomischen Neigungen und dem Gewichte seiner Börse eingenommen hat,
- -- wenn alle Welt sich von dem Kratzen der Federn im Bureau, von den
- Sorgen und den Geschäften und all den Unbequemlichkeiten, die sich die
- unruhigen Menschen oft selbst unnützerweise auferlegen, zu erholen
- sucht, so ist es ganz natürlich, daß die Beamten den Rest des Tages
- irgend einer persönlichen Zerstreuung widmen. Die einen fahren ins
- Theater, die andern gehen spazieren und vergnügen sich damit, die
- Toiletten und Hüte zu betrachten, andere wieder besuchen eine Soirée, wo
- sie an irgend ein hübsches Mädchen -- irgend einen Stern, der am
- bescheidenen Horizonte ihres bürokratischen Himmels aufsteigt, einige
- zärtliche und tiefempfundene Worte richten. Manche dagegen -- und diese
- sind die zahlreichsten -- besuchen einen Kollegen, der im dritten oder
- vierten Stockwerke eine kleine Wohnung, bestehend aus einer Küche und
- einem Zimmer inne hat, ja einem Zimmer, das einen mühselig erbeuteten
- Luxusgegenstand, eine Lampe oder irgend einen auf Grund langer
- Einschränkungen gekauften Artikel birgt.
- Kurz, es ist die Stunde, da jeder Beamte auf die eine oder die andere
- Weise seinem Müßiggange nachgeht: hier spielt man eine Partie Whist,
- dort nimmt man Tee mit billigen Bisquits zu sich oder man raucht aus
- einer langen Pfeife Tabak. Man erzählt sich die Skandalgeschichten, die
- in der großen Welt passieren, denn in welcher Situation sich der Russe
- immer befinden mag, nie kann er seine Gedanken von seiner offiziellen
- Gesellschaft wegwenden, über die so kuriose Anekdoten im Umlaufe sind,
- wie zum Beispiel die von dem Kommandanten, dem heimlich hinterbracht
- wird, irgend ein Schurke habe dem Pferde auf dem Standbild Peters des
- Großen den Schweif abgeschnitten.
- Mit einem Wort, selbst in diesen Stunden der Erholung und des Amüsements
- blieb Akaki Akakiewitsch seinen Gewohnheiten treu. Niemand hätte sagen
- können, daß er ihn auch nur ein einziges Mal des Abends in Gesellschaft
- gesehen habe. Wenn er vom vielen Abschreiben müde geworden war und nicht
- mehr weiter konnte, legte er sich zu Bett und dachte an die Freuden des
- folgenden Tages, an all die schönen Kopieen, die ihm der liebe Gott noch
- reserviert hatte.
- So floß das friedliche Leben eines Mannes hin, der bei einem Einkommen
- von vierhundert Rubeln mit seinem Schicksale vollkommen zufrieden war,
- und er würde vielleicht ein hohes Alter erreicht haben, wäre er nicht
- einem unglücklichen Zwischenfall zum Opfer gefallen, wie er nicht nur
- Titularräte, sondern auch die geheimen, die wirklichen Staatsräte, die
- Hofräte und selbst die, die niemals einen Rat geben oder empfangen,
- treffen kann.
- In St. Petersburg haben alle diejenigen, die nur über ein Einkommen von
- ungefähr vierhundert Rubeln verfügen, einen furchtbaren Feind, und
- dieser gräßliche Feind ist kein anderer als der nordische Winter, obwohl
- man im allgemeinen behauptet, er wäre der Gesundheit sehr zuträglich.
- Gegen neun Uhr morgens, wenn die Beamten der verschiedenen Ämter sich in
- ihr Bureau begeben, sticht ihnen die Kälte ohne Unterschied so sehr die
- Nase, daß die meisten von ihnen nicht wissen, wohin sie sie verstecken
- sollen.
- Wenn in solchen Augenblicken die hohen Würdenträger in Person so sehr
- unter der Kälte leiden, daß ihnen die Stirne weh tut und die Tränen in
- die Augen steigen, wie schlimm muß es da erst den Titularräten ergehen,
- die doch über gar keine Mittel verfügen, um sich gegen die Unbilden der
- Kälte zu schützen. Da sie sich nur in einen leichten Mantel haben hüllen
- können, so bleibt ihnen als letzte Rettung nur übrig, fünf oder sechs
- Straßen im Eilschritt zu durchlaufen und sodann bei dem Portier halt zu
- machen, um hier so lange auf den Füßen herumzuspringen, bis sie ihre
- eingefrorenen bureaukratischen Fähigkeiten wiedererlangt hatten.
- Seit einiger Zeit empfand Akaki Akakiewitsch im Rücken und in den
- Schultern einen stechenden Schmerz, obwohl er in großer Eile und außer
- Atem die Entfernung von seiner Wohnung zu seinem Bureau zu durchlaufen
- pflegte. Nachdem er lange hierüber nachgedacht hatte, gelangte er
- schließlich zu der Annahme, daß sein Mantel nicht mehr ganz intakt sein
- müsse. Kaum war er in sein Zimmer eingetreten, als er dieses
- Kleidungsstück sorgfältig untersuchte und hierbei feststellte, daß der
- einst so kostbare Stoff an zwei oder drei Stellen sich in den reinsten
- Tüll verwandelt hatte und so dünn geworden war, daß er fast durchsichtig
- schien; außerdem war das Futter völlig zerrissen. Man muß nämlich
- wissen, daß dieser Mantel schon lange zur Zielscheibe für die
- Spöttereien von Akakis mitleidslosen Kollegen gedient hatte. Ja, man
- hatte ihm sogar die edle Bezeichnung eines Mantels entzogen, um ihn
- Kapuze zu taufen. Tatsache ist allerdings, daß dieses Kleidungsstück ein
- äußerst merkwürdiges Aussehen hatte. Im Laufe der Jahre war der Kragen
- immer mehr zusammengeschrumpft, denn von Jahr zu Jahr hatte der arme
- Titular-Rat ein Stück davon abgeschnitten, um mit ihm eine schadhafte
- Stelle des Mantels auszubessern, und diese Flicke verrieten nichts
- weniger als eine kundige Schneiderhand. Sie waren möglichst ungeschickt
- aufgesetzt und sahen keineswegs schön aus. Als Akaki Akakiewitsch seine
- traurigen Betrachtungen beendet hatte, sagte er sich, daß er ohne
- Zaudern den Mantel zu dem Schneider Petrowitsch, der im vierten Stock
- eine ganz dunkle Kammer bewohnte, bringen müsse.
- Petrowitsch war ein Individuum, das schielte, pockennarbig war und im
- nüchternen Zustande der Ehre teilhaftig wurde, für die Herren Beamten
- Röcke und Beinkleider anzufertigen, wenn er nicht gerade etwas anders im
- Kopfe hatte. Ich könnte wohl darauf verzichten, hier länger bei diesem
- Schneider zu verweilen; aber da es der Brauch nun einmal so will, keine
- Persönlichkeit in einer Erzählung vorzustellen, deren Physiognomie man
- nicht genau zu schildern vermöchte, so bin ich gezwungen, meinen
- Petrowitsch mehr oder minder naturgetreu abzukonterfeien. Früher, als er
- noch bei seinem Herrn Leibeigner war, hieß er ganz schlicht Gregori.
- Freigelassen, glaubte er es sich schuldig zu sein, den Namen Petrowitsch
- anzunehmen. Zugleich begann er zu trinken, zunächst nur an den hohen
- Feiertagen, dann jedoch an allen Kirchenfesten, die im Kalender mit
- einem Kreuz verzeichnet sind. In dieser Beziehung blieb er den
- Gewohnheiten seiner Großväter treu, und wenn seine Frau mit ihm zanken
- wollte, hieß er sie eine gottlose Person und eine Deutsche. Und da wir
- diese Frau schon erwähnt haben, so wollen wir auch von ihr noch ein paar
- Worte sagen: leider ist nur nicht viel über sie zu berichten, außer daß
- sie eben die Frau des Petrowitsch war, und daß sie eine Haube auf dem
- Kopfe trug. Im übrigen war sie nicht gerade eine Schönheit zu nennen,
- höchstens erlaubte es sich ein Gardesoldat, wenn er ihr auf der Straße
- begegnete, ihr unter die Haube zu gucken, seinen Mund zu einem Lächeln
- zu verziehen und einen unbestimmten Laut von sich zu geben. Akaki
- Akakiewitsch kletterte also bis zur Mansarde des Schneiders hinauf. Die
- Treppe, die zu ihr führte, war dunkel, schmutzig, feucht und strömte,
- wie alle Proletarierwohnungen in St. Petersburg, einen Nase und Augen
- beizenden Branntweingeruch aus.
- Während der Titular-Rat die schlüpfrigen Stufen hinaufkroch, überlegte
- er, welchen Preis Petrowitsch wohl für die Reparatur fordern könnte, und
- er beschloß, ihm unter keinen Umständen mehr als zwei Rubel anzubieten.
- Die Tür des Schneiders stand weit offen, um den Rauchwolken aus der
- Küche einen Ausgang zu verschaffen; Petrowitschs Frau war gerade dabei,
- hier Fische zu braten. Akaki Akakiewitsch ging quer durch die Küche, die
- so voller Rauch war, daß man nicht einmal die vielen sie bevölkernden
- Schwaben sehen konnte, er ging durch die Küche, ohne daß die Frau seiner
- ansichtig wurde und trat in die Stube hinein, wo der Schneider auf einem
- großen, roh gezimmerten und ungestrichenen Tische saß, die Beine wie ein
- türkischer Pascha übereinandergeschlagen und nach der Art der meisten
- russischen Schneider mit nackten Füßen.
- Wenn man an ihn näher herantrat, so zog vor allem ein Umstand die
- Aufmerksamkeit auf ihn: nämlich der Nagel eines Daumens, der zwar ein
- wenig verstümmelt, sonst aber hart und starr war wie die Schale einer
- Schildkröte. Um den Hals hatte er einen Knäul Seidenfaden und mehrere
- Zwirnsträhne geschlungen und auf seinen Knieen lag ein zerfetzter Rock.
- Seit einigen Minuten bemühte er sich, eine Nadel einzufädeln, jedoch
- ohne Erfolg. Er wetterte zuerst auf die Dunkelheit, dann auf den Faden.
- »Willst du nun endlich hinein, Taugenichts!« schrie er. »Bald habe ich
- keine Kraft mehr, verdammtes Ding!«
- Akaki Akakiewitsch merkte sogleich, daß er einen ungünstigen Augenblick
- erwischt hatte, wo Petrowitsch schlechter Laune war. Es wäre ihm lieber
- gewesen, Petrowitsch in einer jener günstigen Stunden anzutreffen, in
- denen der Schneider schon ein wenig angeheitert war, oder -- wie seine
- Frau sich auszudrücken pflegte -- wo dieser einäugige Teufel sich eine
- solide Ration Fusel einverleibt hatte. Dann war es für den Kunden ein
- leichtes, ihm einen beliebigen Preis aufzuschwatzen, ja der Schneider
- ging in seinen Komplimenten bisweilen so weit, daß er sich ehrfürchtig
- vor ihm vorbeugte und ihn mit Danksagungen überschüttete.
- Oft jedoch mischte sich die Frau in die geschäftlichen Abmachungen,
- beklagte sich über ihren Mann, schrie und tobte und erklärte, er sei
- betrunken gewesen und habe die Arbeit zu einem viel zu niedrigen Preise
- angenommen. Dann bot man einige Kopeken mehr, und der Handel war
- abgeschlossen.
- Heute aber hatte zu des Titular-Rats Unglück Petrowitsch bis zu diesem
- Momente noch nicht der Flasche zugesprochen, und in dieser
- Gemütsverfassung war der Schneider starrköpfig, unvernünftig und fähig,
- einen schrecklich hohen Preis zu fordern.
- Akaki Akakiewitsch sah diese Gefahr voraus und hätte gern wieder Reißaus
- genommen; jedoch es war dazu zu spät: das Auge des Schneiders, sein
- einziges Auge, denn er war einäugig, hatte ihn bereits entdeckt, und so
- stammelte denn Akaki Akakiewitsch mechanisch:
- »Guten Tag, Petrowitsch!«
- »Guten Tag, Herr!« antwortete der Schneider, dessen Blick sich sofort
- auf die Hand des Titular-Rates heftete, um zu erkennen, was für ein
- Objekt sie trug.
- »Ich war gekommen ... Petrowitsch, nun ... Ich wollte ...«
- Hier ist die Bemerkung am Platze, daß der furchtsame Titular-Rat es sich
- zur Regel gemacht hatte, seine Gedanken nur durch halbe Phrasen, Worte,
- Präpositionen, Adverbien oder Redeteile, die überhaupt keinen Sinn
- ergaben, auszudrücken.
- War jedoch die Angelegenheit, um die es sich handelte, von besonderer
- Wichtigkeit, so gelang es ihm niemals, den angefangenen Satz zu Ende zu
- sprechen. Wenn die Sache jedoch ganz besonders schwierig war, dann
- stotterte er nur ein paar Worte heraus: »Das ist doch wirklich ganz ...«
- und dann folgte überhaupt nichts mehr. Bald hatte er selbst vergessen,
- was er eigentlich sagen wollte und glaubte, er habe schon alles gesagt.
- »Was wünschen Sie, Herr?« fragte Petrowitsch ihn, indem er ihn mit
- seinem einzigen Auge vom Kopf bis zu den Füßen musterte und seinen
- fragenden Blick über Kragen, Manschetten, Taille, Knöpfe, kurz über die
- gesamte Uniform Akakis gleiten ließ, die er sehr gut kannte, da er
- selbst all diese Herrlichkeiten angefertigt hatte. Das ist nun mal die
- Eigentümlichkeit aller Schneider, dies ist ihr erster Gedanke, sowie sie
- einem Bekannten begegnen.
- Akaki antwortete stotternd wie gewöhnlich:
- »Ich möchte ... Petrowitsch, ... dieser Mantel ... sehen Sie das Tuch
- ... übrigens ... ich für meinen Teil ... ich glaube, er ist noch ganz
- gut ... nur ein wenig bestaubt ... Ja, ja, er sieht schon ein wenig
- abgetragen aus ... aber er ist doch noch ganz neu ... nur an einer
- Stelle ein wenig abgescheuert ... da, am Rücken ... und hier an der
- Schulter ... zwei oder drei kleine Risse ... Sehen Sie es nicht? ... es
- ist ja gar nicht der Rede wert ... Es ist gar nicht viel daran zu tun
- ...«
- Petrowitsch ergriff den unglückseligen Mantel, breitete ihn auf dem
- Tische aus, betrachtete ihn schweigend und schüttelte dann das Haupt.
- Dann streckte er den Arm nach dem Fenster aus, um sich seine runde mit
- dem Bilde eines Generals gezierte Tabaksdose herunterzunehmen. Ich weiß
- nicht, was das für ein General war, denn die Stelle, wo sich das Gesicht
- befand, war mit dem Finger durchlöchert, und da hatte der Schneider
- flugs einen viereckigen Streifen Papier darüber geklebt.
- Als Petrowitsch sich nun endlich eine Prise genommen hatte, nahm er die
- Kutte von neuem in die Hände, hielt sie ans Licht und schüttelte zum
- zweitenmal den Kopf. Sodann schaute er sich genau das Futter an,
- schüttelte sie nochmals, hob wiederum den Deckel seiner vor Zeiten mit
- dem Porträt eines Generals geschmückten und mit einem Papierstreifen
- geflickten Tabakdose hoch, entnahm ihr eine zweite Prise, machte die
- Dose zu, steckte sie ein und schrie endlich:
- »Daran ist überhaupt nichts mehr auszubessern! Das ist ja nur ein ganz
- elender Fetzen!«
- Bei diesen Worten krampfte sich Akaki Akakiewitschs Herz zusammen.
- »Weshalb nicht, Petrowitsch?« fragte er in dem weinerlichen Ton eines
- Kindes, »dieser Rock sollte nicht mehr auszubessern sein? Aber so sehen
- Sie doch, Petrowitsch! nicht wahr, es sind ja nur ein paar Risse an der
- Schulter drin, und Sie haben genug Flicken, um sie aufzunähen.«
- »Allerdings habe ich genug Flicken,« versetzte Petrowitsch, »aber wie
- soll ich sie denn darauf nähen? Das Tuch ist abgescheuert und hält
- nirgends mehr stand.«
- »Ach was! so werden Sie einfach einen größeren Flicken nehmen!«
- »Wo soll man denn da einen Flicken aufsetzen, der wird ja doch nicht
- halten, der Flicken wäre auch zu groß; das kann man doch kaum noch Tuch
- nennen, ein Windstoß genügt ja, um es völlig zu zerfetzen!«
- »Näh ihn ... schon auf ... Ich bitte dich ... Das geht doch nicht.«
- »Nein!« erwiderte Petrowitsch bestimmten Tones, »da ist gar nichts mehr
- zu machen! Dieser Stoff hat ausgedient. Es wäre besser, daraus für den
- Winter Fußlappen zu machen; das wärmt die Füße weit mehr als Strümpfe.
- Ja, ja, das ist auch so eine deutsche Erfindung, um den Leuten Geld
- abzunehmen.«
- Petrowitsch ließ keine Gelegenheit vorübergehen, ohne den Deutschen eins
- auszuwischen.
- »Sie müssen sich einen neuen Mantel machen lassen,« fügte er hinzu.
- »Einen neuen Mantel?«
- Akaki Akakiewitsch ward es schwarz vor den Augen. Das Atelier des
- Schneiders fing an ihn zu umkreisen und der einzige Gegenstand, den er
- deutlich zu erkennen vermochte, war das mit Papier überklebte Porträt
- des Generals auf Petrowitschs Tabaksdose.
- »Einen neuen Mantel?« murmelte er wie traumverloren. »Aber ich habe doch
- kein Geld dazu.«
- »Jawohl, einen neuen Mantel!« wiederholte Petrowitsch mit grausamer
- Beharrlichkeit.
- »Aber, ... selbst ... wenn ... angenommen, ich faßte einen solchen
- Entschluß ... wieviel? ...«
- »Sie wollen sagen, wieviel er kosten würde?«
- »Ja.«
- »So was wie hundertundfünfzig Papierrubel werden Sie schon anwenden
- müssen,« erwiderte der Schneider, indem er die Lippen zusammenkniff.
- Dieser Schneider liebte die starken Effekte und fand ein ganz besonderes
- Vergnügen darin, seine Kunden zu verblüffen und dann mit seinem einzigen
- schielenden Auge den Ausdruck ihres Gesichts zu beobachten.
- »Hundertundfünfzig Rubel für einen Mantel?« sagte Akaki Akakiewitsch.
- Und der Titular-Rat sprach diese Worte mit einem Ton aus, der fast einem
- Schrei glich, vielleicht dem ersten, den er seit seiner Geburt
- ausgestoßen hatte, denn gewöhnlich sprach er ja mit großer
- Furchtsamkeit.
- »Ja,« versetzte Petrowitsch, »ohne Marderkragen und Seidenfutter für den
- Umhang; sonst würde er sich auf zweihundert Rubel belaufen.«
- »Petrowitsch, ich beschwöre Sie,« unterbrach ihn Akaki Akakiewitsch
- flehend, der auf den Schneider und all seine Effekte gar nicht mehr
- hörte, ihn auch nicht hören wollte; »ich beschwöre Sie, diesen Mantel
- irgendwie auszubessern, damit er noch eine Zeit halten kann!«
- »Nein! das wäre verlorene Mühe und eine unnütze Ausgabe, eine reine
- Verschwendung,« versetzte Petrowitsch.
- Akaki Akakiewitsch zog sich nach diesen Worten ganz niedergeschmettert
- zurück, während Petrowitsch mit zusammengekniffenen Lippen, mit sich
- selbst äußerst zufrieden wegen der so mannhaften Verteidigung des
- gesamten Schneiderstandes, stehen blieb.
- Ziellos und betäubt irrte Akaki wie ein Somnambule in den Straßen umher.
- »Welche Widerwärtigkeit!« sprach er beim Gehen vor sich hin.
- »Wahrhaftig, ich hätte niemals gedacht, daß das so ausgehen würde ...
- Nein,« fuhr er nach einem kurzen Schweigen fort, »ich konnte nicht
- annehmen, daß es dazu kommen würde ...« Dann schwieg er wieder eine
- Weile still und sagte schließlich: »Ich befinde mich augenblicklich in
- einer durchaus unerwarteten Situation ... in einer solchen Verlegenheit,
- daß ...«
- Und während er solcher Art sein Selbstgespräch fortsetzte, schlug er,
- anstatt nach Hause zu gehen, eine seiner Wohnung völlig entgegengesetzte
- Richtung ein, jedoch ohne dessen gewahr zu werden. Ein Schornsteinfeger
- schwärzte ihm beim Vorübergehen den Rücken. Von einem im Bau
- befindlichen Hause herab fiel ihm eine ganze Mütze mit Gips auf den
- Kopf; er jedoch sah und merkte nichts. Erst als er mit gesenktem Haupte
- gegen einen Wachtposten stieß, der ihm mit vorgehaltener Hellebarde den
- Weg versperrte und ihm aus seiner Dose Tabak auf die schwielige Hand
- schüttete, erwachte er rauh aus seinen Träumen.
- »Was tust du hier?« schrie ihn der brutale Hüter der öffentlichen
- Ordnung an; »kannst du nicht, wie es sich gehört, auf dem Trottoir
- gehen?«
- Dieser plötzliche Anruf riß Akaki Akakiewitsch endlich völlig aus dem
- Zustande der Betäubung. Er sammelte wieder seine Gedanken, überblickte
- kaltblütig die Situation und ging ernst und freimütig mit sich zu Rate
- wie mit einem Freunde, dem man alle seine Herzensgeheimnisse anvertraut.
- »Nein,« sagte er endlich, »heute werde ich nichts bei Petrowitsch
- erreichen; heute ist er schlechter Laune ... vielleicht hat ihn seine
- Frau geprügelt, -- ich werde ihn nächsten Sonntag wieder aufsuchen.
- Sonntag Morgen nach einer durchschwärmten Nacht wird er stark schielen,
- Durst haben, trinken wollen und seine Frau gibt ihm kein Geld dazu. Ich
- werde ihm ein Zehnkopekenstück in die Hand drücken, dann wird er viel
- eher zugänglich sein und mit sich über den Mantel sprechen lassen.«
- Sich an dieser Hoffnung stützend, wartete Akaki Akakiewitsch bis zum
- nächsten Sonntag. An diesem Tage begab er sich, als er von ferne
- Petrowitschs Frau ihr Haus hatte verlassen sehen, zu dem Schneider und
- fand ihn, wie er erwartet hatte, in dem Zustande völligster
- Niedergeschlagenheit. Er schielte stärker als je und war ganz
- verschlafen. Kaum hatte jedoch der Schneider vernommen, worum es sich
- handelte, als er Akaki Akakiewitsch sofort anschnauzte, als sei der
- Teufel in ihn gefahren.
- »Nein, da gibts gar nichts mehr zu tun! Sie können sich jetzt nur einen
- neuen Mantel kaufen.«
- Akaki Akakiewitsch drückte ihm hier ein Zehnkopekenstück in die Hand.
- »Danke, Euer Gnaden,« antwortete Petrowitsch, »ich werde auf Ihre
- Gesundheit trinken. Was jedoch Ihren Mantel anbetrifft, so dürfen Sie
- gar nicht mehr an ihn denken. Er ist nicht mehr einen roten Heller wert.
- Lassen Sie mich nur ruhig gewähren, ich werde Ihnen einen prachtvollen
- neuen anfertigen -- ich bürge Ihnen dafür!«
- Der arme Akaki Akakiewitsch bat ein Mal über das andere Mal den
- Schneider, den alten zu reparieren, aber Petrowitsch wollte ihn gar
- nicht mehr anhören und sagte: »Ich will Ihnen schon einen neuen
- anfertigen ... Glauben Sie mir. Ich werde mir die größte Mühe geben. Ja,
- ich werde sogar, wie es jetzt Mode ist, silberne Haken und Ösen an dem
- Kragen anbringen.«
- Jetzt erst begriff Akaki Akakiewitsch, daß er sich tatsächlich einen
- neuen Mantel werde anschaffen müssen, und zum zweitenmal fühlte er sich
- einer Ohnmacht nahe. Sich einen neuen Mantel machen lassen! Aber womit
- ihn bezahlen? Er hatte allerdings, um die Wahrheit zu sagen, zu den
- Feiertagen Ansprüche auf eine offizielle Gratifikation. Aber dafür hatte
- er schon längst eine Bestimmung gefunden. Er mußte sich ein Paar
- Beinkleider kaufen und einem Schuhmacher eine alte Schuld bezahlen, der
- ihm zwei Paar Stiefel ausgebessert und zwei neue Schäfte aufgesetzt
- hatte. Er mußte sich bei der Näherin drei neue Hemden und zwei von jenen
- Kleidungsstücken anfertigen lassen, die beim Namen zu nennen, gegen den
- literarischen Anstand verstößt, kurz alles war schon im voraus bestimmt.
- Und sollte -- ein unerwartetes Glück! -- der Direktor etwa die
- Gratifikation von vierzig auf fünfzig Rubel erhöhen, was wäre
- schließlich dieser magere Überschuß im Vergleich mit der unerhört hohen
- Summe, die Petrowitsch für den Mantel gefordert hatte? Ein Tropfen
- Wasser im Ozean.
- Er wußte freilich, daß Petrowitsch die Angewohnheit hatte, mitunter ganz
- unglaubliche Preise zu verlangen, sodaß sich seine Frau oft nicht
- enthalten konnte, ihn mit folgenden Worten anzufahren:
- »Bist du verrückt, du Esel? Bald arbeitest du für ein reines Nichts, und
- ein andermal reitet dich der Teufel, einen so unendlich hohen Preis zu
- fordern, den der Kerl selbst nicht wert ist.«
- Er glaube demnach, daß Petrowitsch auch mit einem Preise von achtzig
- Rubel für einen neuen Mantel einverstanden sein würde. Aber wo sollte
- man selbst diese achtzig Rubel hernehmen? Vielleicht würde es ihm
- gelingen, wenn er alle Hebel in Bewegung setzte, die Hälfte oder sogar
- noch etwas mehr aufzutreiben. Woher aber sollte er die andere Hälfte
- nehmen!
- Wir müssen dem Leser von den Mitteln, die Akaki Akakiewitsch zur
- Beschaffung dieser Summe anzuwenden gedachte, Rechenschaft geben!
- Er hatte die Gewohnheit angenommen, so oft er einen Rubel erhielt, eine
- Kopeke in eine kleine Sparbüchse zu werfen, die stets fest verschlossen
- war. Am Ende eines jeden Halbjahres nahm er diese kleinen Kupferstücke
- heraus und ersetzte sie durch Silbergeld von gleichem Werte. Dieses
- Sparsystem hatte er schon ziemlich lange durchgeführt, und so beliefen
- sich nach Verlauf einiger Jahre seine Ersparnisse auf etwas mehr als
- vierzig Rubel. So besaß er wenigstens die Hälfte der in Betracht
- kommenden Summe. Aber die andere Hälfte! Wo sollte er die andern vierzig
- hernehmen? Akaki stellte unabsehbare Berechnungen an; schließlich sagte
- er sich, daß er mindestens ein Jahr hindurch verschiedene seiner
- Ausgaben reduzieren könne, des Abends auf den Tee verzichten, keine
- Kerze anzünden und -- wenn er etwas zu arbeiten hätte -- sich mit seinen
- Akten ins Zimmer seiner Wirtin setzen müßte, um seine Arbeit bei ihrer
- Kerze zu vollenden. Er faßte auch den Entschluß, auf der Straße
- möglichst sanft und vorsichtig aufzutreten, ja wenn es ging auf den
- Zehenspitzen über das Trottoir und das Pflaster zu gehen, um seine
- Sohlen nicht zu schnell durchzuscheuern, seine Wäsche nicht so oft
- waschen zu lassen, sie beim Nachhausekommen auszuziehen und statt dessen
- bloß seinen baumwollenen Schlafrock anzulegen, ein zwar sehr altes
- Stück, das die Zeit jedoch glücklicherweise noch ziemlich verschont
- hatte.
- Anfangs waren ihm diese Entbehrungen etwas peinlich, aber nach und nach
- gewöhnte er sich an seine neue Lebensweise und brachte es sogar soweit,
- sich, ohne Abendbrot gegessen zu haben, zur Ruhe zu begeben. Während
- sein Körper unter dieser Unterernährung litt, fand sein Geist in der
- unaufhörlichen Beschäftigung mit seinem Mantel neue Anregung. Von diesem
- Augenblicke an hätte man sagen können, daß seine Natur das passende
- Komplement gefunden, daß er sich verheiratet hätte, daß noch ein anderer
- Mensch immer um ihn war, daß er nicht mehr einsam war und daß ihm eine
- Gefährtin zur Seite stände, die ihn auf allen seinen Lebenswegen
- begleitete; diese Gefährtin -- war das Bild seines Mantels, wohl
- wattiert und gefüttert, eines Mantels, der überhaupt nicht umzubringen
- war.
- Und man sah ihn viel entschlossener und mutiger als früher
- einherschreiten, er war ein Mensch geworden, der nur ein Ziel vor Augen
- hatte, das er auf jeden Fall erringen will. Die Charakterlosigkeit und
- Ängstlichkeit in seinem Gesichtsausdruck und in seinen Handlungen, seine
- lässige Haltung: mit einem Wort, all jene schwankenden und unsicheren
- Züge waren auf einmal verschwunden. Mitunter glänzten seine Augen wie in
- neuem Leben, und in seinen kühnen Träumen legte er sich bereits die
- Frage vor, ob er sich nicht an seinem Mantel auch ganz gut einen
- Mantelkragen anbringen lassen könne.
- Diese Gedanken machten ihn bisweilen merkwürdig zerstreut. Eines Tages,
- als er wieder seine Akten abschrieb, bemerkte er plötzlich, daß ihm
- beinahe ein Fehler untergelaufen wäre.
- »O, o!« rief er aus.
- Und schnell machte er das Zeichen des Kreuzes.
- Mindestens einmal im Monat begab er sich zu Petrowitsch, um sich mit ihm
- über den kostbaren Mantel zu unterhalten und andre wichtige Dinge mit
- ihm festzustellen, zum Beispiel wo er das Tuch kaufen solle, wie teuer
- es wohl zu stehen kommen werde und welche Farbe in Betracht käme.
- Jeder dieser Besuche führte zu neuen Erwägungen; aber jedesmal kehrte er
- zwar etwas besorgt aber doch glücklich und zufrieden nach Hause zurück,
- denn nun mußte doch endlich der Tag erscheinen, an dem alles besorgt,
- und der Mantel fix und fertig sein würde.
- Dieses große Ereignis trat viel früher, als er gehofft hatte, ein. Der
- Direktor bewilligte ihm eine Gratifikation nicht von vierzig oder
- fünfzig, sondern von fünfundsechzig Rubeln. Hatte etwa dieser brave
- Beamte bemerkt, daß unser Freund Akaki Akakiewitsch so dringend eines
- neuen Mantels bedurfte? oder verdankte unser Held diese seltene
- Freigebigkeit nur seinem guten Sterne?
- Wie dem auch immer war, Akaki Akakiewitsch wurde um zwanzig Rubel
- reicher. Eine solche Vermehrung seiner Ersparnisse mußte notwendig die
- Verwirklichung seines Vorhabens beschleunigen.
- Noch zwei oder drei Monate, während deren er hungerte, und Akaki
- Akakiewitsch hatte seine achtzig Rubel beisammen. Sein gewöhnlich
- friedliches Herz begann heftig zu schlagen. Sowie er die ungeheure Summe
- von achtzig Rubeln beisammen hatte, suchte er Petrowitsch auf, und alle
- beide begaben sich noch am selbigen Tage zusammen zu einem Tuchhändler.
- Ohne Zaudern kauften sie dort eine gute Ware. Kein Wunder! Seit mehr
- denn einem Jahre hatten sie sich über diese Anschaffung unterhalten,
- über alle Einzelheiten hatten sie debattiert und Monat für Monat hatten
- sie die Auslagen des Kaufmanns aufs sorgfältigste studiert um sich über
- die Preise zu vergewissern. Dafür erklärte aber Petrowitsch auch, einen
- bessern Stoff würde man schwerlich finden. Als Futter nahmen sie äußerst
- feste Leinewand, die nach der Meinung des Schneiders besser als Seide
- war und überdies einen unvergleichlichen, viel schöneren Glanz hatte.
- Marder kauften sie nicht, da sie ihn zu teuer fanden, aber sie
- entschieden sich für das schönste Katzenfell, das es in dem ganzen Laden
- gab und das man schließlich wohl auch für Marder halten konnte.
- Um dieses Kleidungsstück anzufertigen, bedurfte Petrowitsch voller
- vierzehn Tage; denn er machte eine zahllose Menge von Stichen, ohne die
- wäre er allerdings früher fertig geworden. Er berechnete seine Arbeit
- mit zwölf Rubeln; weniger konnte er nicht fordern: alles war mit Seide
- gearbeitet, und der Schneider hatte die Nähte mit den Zähnen, deren
- Spuren man noch sah, gebügelt. Endlich kam er an, der so innig
- herbeigesehnte Mantel. Es ist mir nicht möglich, genau den Tag zu
- beschreiben, aber sicherlich war es der feierlichste Tag in dem Leben
- Akakij Akakiewitschs.
- Der Schneider brachte den Mantel selbst schon am frühen Morgen, bevor
- der Titular-Rat sich in sein Büro begab. Er hätte garnicht zu
- gelegenerer Zeit kommen können, denn die Kälte machte sich bereits
- bitter fühlbar, und drohte mit der Zeit noch weit heftiger zu werden.
- Petrowitsch näherte sich seinem Kunden mit der würdevollen Miene eines
- weltberühmten Schneiders. Seine Physiognomie war von einem seltenen
- Ernst; niemals hatte der Titular-Rat ihn so gesehen. Er war von seinem
- Verdienst durchdrungen und bemaß in Gedanken voller Stolz den Abstand,
- der den Flickschneider von dem Künstler, dem Verfertiger neuer
- Kleidungsstücke, scheidet.
- Der Mantel war in eine neue, erst kürzlich gewaschene Leinewanddecke
- gehüllt, die der Schneider sorgfältig aufknüpfte und dann wieder
- zusammenlegte, um sie seiner Tasche anzuvertrauen. Dann faßte er stolz
- den Mantel mit beiden Händen an und legte ihn Akakij Akakiewitsch auf
- die Schultern. Hierauf half er ihm vollends hinein, strich ihm mit der
- Hand noch einmal über den Rücken, und ein Lächeln der Genugtuung
- überlief seine Züge, als er ihn in seiner ganzen Länge majestätisch
- herabfallen sah; schließlich mußte Akakij Akakiewitsch ihn noch einmal
- weit aufmachen und sich dem Schneider von vorne präsentieren.
- Als ein Mann reiferen Alters wollte Akakij Akakiewitsch auch die Ärmel
- anprobieren; Petrowitsch half ihm in die Ärmel hinein, und siehe da, sie
- saßen wundervoll. Kurz, der Mantel war tadellos in allen seinen
- Einzelheiten, und der Schnitt ließ nichts zu wünschen übrig.
- Während der Schneider sein Werk betrachtete, verfehlte er nicht, darauf
- hinzuweisen, daß er ihn nur wegen der geringen Miete, weil er in einer
- kleinen Nebenstraße wohne und nichts für ein Aushängeschild zu zahlen
- brauche, sowie wegen seiner langjährigen Bekanntschaft mit Akakij
- Akakiewitsch so billig hergestellt hätte. Dann bemerkte er noch, daß ein
- Schneider vom Newski Prospekt allein für die Fasson eines gleichen
- Mantels mindestens fünfundsiebzig Rubel gefordert haben würde. Akakij
- Akakiewitsch wollte sich jedoch über diesen Punkt nicht erst in eine
- Diskussion einlassen, denn er fürchtete sich vor den horrenden Summen,
- mit denen Petrowitsch zu prahlen liebte. Er zahlte, dankte und verließ
- seine Stube, um sich in seinem neuen Mantel nach dem Büro zu begeben.
- Petrowitsch ging mit ihm und machte mitten auf der Straße halt, um ihm
- so weit wie möglich mit den Augen zu folgen. Dann verließ er die Straße,
- durchquerte eiligst eine kleine Gasse und rannte nach der Straße zurück,
- um den Mantel noch einmal von einer andern Seite, d. h. von vorne zu
- betrachten.
- Voll süßer Gedanken, in einer wahren Feiertagsstimmung, näherte sich
- Akakij seinem Büro. Jeden Augenblick fühlte er, daß von seinen Schultern
- ein neues Kleidungsstück herabhing und beglückte sich selbst mit einem
- holden Lächeln der Genugtuung.
- Zwei Dinge vor allem gingen ihm durch den Kopf: zunächst, daß der Mantel
- warm war, sodann, daß er gut aussah. Ohne irgendwie auf den Weg, den er
- gegangen war, geachtet zu haben, betrat er plötzlich die Kanzlei, legte
- seinen Schatz im Vorzimmer ab, schaute ihn sich noch einmal sorgfältig
- von allen Seiten an und bat den Portier, recht sorgsam auf den Mantel zu
- achten.
- Ich weiß nicht, wie sich das Gerücht in den Bureaus verbreitet hatte,
- daß Akaki Akakiewitsch sich einen neuen Mantel angeschafft, und die alte
- Kapuze zu existieren aufgehört habe. Jedenfalls eilten alle Kollegen
- Akaki Akakiewitschs herbei, um seinen herrlichen Mantel zu bewundern und
- den Titular-Rat mit so warmen Glückwünschen zu überhäufen, daß er nicht
- umhin konnte, ihnen mit einem Lächeln der Genugtuung zu antworten, das
- bald jedoch wieder einer gewissen Verlegenheit Platz machte.
- Aber wie groß war seine Überraschung, als seine schrecklichen Kollegen
- ihn merken ließen, daß sein Mantel einer feierlichen Einweihung bedürfe
- und daß sie auf ein feines Mahl rechneten. Der arme Akaki Akakiewitsch
- war darüber so bestürzt, so betäubt, daß er nicht wußte, was er zu
- seiner Entschuldigung anführen sollte. Errötend stotterte er, das
- Kleidungsstück sei gar nicht so neu, wie man glauben mochte, der Mantel
- wäre vielmehr schon ganz alt.
- Einer seiner Vorgesetzten, irgend ein Gehilfe des Bürovorstehers, der
- ohne Zweifel dartun wollte, daß er so gar nicht stolz auf seinen Rang
- und Titel war und daß er die Gesellschaft seiner Untergebenen nicht
- verschmähte, nahm das Wort und sagte:
- »Meine Herren, anstelle von Akaki Akakiewitsch werde ich Sie bewirten.
- Ich lade Sie ein, diesen Abend den Tee bei mir einzunehmen, ich habe
- heute gerade Geburtstag!«
- Alle Beamten dankten ihrem Chef für seine Güte und beeilten sich, seine
- Einladung mit großer Freude anzunehmen. Akaki Akakiewitsch wollte zuerst
- ablehnen, man hielt ihm jedoch vor, daß das sehr unhöflich von ihm wäre,
- gewissermaßen eine unverzeihliche Handlungsweise, und so fügte er sich
- denn in das Notwendige.
- In Gedanken empfand er übrigens eine gewisse Freude darüber, daß er auf
- diese Art Gelegenheit hatte, sich in seinem Mantel auf der Straße zu
- zeigen. Dieser ganze Tag war für ihn ein Fest. In dieser glücklichen
- Stimmung trat er in seine Wohnung ein, zog seinen Mantel aus und hängte
- ihn, nachdem er einmal übers andre Stoff und Futter geprüft hatte, an
- die Wand. Dann holte er seine alte Kapuze herbei, um sie mit
- Petrowitschs Meisterstück zu vergleichen. Seine Blicke wanderten von
- einem Kleidungsstück zum andern und sanft lächelnd dachte er: »Welch ein
- Unterschied!« Und noch lange nachher, beim Mittagessen konnte er sich
- eines Lächelns nicht erwehren, wenn er daran dachte, in was für einer
- Verfassung sein alter Mantel sich befand.
- Ganz fröhlich nahm er diesmal seine Mahlzeit ein, und darnach setzte er
- sich nicht wie sonst an seine Kopieen. Nein er streckte sich wie ein
- rechter Sybarit auf seinem Sofa aus und erwartete das Herannahen des
- Abends. Dann zog er sich schnell an, nahm seinen Mantel und ging.
- Es dürfte mir leider nicht möglich sein, Ihnen die Wohnung dieses
- Vorgesetzten anzugeben, der seine Untergebenen so freigebig eingeladen
- hatte. Mein Gedächtnis beginnt bereits etwas nachzulassen, und die
- Straßen und Häuser St. Petersburgs richten in meinem Hirn eine derartige
- Verwirrung an, daß ich große Mühe habe, mich nur einigermaßen zurecht zu
- finden. Einzig und allein daran erinnere ich mich, daß der würdige
- Beamte in einem der schönsten Stadtviertel wohnte, und daß infolgedessen
- seine Wohnung sehr weit von der Akakis entfernt war.
- Zuerst durchwanderte der Titular-Rat mehrere schlechtbeleuchtete
- Straßen, die ganz ausgestorben schienen, aber je mehr er sich der
- Wohnung seines Vorgesetzten näherte, um so heller und belebter wurden
- die Straßen. Er begegnete einer zahllosen Menge nach der neuesten Mode
- gekleideter Spaziergänger, schönen eleganten Frauen und Herren, die
- Biberkragen trugen. Die Bauernschlitten mit ihren Holzbänken und ihren
- mit goldenen Nägeln geschmückten Gittern wurden immer seltener, und alle
- Augenblicke bemerkte er forsche Kutscher mit roten Samtmützen, die mit
- Bärenfellen versehene Schlitten aus lackiertem Holz und prachtvolle
- Karossen lenkten, oder er sah vornehme Equipagen mit eleganten
- Kutschböcken, die knirschend über den Schnee dahinglitten.
- Das war für unsern Akaki Akakiewitsch ein gänzlich neues Schauspiel.
- Seit vielen Jahren war er nicht des Abends ausgegangen. So recht
- neugierig blieb er vor der Auslage einer Kunsthandlung stehen. Ein
- Gemälde zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Das war das Porträt einer
- Frau, die ihren Schuh ausgezogen hatte und ihren kleinen entzückenden
- Fuß von einem jungen Manne mit dickem Schnurrbart und langer Fliege, der
- durch eine halbgeöffnete Tür blickte, bewundern ließ.
- Nachdem Akaki Akakiewitsch dieses Bild genug angeschaut hatte,
- schüttelte er den Kopf und setzte lächelnd seinen Weg fort. Warum
- lächelte er wohl? Etwa wegen der Fremdheit des Gegenstandes? für den er
- sich trotzdem gleich allen anderen Leuten ein gewisses Verständnis
- bewahrt hatte? Oder vielleicht deshalb, weil er wie die meisten seiner
- Kollegen dachte: die Franzosen haben mitunter etwas zu seltsame
- Einfälle; wenn sie einmal so eine Sache machen wollen, dann ist es
- wirklich so eine Sache. Ach, er dachte wohl an gar nichts, und im
- übrigen ist es sehr schwer, sich in die Seele eines andern zu versetzen
- und die Gedanken der Menschen zu lesen.
- Endlich gelangte er vor das Haus, in dem der Gehilfe des Bureauchefs
- wohnte. Sein Vorgesetzter lebte wie ein Grandseigneur; auf der Treppe
- brannte eine Laterne, bewohnte er doch eine ganze Etage im zweiten
- Stock. Als unser Akaki Akakiewitsch eingetreten war, erblickte er eine
- lange Reihe Galoschen, dazwischen dampfte und brodelte mitten im Zimmer
- ein Samowar, an den Wänden hingen die Mäntel, von denen mehrere mit
- Samt- und mit Pelzkragen versehen waren. Aus dem Zimmer nebenan drang
- ein wirres Geräusch, das bestimmtere Formen annahm, als ein Diener die
- Tür öffnete und mit einem Tablett voll leerer Tassen, einem Topf mit
- Sahne und einem Korb mit Kuchen herausschritt. Die Gäste mußten bereits
- lange versammelt sein, und sie hatten augenscheinlich bereits ihre erste
- Tasse Tee geleert.
- Akaki hängte seinen Mantel selbst an einen Haken und ging dann auf das
- hell erleuchtete Zimmer zu, in dem sich seine mit langen Pfeifen
- ausgerüsteten Kollegen um einen Spieltisch gruppiert hatten, sich sehr
- laut unterhielten und ihm Stühle hin und her schoben.
- Er trat ein, blieb jedoch verlegen auf der Türschwelle stehen, da er
- nicht wußte, was er tun sollte. Aber seine Kollegen hatten ihn schon
- bemerkt, begrüßten ihn mit großem Hallo und eilten sofort in das
- Vorzimmer, um seinen Mantel zu bewundern. Dieser Ansturm raubte unserem
- braven Titular-Rat seine ganze Haltung. Da er aber ein schlichter und
- treuherziger Mann war, freute er sich dennoch ganz aufrichtig über die
- Glückwünsche, die man ihm zu seinem kostbaren Kleidungsstücke
- darbrachte. Bald darauf gaben seine Kollegen ihm nun die Freiheit wieder
- und gingen an ihre Whisttische zurück. Diese Bewegung, diese Erregung,
- die lebhafte Konversation, die vielen Menschen ... das alles verwirrte
- unseren schüchternen Akaki Akakiewitsch im höchsten Grade. Er wußte
- nicht, wo er seine Hände und Füße hintun, wie er sie verbergen sollte;
- schließlich setzte er sich zu den Spielern, sah bald auf ihre Karten,
- bald auf ihre Gesichter, nach kurzer Zeit fing er jedoch zu gähnen und
- sich zu langweilen an, denn er empfand, daß die Stunde bereits längst
- verstrichen war, um die er sich zur Ruhe zu begeben pflegte. Er wollte
- sich zurückziehen, doch hielt man ihn zurück, indem man ihm klarmachte,
- er dürfe sich unmöglich entfernen, ohne ein Glas Champagner zur Feier
- dieses denkwürdigen Tages getrunken zu haben.
- Nach einer Stunde trug man das Abendessen auf, das aus Heringsalat,
- kaltem Kalbsbraten, Kuchen, Pasteten und gemischtem Backwerk bestand; zu
- jedem Gang gab es den sogenannten Champagner. Akaki Akakiewitsch sah
- sich genötigt, zwei große Gläser von diesem prickelnden Getränk zu
- leeren, und nach kurzer Zeit bereits begann alles um ihn herum ein
- heiteres Ansehen anzunehmen. Indes vergaß er nicht, daß Mitternacht
- vorüber und daß es längst Zeit zum Nachhausegehen war.
- In der Furcht, noch länger zurückgehalten zu werden, schlich er sich
- insgeheim ins Vorzimmer, wo er den Schmerz erlebte, seinen Mantel auf
- dem Boden erblicken zu müssen. Er schüttelte ihn mit größter Sorgfalt,
- entfernte jedes kleine Federchen, zog ihn an und ging die Treppe
- hinunter.
- Die Straßen waren noch beleuchtet. Die kleinen von den Dienstboten und
- dem niederen Volke besuchten Läden waren noch geöffnet; einige waren
- zwar schon verschlossen, doch konnte man an dem Lichtschein, der aus den
- Türspalten fiel, unschwer erkennen, daß die Gäste noch nicht gegangen
- waren. Wahrscheinlich saßen die Knechte und Mägde noch immer in
- lebhaftem Gespräche beisammen, in dem sie ihre Herren in vollkommener
- Unklarheit über ihren Aufenthaltsort ließen.
- Überaus froh und etwas bezecht schlug Akaki Akakiewitsch den Weg nach
- seiner Wohnung ein. Er lief sogar, ohne zu wissen warum, einer Dame
- nach, die wie ein Blitz an ihm vorbeihuschte, und deren sämtliche
- Körperteile sich in lebhafter Bewegung befanden. Aber er besann sich
- bald wieder, blieb einen Augenblick stehen und setzte dann seinen Weg
- langsam weiter fort, höchst verwundert über das lebhafte Tempo, das er
- angeschlagen hatte. Bald gelangte er wieder in dunkele und unbelebte
- Gassen und plötzlich merkte er, daß er sich in einer jener Straßen
- befand, die sich des Tags und noch mehr in der Nacht durch ihre Ruhe
- auszeichneten. Heute aber erschien sie noch einsamer und schauerlicher.
- Alles um ihn hatte ein finsteres Aussehen. Die Laternen wurden immer
- seltener, da die Stadtverwaltung offenbar nur wenig Öl für die
- Beleuchtung dieses Viertels bewilligte ... Holzhäuser, Palisadenzäune --
- aber nirgends eine lebende Seele. Bei dem fahlen Schein dieser Laternen
- glänzte der Schnee, und all die kleinen Häuser mit ihren verschlossenen
- Läden lagen in der Dunkelheit gar trübselig da. Er gelangte an eine
- Stelle, wo die Straße in einen riesigen, mit Häusern bebauten Platz
- mündete, die von der anderen Seite aus kaum zu sehen waren. Es schien
- fast, als befände man sich in einer weiten und trostlosen Wüste.
- In der Ferne, Gott weiß wo, schimmerte ein Licht von einem Schilderhause
- her, das ihm am Ende der Welt zu stehen schien. Mit einem Male verlor
- Akaki Akakiewitsch seine fröhliche Stimmung. Er ging mit starkem
- Herzklopfen auf das Licht zu, er ahnte eine drohende Gefahr. Der vor ihm
- liegende Raum erschien ihm größer als der Ozean.
- »Nein,« sagte er, »ich will lieber garnicht hinsehen!«
- Und er ging weiter, indem er die Augen beständig zumachte. Als er sie
- öffnete, sah er sich plötzlich von mehreren bärtigen Männern umgeben,
- deren Gesichter er nicht erkennen konnte. Es wurde ihm dunkel vor den
- Augen, sein Herz krampfte sich zusammen.
- »Dieser Mantel gehört mir,« schrie einer der Männer, indem er Akaki
- Akakiewitsch an dem Kragen faßte.
- Akaki Akakiewitsch wollte um Hilfe rufen. Einer der Angreifer schloß ihm
- indessen mit seiner Faust, die die Größe eines Beamtenkopfes hatte, den
- Mund und sagte zu ihm:
- »Laß dir's nur nicht einfallen, zu schreien!« Im selben Augenblick
- fühlte der Titular-Rat, wie man ihm seinen Mantel auszog, und fast
- gleichzeitig ließ ihn ein Fußtritt in den Schnee rollen, in dem er
- bewußtlos liegen blieb.
- Einige Sekunden später kam er wieder zu sich; aber er vermochte niemand
- mehr zu erblicken. Seiner Kleidung beraubt und ganz erfroren begann er
- aus Leibeskräften zu schreien, aber seine Rufe konnten kaum bis zum
- anderen Ende des Platzes dringen. Ganz außer sich lief er über den Platz
- und stürzte mit der letzten Kraft der Verzweiflung auf das
- Schilderhäuschen zu, wo die Wache, Gewehr bei Fuß, ihn neugierig
- betrachtete und fragte, weshalb zum Teufel er denn einen solchen Lärm
- vollführe und wie ein Verrückter liefe.
- Als Akaki Akakiewitsch den Soldaten erreicht hatte, beschuldigte er ihn
- mit bebender Stimme der Trunkenheit, weil er nicht bemerkt hatte, daß
- man in nächster Nähe von ihm die Passanten bestehle und ausplündere.
- »Ich habe nichts gesehen,« erwiderte der Mann, »ich sah Sie nur mitten
- auf dem Platze zusammen mit zwei Individuen. Ich glaubte, es wären Ihre
- Freunde. Es ist unnütz, sich deshalb aufzuregen. Suchen Sie morgen den
- Polizei-Inspektor auf, er wird die Angelegenheit in die Hand nehmen,
- nach den Dieben des Mantels forschen lassen und eine Untersuchung
- einleiten.«
- Der unglückliche Akaki Akakiewitsch kam in einem fürchterlichen Zustande
- zu Hause an: die wenigen Haare, die er noch am Hinterkopf und an der
- Schläfe hatte, hingen ihm wirr über die Stirn; Brust, Rücken und
- Beinkleider waren voller Schnee. Als seine alte Wirtin ihn wie einen
- Besessenen an die Tür klopfen hörte, stand sie schnell auf und kam auf
- nackten, nur in Pantoffeln steckenden Füßen herbeigeeilt. Sie öffnete
- die Türe, indem sie ihre nur mit einem Hemde bekleidete Brust mit der
- einen Hand schamhaft zudeckte. Aber bei Akaki Akakiewitschs Anblick
- prallte sie entsetzt zurück.
- Als er ihr erzählte, was ihm zugestoßen war, rang sie die Hände und
- rief:
- »Sie müssen sich nicht an den Polizei-Inspektor wenden, sondern an den
- Bezirks-Kommissar. Der Inspektor wird Sie mit schönen Worten abspeisen
- und doch nichts für Sie tun. Aber den Bezirks-Kommissar kenne ich schon
- lange. Meine alte Köchin Anna, eine Finnländerin, dient jetzt bei ihm
- als Amme, und ich sehe sie oft unter unseren Fenstern vorbeikommen. Er
- geht jeden Sonntag in die Kirche, um zu beten, und wirft allen Leuten
- freundliche Blicke zu, man sieht es ihm gleich an, daß er ein braver
- Mann ist.«
- Nach dieser beruhigenden Empfehlung zog sich Akaki traurig in sein
- Zimmer zurück. Wer sich nur einigermaßen in die Situation eines andern
- hinein versetzen kann, wird begreifen, wie er die Nacht verbrachte.
- Am andern Morgen begab er sich sofort zum Bezirks-Kommissar. Man
- bedeutete ihm, daß dieser hohe Beamte noch schlief. Um zehn Uhr kam er
- wieder. Der hohe Beamte schlief noch. Um elf Uhr war der Kommissar
- ausgegangen. Der Titular-Rat stellte sich noch einmal um die Essenszeit
- ein, aber die Schreiber wollten ihn durchaus nicht vorlassen und fragten
- ihn, was er wolle und warum er es denn so eilig habe, ihren Chef zu
- sprechen. Zum erstenmal in seinem Leben machte Akaki Akakiewitsch einen
- Energieversuch. Er erklärte kategorisch, daß er unbedingt und zwar auf
- der Stelle mit dem Kommissar reden müsse, er komme aus dem Departement,
- daher dürfe man ihn keinesfalls abweisen, denn es handle sich um eine
- äußerst wichtige Staatsangelegenheit, und sollte es etwa jemand
- einfallen, ihn zu behindern, so würde er sich beschweren, und dies
- könnte ihnen teuer zu stehen kommen.
- Auf solchen Ton konnte man nichts weiter erwidern. Einer der Schreiber
- ging hinaus, um den Chef herbeizuzitieren. Dieser gewährte nun Akaki
- Akakiewitsch eine Audienz, hörte sich jedoch seine Erzählung über den
- Raub seines Mantels in einer recht merkwürdigen Weise an. Anstatt sich
- für den Hauptpunkt, nämlich den Diebstahl, zu interessieren, fragte er
- den Titular-Rat, wie er denn dazu gekommen wäre, zu so ungewöhnlicher
- Stunde nach Hause zu gehen, und ob er nicht etwa in einem verdächtigen
- Hause gewesen sei.
- Völlig verblüfft durch diese Frage fand der Titular-Rat keine Antwort
- und zog sich zurück, ohne genau zu wissen, ob man sich überhaupt mit
- seiner Angelegenheit beschäftigen würde oder nicht.
- Er war den ganzen Tag über nicht in seinem Bureau gewesen: (ein
- unerhörtes Ereignis in seinem Leben). Am folgenden Tage erschien er
- wieder, aber in welchem Zustand! bleich, aufgeregt, mit seinem alten
- Mantel, der nun noch jämmerlicher aussah als ehedem. Als seine Kollegen
- erfuhren, welches Unglück ihn betroffen hatte, fanden sich noch immer
- einige Rohlinge, die aus vollem Halse darüber lachen zu müssen glaubten;
- die Mehrzahl indessen empfand aufrichtiges Mitleid mit ihm und
- veranstaltete zu seinen Gunsten eine Subskription. Unglücklicherweise
- hatte dieses löbliche Unternehmen nur ein völlig ungenügendes Resultat,
- weil diese selben Beamten und Vorgesetzten bereits kurz vorher zu zwei
- Subskriptionen beigesteuert hatten: zunächst mußten sie sich ein Porträt
- ihres Direktors anfertigen lassen, sodann handelte es sich um das
- Abonnement auf ein Werk, das ein Freund ihres Chefs soeben hatte
- erscheinen lassen. Das war der Grund, weswegen nur eine ganz
- unbedeutende Summe zusammenkam.
- Einer von ihnen, der Akaki Akakiewitsch ehrliche Teilnahme
- entgegenbrachte, wollte ihm wenigstens aus Mangel an Besserem einen
- guten Rat geben. Er sagte ihm, daß es verlorene Mühe wäre, sich noch
- einmal an den Bezirkskommissar zu wenden, denn vorausgesetzt, daß dieser
- Beamte sich wirklich Mühe geben sollte, um sich das Lob seiner
- Vorgesetzten zu verdienen, und daß es ihm in der Tat glücken sollte,
- seinen Mantel aufzufinden, so würde die Polizei dieses Kleidungsstück so
- lange in Verwahrung behalten, bis sich der Titular-Rat nicht
- unumstößlich sicher als der alleinige und wahre Besitzer des Mantels
- legitimiert habe. Er ermahnte ihn also, sich an eine gewisse,
- hochgestellte Persönlichkeit zu wenden, welche hochstehende
- Persönlichkeit dank ihrer guten Beziehungen zu den Behörden die Sache
- ohne große Schwierigkeit erledigen könne.
- In seiner Verwirrung entschloß sich Akaki, dieser Ansicht Folge zu
- leisten. Welche Stellung in der Beamtenskala diese hohe Persönlichkeit
- eigentlich bekleidete, wie hoch denn ihr Rang in Wirklichkeit war, hätte
- man nicht sagen können. Man wußte einzig und allein, daß diese _hohe
- Persönlichkeit_ erst seit kurzer Zeit in ihrem Amte säße, bis dahin war
- sie nämlich eine ganz unbedeutende Persönlichkeit gewesen. Allerdings
- gab es andre noch höher gestellte Persönlichkeiten, aber bekanntlich
- finden sich ja immer Leute, in deren Augen eine Persönlichkeit, die
- andre Menschen für unbedeutend halten, eine sehr hohe und bedeutende
- Persönlichkeit ist. Genug, der in Frage stehende Beamte setzte alle
- möglichen Hebel in Bewegung, um noch höher zu steigen. So zwang er alle
- andern Beamten, die unter ihm standen, am Fuße der Treppe auf ihn zu
- warten, bis er erschien, und niemand konnte direkt zu ihm gelangen,
- sondern dies alles mußte auf dem strengsten Ordnungswege geschehen. Der
- Kollegien-Sekretär teilte einem Regierungs-Sekretär das Audienzgesuch
- mit, der es seinerseits an einen Titular-Rat oder einen noch höheren
- Beamten weitergab, und dieser stattete endlich der hohen Persönlichkeit
- darüber Bericht ab.
- Das ist der gewöhnliche Gang der Geschäfte in unserem heiligen Rußland.
- Der Wunsch, es den hohen Beamten gleich zu tun, bewirkt, daß jeder die
- Manieren seines Vorgesetzten nachäfft. Vor noch nicht allzu langer Zeit
- ließ ein erst eben zum Chef eines kleinen Bureaus beförderter
- Titular-Rat über einem seiner Zimmer die Aufschrift »Beratungssaal«
- anbringen. An der Tür standen Diener mit roten Kragen und gestickten
- Röcken, um die Bittsteller anzumelden und einzulassen, die sie in einen
- äußerst kleinen, kaum einem gewöhnlichen Schreibtisch Platz bietenden
- »Saal« hineinführten.
- Aber kehren wir zu unserer hohen Persönlichkeit, zu unserem Beamten,
- zurück. Er hatte eine imponierende majestätische Haltung, wenngleich
- sein Benehmen und seine Gewohnheiten recht primitiv waren; sein System
- faßte sich in einem einzigen Wort zusammen, und dieses hieß: Strenge,
- Strenge, Strenge. Er pflegte dieses Wort dreimal zu wiederholen, und
- beim letztenmal sah er den, mit dem er gerade zu tun hatte,
- bedeutungsvoll an. Er hätte gut darauf verzichten können, soviel Energie
- zu entfalten, denn seine zehn Untergebenen, die den ganzen
- Regierungsmechanismus seiner Kanzelei bildeten, fürchteten ihn schon
- ohnehin genug. Wenn sie ihn nur von weitem sahen, legten sie eiligst
- ihren Federhalter hin und stürzten herbei, um bei seinem Vorübergang
- Spalier zu bilden. In seinen Gesprächen mit seinen Untergebenen
- beobachtete er immer eine strenge Haltung und sprach stets nur folgende
- Worte:
- »Was erlauben Sie sich? Wissen Sie auch, mit wem Sie sprechen? Vergessen
- Sie nicht, wen Sie vor sich haben!«
- Im übrigen war er ein braver Mann und liebenswürdig und gefällig gegen
- seine Freunde. Nur sein Generalsrang hatte ihm den Kopf verdreht. Seit
- dem Tage, an dem er ihn erhalten hatte, verbrachte er den größten Teil
- seiner Zeit in einer Art Schwindel und wußte kaum noch, wie er sich
- benehmen sollte, doch wurde er wieder im Verkehr mit seinesgleichen
- menschlich und vernünftig. Dann benahm er sich wie ein anständiger und
- in mancher Beziehung sogar wie ein recht gescheiter Mensch. Befand er
- sich jedoch mit einem Untergebenen zusammen, dann war der Teufel los --
- dann beschränkte er sich auf ein strenges Schweigen, und in dieser
- Situation war er wirklich zu bedauern, um so mehr, als er selbst
- empfand, wie viel angenehmer er seine Zeit hätte verbringen können.
- Allen, die ihn in solcher Stimmung beobachteten, konnte es nicht
- entgehen, daß er vor Verlangen brannte, sich in eine interessante
- Konversation zu mischen, aber die Furcht, unklugerweise zu zuvorkommend
- zu erscheinen, sich etwas zu vergeben, sich zu familiär zu zeigen, hielt
- ihn davon zurück. Um sich Gefahren dieser Art zu entziehen, beobachtete
- er eine außerordentliche Reserve und sprach nur von Zeit zu Zeit irgend
- ein einsilbiges Wort. Kurz, er hatte sein System so auf die Spitze
- getrieben, daß man ihn einen langweiligen Peter nannte, und dieser Titel
- war wohl verdient.
- Das war die hohe Persönlichkeit, die Akaki Akakiewitsch um Hilfe und
- Schutz angehen mußte. Der Augenblick, den er wählte, um seine Absicht
- auszuführen, schien äußerst ungünstig, besonders für Akaki Akakiewitsch,
- dagegen um so günstiger, um der Eitelkeit des Generals zu schmeicheln.
- Die hohe Persönlichkeit befand sich gerade in ihrem Arbeitszimmer und
- plauderte angeregt mit einem alten Jugendfreunde, der vor kurzem
- angekommen war und den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, als man
- ihr meldete, daß ein Herr Baschmakschin um die Ehre einer Audienz bei
- Seiner Exzellenz nachsuchte.
- »Wer ist das?« fragte er kurz und sehr erstaunt.
- »Ein Beamter!«
- »Warten lassen. Beschäftigt. Ich habe keine Zeit, ihn zu empfangen.«
- Die hohe Persönlichkeit schwindelte. Nichts hinderte sie daran, die
- gewünschte Audienz zu gewähren. Beide Freunde hatten schon alles
- durchgesprochen. Schon mehr als einmal war ihre Unterhaltung von langen
- Pausen unterbrochen worden, nach deren Beendigung sie sich beide
- freundschaftlich auf die Knie klopften:
- »So geh, lieber Iwan Abramowitsch!«
- »Ja, ja, Stephan Warlamowitsch!«
- Aber der Direktor wollte den Bittsteller nicht gleich empfangen, um
- seinen Freund seine ganze Bedeutung empfinden zu lassen, dieser hatte
- nämlich den Dienst quittiert und wohnte jetzt auf dem Lande; daher
- wollte ihm der Direktor deutlich demonstrieren, daß die Beamten sich so
- lange im Vorzimmer zu gedulden hätten, bis es ihm gefiele, sie zu
- empfangen.
- Endlich -- nach mehreren Zwiegesprächen und einigen neuen Pausen,
- währenddessen die beiden Freunde in ihren bequemen Lehnsesseln liegend,
- den Rauch ihrer Zigarren zur Decke sandten, schien sich der
- General-Direktor plötzlich daran zu erinnern, daß man ihn um eine
- Audienz gebeten hätte. Er rief seinen Sekretär, der mit verschiedenen
- Akten an der Tür stand, und sagte: »Ich glaube es wartet da irgend ein
- Beamter auf mich. Lassen Sie ihn herein!«
- Als er Akaki Akakiewitschs ansichtig wurde, der sich ihm mit
- untertäniger Miene in seiner alten Uniform näherte, wandte er sich
- schroff zu ihm und fuhr ihn in jenem strengen und rauhen Tone an, den er
- sich, wenn er in seinem Zimmer allein war, vor dem Spiegel einstudiert
- hatte, noch eine ganze Woche bevor er seinen neuen Posten einnehmen und
- sich General nennen durfte.
- »Was wollen Sie?«
- Der schon ganz eingeschüchterte Akaki Akakiewitsch war wie
- niedergeschmettert von dieser schroffen Anrede. Indes versuchte er es
- sich so gut er konnte verständlich zu machen und zu erzählen, wie man
- ihn in unmenschlicher Weise seines neuen Mantels beraubt hatte, nicht
- ohne seinen Bericht mit einer Menge überflüssiger Flickworte zu
- verbrämen. Er fügte hinzu, er habe sich an Seine Exzellenz gewandt in
- der Hoffnung, daß er dank dieser hohen und gütigen Protektion bei dem
- Polizei-Präsidenten oder bei andern hohen Behörden wieder in den Besitz
- seines Kleidungsstückes gelangen könne.
- Der General-Direktor fand aus irgend einem Grunde, daß dies Benehmen
- viel zu familiär sei und herrschte ihn daher kurz an: »Wie Herr! Sie
- wissen nicht, was Sie in so einem Falle zu tun haben? Was fällt Ihnen
- ein? Sie kennen wohl den Instanzenweg nicht? Sie hätten eine Bittschrift
- einreichen sollen, die in die Hände des Bureauchefs und aus ihnen in die
- des Abteilungsvorstandes gelangt wäre; dieser hätte sie meinem Sekretär
- überreicht, durch den sie mir hätte zugestellt werden müssen.«
- »Gestatten Sie mir,« unterbrach ihn Akaki Akakiewitsch mit großer
- Anstrengung, um den kargen Rest von Geistesgegenwart, der ihm geblieben
- war, zusammenzunehmen. Fühlte er doch, daß er schon vor Schrecken und
- Erregung schwitzte. »Gestatten Sie mir, Eure Exzellenz, Ihnen zu
- bemerken, daß, wenn ich mir die Freiheit genommen habe, Sie mit dieser
- Angelegenheit zu belästigen, die Sekretäre ... die Sekretäre sind Leute,
- von denen man nichts zu erwarten hat.«
- »Wie? Was? Wahrhaftig!« schrie ihn der General-Direktor an. »Sie wagen
- es, hier eine solche Sprache zu führen? Wie sind Sie denn zu solchen
- Ansichten gelangt? Es ist eine Schmach, zu sehen, wie sich junge Leute
- derartig gegen ihre Vorgesetzten empören!«
- In seinem Ungestüm sah wohl der General-Direktor garnicht, daß der
- Titular-Rat bereits die Fünfzig überschritten hatte und daß die
- Bezeichnung: junger Mann nur noch relativ auf ihn angewendet werden
- konnte: im Vergleich mit einem Siebzigjährigen nämlich!
- »Wissen Sie auch,« fuhr die hohe Persönlichkeit fort, »mit wem Sie
- sprechen? Erinnern Sie sich, vor wem Sie stehen? Erinnern Sie sich
- daran! Ich sage: erinnern Sie sich daran!«
- Diese Worte begleitete er mit heftigem Fußstampfen, und seine Stimme
- nahm eine solche Schärfe, einen so furchterregenden Umfang an, daß auch
- ein anderer erschrocken zusammengefahren wäre.
- Akaki war völlig gelähmt; er zitterte, seufzte, konnte sich kaum
- aufrecht halten und wäre ohne das Zuhilfekommen des Bureaudieners
- unfehlbar zu Boden gesunken. Man führte, oder vielmehr man schleppte ihn
- fast ohnmächtig hinaus.
- Der General-Direktor war über die Wirkung seiner Worte ganz erstaunt;
- sie überstieg seine Erwartung, und voller Genugtuung darüber, daß sein
- herrischer Ton auf einen Greis einen solchen Eindruck gemacht hatte, daß
- dieser arme Mann sein Bewußtsein verlor, warf er einen flüchtigen Blick
- auf seinen Freund, um zu sehen, wie er diesen Ausgang aufgenommen hatte.
- Wie grenzenlos wurde da seine Zufriedenheit mit sich selbst, als er
- sogar bei seinem Freunde, der unschlüssig dasaß und ihn mit einem
- gewissen Schrecken ansah, einen tiefen Eindruck feststellte!
- Wie Akaki Akakiewitsch die Treppe hinunter gelangte und wie er die
- Straßen durchwanderte, darüber hätte er selbst niemals Rechenschaft
- geben können; denn er war mehr tot als lebendig. In seinem ganzen Leben
- war er noch nicht von einem General-Direktor, und noch dazu von einem so
- strengen General-Direktor, so heftig gescholten worden.
- In dem heulenden Schneesturm, der draußen tobte, wanderte er mit offenem
- Munde dahin, ohne dieses abscheuliche Wetter überhaupt zu bemerken, und
- ohne auf dem Trottoir vor dem Schneegestöber Schutz zu suchen. Der Wind,
- der nach Petersburger Sitte aus allen vier Himmelsrichtungen blies,
- verursachte ihm eine Halsentzündung. Nach Hause zurückgekehrt, war er
- außerstande, ein Wort zu sprechen. Sein ganzer Körper war geschwollen,
- und daher legte sich Akaki Akakiewitsch zu Bett. So groß ist mitunter
- die Wirkung einer gründlichen Moralpauke!
- Am folgenden Tage fieberte Akaki heftig. Dank der großmütigen Hilfe des
- St. Petersburger Klimas machte seine Krankheit in kurzer Zeit
- beunruhigende Fortschritte. Als der Arzt sich einstellte, war all seine
- Kunst bereits nutzlos. Der Doktor fühlte ihm den Puls, aber er konnte
- nichts mehr ausrichten, so verschrieb er ihm denn ein Rezept, um ihn
- doch nicht ohne die Segnungen der medizinischen Wissenschaft sterben zu
- lassen, und erklärte, daß der Kranke nur noch zwei Tage zu leben hätte.
- Dann wandte er sich an Akakis Wirtin und sagte: »Sie haben keine Zeit
- mehr zu verlieren; lassen Sie ihm doch gleich einen Sarg aus Fichtenholz
- machen, denn ein eichner wäre für diesen armen Mann wohl zu teuer.«
- Hörte Akaki Akakiewitsch diese verhängnisvollen Worte? Waren sie es, die
- eine so erschütternde Wirkung auf ihn ausübten? Beklagte er sich ganz
- leise über sein trauriges Schicksal? Niemand hätte es sagen können,
- redete er doch bereits im Delirium. Seltsame Visionen jagten
- unaufhörlich durch sein geschwächtes Hirn. Bald sah er sich Petrowitsch
- gegenüber, den er beauftragte, ihm einen Mantel anzufertigen, bald sah
- er Fußangeln für die Diebe, die er beständig unter seinem Bett zu
- entdecken glaubte. Bald hatten sie sich unter seiner Decke verkrochen,
- und er flehte seine Wirtin an, sie fortzujagen. Bald fragte er, warum
- die alte Kapuze noch an der Wand hänge, wo er doch einen neuen Mantel
- habe, bald sah er sich vor dem General-Direktor, der ihn wieder mit
- Vorwürfen überhäufte, so daß er seine Exzellenz um Gnade bat. Bald
- verwirrte er sich in so seltsame und schreckliche Flüche und Reden, daß
- die erschreckte alte Frau sich bekreuzigte. Niemals in ihrem Leben hatte
- sie derartige Dinge von ihm gehört, und die zornigen Worte des Kranken
- ließen sie um so mehr außer sich geraten, als der Titel einer Exzellenz
- jeden Augenblick wiederkehrte. Bald murmelte er von neuem sinnlose Sätze
- ohne Zusammenhang, die sich aber immer um denselben Punkt drehten: um
- den Mantel.
- Endlich hauchte der arme Akaki Akakiewitsch seinen letzten Seufzer aus.
- Man legte weder auf sein Zimmer noch auf seinen Schrank Siegel -- und
- zwar aus dem einfachen Grunde, weil er keinen Erben hatte und nur ein
- Päckchen Gänsefedern, ein Heft mit weißem Aktenpapier, drei Paar
- Strümpfe, einige Hosenknöpfe und seinen alten Mantel hinterließ. Wem
- fielen diese Reliquien zu? Das weiß Gott allein! Der Verfasser dieser
- Erzählung muß gestehen, daß er es unterlassen hat, sich genauer darüber
- zu informieren.
- Akaki Akakiewitsch wurde in ein Leichentuch gehüllt und nach dem
- Kirchhof gebracht, auf dem man ihn beisetzte. Die große Stadt Petersburg
- fuhr in ihrem gewöhnlichen Leben fort, wie wenn der Titularrat niemals
- existiert hätte.
- So schwand ein menschliches Wesen dahin, das weder einen Beschützer,
- noch einen Freund gehabt, das nie jemand ein wahrhaft herzliches
- Interesse eingeflößt, das nicht einmal die Neugier der sonst doch so
- forschungswütigen Männer erregt hatte, jener Schnüffler, die es doch
- sonst nicht verschmähen, eine gewöhnliche Fliege zum Zwecke einer
- mikroskopischen Untersuchung auf die Nadel zu spießen. Ohne ein einziges
- Wort der Klage hatte dieses Wesen die Mißachtung und den Spott seiner
- Kollegen ertragen. Ohne daß es je ein außerordentliches Erlebnis gehabt
- hätte, war es seinen Weg zum Grabe dahingewandert, und als ihm am Ende
- seiner Tage ein Lichtblick in Form eines Mantels sein elendes Dasein
- belebt hatte, mußte das Schicksal es niederwerfen, ganz so, wie es auch
- die Großen dieser Welt niederzuwerfen pflegt! ....
- Einige Tage nach seinem Tode ließ ihm sein Chef durch einen Boten
- mitteilen, daß er sich sofort auf seinen Posten zu begeben habe. Der
- Bureaudiener kam jedoch mit der Nachricht zurück, daß der Titular-Rat
- nicht mehr kommen könne.
- »Und weshalb nicht?« fragten die Beamten.
- »Weil er bereits tot und vor vier Tagen begraben worden ist!«
- So erfuhren Akaki Akakiewitschs Kollegen seinen Tod.
- Am Tage darauf nahm seinen Platz ein anderer Beamter ein, der viel
- robuster und gröber war und der sich nicht die Mühe nahm, beim Kopieren
- der Akten die Buchstaben so aufrecht hinzumalen, sondern der eine viel
- schrägere Schrift hatte.
- * * * * *
- Es könnte scheinen, als müsse Akaki Akakiewitschs Geschichte hier
- endigen, und als hätten wir nichts mehr über ihn mitzuteilen. Allein der
- bescheidene Titular-Rat war dazu bestimmt, nach seinem Tode noch manchen
- Tag von sich reden zu machen: wie zur Belohnung für sein bescheidenes
- von niemandem beachtetes Dasein, und unsere Erzählung nimmt hier ganz
- unerwarteter Weise eine recht phantastische Wendung.
- Eines Tages verbreitete sich in St. Petersburg das Gerücht, daß in der
- Nähe der Katharinenbrücke Nacht für Nacht ein Gespenst in der Uniform
- eines Kanzleibeamten erscheine, einen gestohlenen Mantel suche und allen
- Passanten, ohne sich im mindesten um deren Titel oder Rang zu kümmern,
- ihre wattierten, mit Katzen-, Otter-, Bären-, Biberfell gefütterten
- Mäntel, kurz alle solche, die die Menschen erfunden haben, um ihr
- eigenes Fell gegen die Kälte zu schützen, abnehme. Ein dermaliger
- Kollege des Titular-Rates hatte dieses Gespenst gesehen und in ihm
- sofort Akaki Akakiewitsch erkannt. Er war, tödlich erschrocken, so
- schnell er konnte, davongelaufen, und so war es ihm gelungen, zu
- entkommen, aber -- obwohl er schon fern war -- hatte er es doch mit der
- Faust drohen sehen. Überall erfuhr man, daß die Rücken und die Schultern
- von Räten, -- nicht nur von Titular-Räten, -- sondern auch von
- Staatsräten infolge dieses unqualifizierbaren Raubes ihrer schönen
- warmen Kleidung den heftigsten Erkältungen ausgesetzt waren.
- Die Polizei traf natürlich alle möglichen Maßregeln, um dieses Gespenst
- -- tot oder lebend -- zu ergreifen und an ihm eine exemplarische Strafe
- zu vollziehen; und das wäre ihr auch beinahe gelungen.
- Eines Abends hatte ein Posten in der Kirjuschkingasse das Glück, das
- Gespenst gerade in dem Momente am Kragen zu packen, wo es einem alten
- Musiker, der vormals die Flöte gespielt hatte, seinen Friesmantel
- fortnehmen wollte. Die Wache rief zwei Kameraden zu Hilfe und vertraute
- ihnen den Gefangenen an, während sie mit der Hand in ihren Stiefel
- langte, um ihre Tabaksdose zu suchen, und ihre schon zum sechsten Male
- erfrorene Nase wieder etwas zu beleben. Aber der Tabak war wohl von
- solcher Art, daß selbst ein Toter ihn nicht gut vertragen konnte. Kaum
- hatte der Posten seinem linken Nasenloche einige Körnchen anvertraut,
- während er das rechte zuhielt, als der Gefangene so gewaltig zu niesen
- begann, daß die drei Soldaten fühlten, wie ein Nebel ihre Augen
- verhüllte. Während sie sich die Lider rieben, verschwand das Gespenst
- spurlos, so daß sie nicht recht wußten, ob sie es auch wirklich in ihren
- Händen gehalten hatten. Von diesem Tage an hatten alle Wachen eine so
- große Furcht vor Gespenstern, daß sie nicht einmal einen lebendigen
- Menschen mehr zu verhaften wagten und sich darauf beschränkten, ihm von
- ferne zuzurufen:
- »Geht weiter! Geht weiter!«
- Das Phantom fuhr fort, in der Nähe der Kalinkinbrücke umzugehen, und
- verbreitete in dem ganzen Viertel einen gewaltigen Schrecken unter allen
- ängstlichen Leuten.
- Kehren wir jedoch zu der hohen Persönlichkeit, der ursprünglichen
- Veranlassung unserer phantastischen, aber durchaus wahren Geschichte,
- zurück. Der Wahrheit gemäß müssen wir zugeben, daß die hohe
- Persönlichkeit, bald nachdem sich der arme von ihr so schlecht
- behandelte Akaki Akakiewitsch entfernt hatte, etwas wie Mitleid mit ihm
- empfand. Ein gewisses Gefühl der Teilnahme war dem Herzen des hohen
- Herrn durchaus nicht fremd; er selbst hatte manch edle Regung, -- sein
- einziger Fehler bestand darin, sie infolge des maßlosen Stolzes auf
- seinen Titel zu unterdrücken. Als sein Freund gegangen war, hatte er
- sich aufs teilnahmsvollste mit diesem unglücklichen bleichen Titular-Rat
- beschäftigt, den er immer in seiner Verstörtheit vor sich sah, sich
- krümmend unter den grausamen Vorwürfen, die er ihm gemacht hatte. Diese
- Vision beunruhigte ihn derartig, daß er eines Tages einem seiner Beamten
- den Auftrag gab, sich über Akaki Akakiewitschs Schicksal zu unterrichten
- und festzustellen, ob man noch etwas für ihn tun könne.
- Als der Bote mit der Nachricht zurückkam, daß der arme kleine Beamte
- kurz nach der Audienz einem plötzlichen Fieberanfall zum Opfer gefallen
- war, empfand der General-Direktor starke Gewissensbisse und verbrachte
- den ganzen Tag in der düstersten Stimmung.
- Um sich ein wenig zu zerstreuen und seine peinlichen Eindrücke zu
- verjagen, begab er sich des Abends zu einem Freunde, bei dem er eine
- angenehme Gesellschaft antraf, und -- was die Hauptsache war -- lauter
- Personen von seinem Rang, so daß er sich nicht zu genieren brauchte.
- Und wirklich sah er sich auch bald all seiner melancholischen Gedanken
- enthoben, er wurde wieder lebhaft, fing Feuer, beteiligte sich in
- liebenswürdigster Weise an den Gesprächen, wie wenn nichts vorgefallen
- wäre, und verbrachte so einen sehr schönen Abend.
- Zum Souper trank er zwei Glas Champagner, bekanntlich das beste Mittel,
- um seine Heiterkeit wieder zu gewinnen. Unter dem Einflusse dieses
- schäumenden Trankes bekam er Lust zu etwas ganz Besonderem: er beschloß
- daher, nicht unmittelbar nach Hause zu gehen, sondern eine seiner
- Freundinnen, ich glaube es war eine deutsche Dame, namens Karoline
- Iwanowna, aufzusuchen, zu der er zärtliche Beziehungen unterhielt.
- Ich möchte hierbei betonen, daß die hohe Persönlichkeit keineswegs mehr
- jung war, ja, daß man sie überall als tadellosen Gatten und guten
- Familienvater rühmte. Ihre beiden Söhne, deren einer bereits in einem
- Ministerium angestellt war, und ein sechszehnjähriges Töchterchen mit
- einer zwar hakenförmigen aber doch ganz reizenden Nase, kamen
- allmorgentlich in sein Zimmer, um ihm die Hand zu küssen und ihm mit den
- Worten: _Bonjour, papa_ guten Morgen zu sagen.
- Seine Gattin, eine frische und noch immer anziehende Erscheinung, bot
- ihm zuerst die Hand zum Kusse, ergriff sodann die seine und drehte sie
- nach innen, um sie ihrerseits an ihre Lippen zu führen. Obgleich sich
- die hohe Persönlichkeit also in ihrer Häuslichkeit äußerst wohl fühlte
- und durch die Zärtlichkeiten der Familienmitglieder vollauf befriedigt
- schien, glaubte sie dennoch auch in einem anderen Viertel den Galanten
- spielen zu müssen. Die Freundin, mit der seine Gattin seine
- Zärtlichkeiten teilen mußte, war keineswegs jünger als diese; aber so
- sind die Rätsel des Lebens, und wir sind ja nicht befugt, sie hier lösen
- zu wollen.
- Die hohe Persönlichkeit ging also die Treppe hinunter, bestieg ihren
- Schlitten und sagte zu dem Kutscher:
- »Zu Karoline Iwanowna!«
- Sorgfältig in seinen warmen Mantel eingehüllt, befand er sich in der
- angenehmsten Stimmung, die sich ein Russe nur wünschen mag, einer
- Stimmung, wo man selbst an nichts denkt und sich der Geist doch in einem
- Kreislauf von Gedanken bewegt, von denen die einen immer wohltuender
- sind als die anderen, und wo man sich garnicht die Mühe zu nehmen
- braucht, nach ihnen zu suchen oder sie festzuhalten. Er dachte an die
- glücklichen Stunden, die er soeben in so angenehmer Gesellschaft
- verbracht hatte, an die geistreichen Bemerkungen, die den kleinen Kreis
- zu lautem Lachen gereizt und die er halblaut kichernd wiederholte.
- Hierbei fand er, daß sie noch genau so komisch waren wie damals, als er
- sie zum ersten Male gehört hatte, und er wunderte sich daher nicht im
- mindesten darüber, daß er so herzhaft hatte lachen müssen.
- Von Zeit zu Zeit störte ihn ein heftiger Windstoß, der ihn plötzlich
- ganz unmotiviert anwehte und ihm ganze Schneehaufen ins Gesicht
- schleuderte, in seinen Betrachtungen. Der Nord pfiff durch seinen
- Mantel, blähte ihn wie ein Segel auf, schlug ihm den Kragen um die Ohren
- und nötigte ihn, seine ganze Kraft zusammenzunehmen, um sich wieder aus
- ihm herauszuwinden.
- Plötzlich fühlte die hohe Persönlichkeit, wie eine machtvolle Hand sie
- am Kragen packte. Sie wandte sich um und bemerkte einen kleinen, mit
- einer alten Uniform bekleideten Mann. Entsetzt erkannte sie Akaki
- Akakiewitschs Züge, und diese Züge waren bleich wie der Schnee und
- abgezehrt wie die eines Toten.
- Aber wer beschreibt den Schrecken der hohen Persönlichkeit, als sie
- bemerkte, daß sich der Mund des Toten in krampfhaften Zuckungen verzog,
- den Direktor mit eisigem Grabeshauche anblies und in folgende Worte
- ausbrach:
- »Endlich habe ich dich ... endlich kann ich dich am Kragen packen. Ich
- will meinen Mantel. Du hast dich nicht um mich gekümmert, als ich in
- Nöten war, und mich nur mit Schmähungen überhäuft. -- Nun sollst du mir
- deinen Mantel geben!«
- Der arme hohe Beamte war ein Kind des Todes. In seinem Bureau vor seinen
- Untergebenen fehlte es ihm sicher nicht an Mut und Charakterstärke; er
- brauchte nur einen Subalternen streng anzusehen, und schon rief jeder,
- der einen Blick auf seine kräftige Gestalt und sein imponierendes
- Äußeres warf: »Welch ein Charakter!«
- Aber wie bei so vielen anderen hochmütigen Beamten offenbarte sich sein
- Heldentum nur in seiner äußeren Erscheinung, und in diesem Augenblick
- war er so erschrocken, daß er sogar um seine Gesundheit fürchten mußte.
- Mit zitternder Hand zog er sich selbst seinen Mantel aus und rief seinem
- Kutscher zu:
- »Schnell nach Hause! Schnell!«
- Als der Kutscher diese Stimme hörte, die, wie das in solchen
- Augenblicken wohl vorkommt, einen sehr bestimmten und energischen Klang
- hatte und meist von noch viel bestimmteren und energischeren Taten
- begleitet zu sein pflegte, neigte er vorsichtig den Kopf, schwang seine
- Peitsche und ließ seinen Schlitten pfeilschnell dahinsausen. In weniger
- als sechs Minuten hielt der Schlitten vor dem Hause der hohen
- Persönlichkeit. Bleich, erschrocken und ohne Mantel stieg er aus und
- begab sich sofort nach seinem Zimmer. Statt zu Karoline Iwanowna zu
- fahren, war er schleunigst zu sich nach Hause geeilt. Er verbrachte eine
- so schreckliche Nacht, daß seine Tochter am andern Morgen während des
- Tees entsetzt ausrief:
- »Du bist ja heute so bleich, Papa!«
- Er sagte nichts, weder von dem, was er gesehen, noch von dem, wo er
- gewesen war, und was er am Abend vorher hatte tun wollen. Indes machte
- dieses Ereignis einen tiefen Eindruck auf ihn. Von diesem Tage an fragte
- er seine Untergebenen nicht mehr in seiner bisherigen schroffen Art:
- »Was erlauben Sie sich? Wissen Sie, wer vor Ihnen steht?«
- Oder, wenn es ihm doch noch bisweilen widerfuhr, in herrischem Tone mit
- ihnen zu sprechen, so hörte er doch wenigstens vorher erst ihr Gesuch
- an.
- Und wie seltsam! Von diesem Tage an zeigte sich das Gespenst nicht mehr.
- Augenscheinlich hatte es überhaupt keine andere Absicht gehabt, als sich
- den Mantel des General-Direktors anzueignen. Jedenfalls hörte man von
- nun an nichts mehr davon, daß den Leuten ihre Mäntel geraubt wurden.
- Allerdings gab es noch einige ängstliche und übereifrige Personen, die
- sich durchaus nicht beruhigen wollten und behaupteten, daß sich das
- Phantom noch immer und zwar in andern entlegeneren Stadtvierteln zeige
- ... Und in der Tat, ein Wachtposten wollte sogar mit eigenen Augen
- gesehen haben, wie es an einem Hause vorübergeeilt war. Der Posten war
- jedoch von Natur ein wenig schwächlich -- hatte doch sogar ein
- gewöhnliches ausgewachsenes Ferkel, das aus einem Privathause
- ausgebrochen war, ihn zur größten Freude und Erheiterung der
- herumstehenden Droschkenkutscher einmal ganz einfach umgeworfen. Dafür
- ließ er sich freilich nachher von jedem einen Groschen für Tabak geben,
- um sie zu strafen, weil sie sich über ihn lustig gemacht hatten. Da er
- also ein solcher Schwächling war, wagte er es nicht, das Gespenst zu
- verhaften, sondern begnügte sich damit, ihm in der Dunkelheit
- nachzuschleichen. Da aber drehte sich das Gespenst plötzlich um und
- schrie ihn an: »Was willst du?« wobei es ihm eine so schreckliche Faust
- zeigte, wie man sie sogar bei einem Lebenden nicht so leicht zu sehen
- bekommt.
- »Nichts,« antwortete der Wachtposten und nahm eiligst Reißaus.
- Dieser Schatten war jedoch schon bedeutend größer als der des
- Titular-Rats und trug einen enormen Schnauzbart. Er schien mit mächtigen
- Schritten der Obuhoffbrücke zuzueilen und verschwand gleich darauf in
- der dunklen Nacht.
- Die Nase
- I.
- Am 25. März trug sich in St. Petersburg ein außerordentliches Ereignis
- zu.
- Auf dem Wosnessenski-Prospekt wohnte der Barbier Iwan Jakowlewitsch,
- dessen Familienname von dem Schilde, auf dem man nur noch die Abbildung
- eines an Wangen und Kinn eingeseiften Herrn nebst der Inschrift: »Hier
- wird auch zur Ader gelassen!« erkennen konnte, geschwunden war. Dieser
- Barbier Iwan Jakowlewitsch wachte also ziemlich frühzeitig auf und
- atmete den Duft von warmem Brote ein. Er richtete sich im Bette etwas
- empor und sah, wie seine Frau, eine äußerst respektable Dame und
- leidenschaftliche Liebhaberin des Kaffees, einige frischgebackene Brote
- aus dem Ofen hervorholte.
- »Heute, meine liebe Praskowia Ossipowna, werde ich keinen Kaffee
- trinken,« sagte Iwan Jakowlewitsch; »ich habe mehr Appetit auf Brot mit
- Zwiebeln.«
- Um die Wahrheit zu sagen: Iwan Jakowlewitsch hätte gar zu gern von
- beidem gekostet; doch war er von vornherein von der Unmöglichkeit einer
- derartigen Schwelgerei völlig durchdrungen, denn Praskowia Ossipowna
- ließ solche Launen nicht zu.
- »Iß meinetwegen Brot, Schafskopf,« dachte die Frau bei sich; »für mich
- wird dann um so mehr Kaffee übrig bleiben ...« und sie warf ein Brot auf
- den Tisch.
- Iwan Jakowlewitsch zog aus Schicklichkeitsgründen einen Leibrock über
- sein Hemd, nahm -- nachdem er am Tische Platz genommen hatte -- etwas
- Salz, stutzte zwei Zwiebeln, ergriff ein Messer und schickte sich an,
- das Brot höchst bedächtig zu zerteilen. Er schnitt es in zwei Hälften,
- schaute sich die eine Fläche an und bemerkte zu seiner größten
- Verwunderung etwas Weißliches. Iwan Jakowlewitsch kratzte vorsichtig mit
- dem Messer daran herum und befühlte es mit dem Daumen. »Das Ding ist ja
- ganz hart!« sagte er zu sich; »was mag denn das nur sein?«
- Er schälte es mit den Fingern heraus und fand -- eine Nase! Iwan
- Jakowlewitsch ließ seine Arme sinken; dann begann er sich seine Augen zu
- reiben und befühlte es noch einmal mit dem Finger. In der Tat, es war
- eine Nase, eine wirkliche Nase, und dazu noch eine Nase, deren Bildung
- er wiederzuerkennen glaubte.
- Entsetzen malte sich auf Iwan Jakowlewitschs Zügen: aber dieses
- Entsetzen war harmlos im Vergleich mit der Empörung, die sich seiner
- Gattin bemächtigte.
- »Wo hast du nur diese Nase abgeschnitten, du Vieh?« fing sie
- wutentbrannt zu schreien an. »Du Dieb, du Trunkenbold! Ich werde dich
- selbst der Polizei denunzieren! Was für ein Lumpenkerl! Schon drei
- Herren haben mir gesagt, du zerrst beim Rasieren derartig an den Nasen,
- daß du sie beinahe abreißt!«
- Allein Iwan Jakowlewitsch war weder tot noch lebend, hatte er doch
- soeben festgestellt, daß diese Nase keine andere war als die des
- Kollegien-Assessors Kowalew, den er Mittwochs und Sonntags zu rasieren
- pflegte.
- »Schweig doch, Praskowia Ossipowna,« sagte er, »ich werde sie in ein
- Stück Leinewand einschlagen und sie in irgend eine Ecke verstecken, wo
- sie einige Tage liegen bleiben mag. Dann werde ich sie forttragen.«
- »Damit bin ich ganz und gar nicht einverstanden. Ich soll zugeben, daß
- du eine abgeschnittene Nase im Zimmer versteckst? Du gerösteter Zwieback
- du! Er kann nur sein Rasiermesser abziehen und ist nicht fähig, sein
- Geschäft schnell und solid auszuführen! Herumstreicher, Strauchdieb!
- Glaubst du etwa, ich werde mir deinetwegen Scherereien mit der Polizei
- zuziehen? Ach, du bist ein Taugenichts, ein dummer Klotz bist du! Weg
- damit! Fort! Da, trag sie weg, wohin du willst. Ich will nichts davon
- wissen!«
- Iwan Jakowlewitsch war völlig zerschmettert. Er überlegte und überlegte
- ... und wußte im Grunde garnicht was.
- »Der Teufel soll wissen, wie das nur möglich ist!« sagte er endlich,
- indem er sich mit der Hand über die Ohren fuhr. »Bin ich gestern
- betrunken nach Hause gekommen oder nicht? Allerdings kann ich das nicht
- mit Gewißheit sagen. Aber allem Anschein nach handelt es sich hier um
- einen ganz außergewöhnlichen Vorgang; denn das Brot -- das Brot wird
- doch gebacken, während eine Nase ... Weiß Gott, ich verstehe das nie und
- nimmer!«
- Iwan Jakowlewitsch verstummte. Der Gedanke, ein Polizist könnte diese
- Nase bei ihm entdecken und ihn zur Rechenschaft ziehen, versetzte ihn in
- eine vollkommene Niedergeschlagenheit. Es war ihm bereits, als sähe er
- einen roten, reich mit Silber besetzten Kragen, und einen Degen vor sich
- ... und er zitterte am ganzen Körper. Endlich zog er seine Beinkleider
- und Stiefel an, wickelte die Nase schnell unter den peinlichsten
- Ermahnungen seiner Frau in ein Stück Leinewand und verließ seine
- Wohnung.
- Er hatte die Absicht, die Nase irgendwo an einem Brunnen, unter einer
- Schwelle niederzulegen oder sie wie absichtslos fallen zu lassen, und
- dann in eine andere Straße einzubiegen.
- Aber unglücklicherweise lief er einem Bekannten in die Arme, der ihn
- sofort zu fragen anfing:
- »Wo gehst du denn hin?« oder: »Wen willst du denn schon so frühzeitig
- rasieren?« sodaß Iwan Jakowlewitsch durchaus keinen günstigen Moment für
- sein Vorhaben erwischen konnte. In der Folge glückte es ihm zwar einmal,
- die Nase fallen zu lassen; aber ein Schutzmann machte ihm schon von
- weitem mit der Hellebarde ein Zeichen und rief ihm zu: »Heb's doch auf!
- Du hast da etwas fallen lassen!« Und Iwan Jakowlewitsch ward so
- genötigt, die Nase aufzuheben und in seine Tasche zu stecken.
- Verzweiflung überfiel ihn, und zwar um so heftiger, je mehr sich die
- Straße bevölkerte und je mehr Läden und Wirtshäuser geöffnet wurden.
- Er entschloß sich, auf die Isaaksbrücke zu gehen. Vielleicht würde er
- dort ein Mittel finden, die Nase unbemerkt in die Newa zu werfen! ...
- Aber ich habe einen Fehler begangen, daß ich dem Leser bis jetzt noch
- nichts über Iwan Jakowlewitsch, eine in mancher Hinsicht bemerkenswerte
- Persönlichkeit, berichtet habe.
- Iwan Jakowlewitsch war wie jeder russischer Handwerker, der etwas auf
- sich hält, ein furchtbarer Trunkenbold, und obgleich er täglich die
- Bärte anderer Leute rasierte, rasierte er doch niemals seinen eigenen.
- Sein Frack -- denn Iwan Jakowlewitsch trug nie einen Überrock -- war
- bunt oder vielmehr schwarz und mit gelblich-zimtfarbenen und grauen
- Flecken übersät; der Kragen glänzte schon ein wenig, und anstelle von
- drei Knöpfen sah man nichts mehr als ein Paar abgerissene Zwirnsfäden.
- Iwan Jakowlewitsch war in jeder Beziehung ein Zyniker; wenn der
- Kollegien-Assessor Kowalew nach seiner Gewohnheit, während er rasiert
- wurde, zu ihm sagte:
- »Deine Hände stinken immer, Iwan Jakowlewitsch!« so antwortete er
- gelassen:
- »Warum sollen sie denn stinken?«
- »Ich weiß nicht, Brüderchen, aber sie stinken!« versetzte hierauf der
- Kollegien-Assessor Kowalew; und Iwan Jakowlewitsch nahm dann erst eine
- Prise und seifte hierauf Kowalews Wangen, seine Oberlippe, die Partie
- hinter den Ohren und unter dem Kinne ein -- mit einem Worte, er seifte
- ihn ein, wo es ihm Vergnügen machte.
- Dieser ehrenwerte Bürger war nun endlich auf der Isaaksbrücke
- angekommen. Zunächst warf er einen spähenden Blick auf die Umgebung,
- beugte sich über das Geländer, wie wenn er die vielen Fische im Wasser
- beobachten wollte, und warf dann das Päckchen mit der Nase ganz behutsam
- hinab.
- Es war ihm zumute, als fielen ihm mit einem Male zehn Pud[10] vom
- Herzen. Ja, er lächelte sogar.
- Anstatt sich nun auf den Weg zu machen, um schnell seine Beamten zu
- rasieren, trat er in ein Lokal ein, das ein Schild mit der Inschrift
- »Tee und Lebensmittel« trug, und bestellte dort ein Glas Punsch.
- Plötzlich bemerkte er jedoch ganz in der Nähe am Ende der Brücke, den
- Bezirkskommissar, einen Mann von vornehmem Äußeren, mit breitem
- Backenbart, Dreispitz und Degen. Iwan Jakowlewitsch wurde vor Entsetzen
- starr wie ein Eisklumpen. Der Kommissar winkte ihm mit der Hand und
- sagte zu ihm:
- [Fußnote 10: Ein Pud = etwa 35 Pfund.]
- »Komm doch mal näher, mein Lieber!«
- Iwan Jakowlewitsch zog, da er die gebräuchlichen Höflichkeitsformen sehr
- wohl kannte, schon von weitem die Mütze, sprang herbei und sagte:
- »Ich wünsche Ew. Wohlgeboren einen schönen guten Morgen!«
- »Nein, nein, Brüderchen, laß nur das >Ew. Wohlgeboren< aus dem Spiel! --
- Sag mir lieber, was hattest du da auf der Brücke zu tun?«
- »Wahrhaftig, Herr, ich war gerade auf dem Wege zu meinen Kunden, die ich
- rasieren soll, und schaute hinab, ob die Strömung sehr stark ist!«
- »Du lügst! Du schwindelst! So kommst du mit nicht davon! Willst du mir
- jetzt wohl Rede stehen?«
- »Ich bin bereit, Ew. Gnaden zwei-, ja sogar dreimal wöchentlich ohne
- jede Bezahlung zu rasieren!« versetzte Iwan Jakowlewitsch.
- »Nein, lieber Freund! Das sind Dummheiten! Mich rasieren bereits drei
- Barbiere und rechnen sich diese Funktion zur Ehre an. Aber ich bitte
- dich, mir zu sagen, was du dort gemacht hast!«
- Iwan Jakowlewitsch erblaßte ...
- Aber hier hüllt plötzlich ein undurchdringliches Dunkel unsere
- Geschichte ein, und über die folgenden Geschehnisse weiß man absolut
- nichts zu berichten.
- II.
- Der Kollegien-Assessor[11] Kowalew erwachte eines Morgens besonders früh
- und bewegte seine Lippen, um ein lautes Brr ... brr ... auszustoßen, wie
- es so seine Art war, wenn er munter wurde, ohne daß er hierfür einen
- Grund hätte angeben können. Er reckte sich erst tüchtig und suchte dann
- nach einem kleinen Spiegel, der auf dem Tische stand. Er wollte sich ein
- Pickelchen anschauen, das am Abend vorher auf seiner Nase aufgesprungen
- war. Aber zu seinem größten Erstaunen befand sich anstelle seiner Nase
- in seinem Gesicht eine durchaus ebene und glatte Fläche! Voller
- Schrecken ließ Kowalew sich Wasser bringen und wusch sich die Augen mit
- dem Handtuch aus: wahrhaftig, er hatte keine Nase mehr! Er befühlte die
- Stelle mit der Hand und kniff sich ins Fleisch, um festzustellen, ob er
- vielleicht noch schliefe; aber nein, er schien tatsächlich nicht zu
- schlafen. Der Kollegien-Assessor Kowalew sprang aus seinem Bett,
- schüttelte und rüttelte sich, -- doch die Nase war und blieb
- verschwunden! Er ließ sich sofort seine Kleider bringen und stürzte
- schleunigst zu dem Polizeivorstand.
- Aber inzwischen ist es Zeit geworden, einige Worte über Kowalew zu
- sagen, damit der Leser ermessen kann, um welche Art von
- Kollegien-Assessor es sich bei unserem Freunde Kowalew handelt.
- [Fußnote 11: Kollegien-Assessor: so heißen die Beamten des achten
- Beamtengrades. Im Heere nennt man sie Major; diese Bezeichnung führt
- Kowalew.]
- Man darf nicht etwa die Kollegien-Assessoren, die diesen Rang ihren
- Diplomen verdanken, mit denen verwechseln, die ihn während ihrer
- Dienstzeit im Kaukasus erhalten haben. Die Kollegien-Assessoren mit
- wissenschaftlicher Bildung ... aber ich will doch lieber aufhören, denn
- Rußland ist ein so seltsames Land, daß all seine Kollegien-Assessoren
- von Riga bis Kamtschatka sich getroffen fühlen, wenn auch nur von einem
- dieser Gattung die Rede ist. Und das gilt auch für alle Ämter und alle
- Grade.
- Kowalew war ein _kaukasischer_ Kollegien-Assessor. Seit zwei Jahren erst
- bekleidete er diesen Rang, und es gab kaum einen Moment, in dem er sich
- nicht an seine Stellung erinnerte; um sich noch mehr Ansehen und Gewicht
- zu verleihen, stellte er sich niemals als simplen Kollegien-Assessor
- vor, sondern stets als Major. »Hör doch, mein Täubchen,« sagte er
- gewöhnlich, so oft er auf der Straße eine alte Frau traf, die Leinewand
- feilbot, »geh doch zu mir in meine Wohnung; ich wohne in der
- Sadovaja[12] und frage nur: >Wohnt hier der Major Kowalew?< Jedermann
- wird dir gern Auskunft erteilen.« Oder begegnete er einer artigen
- Schönen, so flüsterte er ihr ganz leise zu: »Du brauchst nur nach der
- Wohnung des Majors Kowalew zu fragen, liebes Kind!« Aus diesem Grunde
- wollen auch wir ihn von nun an stets den »Major« nennen.
- [Fußnote 12: Große Straße in St. Petersburg.]
- Der Major Kowalew pflegte jeden Tag einen Spaziergang auf dem
- Newski-Prospekt zu machen. Sein Hemdkragen war stets peinlich sauber und
- frisch gestärkt. Sein Backenbart war von jener Art, wie man ihn noch bei
- Gouvernements- und Kreislandmessern, Architekten und Militär-Ärzten, d.
- h. fast bei allen Leuten trifft, die runde Backen und rote Wangen haben
- und gut »Boston« spielen. Dieser Backenbart zieht sich von der Mitte der
- Wangen bis dicht unter die Nase hin. Major Kowalew trug an der Uhrkette
- eine ganze Sammlung von kleinen Korallenberlocken, die mit einem Wappen
- oder auch mit der Inschrift »Mittwoch«, »Donnerstag«, »Montag« usw.
- versehen waren. Der Zwang der Verhältnisse hatte ihn dazu veranlaßt,
- nach Petersburg zu ziehen, hauptsächlich aus dem Grunde, weil er eine
- seinem Range angemessene Stellung bekleiden wollte, und zwar wenn er
- Glück hatte, die eines Vize-Gouverneurs, oder doch wenigstens die eines
- schlichten Exekutors in irgend einem angesehenen Departement. Der Major
- Kowalew war einer Ehe durchaus nicht abgeneigt, doch mußte seine
- Auserkorene über eine Mitgift von mindestens zweihunderttausend Rubeln
- verfügen. Und nun mag sich der Leser in die Empfindungen dieses Majors
- versetzen, als er anstelle seiner recht hübschen und wohlgebildeten Nase
- nur eine alberne, glatte und flache Ebene erblickte.
- Unglücklicherweise zeigte sich auch nicht ein einziger Kutscher auf der
- Straße; so war er also genötigt, zu Fuß zu gehen -- in seinen Mantel
- eingehüllt und das Gesicht hinter einem Taschentuch verbergend, wie wenn
- er gerade Nasenbluten hätte.
- »Aber vielleicht ist es doch nur eine Einbildung von mir; es ist doch
- unmöglich, daß mir meine Nase so ohne weiteres aus dem Gesicht
- geschwunden ist,« dachte er.
- Und er kehrte in einer Konditorei ein, um dort einen Blick in den
- Spiegel zu werfen. Zum Glück für ihn befand sich weiter niemand im
- Lokal, außer einigen Burschen, die gerade auskehrten und die Stühle
- zurecht rückten. Einige von ihnen trugen noch ganz schlaftrunken heiße
- Kuchen in Körben hinaus; auf den Tischen und Stühlen lagen
- kaffeebefleckte Zeitungen vom gestrigen Tage.
- »Also Mut! Gott sei Dank ist sonst niemand hier,« sagte er; »nun kann
- ich meine Untersuchung beginnen!«
- Er näherte sich dem Spiegel und blickte hinein.
- »Der Teufel mag wissen, wie das nur gekommen ist,« schrie er, indem er
- empört ausspie; »wenn sich wenigstens anstelle meiner Nase noch etwas
- anderes befände! Aber nichts, absolut gar nichts!«
- Nachdem er die Zähne vor Wut aufeinander gebissen hatte, verließ er das
- Lokal und beschloß, wider seine Gewohnheit unterwegs niemand anzusehen
- und keinem auch nur das geringste Lächeln zu spenden.
- Plötzlich blieb er wie versteinert vor der Tür eines Hauses stehen.
- Seine Augen wurden von einer unerklärlichen Erscheinung angezogen: ein
- Wagen hielt dicht neben dem Trottoir, der Schlag wurde geöffnet und ihm
- entstieg ein uniformierter Herr, der eiligst die Treppe hinaufeilte. Wie
- groß war Kowalews Entsetzen, wie groß war sein Erstaunen, als er in ihm
- seine eigene Nase wiedererkannte. Angesichts dieses außergewöhnlichen
- Schauspieles war ihm zu Mute, als ob sich alles um ihn herumdrehe, und
- nur mit Mühe vermochte er sich aufrecht zu halten. Aber trotzdem
- beschloß er, obwohl er am ganzen Körper zitterte wie ein Fieberkranker,
- zu warten, bis dieser Herr wieder zurückkehren würde, um in seinen Wagen
- zu steigen.
- Nach Ablauf zweier Minuten erschien die »Nase« tatsächlich. Sie trug
- eine goldgestickte Uniform mit hohem steifen Kragen, Beinkleider aus
- Semischleder, und an der Seite einen Degen. An den Federn ihres Hutes
- konnte man erkennen, daß es sich um einen Staatsrat handelte. Der Anzug
- des Herrn wies darauf hin, daß er gerade Besuche abstattete. Er schaute
- sich nach links und nach rechts um, rief dem Kutscher ein »Vorwärts!« zu
- und rollte davon.
- Der unglückliche Kowalew fühlte sich dem Wahnsinn nahe. Er wußte nicht,
- was er von einem so überraschenden Ereignis halten sollte. Wie war es
- denn auch nur möglich, daß eine Nase, die sich noch gestern abend in
- seinem Gesicht befand und die weder gehen noch fahren konnte, jetzt eine
- Uniform trug! Er stürzte hinter dem Wagen her, der glücklicherweise
- nicht sehr weit fuhr und vor dem Gostini Dwor[13] halt machte.
- Er rannte wie ein Besessener und schlüpfte zwischen einer Reihe alter
- Bettlerinnen mit verbundenen Gesichtern und zwei großen Öffnungen statt
- der Augen hindurch, über die er sich früher so oft lustig gemacht hatte.
- Sonst trieben sich hier nur wenig Menschen umher. Kowalew befand sich in
- einer solchen geistigen Verwirrung, daß er keinen Entschluß fassen
- konnte und lediglich in allen Winkeln und Ecken nach dem Herrn Ausschau
- hielt; endlich sah er ihn vor einem Laden stehen. Die Nase verbarg ihr
- Gesicht völlig in ihrem hohen Kragen und betrachtete mit gespannter
- Aufmerksamkeit die ausliegenden Waren.
- [Fußnote 13: Ein großer Bazar.]
- »Soll ich ihn anreden?« dachte Kowalew. »Aus seiner ganzen
- Persönlichkeit, aus seiner Uniform und seinem Dreispitz geht klar und
- deutlich hervor, daß es ein Staatsrat ist. Wenn ich nur wüßte, wie ich
- es anstellen soll! ...«
- Schließlich begann er ganz in der Nähe des Staatsrates zu husten; aber
- die Nase verließ auch nicht für eine Minute ihren Standpunkt.
- »Mein Herr!« sagte Kowalew, der sich innerlich Mut zuzusprechen
- versuchte, »mein Herr! ...«
- »Was wünschen Sie?« fragte die Nase, indem sie sich umwandte.
- »Ich finde es erstaunlich, mein Herr ... mir scheint, daß ... Sie
- sollten doch wissen, wohin Sie gehören. Und plötzlich finde ich Sie, und
- noch dazu ... hier? ... Sie müssen doch zugeben ...«
- »Verzeihung; ich kann absolut nicht begreifen, wovon Sie sprechen.
- Erklären Sie sich deutlicher!«
- »Wie soll ich mich ihm noch verständlich machen?« dachte Kowalew. Und
- sich ein Herz fassend begann er:
- »Sicherlich ... übrigens bin ich Major. Ich habe zurzeit keine Nase. Sie
- müssen zugeben, das schickt sich doch nicht. Einer Hökerin, die auf der
- Woskressenski-Brücke geschälte Orangen feilbietet, mag es ja im Grunde
- nichts ausmachen, ohne Nase herum zu laufen. Jedoch was mich anbetrifft,
- der ich die Ehre habe, Beamter zu sein und der ich außerdem Beziehungen
- zu vielen Häusern unterhalte, zu Damen der Gesellschaft, wie zum
- Beispiel zu Frau Tschechtarewa, die die Frau eines Staatsrates ist, und
- noch zu vielen andern, ... urteilen Sie selbst ... Ich weiß nicht, mein
- Herr« -- und hierbei zuckte der Major Kowalew mit den Achseln --
- »entschuldigen Sie tausendmal ... aber wenn man die Sache vom Standpunkt
- der Ehre und der Pflicht betrachtet ... Sie können selbst begreifen ...«
- »Ich begreife absolut nichts,« erwiderte die Nase. »Erklären Sie sich
- deutlicher.«
- »Mein Herr,« versetzte Kowalew mit Würde, »ich weiß nicht, wie ich Ihre
- Worte auffassen soll. Hier handelt es sich doch, wie mich dünkt, um
- einen durchaus klaren Vorgang. Oder wollen Sie ... denn kurz und gut,
- Sie sind doch meine eigene Nase!«
- Die Nase blickte den Major an, und runzelte die Stirne.
- »Sie täuschen sich, mein Herr; ich bin durchaus selbständig. Außerdem
- können zwischen uns nicht die geringsten Beziehungen existieren. Nach
- den Knöpfen Ihrer Uniform zu urteilen, müssen Sie in einem andern
- Ressort dienen.«
- Und nach diesen Worten drehte ihm die Nase den Rücken.
- Kowalew war nun völlig verwirrt und wußte nicht, was er tun, ja nicht
- einmal was er sich denken sollte. In diesem Augenblick ertönte das
- angenehme Rascheln eines seidenen Gewandes. Eine alte, über und über mit
- Spitzen behängte Dame ging an ihm vorbei, begleitet von einem jungen
- Mädchen, deren weißes Kleid ihre harmonische Figur aufs vorteilhafteste
- zur Geltung brachte; sie trug einen gelben federleichten Hut. Beide
- Damen wurden von einem baumlangen Heiducken mit mächtigem Bart und einem
- ganzen Dutzend von Mantelaufschlägen begleitet. Er blieb hinter den
- Damen stehen und öffnete seine Tabaksdose.
- Kowalew trat nahe an sie heran, rückte den Kragen seines Batisthemdes
- zurecht, brachte sein an einer goldenen Kette hängendes Petschaft in
- Ordnung und wandte seine ganze Aufmerksamkeit der jungen Dame zu, die
- sich leicht wie eine Frühlingsblume bewegte und eine kleine weiße Hand
- mit fast durchsichtigen Fingern an ihre Lippen führte. Das Lächeln auf
- Kowalews Gesicht wurde noch intensiver, als er unter dem Hut ein rundes
- Kinn von blendender Weiße und einen Teil der Wange bemerkte, die in
- ihrem Teint einer zarten Frühlingsblume glich.
- Aber nur zu bald prallte er wie von einer Tarantel gestochen zurück.
- Er hatte sich soeben daran erinnert, daß er keine Nase mehr hatte; und
- heiße Tränen entströmten seinen Augen.
- Er wandte sich um, um dem uniformierten Herrn laut und deutlich zu
- sagen, daß er nur die Larve eines Staatsrates trüge, daß er ein Lump,
- ein Spitzbube wäre und daß er nichts weiter sei als seine eigne Nase ...
- Aber die Nase war verschwunden; sie hatte den günstigen Augenblick
- benutzt und sich entfernt, höchstwahrscheinlich, um noch einen Besuch
- abzustatten.
- Dieser Umstand stürzte Kowalew vollends in Verzweiflung. Er blieb noch
- eine Minute unter dem Säulengang stehen und schaute sich gespannt nach
- allen Seiten um, ob er nicht etwas von der Nase bemerken könne. Er
- erinnerte sich deutlich, daß ihr Hut mit Federn geschmückt und die
- Uniform mit Gold gestickt war; aber er hatte nicht auf den Mantel
- geachtet, auch nicht auf die Farbe des Wagens noch auf die der Pferde;
- er wußte nicht einmal, ob hinten ein Lakai gestanden hatte und was für
- eine Livree er trug. Überdies waren eine solche Anzahl von Fahrzeugen
- aller Art im Trab durch die Straßen gefahren, daß es schwer war, sie
- voneinander zu unterscheiden. Und hätte er auch das gesuchte
- herausgefunden, wie hätte er ihm Halt gebieten sollen?
- Der Tag war sehr schön und sonnig. Auf dem Newski-Prospekt wimmelte es
- von Menschen. Ein üppiger Damenflor überschwemmte das ganze Trottoir von
- der Polizei-Brücke bis zur Anitschkin-Brücke. Hier ging ein Hofrat, ein
- Bekannter von Kowalew, den er meist, besonders aber vor fremden Leuten,
- »Oberstleutnant« zu titulieren pflegte. _Dort_ sah er seinen Busenfreund
- Jaryschkin, der sich beim Bostonspiel oft genug hineinlegen ließ, und
- _dort_ einen andern Major, der gleich ihm seinen Grad im Kaukasus
- erlangt hatte, und der ihm nun mit der Hand ein Zeichen gab, er möge
- doch zu ihm herüberkommen.
- »Der Teufel soll ihn holen!« sagte Kowalew. »Kutscher! bring mich doch
- auf dem nächsten Wege zum Polizei-Präfekten.«
- Kowalew bestieg eine Droschke und schrie dem Kutscher jeden Augenblick
- zu: »Fahr zu, so schnell du kannst!«
- »Ist der Polizei-Präfekt zu sprechen?« fragte er sofort beim Eintritt in
- das Vestibül.
- »Nein,« antwortete der Portier; »er ist soeben weggegangen.«
- »Das ist ja wundervoll!«
- »Gewiß,« fügte der Portier hinzu, »erst vor ganz kurzer Zeit ist er
- fortgegangen. Wären Sie nur eine Minute früher gekommen, Sie hätten ihn
- sicher noch getroffen.«
- Ohne das Taschentuch vom Gesicht zu nehmen, stürzte Kowalew wieder in
- den Wagen zurück und rief dem Kutscher mit verzweifelter Stimme zu:
- »Fahr weiter!«
- »Wohin?« fragte der Kutscher.
- »Geradeaus!«
- »Wie? Geradeaus? Wir befinden uns doch an einer Straßenecke: also rechts
- oder links?«
- Diese Frage verwirrte Kowalew und zwang ihn von neuem zum Nachdenken. In
- seiner Lage wäre es vor allem angebracht gewesen, aufs Polizeipräsidium
- zu gehen, nicht weil seine Angelegenheit direkt in das Polizeiressort
- gehörte, sondern weil er hier auf eine schnellere Erledigung als sonst
- wo rechnen konnte. Sich an das Ressort zu wenden, in dem die Nase
- angestellt war, wäre sicher unklug gewesen, ging doch bereits aus den
- eigenen Äußerungen der Nase zur Evidenz hervor, daß es für diesen Mann
- nichts Heiliges gab. Weshalb sollte er sich denn nicht mittels einer
- Lüge aus einer solchen Lage befreien, er hatte doch ganz frech gelogen,
- als er behauptete, daß er nie etwas mit ihm zu tun hatte. Kowalew wollte
- dem Kutscher gerade den Befehl geben, er solle ihn zum Polizei-Präsidium
- fahren, als ihm der Gedanke kam, daß dieser miserable Kerl, der sich bei
- ihrer ersten Begegnung so perfid benommen hatte, den günstigen
- Augenblick benutzen und die Stadt verlassen könnte; -- und dann wären
- alle Nachforschungen überflüssig gewesen, oder sie konnten sich, was
- Gott verhüten mochte, wohl gar einen ganzen Monat hinziehen. Endlich gab
- ihm, wie er glaubte, der Himmel selbst einen Wink. Er beschloß, direkt
- nach der Expedition der Amtszeitung zu fahren und dort sofort eine
- Annonce mit der genauen Angabe seines Signalements einrücken zu lassen,
- damit die, die der Nase begegneten, sie ihm zuführen oder ihm doch
- wenigstens die Wohnung dieses Räubers mitteilen konnten.
- Nachdem er diesen Entschluß gefaßt hatte, befahl er dem Kutscher, nach
- der betreffenden Expedition zu fahren, bearbeitete während der ganzen
- Fahrt unaufhörlich den Rücken des Automedon mit seinen Fäusten und
- schrie:
- »Schneller, du Spitzbube! Schneller, Kanaille!«
- »Aber, Herr!« antwortete nur immer kopfschüttelnd der Kutscher und
- schlug mit dem Zügel über den Rücken des Pferdes, das so behaart war wie
- ein Bologneserhund.
- Endlich hielt die Droschke, und Kowalew trat ganz atemlos in ein kleines
- Empfangszimmer, wo ein alter Beamter in einem schäbigen Frack und mit
- einer Brille hinter einem Tische saß, einen Federkiel zwischen den
- Zähnen hielt und Kupfergeld zählte.
- »Wer nimmt hier Annoncen an?« schrie Kowalew; »doch ich bitte um
- Verzeihung, guten Morgen vor allen Dingen!«
- »Guten Morgen!« sagte der alte Beamte und blickte einen Moment empor, um
- seine Aufmerksamkeit sofort wieder seinen Geldhaufen zuzuwenden.
- »Ich möchte ein Inserat aufgeben ...«
- »Einen Augenblick nur bitte ich Sie, sich gedulden zu wollen,« fuhr der
- Beamte fort, indem er mit der Hand eine Zahl auf das Papier schrieb und
- mit einem Finger der Linken an der Rechenmaschine zwei Kugeln verschob.
- Ein galonnierter Diener von äußerst korrektem Aussehen, dem man seine
- lange Dienstzeit in aristokratischen Häusern anmerkte, stand mit einem
- Zettel vor dem Tisch und hielt es für angebracht, auf seine
- gesellschaftliche Bildung hinzuweisen.
- »Seien Sie überzeugt, mein Herr, daß dieser kleine Hund keine acht
- Groschen wert ist; ich für meine Person würde nicht acht Pfennig für ihn
- geben. Aber die Frau Gräfin betet ihn an, bei Gott! sie betet ihn in der
- Tat an, -- deshalb verspricht sie seinem Ueberbringer hundert Rubel. In
- aller Höflichkeit sei's gesagt, aber unter uns: die Geschmacksrichtungen
- der Leute sind doch ganz unberechenbar. Wenn man schon einmal
- Hundeliebhaber ist, so halte man sich meinetwegen einen Windhund oder
- einen Pudel; dafür kann man ruhig fünfhundert, ja auch tausend Rubel
- anwenden, aber dann hat man auch einen wirklich wertvollen Hund.«
- Der ehrenwerte Beamte hörte sich diese Ausführungen mit einer sehr
- bezeichnenden Miene an und zählte unterdessen ruhig die Buchstaben des
- Zettels, den der Diener mitgebracht hatte. Links von ihm hatte sich eine
- Menge alter Weiber, Handlungsgehilfen und Portiers gleichfalls mit
- Zetteln in der Hand angesammelt.
- Aus einem dieser Zettel ging hervor, daß ein Kutscher, der sich sehr gut
- geführt hatte, von seinem Besitzer aus dem Dienst entlassen worden war,
- aus einem andern, daß man eine noch wenig benutzte, um 1814 aus Paris
- bezogene Kutsche zum Verkauf feilbot. Hier suchte ein neunzehnjähriges
- Dienstmädchen, das waschen und gleichzeitig noch andere Arbeiten
- verrichten konnte, eine Stellung. Dort wollte jemand eine Droschke ohne
- Federn verkaufen, oder einen jungen, feurigen, siebzehn Jahre alten
- Apfelschimmel, oder erst kürzlich aus London eingetroffenen Rüben- und
- Rettichsamen, oder ein Landhaus mit allem Zubehör (zwei Pferdeställen,
- nebst einem Platz, wo man einen prachtvollen Birken- oder Tannenwald
- anpflanzen konnte usw.). Wieder andere annoncieren, daß sie alte Sohlen
- zu verkaufen hätten, und luden täglich von 8 bis 3 Uhr zu deren
- Besichtigung ein.
- Das Zimmer, in dem sich der ganze Schwarm aufhielt, war klein, und
- infolgedessen war die Luft in ihm äußerst dumpf; allein der
- Kollegien-Assessor Kowalew merkte nichts davon, denn sein Gesicht war
- mit einem Taschentuch verhüllt und seine Nase befand sich Gott weiß wo
- --
- »Mein Herr, darf ich Sie bitten ... Ich habe es sehr eilig ...« sagte er
- endlich ungeduldig.
- »Gleich, gleich! ... Zwei Rubel dreiundvierzig Kopeken! ... Nur noch
- eine Minute! ... Ein Rubel vierundsechzig Kopeken!« sagte der alte Herr,
- indem er den alten Frauen und den Portiers die Zettel ins Gesicht warf.
- »Was wünschen Sie?« sagte er endlich, indem er sich an Kowalew wandte.
- »Ich bitte Sie,« sagte Kowalew ... »es handelt sich um eine schier
- unglaubliche Spitzbüberei; bis zu diesem Augenblick weiß ich noch nicht,
- wie sie bloß passieren konnte. Ich bitte Sie jetzt nur, annoncieren zu
- wollen, daß derjenige, der mir diesen Halunken herbeischafft, eine gute
- Belohnung erhalten soll.«
- »Wollen Sie mir bitte Ihren Namen angeben?«
- »Nein! weshalb meinen Namen? es ist mir ganz unmöglich, ihn zu nennen.
- Ich habe aber gute Beziehungen, zum Beispiel zu Frau Tschechtarewa, der
- Gattin eines Staatsrates, oder zu Frau Pelagia Grigoriewna Podtotschina,
- die einen höheren Offizier zum Mann hat. Wenn sie es erführen ... Gott
- behüte! Sie können ganz einfach schreiben: >Ein Kollegien-Assessor< oder
- noch besser: >Ein Major<.«
- »Und der Ausgerückte war Ihr Leibeigner?«
- »Was für ein Leibeigner? Das wäre noch keine so große Gemeinheit! Nein,
- mir ist ... die Nase ausgerückt! ...«
- »Hm! was für ein merkwürdiger Familienname! Und um welche Summe hat Sie
- Herr Nase bestohlen?«
- »Nase! Aber Sie sind nicht bei Sinnen! Meine Nase, meine eigene Nase ist
- es, die verschwunden ist, ich weiß nicht, wohin. Der Teufel hat mir
- einen Streich spielen wollen!«
- »Aber auf welche Weise ist sie verschwunden? Ich verstehe absolut nichts
- von alledem!«
- »Ich kann Ihnen nicht sagen, auf welche Weise. Aber das wichtigste bei
- dieser Angelegenheit ist die Tatsache, daß sie jetzt in der Stadt
- herumspaziert und sich Staatsrat tituliert. Und aus diesem Grunde bitte
- ich Sie, zu annoncieren, daß derjenige, der sie fassen sollte, sie ohne
- Verzug zu mir bringen möge. Sagen Sie übrigens selbst: wie soll ich ohne
- diesen Körperteil, der doch unbedingt zu meiner Person gehört,
- existieren? Es handelt sich hier doch nicht etwa um eine Zehe ... wenn
- man einen Schuh trägt, so würde man ihr Fehlen ja garnicht bemerken.
- Aber ich gehe doch jeden Donnerstag zu Frau Staatsrat Tschechtarewa;
- Frau Pelagia Grigoriewna Podtotschina, die Gattin eines höheren
- Offiziers und Mutter eines reizenden Töchterchens, ist eine gute
- Bekannte von mir. Außerdem habe ich noch zu andern vornehmen Familien
- Beziehungen, und nun mögen Sie selbst urteilen, ob ich so herumlaufen
- kann ... Es ist mir doch augenblicklich ganz unmöglich, mich irgendwo zu
- zeigen.«
- Der Beamte überlegte, indem er fortwährend die Lippen zusammenkniff.
- »Nein, ein solches Inserat kann ich nicht aufnehmen!« sagte er endlich
- nach längerem Stillschweigen.
- »Wie? -- Weshalb nicht?«
- »Weil die Zeitung dadurch ihren guten Ruf verlieren könnte. Wenn jemand
- schreibt, daß ihm seine Nase abhanden gekommen ist, dann ... Auch ohne
- dies wird schon genug davon gesprochen, daß alle möglichen Torheiten und
- Lügen gedruckt werden!«
- »Und weshalb ist das töricht? Mein Fall ist doch, wie mir scheint, ganz
- klar und ....«
- »Das ist Ihre Meinung! Aber hören Sie, was uns vorige Woche passiert
- ist. Es erscheint ein Beamter, ganz wie Sie heute, und bringt uns ein
- Inserat, das ihn zwei Rubel dreiundsiebzig Kopeken kostet. In diesem
- Inserat wird das Entlaufen eines schwarzen Pudels angekündigt. Sie
- werden einwenden: >Ich kann keine Ähnlichkeit mit meinem Fall
- entdecken!< Aber es stellte sich bald heraus, daß das lediglich eine
- Mystifikation gewesen war; mit dem Pudel war der Kassierer eines
- Geschäftes gemeint.«
- »Aber ich suche doch garnicht nach einem Pudel, sondern nach meiner
- eigenen Nase; hören Sie: das ist doch fast so, als ob ich nach mir
- selbst suchte!«
- »Nein, ich kann ein solches Inserat nicht aufnehmen!«
- »Aber wenn doch meine Nase in der Tat verschwunden ist?«
- »Wenn sie verschwunden ist, so geht das nur den Arzt etwas an; ich habe
- gehört, daß einige von ihnen eine große Geschicklichkeit in der
- Herstellung künstlicher Nasen entwickeln! Übrigens bin ich der Meinung,
- daß Sie ein Spaßvogel sind und sich in guter Gesellschaft gern einen
- Scherz erlauben!«
- »Ich beschwöre Sie bei allem, was mir heilig ist! Gestatten Sie, wenn es
- nicht anders geht, daß ich es Ihnen demonstriere!«
- »Warum diese Aufregung?« fuhr der Beamte fort, indem er eine Prise nahm.
- »Aber schließlich ..., wenn es Sie weiter nicht inkommodiert,« fügte er
- neugierig hinzu, »ich würde mir die Sache mit Vergnügen ansehen!«
- Der Kollegien-Assessor zog das Taschentuch von seinem Gesichte fort.
- »In der Tat, das ist äußerst sonderbar!« sagte der Beamte. »Die Stelle
- ist ja ganz eben wie ein frischgebackener Eierkuchen. Ja, sie ist glatt,
- -- es ist schier unglaublich!«
- »Nun, wollen Sie jetzt noch streiten? Jetzt sehen Sie wohl selbst, daß
- Sie mein Inserat unmöglich nicht aufnehmen können. Ich wäre Ihnen dafür
- zu ganz besonderem Dank verpflichtet, und ich bin sehr froh darüber, daß
- diese Gelegenheit mir das Vergnügen verschafft hat, Ihre Bekanntschaft
- zu machen.«
- Der Major ließ sich, wie man sieht, sogar zu einer Schmeichelei herab.
- »Die Sache mit der Annonce hätte an und für sich keine Schwierigkeit,«
- sagte der Beamte; »nur sehe ich darin keinen Vorteil für Sie. Sie
- sollten sich an irgend einen geschickten Journalisten wenden, der Ihren
- Fall als Naturphänomen behandeln und darüber einen Artikel in der »Biene
- des Nordens« -- hierbei nahm er eine Prise -- »zur Belehrung der Jugend«
- -- hierbei schneuzte er sich -- »oder noch besser zur allgemeinen
- Unterhaltung veröffentlichen könnte.«
- Der Kollegien-Assessor war der Verzweiflung nahe. Er warf einen Blick
- auf das Feuilleton des Zeitungsblattes und auf die Theaternotizen; ein
- Lächeln huschte über sein Gesicht, als er den Namen einer hübschen
- Schauspielerin las, und er steckte schon die Hand in die Tasche, um
- einen blauen Zettel hervorzuholen -- denn nach seiner Meinung mußten die
- höheren Offiziere mindestens im Parkett sitzen --; aber der Gedanke an
- seine Nase verdarb ihm jedes Vergnügen.
- Der Beamte hatte das lebhafteste Mitgefühl mit Kowalew, der sich in
- einer höchst peinlichen Situation befand. Von dem Wunsche beseelt,
- seinen Kummer ein wenig zu mildern, hielt er es für gut, ihm mit einigen
- Worten seine Teilnahme auszusprechen:
- »Wahrhaftig, ich bin sehr betrübt, daß Ihnen ein solches Mißgeschick
- widerfahren ist. Nehmen Sie vielleicht eine Prise Tabak? Das vertreibt
- die Kopfschmerzen und den Hang zur Melancholie! Außerdem ist es ein
- unfehlbares Heilmittel gegen Hämorrhoiden!«
- Mit diesen Worten reichte der Beamte ihm seine Tabaksdose, indem er den
- Deckel, der mit dem Porträt einer Dame im Hut geschmückt war, in sehr
- geschickter Weise wegschob.
- Dieser unüberlegte Höflichkeitsakt brachte Kowalew um den Rest seiner
- Geduld.
- »Ich verstehe nicht, wie Sie solche Scherze machen können!« sagte er
- zornig. »Sehen Sie denn nicht, daß mir augenblicklich gerade der
- Körperteil fehlt, der zum Nehmen einer Prise unbedingt erforderlich ist?
- Der Teufel soll Ihren Tabak holen! Ich kann ihn jetzt garnicht mehr
- sehen, selbst dann nicht, wenn es kein stinkender Beresinski, sondern
- echter Rapé wäre.«
- Nach diesen Worten verließ er tiefgekränkt das Zeitungsbureau und begab
- sich aufs Polizei-Kommissariat.
- Als Kowalew ins Bureau trat, traf er dort einen Beamten an, der gerade
- gähnte, sich streckte und laut zu sich selbst sprach: »Ich würde jetzt
- mit großem Vergnügen noch ein paar Stündchen schlafen.«
- Man sieht hieraus, daß ihm die Ankunft des Kollegien-Assessors nichts
- weniger als gelegen kam.
- Der Polizei-Kommissar war ein großer Liebhaber von allen möglichen
- Kunstgegenständen; doch zog er einen mit dem kaiserlichen Wappen
- geschmückten Schein allen andern Dingen vor.
- »Das ist ein Stück,« sagte er oft, »wie es nirgends ein besseres gibt:
- es braucht keine Nahrung, nimmt wenig Platz ein, läßt sich bequem in die
- Tasche stecken und zerbricht nicht, wenn es einmal zu Boden fällt.«
- Er empfing Kowalew sehr kühl und ließ die Bemerkung fallen, daß die
- Stunde nach dem Mittagessen nicht der geeignete Moment zur Erledigung
- amtlicher Nachforschungen wäre, und daß die Natur uns selbst darauf
- hinwiese, daß es gut sei, einen Augenblick der Ruhe zu pflegen, wenn man
- gegessen habe -- woraus der Kollegien-Assessor ersehen konnte, daß die
- Gepflogenheiten der Philosophen des Altertums dem Kommissar nicht ganz
- unbekannt waren --, und daß ein ordentlicher Mann seine Nase nicht
- verliere.
- Diese Worte verwundeten unseren Helden aufs tiefste.
- Hierbei muß bemerkt werden, daß Kowalew eine äußerst empfindliche Natur
- war. Er konnte alles verzeihen, was man über ihn sagte, doch niemals
- vergab er einen Verstoß gegen die seiner amtlichen Würde gebührende
- Achtung. Er dachte daran, daß man in den Theaterstücken alle üblen
- Bemerkungen über die Subaltern-Offiziere durchgehen ließ, aber niemals
- ein Wort, das sich gegen die höheren Offiziere richtete. Der Empfang des
- Kommissars brachte ihn derartig aus der Fassung, daß er kopfschüttelnd
- und im Bewußtsein seiner Würde die Hände erhob und erklärte:
- »Ich muß gestehen, daß ich auf solche beleidigende Äußerungen nichts zu
- erwidern habe.«
- Und damit ging er.
- Er suchte seine Wohnung auf; es war ihm, als wären seine Beine
- abgestorben. Es wurde bereits dunkel, und seine Behausung erschien ihm
- nach allen diesen fruchtlosen Nachforschungen sehr traurig und sehr
- schmutzig. Beim Eintritt in das Vorzimmer bemerkte er auf dem alten
- schmutzigen Ledersopha seinen Diener Iwan, der auf dem Rücken lag, sich
- damit unterhielt, an die Zimmerdecke zu spucken, und hierbei mit großer
- Geschicklichkeit stets ein und dieselbe Stelle traf. Eine solche
- Gleichgültigkeit versetzte ihn vollends in Wut; er schlug ihm mit seinem
- Hut auf die Stirn und schrie ihn an:
- »Du Esel hast doch immer nur Torheiten im Sinn!«
- Iwan sprang von seiner Bank herunter und stürzte schleunigst herbei, um
- ihm seinen Mantel abzunehmen.
- Der Major trat müde und traurig in sein Zimmer, warf sich in einen
- Sessel, seufzte einigemal laut auf und sagte:
- »Mein Gott! Mein Gott! Womit habe ich ein solches Unglück verdient?
- Hätte ich eine Hand oder einen Fuß verloren -- das wäre noch nicht so
- schlimm; aber ein Mensch ohne Nase, das ist doch ... weiß der Teufel
- was! Ein Vogel, der kein Vogel ist, ein Bürger, der das Bürgerrecht
- verloren hat, das ist ganz einfach ein Ding, das man nehmen und zum
- Fenster hinauswerfen möchte. Wäre sie mir wenigstens noch im Kriege oder
- im Duell abhanden gekommen, oder hätte ich es wenigstens selbst
- verschuldet! Aber so um nichts und wieder nichts, ohne jede Veranlassung
- zu verduften! Nein, nein ... das ist ja ganz unmöglich!« -- fügte er
- nach kurzem Nachdenken hinzu --, »es ist ganz unglaublich, daß eine Nase
- so ohne weiteres verschwindet. Das ist doch zu unwahrscheinlich.
- Sicherlich träume ich bloß oder ich bilde es mir nur ein. Vielleicht
- habe ich aus Versehen statt eines Glases Wasser den Branntwein
- ausgetrunken, mit dem ich mir nach dem Rasieren mein Gesicht einreibe.
- Dieser Schafskopf Iwan wird ihn sicher nicht weggenommen haben, und so
- habe ich ihn gewiß ganz ahnungslos heruntergegossen.«
- Und um sich zu beweisen, daß er nüchtern sei, kniff sich der Major so
- heftig ins Fleisch, daß er einen lauten Schrei ausstieß. Dieser Schmerz
- überzeugte ihn endgültig davon, daß er am Leben war und vernünftig
- handelte. Er trat ganz leise vor den Spiegel und blinzelte zuerst mit
- den Augen, da er sich mit der Hoffnung schmeichelte, die Nase könne doch
- vielleicht noch an ihrem Platze sein; aber er trat sogleich wieder einen
- Schritt zurück und murmelte:
- »Die reinste Karikatur!«
- Die Sache war ihm ganz unverständlich; wäre ihm noch ein Knopf
- verschwunden, ein silberner Löffel, eine Uhr oder etwas dergleichen! --
- aber eine Nase ... und noch dazu auf welche Weise? wohl gar aus seinem
- eigenen Zimmer? Der Major Kowalew ließ alle die verschiedenen Umstände
- an sich vorüberziehen und kam schließlich zu dem Resultat, daß noch am
- ehesten Frau Podtotschina, die Gattin eines höheren Offiziers, an seinem
- Unglücke Schuld sein konnte, da sie ihn heftig zum Schwiegersohne
- begehrte. Es machte ihm Spaß, ihrer Tochter den Hof zu machen, doch ging
- er einer deutlichen Erklärung stets aus dem Wege. Als die Dame ihm nun
- offen mitteilte, daß sie ihm gern ihre Tochter zur Frau geben würde,
- lehnte er diese Ehre unter vielen Komplimenten mit der Begründung ab, er
- wäre noch zu jung und müsse noch gegen fünf Jahre dienen, um die runde
- Zahl von zweiundvierzig Jahren zu erreichen.
- Sicherlich hatte die Frau des höheren Offiziers aus diesem Grunde
- beschlossen, sich zu rächen, ihn zu verderben, und zu diesem Behufe
- einige alte Hexen gegen ihn ins Feld geführt; denn es war ja unmöglich,
- daß ihm die Nase auf die eine oder die andere Weise abgeschnitten sein
- sollte. Niemand war im Zimmer gewesen. Der Barbier Iwan Jakowlewitsch
- hatte ihn noch am Mittwoch rasiert, und während des ganzen Tages, sowie
- auch am Donnerstag war seine Nase noch ganz heil und gesund gewesen.
- Daran erinnerte er sich ganz deutlich. Außerdem hätte er doch irgend
- einen Schmerz empfinden müssen, die Wunde wäre auch nicht so schnell
- geheilt und nicht so platt wie ein Fladen geworden.
- Er schmiedete in seinem Hirn alle möglichen Pläne, er wollte die Frau
- Podtotschina beim Gericht verklagen oder sich wenigstens persönlich zu
- ihr begeben und sie zur Rechenschaft ziehen.
- Plötzlich wurde er in seinem Sinnen durch einen Lichtschimmer gestört,
- der durch die Türritzen drang und ihm ankündigte, daß Iwan im Vorzimmer
- eine Kerze angezündet hatte.
- Gleich darauf erschien Iwan selbst, eine Kerze in der Hand haltend, und
- bald war das Zimmer hell erleuchtet. Kowalews erste Bewegung war es,
- sein Taschentuch zu ergreifen und die Stelle zu verdecken, an der sich
- noch tags zuvor seine Nase befunden hatte, damit der dumme Lakai nicht
- das Maul aufzureißen brauchte, wenn er seinen Herrn so sonderbar
- entstellt sah.
- Iwan hatte nicht Zeit gehabt, seine Kammer aufzusuchen, denn eine
- unbekannte Stimme ließ sich im Vorzimmer vernehmen und fragte:
- »Wohnt hier der Kollegien-Assessor Kowalew?«
- »Treten Sie ein; hier wohnt allerdings der Major Kowalew,« sagte dieser,
- indem er eiligst die Tür öffnete.
- Der Polizeikommissar, ein Mann von würdigem Aussehen, mit einem nicht
- all zu hellen, noch all zu dunklen Backenbart und runden Wangen,
- derselbe, den wir beim Beginn dieser Erzählung am Ende der Isaaks-Brücke
- getroffen haben, trat ein.
- »Sie hatten die Ehre, Ihre Nase zu verlieren?«
- »In der Tat!«
- »Sie ist soeben gefunden worden.«
- »Was sagen Sie da?« schrie der Major Kowalew. Die Freude machte ihn
- sprachlos.
- Er sah den Polizisten, der vor ihm stand, starr an, wobei seine Lippen
- und Wangen von dem flackernden Kerzenlicht erhellt wurden.
- »Auf welche Weise?« fragte er endlich.
- »Durch einen erstaunlichen Zufall: man hat sie gerade im Moment ihrer
- Abreise verhaftet. Sie hatte schon einen Platz im Wagen eingenommen, um
- nach Riga zu fahren. Ihr Paß lautete auf den Namen eines Beamten. Und
- das Sonderbarste ist, daß ich selbst sie zuerst für einen Herrn gehalten
- habe; aber ich setzte glücklicherweise meine Brille auf und erkannte
- sogleich, daß es eine Nase war. Ich muß Ihnen nämlich sagen, daß ich
- kurzsichtig bin, und wie Sie jetzt vor mir stehen, erkenne ich wohl, daß
- Sie ein Gesicht haben, aber ich unterscheide weder Nase, noch Bart, noch
- sonst etwas. Meine Schwiegermutter, die Mutter meiner Frau, sieht auch
- nicht mehr als ich.«
- Kowalew konnte sich nicht mehr beherrschen.
- »Wo ist sie? Wo? Ich laufe sofort hin.«
- »Regen Sie sich nicht auf. Da ich wußte, daß Sie sie sehr nötig haben,
- habe ich sie gleich mitgebracht. Das Merkwürdigste ist, daß der
- Hauptschuldige an dieser ganzen Angelegenheit ein Lump von Barbier aus
- der Wosnessenski-Straße ist, der zur Zeit bereits im Polizeigewahrsam
- sitzt. Ich habe ihn schon lange im Verdacht, daß er ein Trunkenbold und
- Dieb ist; erst vor drei Tagen hat er in einem Laden eine Schachtel mit
- Knöpfen entwendet. Ihre Nase ist gänzlich unversehrt.«
- Mit diesen Worten griff der Agent in seine Tasche und holte die Nase
- hervor, die in ein Stück Papier eingewickelt war.
- »Ja, das ist sie!« schrie Kowalew. »Das ist sie und keine andere!
- Trinken Sie vielleicht eine Tasse Tee mit mir?«
- »Ich danke Ihnen für Ihre außerordentliche Liebenswürdigkeit, aber das
- ist mir leider unmöglich. Ich muß mich von hier aus sofort in ein
- Konfektionshaus begeben ... In den letzten Tagen sind die Lebensmittel
- entsetzlich teuer geworden ... Meine Schwiegermutter, die Mutter meiner
- Frau, und meine Kinder warten zu Hause auf mich ... Mein Ältester
- berechtigt zu den schönsten Hoffnungen; das ist wirklich ein recht
- intelligenter Bursche; aber mir fehlen die Mittel, ihm eine geeignete
- Erziehung zu geben ...«
- * * * * *
- Nachdem der Kommissar den Kollegien-Assessor verlassen hatte, befand
- sich dieser einige Minuten in einer unbeschreiblichen Geistesverfassung;
- einen Moment lang konnte er seine Lage kaum überblicken. Die plötzliche
- Freude hatte ihn ganz matt gemacht. Endlich nahm er die wieder gefundene
- Nase vorsichtig zwischen seine beiden Hände und schaute sie noch einmal
- mit großer Aufmerksamkeit an.
- »Ja, das ist sie! Das ist sie in der Tat!« sagte er. »Hier auf der
- linken Seite ist auch das Pickelchen von gestern ...«
- Der Major hätte vor Freude laut aufjubeln mögen.
- Aber auf dieser Welt ist nichts von langer Dauer; bald läßt die Freude
- nach und, während Sekunde auf Sekunde vergeht, weicht auch sie schnell
- einer peinigenden Abspannung, um unmerklich wieder zum gewohnten
- Gleichmaß zurückzukehren, so wie der Kreis, den das Fallen eines Steines
- im Wasser erzeugt, allmählich in der glatten Oberfläche zerrinnt.
- Kowalew begann, das Vorgefallene zu überdenken, und begriff, daß sein
- Abenteuer noch nicht zu Ende war. Die Nase war wohl gefunden, aber jetzt
- mußte man sie vor allen Dingen wieder an ihren alten Platz bringen und
- befestigen.
- »Wenn sie nun nicht halten wird?«
- Bei diesem Gedanken erbleichte der Major.
- Von einer unerklärlichen Furcht gepackt stürzte er an den Tisch und
- ergriff den Spiegel, um sich die Nase nur nicht schief anzusetzen. Seine
- Hände zitterten. Mit großer Vorsicht und Behutsamkeit drückte er sie
- wieder an ihren alten Platz. Doch welch ein Schrecken! die Nase hielt
- nicht! ... Er führte sie an seinen Mund, erwärmte sie mit seinem Atem
- und brachte sie von neuem an die glatte Fläche, die sich zwischen seinen
- beiden Wangen befand. Die Nase wollte absolut nicht halten!
- »So sitz doch, du Rindvieh!« sagte Kowalew zu ihr.
- Aber die Nase schien wie aus Holz zu sein und fiel mit einem recht
- sonderbaren Ton gleich einem Stück Kork auf den Tisch. Kowalews ganzes
- Gesicht zuckte konvulsivisch zusammen.
- »Ist es denn möglich, daß sie in der Tat nicht haften bleiben sollte?«
- sagte er voller Schrecken.
- Er drückte sie noch einmal auf die Stelle, an die sie gehörte, -- aber
- auch dieses Mal ohne Erfolg.
- Kowalew rief Iwan und trug ihm auf, zum Arzte zu gehen, der eine der
- schönsten Wohnungen im ersten Stock des Hauses inne hatte. Dieser Arzt
- war ein Mann von feiner Lebensart, außerdem verfügte er über ein Paar
- herrliche pechschwarze Favoris und eine prachtvolle urgesunde Frau.
- Schon am frühen Morgen pflegte er frische Äpfel zu essen. Als besondere
- Eigentümlichkeit wäre dann noch die außerordentliche Pflege zu erwähnen,
- die er seinem Munde angedeihen ließ, denn er spülte ihn nach dem
- Aufstehen fast dreiviertel Stunden lang und putzte sich stets die Zähne
- mit fünf verschiedenen Bürstchen.
- Der Arzt ließ nicht lange auf sich warten.
- Nachdem er sich danach erkundigt hatte, wieviel Zeit verstrichen war,
- seit Kowalew den Verlust bemerkt hatte, faßte er den Major am Kinn und
- gab ihm mit dem Zeigefinger an der Stelle, wo sich früher die Nase
- befunden hatte, einen so tüchtigen Nasenstüber, daß der Major mit dem
- Kopfe zurückzuckte und mit ihm ziemlich heftig an die Mauer schlug. Der
- Arzt meinte, das mache weiter nichts, und befahl ihm, mit dem Kopf von
- der Wand abzurücken und ihn ein wenig nach links zu neigen, befühlte ihn
- und ließ dann ein gedehntes »Hm« vernehmen. Zum Schluß gab er ihm noch
- einen Nasenstüber, sodaß Kowalew mit dem Kopf zurückfuhr wie ein Pferd,
- dessen Zähne man untersucht.
- Nach dieser Einleitung schüttelte der Arzt den Kopf und sagte:
- »Nein, es ist unmöglich! Es ist besser, Sie lassen die Geschichte auf
- sich beruhen, sonst könnte es noch schlimmer werden. Gewiß kann man die
- Nase wieder befestigen; ich könnte es sogar auf der Stelle tun, das
- unterliegt keinem Zweifel. Aber ich gebe Ihnen die Versicherung, daß es
- dann noch schlimmer werden kann.«
- »Das ist ja großartig! Aber wie kann ich denn ohne Nase existieren?«
- sagte Kowalew. »Schlimmer als jetzt kann es ja garnicht werden. Da soll
- doch das heilige Donnerwetter dreinschlagen! Wo kann ich mich denn mit
- einem solchen grotesken Kopf blicken lassen? Ich muß doch meine guten
- Beziehungen pflegen, heute abend muß ich sogar noch zwei Besuche
- abstatten. Ich bin mit vielen einflußreichen Personen bekannt, so z. B.
- mit Frau Staatsrat Tschechtarewa, und mit Frau Podtotschina, die die
- Gattin eines höheren Offiziers ist, wenngleich ich mit dieser Dame nach
- dem Vorgefallenen nur noch durch die Polizei verkehren werde. Tun Sie
- mir den Gefallen,« fügte Kowalew mit bittender Stimme hinzu, »setzen Sie
- sie mir wieder an, mir ist jedes Mittel recht. Wenn es auch nicht gut
- aussieht, die Hauptsache ist, daß sie hält; in gefährlichen Situationen
- könnte ich sie ja etwas mit der Hand stützen. Im übrigen tanze ich auch
- garnicht, sodaß ich nicht etwa zu befürchten brauche, daß sie sich durch
- eine unvorsichtige Bewegung ablösen könnte. Und was das Honorar für
- Ihren Besuch anbetrifft, so können Sie überzeugt sein, daß, soweit es
- mir meine Mittel gestatten ...«
- »Glauben Sie mir,« sagte der Arzt nicht allzu laut, aber auch nicht
- allzu leise, auf jeden Fall aber in überzeugendem und eindringlichem
- Tone, »daß ich meine Kunst niemals um des schnöden Mammons willen
- ausübe. Das wäre gegen meine Grundsätze und gegen meinen Beruf. Ich
- nehme gern eine Vergütung für meinen Besuch an, aber einzig und allein,
- um Sie nicht durch meine Weigerung zu verletzen. Gewiß kann ich Ihre
- Nase wieder anheften. Aber ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, wenn Sie es
- mir so nicht glauben wollen, daß es sehr häßlich aussehen wird. Lassen
- Sie doch lieber die Natur walten! Waschen Sie die betreffende Stelle
- recht häufig mit kaltem Wasser, und ich versichere Sie, daß Sie sich
- ohne Nase ebenso gut befinden werden als mit ihr. Und dann gebe ich
- Ihnen noch den Rat, die Nase in einem Gefäß mit Spiritus aufzubewahren
- oder noch besser zwei Suppenlöffel Branntwein und heißen Essig in den
- Rezipienten zu tun, -- auf diese Weise könnten Sie viel Geld für sie
- erhalten. Ich selbst würde sie Ihnen gern abnehmen, wenn Sie nicht zu
- teuer sind!«
- »Nein, nein, um keinen Preis in der Welt würde ich sie verkaufen!« rief
- der Major Kowalew verzweifelt aus; »lieber will ich sie vernichten!«
- »Entschuldigen Sie,« sagte der Arzt und erhob sich; »ich wollte Ihnen
- nur nützlich sein ... Was ist da zu tun? Auf jeden Fall haben Sie sich
- von meinem guten Willen überzeugt.«
- Mit diesen Worten und mit einer vornehmen Handbewegung verließ der Arzt
- das Zimmer. Kowalew hatte nicht einmal sein Gesicht deutlich gesehen und
- in seiner tiefen Betäubung nur die Manschetten seines schneeweißen
- Hemdes bemerkt, das aus den Ärmeln des schwarzen Frackes
- hervorleuchtete.
- Am folgenden Tage beschloß er, noch bevor er die Klage gegen Frau
- Podtotschina einreichte, an sie zu schreiben und sie zu fragen, ob sie
- seiner Forderung nicht vielleicht gutwillig Folge leisten wollte.
- Dieser Brief lautete folgendermaßen:
- »Sehr geehrte Frau Alexandra Grigoriewna!
- Es ist mir unmöglich, Ihre äußerst seltsame Handlungsweise zu
- begreifen. Seien Sie überzeugt, daß Sie hierdurch nichts gewinnen
- und mich keineswegs dazu zwingen werden, Ihre Tochter zu heiraten.
- Was die Angelegenheit mit meiner Nase anbetrifft, so ist die Rolle,
- dessen versichere ich Sie, die Sie, die Hauptanstifterin, in ihr
- spielen, von allem andern zu schweigen, schon völlig aufgeklärt. Ihr
- plötzliches Verschwinden von ihrem Platze, ihre Flucht, ihre
- Verkleidung als Beamter wie ihr darauffolgendes Auftreten in
- natürlicher Gestalt: das alles ist nur die Folge einer Behexung, die
- Sie oder irgend welche von Ihnen bezahlte Kreaturen gegen mich
- inszeniert haben. Was nun mich anbetrifft, so glaube ich die Pflicht
- zu haben, Ihnen im voraus anzukündigen, daß ich, sollte die in Frage
- kommende Nase sich nicht noch heute an ihrem alten Platze befinden,
- mich gezwungen sehen würde, den Beistand und Schutz der Gerichte
- anzurufen.
- Im übrigen bin ich mit der Versicherung meiner vorzüglichen
- Hochachtung
- Ihr ergebener Diener
- Platon Kowalew.«
- »Geehrter Herr Platon Kusmitsch!
- Ihr Brief hat mich in außerordentliches Erstaunen versetzt. Ich
- gestehe offen, ich hätte von Ihnen nie so ungerechte Vorwürfe
- erwartet. Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ich den Beamten, von
- dem Sie sprechen, weder maskiert, noch in eigener Gestalt, bei mir
- empfangen habe. Allerdings hat mich Philipp Iwanowitsch
- Potantschikow besucht. Und obgleich er in der Tat um die Hand meiner
- Tochter angehalten hat und auf einen tadellosen, nüchternen
- Lebenswandel und große Bildung hinweisen konnte, habe ich ihm doch
- keinerlei Hoffnung gegeben. Sie sprechen dann noch von Ihrer Nase.
- Wenn Sie damit sagen wollen, daß ich die Absicht habe, Ihnen eine
- Nase zu drehen statt Sie endgültig abzuweisen, so kann ich hierüber
- nur meiner Überraschung Ausdruck verleihen. Denn wie Sie sehr wohl
- wissen, ist gerade das Gegenteil davon der Fall; und wenn Sie
- gegenwärtig gesonnen sein sollten, meine Tochter zu Ihrem Ehegemahl
- zu machen, so bin ich bereit, Ihnen sofort jede Genugtuung zuteil
- werden zu lassen. Damit wäre in der Tat einer meiner innigsten
- Wünsche erfüllt. In dieser Hoffnung bin ich wie stets
- Ihre gehorsame Dienerin
- Alexandra Podtotschina.«
- »Nein!« sagte Kowalew nachdem er den Brief gelesen hatte, »sie ist
- sicher unschuldig. Das ist ja ganz unmöglich! Solch einen Brief kann nie
- und nimmer eine Person schreiben, die ein Verbrechen auf ihrem Gewissen
- hat.«
- Der Kollegien-Assessor verstand sich auf diese Dinge, war er doch schon
- mehrfach mit Untersuchungen in den kaukasischen Provinzen betraut
- worden.
- »Wie mag es nur geschehen sein?« fragte er sich immer wieder. »Hol's der
- Teufel!«
- Und er ließ resigniert die Hände sinken.
- Unterdessen hatte sich in der ganzen Residenz das Gerücht von diesem
- außergewöhnlichen Ereignis verbreitet -- und zwar, wie es ja Brauch ist,
- nicht ohne Zutaten und Übertreibungen. Alle Gemüter standen zu dieser
- Zeit gerade unter dem Eindruck übernatürlicher Vorgänge. Kurz vorher
- hatten nämlich das Publikum allerhand Experimente mit dem tierischen
- Magnetismus beschäftigt; die tanzenden Stühle waren für die
- Scheunenstraße noch etwas völlig Neues. Man braucht es also nicht allzu
- sonderbar zu finden, daß bald darauf das Gerücht auftauchte, die Nase
- des Kollegien-Assessors Kowalew spazire bereits seit längerer Zeit jeden
- Tag um drei Uhr auf dem Newski-Prospekt herum. Eine Menge Neugieriger
- strömte daher alltäglich dorthin. Irgend jemand hatte erzählt, die Nase
- hielte sich in Junkers Magazin auf, und gleich stauten sich dort die
- Menschen derartig, daß die Polizei sich genötigt sah, einen
- Ordnungsdienst einzurichten. Ein sehr ehrenwerter Spekulant von höchst
- würdigem Äußeren mit einem prachtvollen Backenbart, der am Ausgang der
- Theater verschiedene Süßigkeiten und trockene Kuchen feilzubieten
- pflegte, ließ daher schöne solide hölzerne Bänke vor dem Laden
- aufstellen, lud die Neugierigen ein, Platz zu nehmen und erhob ein
- Eintrittsgeld von sechzig Kopeken pro Zuschauer. Ein Oberst a. D.
- erschien schon ganz früh an Ort und Stelle, um sich das Schauspiel
- anzuschaun, und schlängelte sich mit großer Mühe durch die Menge; aber
- zu seiner größten Empörung sah er im Fenster des Magazins anstatt der
- Nase nur ein ganz gewöhnliches baumwollenes Kamisol nebst einer
- Lithographie, die ein junges Mädchen darstellte, wie es sich seinen
- Strumpf hinaufzieht, und einen Stutzer mit ausgeschnittener Weste und
- Spitzbart, der sie hinter einem Baume beobachtet -- ein Bild, das schon
- seit mehr als zehn Jahren an dieser Stelle hing. Der Oberst ging fort,
- indem er ärgerlich sagte:
- »Wie kann man nur die Leute durch solche dumme und unwahrscheinliche
- Gerüchte auf die Beine bringen? ...«
- Dann wurde allgemein davon gesprochen, daß die Nase des Majors Kowalew
- garnicht auf dem Newski-Prospekt, sondern im Taurischen Garten
- herumspaziere; man sagte, sie befände sich schon lange dort, schon
- Chozrew-Mirza habe in der Zeit, da er dort wohnte, sehr über dieses
- seltsame Naturwunder gestaunt. Von der medizinischen Fakultät wurden
- einige Studenten hingesandt; eine ehrenwerte Dame von hoher Geburt bat
- den Wächter des Gartens in einem Privatschreiben, dieses Phänomen doch
- ja ihren Kindern zu zeigen und womöglich eine gründliche, lehrreiche
- Erklärung hinzuzufügen.
- All diese Geschehnisse bildeten das Entzücken jener Müßiggänger, die bei
- keiner Gesellschaft fehlen dürfen und deren Pflicht es ist, die Damen zu
- zerstreuen -- und dies in um so höherem Maße, als ihr Vorrat an
- Neuigkeiten zurzeit völlig erschöpft war. Indes zeigte sich doch eine
- Minderheit ehrlicher und vernünftiger Leute sehr ungehalten über all
- diese Scherze. Ein Herr erklärte sogar voller Empörung, er begriffe
- nicht, wie in einem aufgeklärten Jahrhundert solche falsche und absurde
- Gerüchte entstehen könnten, ja, er wunderte sich darüber, daß die
- Regierung diesen Vorgängen nicht mehr Beachtung schenke. Dieser Herr
- gehörte augenscheinlich zu jener Menschenklasse, die es für
- wünschenswert hält, daß die Regierung sich in alle Angelegenheiten
- mische, selbst in die alltäglichen Zwistigkeiten der Ehegatten.
- Infolgedessen ... Aber hier hüllt sich unsere Historie von neuem in
- einen dichten Schleier, und über alle folgenden Ereignisse ist wieder
- nichts bekannt.
- III.
- Es gibt keinen Unsinn, der in dieser Welt nicht möglich wäre, und oft
- passieren Dinge, die geradezu unglaublich sind. So befand sich dieselbe
- Nase, die in Gestalt eines Staatsrates spazieren gegangen war und in der
- ganzen Stadt eine solche Aufregung verursacht hatte, plötzlich auf ganz
- unerklärliche Weise wieder an ihrem alten Platz zwischen den beiden
- Wangen des Majors Kowalew. Das geschah am 7. April.
- Als der Major an diesem Morgen erwachte und in den Spiegel sah,
- erblickte er darin seine Nase. Er griff mit seiner Hand nach ihr, --
- wahrhaftig, es war seine Nase.
- »Mein Gott!« sagte Kowalew, und er wollte schon vor Freude im Zimmer
- barfuß ein Tänzchen machen, aber das Eintreten Iwans hinderte ihn daran.
- Er befahl ihm, sofort Waschwasser zu bringen und besah sich noch einmal
- im Spiegel -- aber die Nase war in der Tat wieder da! Er trocknete sich
- mit dem Handtuch ab und blickte zum dritten Mal in den Spiegel, -- aber
- die Nase war noch immer da!
- »Sieh doch mal her, Iwan, ich glaube, ich habe da so eine Art Pickel auf
- der Nase,« sagte er und dachte indessen bei sich:
- »Was für ein Unglück, wenn Iwan mir plötzlich antwortete: >Nein, Herr,
- Sie haben nicht nur keinen Pickel auf der Nase, Sie haben ja überhaupt
- keine Nase!<«
- Aber Iwan bemerkte:
- »Ich sehe gar keinen Pickel; Ihre Nase ist ganz rein.«
- »Gut, vortrefflich, der Teufel soll mich holen!« sagte der Major im
- stillen zu sich selbst und knipste mit den Fingernägeln.
- In diesem Augenblick erschien der Barbier Iwan Jakowlewitsch im
- Türrahmen -- furchtsam wie eine Katze, die ein Stück Talg gestohlen und
- dafür Prügel bekommmen hat.
- »Sag mal vor allem: sind deine Hände auch sauber?« schrie ihm Kowalew
- schon von weitem entgegen.
- »Gewiß sind sie sauber!«
- »Du lügst!«
- »Bei Gott, sie sind sauber, Herr!«
- »Na, dann mal los!«
- Kowalew setzte sich, und Iwan Jakowlewitsch band ihm eine Serviette um.
- In einem Moment verwandelte sich der ganze Bart und ein Teil der Wangen
- mit Hilfe eines Pinsels in einen Crême, wie ihn die Kaufleute an ihren
- Namenstagen den Gästen servieren.
- »Da schau her!« sagte Iwan Jakowlewitsch zu sich selbst, nachdem er sich
- die Nase angesehen; dann wandte er den Kopf ein wenig, um sie auch von
- der Seite zu prüfen, »wahrhaftig sie sitzt tadellos!« -- und noch lange
- betrachtete er die Nase. Endlich erhob er mit einer Zartheit und
- Behutsamkeit, als ob es sich hier um seine eigene Person handle, zwei
- Finger, um die Nasenspitze zu ergreifen.
- Das war Iwan Jakowlewitschs System.
- »Achtung!« schrie Kowalew.
- Iwan Jakowlewitsch ließ die Hand sinken, verlor den Kopf und zitterte
- wie noch nie zuvor in seinem Leben. Endlich begann er mit großer
- Vorsicht, ihm unter dem Kinn mit dem Rasiermesser den Hals zu kitzeln;
- obwohl es ihm sehr schwer wurde, da er ja das Geruchsorgan nicht stützen
- durfte, überwand er doch alle Schwierigkeiten dadurch, daß er mit dem
- Zeigefinger bald die Wange, bald das Kinn anfaßte, und so führte er denn
- sein Geschäft glücklich zu Ende.
- Hierauf kleidete sich Kowalew an, nahm eine Droschke und fuhr
- schnurstracks nach einer Konditorei. Schon auf der Schwelle befahl er
- dem Kellner, ihm eine Tasse Schokolade zu bringen, und blickte
- gleichzeitig schnell noch einmal in den Spiegel: wahrhaftig, die Nase
- war noch da! Fröhlich wandte er sich um und fixierte mit spöttischer
- Miene zwei Offiziere, deren einer eine Nase hatte, die nicht viel größer
- war als ein Westenknopf.
- Dann begab er sich auf die Kanzlei des Departements, in dem er sich um
- die Stelle eines Vizegouverneurs oder doch wenigstens um die eines
- Exekutors bewarb; als er durch das Empfangszimmer schritt, schaute er in
- den Spiegel, -- die Nase war noch immer da!
- Hierauf fuhr er zu einem andern Kollegien-Assessor, der gleichfalls
- Major war, einem großen Spaßvogel, dem er auf all seine bissigen
- Bemerkungen stets nur die eine Antwort zu geben pflegte:
- »O, ich kenne dich ja, du bist boshaft!«
- Und er dachte sich unterwegs:
- »Wenn der Major bei meinem Anblick nicht in Lachen ausbricht, so ist das
- das sicherste Zeichen, daß alles in Ordnung ist.«
- Aber der Kollegien-Assessor ließ sich nichts merken.
- »Gut! vortrefflich! der Teufel soll ihn holen!« murmelte Kowalew.
- Auf der Straße begegnete er Frau Podtotschina, der Gattin eines höheren
- Offiziers nebst ihrer Tochter; er machte eine tiefe Verbeugung und wurde
- mit den freudigsten Ausrufen begrüßt. Er unterhielt sich längere Zeit
- mit ihnen, nahm eine Prise aus seiner Tabaksdose und stopfte sie sich
- mit Absicht in ihrer Gegenwart in beide Nasenlöcher, indem er sich
- dachte:
- »Da habt ihr's! Ihr Weiber, ihr seid Gänse! Ich denke ja garnicht daran,
- mich mit deiner Tochter zu verheiraten! _Par amour_ -- na, meinetwegen!
- Das ginge noch allenfalls.«
- Und der Major Kowalew zeigte sich, als ob nichts geschehen wäre, auf dem
- Newski-Prospekt, in den Theatern und überall. Seine Nase saß, wie wenn
- nichts vorgefallen wäre, fest in seinem Gesicht, und niemand sah es ihr
- an, daß sie einst so weit umhergeirrt war. Und seitdem sah man Major
- Kowalew stets in guter Laune, er lachte und blickte mit
- leidenschaftlichem Interesse allen schönen Frauen nach. Einmal sah man
- ihn sogar im Laden von Gostini Dwor ein Ordensband kaufen; zu welchem
- Zwecke dies geschah, das wußte freilich niemand, denn er war ja garnicht
- Ritter eines Ordens.
- Das ist die Geschichte, die sich in der nördlichen Hauptstadt unseres
- großen Reiches abgespielt hat. Jetzt finden wir allerdings bei näherer
- Überlegung viel Unwahrscheinliches in ihr. Ohne davon zu sprechen, daß
- es doch höchst sonderbar ist, wenn eine Nase verschwindet und an
- verschiedenen Stellen in Gestalt eines Staatsrates auftaucht, -- wie
- konnte Kowalew nicht begreifen, daß man doch nicht durch die Amtszeitung
- nach einer Nase suchen darf? Ich will hier garnicht einmal den hohen
- Preis erwähnen, den man für ein Inserat bezahlen muß. Das ist eine
- Kleinigkeit. Denn ich gehöre ganz und gar nicht zu den habgierigen
- Leuten. Aber so etwas ist doch unschicklich, lächerlich und töricht!
- Und dann noch dies: wie geriet die Nase in ein Brot, und wie konnte Iwan
- Jakowlewitsch selbst ...? Nein, das werde ich nie und nimmer begreifen;
- wahrhaftig, das verstehe ich nicht! Was aber noch erstaunlicher und noch
- unverständlicher ist, das ist der Umstand, daß sich Autoren solche
- Gegenstände wählen können. Man muß zugeben, daß das in der Tat ganz
- unbegreiflich ist. Geradezu ... nein, nein! Ich verstehe auch nicht ein
- Wort davon! Erstens bringt es dem Vaterland nicht den geringsten Nutzen,
- und zweitens ... aber auch zweitens hat niemand einen Vorteil davon. Ich
- weiß einfach nicht, was das für einen Sinn hat.
- Und dennoch und trotz alledem läßt sich letzten Endes vielleicht doch
- eins oder das andere oder das dritte davon begreifen! Denn schließlich,
- wo stößt man denn nicht auf Unbegreifliches? Und wenn man ordentlich
- über alles nachdenkt, so bleibt sicher doch wenigstens _etwas_ davon
- bestehen. Man mag sagen, was man will: derartige Dinge kommen in der
- Welt vor -- wenngleich höchst selten, aber sie _kommen_ vor.
- Das Porträt
- Erster Teil.
- Nirgends blieben soviel Menschen stehen wie vor dem Bilderladen in der
- Schtschukin-Passage. Dieser Laden bot in der Tat eine äußerst
- mannigfaltige Sammlung von Sehenswürdigkeiten dar: die Bilder waren
- meistenteils mit Ölfarbe gemalt, mit dunkelgrünem Lack gefirnißt und mit
- dunkelgelben, flittergoldenen Rahmen versehen. Eine Winterlandschaft mit
- weißen Bäumen, ein völlig roter, einer Feuersbrunst gleichender Abend,
- ein flämischer Bauer mit einer Pfeife und einem ausgerenkten Arm, der
- eher einem Truthahn in Manschetten als einem Menschen ähnlich sieht: das
- sind gewöhnlich die Lieblingsthemata dieser Gemälde. Dazu kamen noch
- einige gestochene Abbildungen: ein Porträt von Chosrev-Mirsa in einer
- Hammelfellmütze und etwa das Bild eines Generals mit Dreispitz und
- krummer Nase. Überdies pflegen die Türen eines solchen Ladens mit ganzen
- Bündeln von Werken, die auf große Bogen gedruckt sind und von der
- instinktiven Begabung des Russen zeugen, behangen zu sein. Auf einem war
- die Zarentochter Miliktrissa Kirbitjewna, auf einem andern die Stadt
- Jerusalem zu sehen, über deren Häuser und Kirchen ohne weitere Umstände
- ein intensives Rot gestrichen war, ein Rot, das auch einen Teil der Erde
- und zwei betende russische Bauern in Fausthandschuhen einhüllte. Für
- diese Erzeugnisse findet sich schwer ein Käufer, um so leichter jedoch
- ein Zuschauer. Irgend ein Taugenichts von Lakai sieht sie sich schon
- sicher an, während er die Wirtshaus-Menage für seinen Herrn in der Hand
- hält, der seinem Magen die Suppe wohl nicht allzu heiß einverleiben
- wird; neben ihm steht sicher irgend ein in einen Mantel eingehüllter
- Soldat, dieser Kavalier des Trödelmarktes, der zwei Federmesser
- feilbietet, und eine Höckerfrau aus Ochta mit einer Schachtel, die
- Schuhe enthält. Jeder genießt auf seine Art. Die Bauern pflegen ihre
- Zeigefinger darauf zu drücken, die Kavaliere betrachten die Bilder mit
- ernster Miene, die Handwerksburschen lachen und machen sich mit Hinweis
- auf die Karikaturen übereinander lustig, alte Lakaien in Friesmänteln
- schauen sich diese Dinge an, weil sie schließlich doch irgendwo gähnen
- müssen, und die Höckerinnen, diese jungen russischen Weiber, kommen
- instinktiv hierher gelaufen, um zu hören, was denn das Volk wieder
- zusammen klatscht, und um sich das anzuschaun, was sich das Volk
- anschaut.
- Um diese Zeit blieb auch der junge Künstler Tschartkow, der gerade die
- Passage passierte, unwillkürlich vor dem Laden stehen; der alte Mantel
- und der nicht sehr sorgfältige Anzug ließen in ihm einen Menschen
- erkennen, der seiner Arbeit mit Selbstvergessenheit ergeben war und
- keine Zeit hatte, sich um die Kleidung zu kümmern, die doch gerade für
- die Jugend sonst einen geheimnisvollen Reiz in sich zu bergen pflegt. Er
- blieb vor dem Laden stehn und lachte zuerst innerlich über diese
- greulichen Bilder. Dann bemächtigte sich seiner eine unwillkürliche
- Versonnenheit, er fing an, darüber nachzudenken, wem diese Machwerke
- wohl von Nutzen wären. Daß das russische Volk von diesen Jeruslanen
- Lazarewitschen, diesen Freß- und Saufhelden, sowie von dem Foma und
- Jerjoma hingerissen wird, das erschien ihm nicht verwunderlich: die
- abgebildeten Gegenstände waren dem Volke durchaus verständlich. Aber wo
- sind die Käufer für diese bunten, schmutzigen Ölpinseleien, wem konnten
- diese flämischen Bauern, diese roten und blauen Landschaften, die
- bereits einen gewissen Anspruch auf eine etwas höhere Stufe der Kunst
- erheben, gefallen, einer Kunst, die gerade hier aufs tiefste erniedrigt
- wird? Dies waren allem Anschein nach keineswegs Werke eines Kindes oder
- eines Autodidakten, sonst wäre in ihnen bei aller gefühllosen
- Karikierung doch etwas wie ein starker Impuls zum Ausdruck gekommen.
- Aber hier war nichts zu entdecken als Stumpfheit, eine kraftlose,
- greisenhafte Talentlosigkeit, die sich eigenmächtig in die Reihen der
- Künste drängte, während sie doch lediglich unter den niedrigsten
- Handwerken ihren Platz hatte, -- eine Talentlosigkeit, die übrigens
- ihrem Beruf treu blieb und das Handwerkliche mitten in die Kunst
- importierte. Dieselben Farben, die gleiche Manier, dieselbe geübte Hand,
- die eher einem roh gearbeiteten Automaten gehören mochte, als einem
- Menschen! ...
- Lange stand er vor diesen schmutzigen Bildern, bis er schließlich gar
- nicht mehr an sie dachte, inzwischen aber sprach der Besitzer des
- Ladens, ein verschimmelter Kerl in einem Friesmantel und mit einem seit
- Sonntag nicht rasierten Barte, auf ihn ein, und feilschte mit ihm um den
- Preis, ohne sich davon unterrichtet zu haben, was ihm gefallen hatte und
- was er kaufen wollte. »Hier, für diese Bäuerlein und diese kleine
- Landschaft, will ich nur einen weißen Schein haben. Sehen Sie sich doch
- nur diese Malerei an! Die sticht einem geradezu in die Augen; die sind
- eben erst aus der Börse gekommen, sogar der Firnis ist noch nicht
- trocken. Oder nehmen Sie doch vielleicht den Winter hier! Nur fünfzehn
- Rubel! der Rahmen kostet doch allein soviel! Das ist dafür aber auch ein
- rechter Winter!« Hierbei schnellte der Händler mit den Fingerspitzen
- leicht gegen die Leinewand, wahrscheinlich, um die Güte des Winters
- recht zu betonen. »Befehlen der Herr, daß ich sie zusammenbinde und zu
- Ihnen trage? Wo belieben Sie zu wohnen? He, Junge, gib mal einen
- Bindfaden her!« -- »Wart, Bruder, nicht so schnell!« sagte der endlich
- zu sich kommende Maler, als er sah, daß der lebhafte Händler sich im
- Ernst daran machte, sie zusammenzubinden. Es war ihm etwas peinlich,
- nichts zu kaufen, nachdem er sich schon so lange im Laden aufgehalten
- hatte, und er sagte: »Aber warte, ich will mal sehen, ob ich nicht dort
- etwas für mich finde.« Und er bückte sich und fing an, die auf dem
- Fußboden aufgestapelten, abgescheuerten, verstaubten, alten
- Schmierereien aufzuheben, die offenbar keine sonderliche Ehre genossen.
- Da waren altertümliche Porträts von Ahnen, deren Nachkommen man in der
- Welt sicher nirgends hätte finden können -- unbekannte Bilder, deren
- Leinwand durchgerissen war, mit Rahmen ohne Vergoldung: mit einem Worte,
- allerlei alter Plunder. Aber der Maler fing an, sie genauer zu
- untersuchen, indem er in seinem Inneren zu sich sagte: »Vielleicht
- findet sich doch noch etwas darunter!« Er hatte mehr als einmal gehört,
- wie man mitunter bei Trödlern zwischen altem Kram Gemälde großer Meister
- fand.
- Als der Besitzer bemerkte, wohin sich Tschartkow verkrochen hatte, ließ
- seine Zuvorkommenheit nach, er placierte sich in seiner gewöhnlichen
- Stellung und gebührenden Würde wieder vor seiner Tür, rief die Passanten
- an und zeigte ihnen mit einer großen Geste seinen Laden. »Hierher,
- Väterchen! Hier sind Bilder! Kommen Sie herein, kommen Sie herein!
- Soeben von der Börse importiert!« Er schrie sich tot, aber meistenteils
- ohne jeden Erfolg, schwatzte unterdessen zur Genüge mit dem
- Resteverkäufer, der ebenfalls ihm gegenüber an der Türe seiner Bude
- stand, und erinnerte sich schließlich, daß er noch einen Käufer im Laden
- hatte; sofort wandte er den Außenstehenden den Rücken zu und begab sich
- hinein. »Na, Väterchen, haben Sie schon etwas ausgewählt?« Aber der
- Künstler stand schon eine geraume Zeit vor einem Porträt in einem großen
- Rahmen, der von vergangener Pracht zeugte und auf dem jetzt kaum noch
- die Spuren der Vergoldung glänzten.
- Das war ein Greis mit einem bronzefarbenen, schmächtigen Gesicht und
- hervorstehenden Backenknochen. Seine Züge schienen einen Augenblick von
- einer krampfhaften Bewegung erfaßt zu sein und muteten nicht wie
- nordische Kraft an; der feurige Süden spiegelte sich in ihnen wieder. Er
- war in ein weites asiatisches Kostüm gehüllt. Wie schmutzig und
- beschädigt das Porträt auch war, Tschartkow entdeckte in ihm sofort die
- Spuren der Arbeit eines großen Künstlers, nachdem es ihm gelungen war,
- den Staub vom Gesicht zu entfernen. Das Porträt schien nicht ausgeführt
- zu sein, aber die Kraft der Pinselführung war eine überwältigende.
- Seltsamer als alles waren jedoch die Augen; der Künstler schien seine
- ganze Kraft und seine ganze Sorgfalt auf sie verwandt zu haben. Sie
- starrten einen an, blickten geradezu aus dem Porträt heraus und
- zerstörten beinahe die ganze Harmonie durch ihre sonderbare
- Lebhaftigkeit. Als er das Porträt näher an die Tür gebracht hatte,
- blickten ihn die Augen noch stärker an. Fast denselben Eindruck machten
- sie auch auf die Umstehenden. Die Frau, die hinter ihm stehen gelieben
- war, rief: »Er starrt, er starrt mich an!« und wich zurück. Eine
- unangenehme, ihm selbst unbegreifliche Empfindung bemächtigte sich
- seiner, und er stellte das Bild auf den Boden.
- »Na, meinetwegen nehmen Sie doch das Porträt!« meinte der Ladenbesitzer.
- »Und was kostet es?« fragte der Künstler.
- »Nun, dafür kann man doch nicht viel verlangen! Geben Sie fünfundsiebzig
- Kopeken!«
- »Nein.«
- »Na, was geben Sie?«
- »Zwanzig,« sagte der Maler, indem er sich zum Weggehen anschickte.
- »Nein, mit was für einem Preis Sie herausrücken! Mit zwanzig Kopeken ist
- ja nicht einmal der Rahmen bezahlt! Sie wollen es wohl morgen kaufen?
- Herr Herr, kehren Sie doch zurück! legen Sie wenigstens zehn Kopeken zu.
- Nehmen Sie, nehmen Sie es, also gut, geben Sie zwanzig Kopeken.
- Wirklich, nur um den Anfang zu machen; nur, weil Sie der erste Käufer
- sind.« -- Und dabei führte er mit der Hand eine Geste aus, die zu sagen
- schien: »Sei dem, wie ihm sei, mag das Bild verloren gehen!«
- So hatte denn Tschartkow ganz unerwartet ein altes Porträt gekauft, und
- er dachte sich: »Wozu habe ich es gekauft? wozu brauche ich es?« Aber es
- blieb ihm nichts mehr übrig. Er nahm ein Zwanzigkopekenstück aus der
- Tasche, gab es dem Ladenbesitzer, nahm das Porträt unter den Arm und
- trug es nach Hause. Unterwegs erinnerte er sich daran, daß die zwanzig
- Kopeken, die er soeben weggegeben hatte, sein letztes Geld waren. Seine
- Gedanken trübten sich mit einem Mal; ein Gefühl des Ärgers und der
- gleichgültigen Leere erfaßte ihn im selben Augenblick. »Hol's der
- Teufel! Wie scheußlich ist es auf der Welt!« dachte er wie jeder Russe,
- dessen Geschäfte nicht blühen. Und fast mechanisch ging er schnellen
- Schrittes, voller Verdrossenheit, weiter. Der Schimmer der untergehenden
- Sonne tauchte die eine Himmelshälfte in ein tiefes Rot; noch waren die
- dieser Seite zugewandten Häuser von ihrem warmen Schein schwach
- bestrahlt; aber nach und nach erglänzte immer stärker und stärker der
- kühle bläuliche Schein des Mondes. Halbdurchsichtige Schatten von
- Häusern und Menschen fielen wie lange Schweife auf die Erde. Voller
- Bewunderung blickte der Maler zum Himmel empor, der in einem
- durchsichtigen, feinen, unbestimmten Lichte schimmerte, und dabei
- entschlüpften seinem Munde die Worte: »Was für ein zarter Ton!« »Wie
- ärgerlich! Hol's der Teufel!« Und während er sich das Porträt bequemer
- zurechtschob, das fortwährend unter seinem Arme hinunterglitt,
- beschleunigte er seine Schritte.
- Müde und ganz in Schweiß gebadet, schleppte er sich nach seiner Wohnung
- in der 15. Linie auf der Wassilij-Insel, mühsam und keuchend kletterte
- er die mit Spülwasser begossenen und von den Spuren von Katzen und
- Hunden verunreinigten Treppen hinauf. Er pochte an die Tür; niemand
- antwortete, sein Diener war nicht zu Hause. Er lehnte sich auf das
- Fensterbrett und entschloß sich, geduldig zu warten, bis er endlich
- hinter sich die Schritte eines Burschen in blauem Hemde vernahm: dies
- war sein Faktotum und Modell, sein Farbenreiber und Dielenfeger, der den
- Fußboden allerdings mit seinen Stiefeln stets wieder zu beschmutzen
- pflegte, während er ihn fegte. Der Bursche hieß Nikita und brachte
- während der Abwesenheit seines Herren die ganze Zeit vor dem Tore zu.
- Nikita gab sich lange Zeit große Mühe, das Schlüsselloch zu finden, das
- infolge der Dunkelheit kaum zu sehen war. Endlich wurde die Tür
- geöffnet. Tschartkow betrat sein Vorzimmer, das, wie bei den meisten
- Künstlern, unerträglich kalt war, ein Umstand, den sie allerdings im
- allgemeinen nicht bemerken. Ohne Nikita seinen Mantel zu übergeben,
- begab er sich in sein Atelier, einen großen, aber niedrigen
- quadratischen Raum mit zugefrorenen Fensterscheiben, der mit allerlei
- künstlerischem Plunder, Stücken von Gipshänden, Keilrahmen, angefangenen
- und wieder weggeworfenen Skizzen und bunten, auf Tischen und Stühlen
- liegenden Draperieen angefüllt war. Er war äußerst müde, legte den
- Mantel ab, stellte zerstreut das mitgebrachte Porträt zwischen zwei
- andere Bilder und warf sich auf einen schmalen Diwan, von dem man nicht
- behaupten konnte, daß er mit Leder bezogen war, denn die Messingknöpfe,
- die es einst befestigt hatten, residierten in stolzer Selbständigkeit.
- Das Gleiche ließ sich von dem Leder behaupten, sodaß Nikita seine
- schwarzen Socken, Hemden und allerlei schmutzige Wäsche darunter
- aufbewahren konnte. Nachdem er ein wenig auf ihm gesessen und gelegen,
- soweit hier von Liegen die Rede sein konnte, und sich genügend ausgeruht
- hatte, fragte er endlich nach einer Kerze.
- »Wir haben keine Kerze mehr!« sagte Nikita.
- »Weshalb nicht?«
- »Es war doch schon gestern keine da,« sagte Nikita. Der Künstler
- erinnerte sich in der Tat, daß es auch gestern keine Kerze mehr gab,
- beruhigte sich und schwieg still. Er ließ sich auskleiden und zog
- hierauf seinen schon arg verschlissenen Schlafrock an.
- »Der Wirt ist wieder dagewesen!« fuhr Nikita fort.
- »So! Er kam wegen des Geldes!« meinte der Künstler mit wegwerfender
- Miene.
- »Aber er war nicht allein da,« sagte Nikita.
- »Wer denn noch?«
- »Ich weiß nicht, wer. Irgend so ein Polizeibeamter.«
- »Wozu denn ein Polizeibeamter?«
- »Ich weiß nicht, wozu! Er meinte, weil die Wohnung noch nicht bezahlt
- ist.«
- »Nun, und was soll daraus werden?«
- »Ich weiß nicht, was daraus werden soll. Er meinte, wenn er nicht zahlen
- will, so soll er doch ausziehen! Sie wollten beide morgen wiederkommen.«
- »Mögen sie nur kommen!« sagte Tschartkow mit trauriger Gleichgültigkeit,
- und eine melancholische Regenstimmung bemächtigte sich seiner.
- Der junge Tschartkow war ein Künstler, dessen Talent zu manchen
- Hoffnungen berechtigte. In Augenblicken der Inspiration zeigte sein
- Pinsel scharfe Beobachtungsgabe, tiefes Verständnis und einen heißen
- Drang, der Natur nahe zu kommen. »Sieh, sieh, Bruder,« sagte ihm mehr
- als einmal sein Professor, »du hast Talent. Es wäre eine Sünde, wenn du
- es zugrunde richten wolltest. Aber du hast keine Geduld. Irgend etwas
- lockt dich, dir gefällt etwas, und du bist gleich davon hingerissen,
- alles übrige ist dir dann Quark, hat für dich keinen Wert mehr, du
- willst es dir garnicht einmal anschaun ... sieh dich nur vor, daß aus
- dir nicht etwa ein moderner Maler wird. Deine Farben sind schon jetzt
- etwas zu scharf und zu schreiend; deine Zeichnung ist nicht mehr streng
- und manchmal geradezu schwach ... Die Linie verschwimmt, du trachtest
- schon nach modernen Beleuchtungseffekten und willst nur das wiedergeben,
- was dem ersten besten in die Augen springt. Nimm dich in acht, daß du
- nicht etwa in die Manier der Engländer verfällst! ... Gieb acht, die
- große Welt beginnt dich bereits zu reizen. Ich habe schon manchmal eine
- stutzerhafte Krawatte bei dir bemerkt oder einen gebügelten Hut ... ich
- weiß ja, wie verlockend es ist, für Geld Bilder nach dem Geschmack der
- Mode zu malen. Aber daran geht ein Talent zugrunde, anstatt daß es ihm
- Förderung einträgt. Hab Geduld, beschäftige dich sorgfältig mit jeder
- Arbeit, laß ab vom Dandytum ... Mögen doch andere dem Gelde nachjagen
- ... dein Vermögen wird dir trotzdem nicht entgehen.«
- Der Professor hatte zum Teil recht. Manchmal mochte unser Maler in der
- Tat etwas über die Stränge schlagen, es den Gecken gleichtun, mit einem
- Wort: zeigen, daß auch er eigentlich noch recht jung war. Aber bei
- alledem verstand er es auch, sich zu zügeln. Bisweilen konnte er, wenn
- er an seine Arbeit gegangen war, alles vergessen, und er riß sich nicht
- anders von ihr los als wie von einem herrlichen Traume. Sein Geschmack
- wurde immer subtiler; noch erfaßte er nicht die ganze Tiefe Raffaels,
- doch wurde er von der raschen, breiten Pinselführung Guidos hingerissen,
- er blieb vor den Porträts Tizians stehen und begeisterte sich an der
- vlämischen Schule. Noch war der dunkle Schleier, der die alten Bilder
- verhüllt, nicht ganz vor ihm geschwunden, aber schon vermochte er ihn
- hin und wieder mit seinem Blicke zu durchdringen, obgleich er dem
- Professor innerlich nicht beistimmte, daß die alten Meister für uns so
- durchaus unerreichbar wären. Ihm schien es sogar, daß das neunzehnte
- Jahrhundert sie in mancher Beziehung bedeutend überholt hätte, daß die
- Nachbildung der Natur recht häufig intensiver, lebendiger, treuer
- geworden war, kurz, er dachte in diesem Falle genau so wie gewöhnlich
- die Jugend denkt, die schon einiges zu verstehen beginnt und es mit
- Stolz und Selbstbewußtsein empfindet. Manchmal wurde er ärgerlich, wenn
- er sah, wie ein zugereister Maler, ein Franzose oder etwa ein Deutscher,
- der oft genug garnicht einmal ein Maler von Beruf war, nur durch
- gewohnheitsmäßige Routine, flotte Pinselführung und schreiende Farben
- allgemeines Aufsehen erregte und sich in einem Augenblick ein ganzes
- Kapital erwarb. Solche Gedanken kamen ihm, nicht wenn er, ganz von
- seiner Arbeit absorbiert, Essen, Trinken und die ganze Welt vergaß,
- sondern nur dann, wenn die Not ihn zu arg bedrängte, wenn er keine
- Kopeke mehr hatte, um sich Pinsel und Farben zu kaufen und wenn der
- aufdringliche Wirt zehnmal am Tage kam, um die Miete für die Wohnung von
- ihm zu verlangen. Dann malte sich wohl in seiner hungrigen Phantasie in
- angenehmem Lichte das Leben eines reichen Malers, dann spielte er sogar
- mit dem Gedanken, der so oft das Hirn eines Russen überfällt, alles im
- Stich zu lassen und sich aus Gram und allem zum Trotz dem Trunk zu
- ergeben. Und nun war er wieder einmal in einer solchen Lage.
- »Ja, hab Geduld, hab nur Geduld!« wiederholte er verdrießlich; »aber
- schließlich hat auch die Geduld ihr Ende. Hab Geduld, und womit soll ich
- denn eigentlich morgen das Mittagsessen bezahlen? Stunden wird es mir
- niemand, und wenn ich auch alle meine Bilder und Zeichnungen verkaufen
- wollte, so würde man mir doch für sie alle zusammen noch keine zwanzig
- Kopeken geben. Sie sind mir wohl von Nutzen gewesen, gewiß, ich fühle
- es! An keinem von ihnen habe ich umsonst gearbeitet; aus jedem habe ich
- etwas gelernt. Aber was frommt mir das? Es sind Skizzen, Versuche ...
- und das werden sie immer bleiben, immer nur Skizzen, Versuche ... Und
- wer, der nicht zufällig meinen Namen kennt, wird sie denn kaufen mögen?
- Wer bedarf denn eigentlich dieser Zeichnungen nach der Antike, dieser
- Naturstudien oder gar meiner unbeendigten »Psyche«? Wen interessiert
- dieser Ausblick aus meinem Zimmer oder das Porträt meines Nikita, wenn
- es auch wirklich besser ist, als die Arbeiten irgend eines Modemalers?
- Und weshalb das alles? Weshalb quäle ich mich ab und plage ich mich, wie
- ein Schüler mit dem Abc, wo ich doch nicht weniger berühmt sein, als die
- andern und gleich ihnen Geld verdienen könnte.«
- Bei diesen Worten zitterte und erblaßte der Maler plötzlich. Ein
- krampfhaft verzerrtes Gesicht starrte ihn von der Leinwand her -- sich
- weit vorbeugend -- an; zwei schreckliche Augen richteten sich auf ihn,
- als ob sie ihn verzehren wollten. Die Lippen schienen ihn bedeuten zu
- wollen, er solle schweigen. Erschrocken wollte er aufschreien und Nikita
- rufen, der bereits in seinem Vorzimmer schnarchte wie ein zweiter
- Polyphem. Aber plötzlich blieb er stehen und lachte. Das Gefühl der
- Angst verließ ihn einen Augenblick; es war das von ihm gekaufte Porträt,
- das er ganz vergessen hatte. Der Mondschein, in den das ganze Zimmer
- getaucht war, beleuchtete auch das Bild und teilte ihm eine sonderbare
- Lebendigkeit mit. Er fing an, es zu betrachten und zu reinigen. Er
- benetzte einen Schwamm mit Wasser, fuhr einige Mal mit ihm über die
- Fläche, wusch den dicken und fest an ihm klebenden Staub und Schmutz
- herunter, hängte es vor sich an die Wand hin und war über dieses
- ungewöhnliche Werk noch mehr erstaunt als vorher. Das ganze Gesicht
- schien Leben zu bekommen und die Augen blickten ihn so an, daß er
- erzitterte, zurückwich und ganz verdutzt sagte: »Er sieht mich an, er
- blickt mich mit Menschenaugen an!« Tschartkow mußte plötzlich an eine
- Geschichte denken, die er einmal von seinem Professor über ein Bildnis
- des berühmten Lionardo da Vinci gehört hatte, jenes Bildnis, das der
- große Meister, trotzdem er mehrere Jahre daran gearbeitet hatte, doch
- noch immer für unvollendet ausgab, und das nach Vasaris Worten dennoch
- von allen für das vollkommenste und vollendetste Kunstwerk erklärt
- wurde. Am hervorragendsten waren daran die Augen, die in höchstem Maße
- die Bewunderung aller Zeitgenossen hervorriefen. Selbst die winzigsten,
- kaum sichtbaren Äderchen waren berücksichtigt und auf die Leinwand
- gebannt, aber hier, bei diesem jetzt vor ihm hängenden Porträt, war es
- noch sonderbarer. Das war keine Kunst mehr; es störte sogar die Harmonie
- des Bildes. Das waren lebendige, menschliche Augen. Es schien, als wären
- sie einem lebenden Antlitze entnommen und in dieses Bildnis eingesetzt.
- Das hatte nichts mehr mit jenem hohen Genuß zu tun, den die Seele
- angesichts eines Kunstwerkes empfindet, wie entsetzlich auch der
- dargestellte Gegenstand sein mag. Des Beschauers bemächtigte sich
- vielmehr nur ein krankhaftes quälendes Gefühl.
- »Was ist das?« fragte sich der Künstler unwillkürlich. »Das ist doch in
- der Tat Natur, lebendige Natur! Woher also dieses seltsame, unangenehme
- Gefühl? Oder wäre die sklavische, peinliche Naturnachahmung an sich
- schon ein Vergehen, wirkte sie wie ein greller unharmonischer Ton? Oder
- erscheint der Gegenstand, wenn man gefühllos, gleichgültig, ohne innere
- Anteilnahme an ihn herantritt, stets nur in seiner abschreckenden
- Wirklichkeit -- ohne jenen Glanz eines gewissen, unbegreiflichen,
- überall verborgenen Gedankens? -- in jener Wirklichkeit, die sich
- offenbart, wenn wir uns, mit einem anatomischen Messer bewaffnet, einem
- Menschen nahn, in der Erwartung, etwas Herrliches zu schaun, sein
- Inneres bloßlegen und eines Ungeheuers gewahr werden? Warum erscheint
- denn die einfache gemeine Natur bei einem Künstler in einer gewissen
- Verklärung -- und man erhält keinen gemeinen Eindruck? Im Gegenteil! es
- scheint einem, als hätte man einen großen Genuß gehabt, und alles fließt
- und bewegt sich ruhiger und gleichmäßiger um einen herum. Und warum
- erscheint ebendieselbe Natur bei einem anderen Künstler niedrig und
- schmutzig, während doch auch er der Natur treu blieb? Es fehlt ihm eben
- das Etwas, das sie verklärt. Ganz wie eine Landschaft, so herrlich sie
- auch sein mag, doch unvollkommen erscheint, wenn kein Sonnenstrahl sie
- erleuchtet.«
- Er näherte sich aufs neue dem Porträt, um diese wunderbaren Augen zu
- betrachten, und sah wieder mit Entsetzen, daß sie ihn wirklich
- anstarrten. Das war keine Kopie nach der Natur mehr, das war jene
- entsetzliche Lebhaftigkeit die dem Gesicht eines dem Grabe entstiegenen
- Toten Leben gegeben hätte. War es der Mondschein, der Wahngebilde und
- Träume mit sich brachte und jedem Ding eine andre Form verlieh als das
- nüchterne positive Tageslicht? Oder war etwas anderes die Ursache? Es
- wurde ihm -- er wußte selbst nicht warum -- ängstlich und bang zumute,
- er fürchtete sich, allein im Zimmer zu bleiben. Er trat leise vom
- Porträt zurück, wandte sich nach der andern Seite und bemühte sich, es
- nicht anzublicken; inzwischen aber schielte sein Auge dennoch ganz wie
- von selbst unwillkürlich nach ihm hin. Schließlich verursachte ihm sogar
- die Regelmäßigkeit, mit der er das Zimmer durchmaß, Unruhe. Es war ihm,
- als folgte ihm immer jemand, und jedesmal sah er sich scheu um. Jede
- Feigheit lag ihm fern, aber seine Einbildungskraft und seine Nerven
- waren sehr feinfühlig, und an diesem Abend konnte er sich seine
- instinktive Furcht selbst nicht erklären. Er setzte sich in eine Ecke,
- aber auch hier hatte er das Gefühl, als werde ihm gleich jemand über die
- Achsel in das Gesicht schaun. Selbst Nikitas Schnarchen, das aus dem
- Vorzimmer herüberdrang, vermochte nicht, seine Angst zu verscheuchen.
- Endlich erhob er sich zaghaft, ohne die Augen zu erheben, von seinem
- Platze, begab sich hinter die spanische Wand und legte sich in sein
- Bett. Durch eine Spalte sah er das vom Monde bestrahlte Zimmer und das
- ihm gerade gegenüber an der Wand hängende Porträt. Noch bedeutsamer
- heftete es jetzt die Blicke auf Tschartkow, als suchte es niemand anders
- als ihn. Voller Unruhe entschloß er sich, sein Lager zu verlassen, er
- ergriff ein Laken, trat an das Porträt heran und hüllte es in das
- Betttuch ein.
- Nachdem er dies getan hatte, legte er sich ruhig wieder zu Bett und
- begann über die Armut, über das erbärmliche Schicksal des Künstlers,
- über den Dornenweg, der ihn in dieser Welt erwartet, nachzudenken,
- unterdessen aber blickten seine Augen unwillkürlich durch die Spalte der
- spanischen Wand nach dem vom Betttuch verhüllten Porträt. Der
- Mondenschein ließ das Weiß des Lakens noch heller erscheinen, und es kam
- Tschartkow so vor, als schimmerten die schrecklichen Augen schon durch
- das Leinentuch hindurch. Furchtsam starrte er hin, als wollte er sich
- davon überzeugen, daß es sich um eine Illusion handelte. Aber jetzt ...
- tatsächlich ... jetzt steht es vor ihm ... er sieht es, sieht es ganz
- klar. Das Laken ist nicht mehr vorhanden. Das Porträt steht ganz frei da
- und schaut ihn über alles hinweg unverwandt an, späht geradezu in sein
- Inneres hinein. Es wurde ihm kalt ums Herz, ... doch da sieht er mit
- einem Male, wie der Greis sich bewegt, sich plötzlich mit beiden Händen
- auf den Rahmen stützt, sich emporreckt und beide Beine herausstreckend,
- aus dem Rahmen springt. Durch den Spalt des Bettschirmes war nur noch
- ein leerer Rahmen wahrzunehmen. Die Schritte hallten im Zimmer wider und
- näherten sich immer mehr dem Schirme. Das Herz des armen Künstlers
- begann stärker zu pochen. Während er vor Angst kaum zu atmen wagte,
- schien er darauf gefaßt zu sein, daß der Greis gleich den Kopf nach ihm
- hinter den Schirm strecken würde. Und in der Tat, jetzt beugte sich sein
- bronzefarbenes Antlitz mit den großen rollenden Augen über ihn.
- Tschartkow versuchte voller Qual aufzuschrein, bemerkte jedoch, daß ihm
- der Ton in der Kehle stecken blieb; er versuchte sich zu rühren, irgend
- eine Bewegung auszuführen. Jedoch die Glieder versagten ihren Dienst.
- Mit offenem Munde und stockendem Atem betrachtete er dieses furchtbare,
- hochgewachsene, in ein weites asiatisches Gewand gehüllte Phantom und
- wartete ab, was es tun würde. Der Greis ließ sich am Fußende des Lagers
- nieder und zog etwas aus den Falten seines Kleides hervor. Es war ein
- Geldbeutel. Er schnürte ihn auf, packte ihn an den beiden Endzipfeln,
- schüttelte ihn ... und mit dumpfem Geräusch fielen schwere Rollen, die
- wie längliche Säulchen aussahen, auf den Boden; jede war in blaues
- Papier eingeschlagen und trug die Aufschrift: »Tausend Dukaten«. Seine
- langen knochigen Finger aus den weiten Ärmeln herausstreckend, begann
- der Alte, die Rollen zu öffnen, aus denen ihm das Gold entgegenglänzte.
- Mit wie tödlicher Qual auch der Alpdruck auf dem Künstler lastete, er
- war doch von dem Anblicke des Goldes ganz hingerissen und beobachtete
- unverwandt, wie die knochigen Hände es aufrollten, wie es glänzte, fern
- und dumpf klirrte und wie der Alte es dann wieder einhüllte. Plötzlich
- bemerkte er eine Rolle, die abseits von den anderen unter sein Bett
- gefallen war; fast krampfhaft ergriff er sie und spähte voller Furcht
- danach, ob sie der Alte nicht etwa vermißte. Der Greis schien jedoch
- sehr beschäftigt zu sein. Er suchte alle seine Rollen zusammen, legte
- sie wieder in den Beutel und trat, ohne ihn zu beachten, hinter der
- spanischen Wand hervor. Tschartkows Herz schlug heftig, als er hörte,
- wie sich die Schritte im Zimmer immer mehr und mehr von ihm entfernten.
- Er umschloß die Rolle in seiner Hand mit kräftigerem Drucke und
- erzitterte am ganzen Körper, als er plötzlich vernahm, wie sich die
- Schritte wieder dem Schirme näherten. Offenbar war der Alte gewahr
- geworden, daß ihm eine Rolle fehlte, und so spähte er denn auch zu ihm
- hinter die Wand. Voller Verzweiflung hielt der Künstler die Rolle
- krampfhaft in seiner Hand fest, machte eine ungeheure Anstrengung, sich
- zu bewegen, schrie auf und erwachte.
- Kalter Schweiß bedeckte ihn am ganzen Körper. Sein Herz schlug so stark,
- wie es nur schlagen konnte. Die Brust war wie eingeschnürt, wie wenn sie
- den letzten Atemzug getan hätte. »War es denn wirklich ein Traum?« sagte
- er, indem er sich mit beiden Händen an den Kopf faßte. Aber die
- furchtbare Lebhaftigkeit der Erscheinung widersprach dieser Annahme.
- Hatte er doch, nachdem er bereits erwacht war, gesehen, wie der Alte in
- den Rahmen hineinschlüpfte; sogar ein Zipfel seines weiten Gewandes
- flatterte noch vor ihm her, und seine Hand spürte deutlich, daß sie noch
- vor einer Minute irgend einen schweren Gegenstand gehalten hatte. Der
- Mondschein überflutete das Zimmer und ließ bald eine Staffelei, bald
- eine fertige Haube, bald eine auf dem Stuhl vergessene Draperie, bald
- ein Paar ungeputzte Stiefel in den finsteren Ecken hervortreten. Erst
- jetzt bemerkte Tschartkow, daß er nicht im Bette lag, sondern dicht vor
- dem Porträt auf seinen beiden Beinen stand. Wie er hierhin gelangt war,
- das konnte er sich auf keine Weise erklären. Noch mehr aber setzte ihn
- der Umstand in Erstaunen, daß das Porträt unverhüllt war -- das Laken
- fehlte tatsächlich! -- Regungslos und voller Angst starrte er es an und
- sah, wie sich zwei lebendige, menschliche Augen unverwandt auf ihn
- richteten. Kalter Schweiß bedeckte sein Antlitz. Er wollte fliehen,
- fühlte aber, daß seine Füße wie angewurzelt waren. Und nun sieht er --
- es ist kein Traum! -- wie die Züge des Greises Bewegung gewinnen und
- seine Lippen sich ihm entgegenspitzen, als wollten sie sich an ihn
- festsaugen. Mit einem Schrei der Verzweiflung sprang er zurück und
- erwachte.
- »War auch das nur ein Traum?« fragte er sich und tastete mit den Händen
- um sich, während sein Herz zum Zerspringen klopfte. Ja, er lag noch
- genau in jener Lage, in der er eingeschlafen war, auf dem Bett. Vor ihm
- stand der Schirm, das Zimmer war vom Mondschein erfüllt, und durch den
- Spalt der spanischen Wand konnte er noch das sorgfältig mit dem Laken
- verhüllte Porträt sehen, genau so, wie er es selbst verhüllt hatte.
- Folglich hatte er wieder geträumt; aber die geballte Faust hatte noch
- immer die Empfindung, daß sie irgend etwas umschlossen hielt. Sein Herz
- klopfte stark und schrecklich. Das Gefühl, als lastete etwas auf seiner
- Brust, war unerträglich. Er spähte durch den Spalt und betrachtete
- unverwandt das Laken. Und nun sieht er klar und deutlich, wie dieses
- allmählich heruntergleitet, als ob sich zwei Hände unter ihm bewegten
- und sich bemühten, es abzustreifen. »Herr Gott, was ist denn das?« rief
- er voller Verzweiflung, bekreuzigte sich und erwachte.
- War auch dies ein Traum? Er sprang halb wahnsinnig, besinnungslos aus
- dem Bett, unfähig, zu begreifen, was denn eigentlich mit ihm geschehen
- war: ob ein Alpdrücken oder ein Spuk, ein Fieberwahn oder eine lebendige
- Erscheinung ihn gequält hatte. In der Absicht, die seelische Erregung
- und das stürmende Blut, das heftig durch all seine Adern rollte, zu
- stillen, trat er ans Fenster und öffnete es halb. Ein kalter Windstoß
- von außen her brachte ihn wieder zu sich. Der Mond bestrahlte noch immer
- die Dächer und die weißen Mauern, wenn auch jetzt hin und wieder kleine
- Wölkchen über den Himmel glitten. Alles war still. Nur selten drang das
- ferne Rasseln einer Mietsdroschke an das Ohr, deren Kutscher, in
- Erwartung eines verspäteten Fahrgastes, von seiner faulen Mähre
- eingewiegt, in irgend einer versteckten Gasse schlummerte. Lange schaute
- Tschartkow zum Fenster hinaus. Schon zeigten sich am Himmel die
- Anzeichen der nahenden Morgenröte; endlich fühlte er das Bedürfnis zu
- schlafen, er schlug das Fenster zu, entfernte sich, legte sich ins Bett
- und schlief bald fest ein wie ein Toter.
- Er erwachte sehr spät und hatte jenes unangenehme Gefühl, das einen
- Menschen nach einer Kohlendunstvergiftung überfällt. Sein Kopf schmerzte
- ihn heftig. Im Zimmer war es trübe; eine unangenehme Feuchtigkeit
- erfüllte die Luft und drang durch die Spalten seiner Fenster, die mit
- Bildern oder grundierten Keilrahmen verstellt waren. Mürrisch und
- unzufrieden wie ein begossener Hahn setzte er sich auf seinen
- verschlissenen Diwan, ohne zu wissen, was er beginnen, was er tun
- sollte, und überdachte schließlich seinen ganzen Traum. Dabei wirkte
- dieser in der Erinnerung so stark auf ihn, daß er sich sogar dem Argwohn
- hingab, vielleicht hätte ihn doch nicht nur ein einfacher Traum oder
- eine Wahnidee heimgesucht, sondern irgend etwas anderes, -- etwa eine
- Vision. Er schob das Laken zurück und betrachtete nun dieses
- schreckliche Porträt beim hellen Tageslicht. Die Augen wirkten in der
- Tat durch ihr ungewöhnliches Feuer ganz erstaunlich; und doch konnte er
- nichts Schreckliches an ihnen entdecken, nur blieb in seiner Seele eine
- unbestimmte, unerklärliche, peinigende Empfindung zurück. Trotzdem aber
- wollte er nicht recht daran glauben, daß es lediglich ein Traum gewesen
- war. Es schien ihm, als enthielte seine Vision ein entsetzliches
- Bruchstück der Wirklichkeit. Er hatte das Gefühl, als ob ein Etwas im
- Blick und im Gesichtsausdruck des Greises ihm zuflüsterte, daß er diese
- Nacht bei ihm gewesen sei. Seine Hand empfand noch den Druck, wie wenn
- eine andere sich erst kurz vorher von ihr losgerissen hätte, und er kam
- zur Überzeugung, daß die Rolle auch nach dem Erwachen noch in seiner
- Hand gewesen wäre, wenn er sie nur fester gehalten hätte.
- »Herrgott! wenn mir doch nur ein Teil dieses Geldes gehörte!« sagte er,
- indem er tief aufseufzte, und er glaubte zu sehen, wie alle Rollen mit
- der verlockenden Aufschrift »Tausend Dukaten«, die er im Traum erblickt
- hatte, aus dem Beutel herausfielen. Sie öffneten sich, das Gold glänzte
- und funkelte vor seinen Augen und wurde dann wieder eingewickelt, er
- aber verharrte unbeweglich und wie von Sinnen, in die leere Luft
- starrend, völlig unfähig, sich von diesem Gegenstande loszureißen, wie
- ein Kind, das vor einer süßen Speise sitzt und, während ihm das Wasser
- im Munde zusammenläuft, zusehen muß, wie sie von anderen verzehrt wird.
- Da wurde plötzlich heftig an die Tür gepocht, was ihn wieder auf
- unangenehme Weise in die Wirklichkeit zurückversetzte. Der Wirt trat
- ein, und mit ihm der Polizeikommissar, dessen Erscheinen auf kleine
- Leute bekanntlich noch widerwärtiger wirkt als das Gesicht eines
- Bettlers auf einen Reichen. Der Wirt des kleinen Hauses, in dem
- Tschartkow lebte, war eins jener Wesen, die irgendwo in der 15. Linie
- der Wassilij-Insel, im Petersburger Viertel oder in einer entfernteren
- Ecke von Kolomna ein Häuschen besitzen -- ein Geschöpf, deren es in
- Rußland noch viele gibt und deren Charakter ebenso schwer zu bestimmen
- ist, wie die Farbe eines abgetragenen Rockes. In seiner Jugend war er
- Hauptmann der Infanterie und ein rechter Bramarbas gewesen, war aber
- auch in Zivilangelegenheiten verwandt worden: ein Meister im Prügeln,
- behend, geckenhaft und dumm; nun aber, wo er alt geworden war,
- vereinigten sich alle diese hervorstechenden Eigenheiten zu einer
- gewissen undeutlichen Verschwommenheit. Jetzt war er Witwer und hatte
- schon seinen Abschied genommen; daher vernachlässigte er sein Äußeres,
- er prahlte nicht mehr so unverschämt, war nicht mehr so arrogant und
- liebte es nur, Tee zu trinken und dabei allerlei Unsinn
- zusammenzuschwatzen; er ging beständig im Zimmer auf und ab, putzte die
- Talgkerze, besuchte pünktlich nach Ablauf jedes Monats seine Mieter
- wegen des Mietzinses, trat öfters mit dem Schlüssel in der Hand auf die
- Straße hinaus, um einen Blick auf das Dach seines Hauses zu werfen, und
- vertrieb seinen Portier beständig aus seiner Kammer, in der dieser
- gewöhnlich sein Lager aufschlug: mit einem Wort, es war einfach ein Mann
- im Ruhestande, der nach einem langen liederlichen Leben, währenddessen
- er so oft strapaziöse Reisen in Postkutschen machen mußte, nichts
- zurückbehalten hatte als ein paar platte Gewohnheiten.
- »Sehen Sie doch selbst, Waruch Kusmitsch!« meinte der Wirt, indem er
- sich an den Polizeikommissar wandte und mit den Armen eine bezeichnende
- Geste vollführte; »er bezahlt die Wohnung nicht, er zahlt nun einmal
- nicht!«
- »Was soll ich denn machen, wenn ich kein Geld habe? Warten Sie doch nur,
- ich werde schon bezahlen!«
- »Ich kann nicht warten, Väterchen,« erwiderte der Wirt heftig und
- klopfte mit dem Schlüssel, den er in der Hand hielt, auf den Tisch. »Der
- Oberstleutnant Potogonkin wohnt schon sieben Jahre lang in meinem Hause;
- Anna Petrowna Buchmisterowa hat mir eine Scheune und einen Stall für
- zwei Pferde abgemietet: eine Frau, die drei Dienstboten hat! Da sehen
- Sie, was für Mieter ich habe. Offengestanden, bei mir ist es nicht
- Sitte, daß man mir den Zins schuldig bleibt. Wollen Sie sofort das Geld
- bezahlen und dann die Wohnung räumen.«
- »Ja, wenn Sie sich dazu verpflichtet haben, dann müssen Sie auch
- zahlen,« meinte der Polizeikommissar, indem er leicht den Kopf
- schüttelte und den Zeigefinger zwischen zwei Knöpfe seines Uniformrockes
- steckte.
- »Aber womit soll ich denn bezahlen? Das ist doch eben die Frage. Ich
- verfüge jetzt noch nicht über einen Pfennig.«
- »In diesem Falle müssen Sie Iwan Iwanowitsch durch die Erzeugnisse Ihrer
- Kunst sicherstellen,« meinte der Kommissar. »Er wird vielleicht damit
- einverstanden sein, sich die Miete in Bildern bezahlen zu lassen.«
- »Nein, Väterchen, ich danke schön für die Bilder! Wären es noch Gemälde
- von vornehmem Inhalt, so daß man sie an die Wand hängen könnte, ... etwa
- ein General mit einem Stern, oder ein Porträt des Fürsten Kutusow! Aber
- da malt er sich hier einen Bauern im Hemde hin, seinen Diener, der ihm
- die Farben reibt! Noch ein Bild von dem Schwein zu malen! Ich werde ihm
- den Buckel vollhauen! Er hat mir alle Nägel aus den Riegeln
- herausgezogen. Dieser Schuft! Sehen Sie nur, was für Gegenstände er sich
- wählt. Da malt er sein Zimmer! Hätte er noch wenigstens eine saubere,
- aufgeräumte Stube genommen! Aber wie das hier gemalt ist! Mit dem ganzen
- Schmutz und Dreck, der überall herumliegt! Sehen Sie mal, wie er mir das
- Zimmer versaut hat! Wollen Sie doch selbst sehen. Bei mir wohnen die
- Mieter sieben Jahre lang, ein Oberst und Frau Buchmisterowa, Anna
- Petrowna ... Wahrhaftig, ich muß Ihnen gestehen, es gibt keinen
- schlimmeren Mieter als einen Maler ... Der lebt wie ein Schwein! ...
- Einfach wie ein ..., Gott soll mich davor bewahren!«
- Und dies alles mußte der arme Maler geduldig anhören. Der
- Polizeikommissar beschäftigte sich inzwischen mit der Prüfung der Bilder
- und Skizzen und bekundete hierbei, daß er eine lebendigere Seele hatte
- als der Wirt, und sogar für künstlerische Eindrücke nicht ganz
- unempfänglich war.
- »He,« sagte er, während er mit dem Finger gegen eine Leinwand klopfte,
- auf der ein nacktes Frauenzimmer dargestellt war, »dieser Gegenstand ist
- ja recht pikant, ... und dieser Kerl hier, weshalb ist denn der so
- schwarz unter der Nase? Hat er sich etwa mit Tabak beschmutzt? Wie?«
- »Das ist ein Schatten!« antwortete Tschartkow herb und ohne ihn
- anzusehen.
- »Nun, den könnte man auch wo anders hinsetzen! Unter der Nase fällt es
- doch gar zu sehr auf,« sagte der Kommissar. »Und wessen Porträt ist dies
- hier?« fuhr er fort, indem er sich dem Bilde des Greises näherte. »Der
- ist ja entsetzlich! War er denn wirklich so schrecklich? Mein Gott, der
- starrt einen ja geradezu an! Sieh einmal, was für Blitze der schleudert!
- Wer hat Ihnen denn dazu Modell gesessen?«
- »Ach, das ist ein ...,« sagte Tschartkow, doch er sprach den Satz nicht
- zu Ende.
- Man vernahm ein Krachen ... Der Kommissar hatte offenbar infolge des
- ungeschlachten Baues seiner polizeilichen Hände den Rahmen des Bildes zu
- fest angepackt. Die Leisten an der Seite waren eingedrückt, die eine
- fiel auf den Boden, und mit ihr flog klirrend eine in blaues Papier
- gehüllte Rolle heraus. Die Aufschrift »Tausend Dukaten« sprang
- Tschartkow in die Augen. Wie wahnsinnig stürzte er herbei, um sie
- aufzuheben, ergriff die Rolle und umschloß sie krampfhaft mit einer
- Hand, die sich mit der schweren Last herabsenkte.
- »Es klang doch hier wie Geld!« sagte der Kommissar, der etwas Klirrendes
- hatte auf den Boden fallen hören und den die Schnelligkeit, mit der
- Tschartkow herbeistürzte, daran hinderte, genau zu erkennen, was es war.
- »Und was geht Sie das an? Was brauchen Sie zu wissen, was ich hier
- habe?«
- »Das geht mich deshalb was an, weil Sie dem Wirt sofort die Miete zahlen
- müssen! Weil Sie Geld haben, aber nichts zahlen wollen!«
- »Also gut, ich werde ihn heute bezahlen!«
- »Warum wollten Sie dann aber nicht schon früher bezahlen? Wozu mußten
- Sie den Wirt beunruhigen und die Polizei belästigen?«
- »Weil ich dieses Geld nicht angreifen möchte! Ich werde ihm heute abend
- alles bezahlen und sofort die Wohnung räumen, weil ich bei einem solchen
- Wirte nicht mehr bleiben will.«
- »Nun also, Iwan Iwanowitsch, er wird Ihnen alles bezahlen,« sagte der
- Kommissar, sich an den Wirt wendend. »Wenn es sich jedoch herausstellt,
- daß Sie heute abend nicht gebührend befriedigt werden, dann sollte es
- mir sehr leid tun, Herr Maler!«
- Sprach's, setzte seinen Dreispitz auf und ging zum Flur hinaus. Der Wirt
- folgte ihm mit gesenktem Kopf und anscheinend etwas nachdenklich auf dem
- Fuße.
- »Gott sei Dank, der Teufel hat sie geholt!« sagte Tschartkow, als er
- hörte, daß die Tür des Vorzimmers sich hinter ihnen geschlossen hatte.
- Er warf noch einen Blick in den Flur, schickte Nikita fort, um ganz
- allein zu bleiben, schloß die Tür hinter ihm ab und begann, nachdem er
- wieder in sein Zimmer zurückgekehrt war, unter heftigem Herzklopfen die
- Rolle zu öffnen. Wahrhaftig! sie enthielt lauter glänzende Dukaten, die
- alle ohne Ausnahme neu geprägt waren und wie Feuer funkelten! -- Wie
- wahnsinnig hockte er über dem Goldhaufen und fragte sich immer und immer
- wieder: »Ist das alles nicht doch nur ein Traum?« Die Rolle enthielt
- genau tausend Goldstücke. Äußerlich glichen sie völlig denen, die er im
- Traum gesehen hatte. Einige Minuten wühlte er prüfend in ihnen herum und
- konnte sich noch immer nicht beruhigen. In seiner Phantasie lebten
- plötzlich alle Geschichten von Schätzen und Schatullen mit Geheimfächern
- auf, die vorsorgliche Ahnen ihren Enkeln in der sicheren Voraussicht
- ihres zukünftigen Ruins hinterlassen hatten. Er dachte sich: »Vielleicht
- hatte auch in diesem Falle irgend ein Großvater den Einfall, seinem
- Enkel ein Geschenk zu hinterlassen, indem er es in dem Rahmen eines
- Familienporträts verbarg.« Voll von romantischen Vorstellungen fing er
- sogar an, darüber nachzudenken, ob nicht etwa zwischen diesem Vorfall
- und seinem Schicksale irgend eine geheime Verbindung bestände, ob nicht
- gar dieses Porträt irgendwie mit seinem Leben verknüpft wäre, und ob es
- nicht von einer geheimnisvollen Macht vorausbestimmt gewesen sei, daß er
- es erwerben sollte. Neugierig betrachtete er den Rahmen des Porträts. An
- einer Seite war eine Rinne ausgehöhlt, die so geschickt und unmerklich
- von einem Brettchen verdeckt wurde, daß die Dukaten hier bis in alle
- Ewigkeit ungestört verblieben wären, hätte nicht die gründliche Hand des
- Polizeikommissars dort einen Einbruch verübt. Er betrachtete das Porträt
- und bewunderte immer wieder die vollkommene Arbeit und die ungewöhnliche
- Zeichnung der Augen. Jetzt kamen sie ihm gar nicht mehr schrecklich vor,
- ließen jedoch noch immer ein unangenehmes Gefühl in seinem Innern
- zurück. »Nein,« sagte er zu sich selbst, »wessen Großvater du auch sein
- magst, ich werde dich doch mit Glas bedecken und dir einen goldenen
- Rahmen anfertigen lassen.« Hierbei ließ er die Hand auf den vor ihm
- liegenden Goldhaufen fallen und sein Herz begann infolge dieser
- Berührung heftig zu pochen. »Was nun tun?« dachte er, während er die
- Blicke auf das Geld richtete. »Jetzt bin ich mindestens für drei Jahre
- gesichert, ich kann mich in meiner Mansarde einschließen und arbeiten.
- Jetzt habe ich Geld genug für Farben, Essen, Trinken, Tee, und für die
- sonstigen Lebensbedürfnisse sowie für die Wohnung. Stören und belästigen
- wird mich jetzt niemand mehr. Ich werde mir eine vorzügliche
- Gliederpuppe kaufen, werde mir einen Gipstorso bestellen, werde mir Füße
- modellieren lassen, eine Venus aufstellen, Stiche nach den besten
- Bildern anschaffen, und, wenn ich dann diese drei Jahre für mich allein
- ohne Übereilung und ohne an den Verkauf zu denken, arbeite, überhole ich
- alle meine Kollegen und kann ein tüchtiger Künstler werden.«
- So sprach er im Einklang mit der Vernunft, die ihm diesen guten Vorsatz
- eingab. Aber aus seinem Inneren ertönte eine andere Stimme vernehmlicher
- und klangvoller, und als er noch einmal auf das Gold blickte, da
- erwachten ganz andere Gefühle in ihm: die Bedürfnisse seiner
- zweiundzwanzig Jahre, die Sehnsucht einer stürmenden Jugend! Jetzt war
- alles in seiner Macht, was er bisher nur mit neiderfüllten Augen
- angeschaut, was er nur von der Ferne bewundert hatte, während ihm das
- Wasser im Munde zusammenlief. Hei, wie ihm das Herz zu pochen begann,
- als er nur daran dachte, sich einen modernen Frack anzuziehn, nach dem
- langen Fasten endlich einmal über die Stränge zu schlagen, sich eine
- schöne Wohnung zu mieten und sich sogleich ins Theater und in eine
- Konditorei zu begeben. Er steckte das Geld in die Tasche und trat auf
- die Straße hinaus.
- Vor allem ging er zum Schneider, ließ sich vom Kopf bis zu den Füßen neu
- einkleiden, wobei er sich unaufhörlich wie ein Kind anstaunte, kaufte
- Parfüms und Pomade, mietete sich -- ohne lange zu handeln -- eine
- vornehme Wohnung auf dem Newski-Prospekt mit Spiegeln und großen
- Fensterscheiben, erstand ebenfalls, ohne sich zu besinnen in einem Laden
- eine teure Lorgnette und eine Unmenge von Krawatten, -- weit mehr als er
- überhaupt nötig hatte --, ließ sich von einem Friseur die Locken
- kräuseln, fuhr zweimal in einer eleganten Equipage ohne jeden Zweck
- durch die Stadt, aß sich in einer Konditorei an Konfitüren satt, und
- ging dann ins Restaurant »Zum Franzosen«, von dem er bis jetzt nicht
- mehr Ahnung hatte als von dem Reiche der Mitte. Dort speiste er stolz
- wie ein Spanier, warf hochmütige Blicke auf seine Mitgäste und strich
- sich vor dem Spiegel unaufhörlich die gebrannten Locken zurecht; er
- trank sogar eine Flasche Champagner, den er bis dahin ebenfalls nur vom
- Hörensagen kannte. Der Wein benebelte sein Hirn ein wenig, und so trat
- er denn animiert, angeheitert und keck oder wie man in Rußland zu sagen
- pflegt: »Selbst dem Teufel kein Bruder!« auf die Straße. Wie ein Geck
- spazierte er den Bürgersteig entlang und warf nachlässige Blicke durch
- seine Lorgnette auf die Passanten; auf der Brücke gewahrte er seinen
- früheren Professor und huschte keck an ihm vorbei, als hätte er ihn gar
- nicht bemerkt, so daß der verdutzte Professor noch lange unbeweglich
- stehen blieb wie ein personifiziertes Fragezeichen ...
- Alle seine Sachen und alles, was er noch besaß, die Staffelei, die
- Bilder, die Leinewand, hatte er noch am selben Abend in seine
- prachtvolle Wohnung bringen lassen; das Bessere stellte er an
- exponierten Stellen auf, das Minderwertige warf er in die Ecke; dann
- schritt er in den glänzenden Zimmern auf und ab wie ein Pfau, wobei er
- sich unaufhörlich im Spiegel betrachtete. In seiner Seele erwachte
- sofort das unüberwindliche Verlangen, den Ruhm bei den Haaren zu packen
- und sich der ganzen Welt zu zeigen. Schon war es ihm, als hörte er Rufe
- wie die folgenden: »Tschartkow! Tschartkow! Haben Sie das Bild von
- Tschartkow gesehen? Über was für eine rasche Pinselführung doch der
- Tschartkow verfügt! Was für ein mächtiges Talent dieser Tschartkow
- besitzt!« Verträumt ging er wieder durch sein Zimmer und war bald in wer
- weiß welche Regionen entrückt. Gleich am andern Tage begab er sich mit
- einem Dutzend Dukaten zu dem Herausgeber eines vielgelesenen Blattes, um
- sich dessen großmütigen Beistand zu erbitten; er wurde von dem
- Journalisten, der ihn sofort »Geehrter Herr« anredete, ihm beide Hände
- drückte, und sich eingehend nach seinem Vor- und Vatersnamen und nach
- seiner Adresse erkundigte, aufs gastfreundlichste empfangen, -- und
- schon am nächsten Tage erschien in der Zeitung gleich hinter einer
- Ankündigung von neu in den Handel gebrachten Talgkerzen ein Artikel mit
- folgender Überschrift:
- »_Ein ungewöhnliches Talent!_ Der Maler Tschartkow.
- Wir beehren uns, die gebildeten Einwohner der Hauptstadt mit einer --
- man kann ruhig sagen -- in jeder Beziehung herrlichen und
- außerordentlichen Entdeckung zu erfreuen. Alle sind darin einig, daß wir
- viele bezaubernde Physiognomien und Gesichter von wunderbarer Schönheit
- besitzen, nur gab es bis jetzt kein Mittel, sie auf die wundertätige
- Leinewand zu übertragen und sie dadurch der Nachkommenschaft zu
- erhalten. Jetzt ist diesem Mangel abgeholfen. Ein Künstler ist uns
- erstanden, der alles in sich vereinigt, was uns not tut. Von nun ab darf
- jede Schönheit fest davon überzeugt sein, daß sie sich mit der ganzen
- Grazie ihres ätherischen, leichten, faszinierenden und wunderbaren
- Reizes im Porträt wiederfinden wird ... Der ehrwürdige Familienvater
- wird sich von seiner Familie umgeben erblicken, der Kaufmann, der
- Krieger, der Bürger, der Staatsmann können ihre glorreiche Laufbahn
- ruhig fortsetzen. Eilt, eilt alle von einem Fest, von einem
- Spaziergange, von einem Besuche bei einem Freunde, bei einer Kusine,
- oder aus einem eleganten Laden, eilt hin zu ihm, zu diesem großen
- Künstler. Das herrliche Atelier des Malers Newski-Prospekt Nr. .. steckt
- voller Porträts, die von seinem Pinsel herrühren und eines Van Dyck oder
- Tizian würdig sind. Man weiß nicht, worüber man sich mehr wundern soll:
- über den Realismus, die Ähnlichkeit mit den Originalen, oder über die
- ungewöhnliche Kraft und Frische der Pinselführung. Preis Dir, mein
- Künstler, Du hast das große Los gezogen. Vivat, Andrei Petrowitsch! (Der
- Journalist hatte anscheinend viel für das Familiäre übrig.) Bedecke Dich
- und uns mit ewigem Ruhme, wir wissen es wohl, Dich zu würdigen;
- allgemeines Aussehen, ein gewaltiger Zuspruch und zugleich damit
- Reichtum und Wohlstand -- obwohl sich einige Journalisten aus unserer
- Mitte auch dagegen auflehnen werden -- wird Dein Lohn sein.«
- Mit heimlichem Vergnügen sah der Künstler diese Anzeige; sein Gesicht
- strahlte. In der Presse wurde über ihn geredet, das war etwas ganz Neues
- für ihn. Mehrere Male hintereinander überlas er die Zeilen. Der
- Vergleich mit Van Dyck und Tizian schmeichelte ihm sehr. Der Satz »Vivat
- Andrei Petrowitsch« erweckte ebenfalls sein Wohlgefallen. Er wurde auf
- bedrucktem Papier mit Vor- und Vaternamen genannt, eine Ehrung, die er
- bis dahin noch nicht gekannt hatte. Er begann rasch, im Zimmer auf- und
- abzugehen, und sich mit den Fingern durch die Haare zu fahren; bald
- setzte er sich in ein Fauteuil, bald sprang er wieder auf und ließ sich
- auf dem Diwan nieder, indem er sich fortwährend vorstellte, wie er die
- Besucher empfangen würde, dann trat er an eine Leinewand heran und
- pinselte keck darauf los, immer bestrebt, der Hand recht graziöse
- Bewegungen abzulocken.
- Schon am folgenden Tage schellte es an der Türe, und er beeilte sich,
- sie zu öffnen. Eine Dame, in Begleitung eines Lakaien in einer
- pelzgefütterten Livree, und ihrer Tochter, eines jungen achtzehnjährigen
- Mädchens, betrat das Atelier.
- »Sind Sie Monsieur Tschartkow?« fragte die Dame. Der Künstler verneigte
- sich.
- »Es wird soviel über Sie geschrieben; Ihre Porträts sollen der Gipfel
- der Vollkommenheit sein.« Nach diesen einleitenden Worten bewaffnete die
- Dame ihr Auge mit einem Lorgnon und ließ die Blicke schnell über die
- nackten Wände gleiten. »Und wo sind Ihre Porträts?«
- »Man hat sie soeben abgeholt,« sagte der Künstler etwas verlegen. »Ich
- bin erst vor kurzem in diese Wohnung gezogen, und so kommt es, daß sie
- noch unterwegs sind ... sie sind noch nicht angekommen.«
- »Waren Sie in Italien?« fragte die Dame, indem sie ihr Lorgnon in
- Ermangelung eines andern Objektes für ihre Beobachtungen auf ihn selbst
- richtete.
- »Nein, ich war nicht dort, ich hatte aber immer die Absicht ... Übrigens
- habe ich es jetzt aufgeschoben ... Bitte hier ist ein Fauteuil ... Sind
- Sie nicht müde?«
- »Danke, ich habe sehr lange in meiner Equipage gesessen. Ah, hier!
- Endlich sehe ich eine Arbeit von Ihnen,« sagte die Dame, während sie an
- die gegenüberliegende Wand eilte und ihr Lorgnon auf die dort lehnenden
- Skizzen, Perspektiven und Porträts richtete. »_C'est charmant, Lise,
- venez-ici!_ Ein Zimmer im Stile von Teniers. Sieh doch diese Unordnung!
- Ein Tisch ... auf dem eine Büste steht, eine Hand, eine Palette ...
- Dieser Staub hier, siehst du, wie der Staub gemalt ist? _C'est
- charmant!_ -- Und hier eine andere Leinwand: eine Frau, die sich das
- Gesicht wäscht ... _Quelle jolie Figure!_ ... Ach, ein Bäuerlein! Liese,
- Liese ... ein Bäuerlein im russischen Hemd. Schau her, ein Bäuerlein!
- ... Also Sie malen nicht nur Porträts?«
- »O, das ist nur eine Bagatelle, ein Scherz! Lauter Skizzen!«
- »Sagen Sie bitte, was halten Sie von den heutigen Porträtisten? Nicht
- wahr, es gibt jetzt keinen solchen mehr, wie Tizian? Keine solche Kraft
- in der Farbengebung ... Keine solche ... wie schade, daß ich es Ihnen
- nicht russisch sagen kann. (Die Dame war eine Liebhaberin der Malerei
- und hatte bewaffnet mit ihrem Lorgnon alle Galerien Italiens
- durchwandert.) Allerdings Monsieur Nohl! Ach, wie der malt! Was für eine
- ungewöhnliche Pinselführung! Ich finde, daß in seinen Gesichtern sogar
- noch mehr Ausdruck enthalten ist, als in denen Tizians. Kennen Sie
- Monsieur Nohl?«
- »Wer ist dieser Nohl?« fragte der Maler.
- »Monsieur Nohl? oh, das ist ein Talent! Er hat meine Tochter gezeichnet,
- als sie noch zwölf Jahre alt war. Sie müssen unbedingt zu uns kommen --
- Liese, du wirst ihm dein Album zeigen! Wissen Sie, wir sind in der
- Meinung hierhergekommen, daß Sie sofort ein Porträt von Liese in Angriff
- nehmen würden.«
- »Aber mit Vergnügen, ich stehe Ihnen sogleich zu Diensten.« Sofort schob
- er die Staffelei mit einem präparierten Keilrahmen heran, nahm die
- Palette in die Hand und heftete den Blick auf das blasse Gesichtchen der
- Tochter. Wäre er ein Kenner der menschlichen Natur gewesen, er hätte in
- diesem Gesichte sogleich die ersten Spuren einer kindlichen Leidenschaft
- für Bälle, einer peinigenden Unzufriedenheit über die Länge der Zeit vor
- und nach dem Mittagessen, den Wunsch, sich in einem gewissen Kleide auf
- einem Gartenfest sehen zu lassen, die drückenden Folgen eines
- erheuchelten Eifers für die verschiedensten Künste, zu dem sie die
- Mutter zur Erbauung der Seele und Erhebung des Gefühls zwang, bemerkt.
- Allein der Künstler entdeckte in diesem zarten Antlitz nichts wie eine
- lockende Aufgabe für seinen Pinsel: eine fast porzellanartige
- Durchsichtigkeit des Körpers, ein entzückendes leichtes Vibrieren, ein
- dünnes, zartes Hälschen und eine aristokratische Zierlichkeit der Figur.
- Und er bereitete sich schon im voraus auf einen Triumph; endlich war die
- Gelegenheit da, den Schwung und den Glanz seines Pinsels, der sich bis
- dahin nur an den rohen Zügen ordinärer Modelle, an langweiligen Antiken
- und Kopien nach einigen klassischen Meistern versucht hatte, zu
- offenbaren. Und er stellte sich schon vor, wie dieses duftige Gesicht
- ihm von der Leinwand entgegenblicken werde.
- »Wissen Sie,« sagte die Dame mit einem fast rührenden Ausdruck, »ich
- möchte ... sie hat jetzt dieses Kleid an ... mir wäre es offengestanden
- lieber, daß sie ein Kleid trüge, an das wir schon gewöhnt sind. Es wäre
- mir lieb, wenn sie ganz einfach gekleidet wäre und im Schatten eines
- Baumes säße ... mit einer Wiese im Hintergrunde und mit der Aussicht auf
- eine weidende Herde oder einen Hain, ich möchte nicht, daß es so
- aussähe, als fahre sie irgend wohin zu einem Ball oder zu einer
- modischen Soirée ... Offengestanden, unsere Bälle töten die Seele so
- sehr und morden jeden letzten Rest eines Gefühls; Einfachheit, mehr
- Einfachheit! Nicht wahr?« Doch ach, leider konnte man es sowohl der
- Mutter wie der Tochter vom Gesicht ablesen, daß sie sich alle beide auf
- allerhand Bällen so müde getanzt hatten, daß sie beinahe wie Wachs
- anzuschauen waren.
- Tschartkow machte sich ans Werk, ordnete die Haltung seines Modells an,
- überlegte sich alles reiflich, nahm mit dem Pinsel das Maß, kniff das
- eine Auge ein wenig zu, warf den Kopf zurück, fixierte die junge Dame
- von weitem und begann zunächst eine Skizze zu entwerfen, die er in einer
- Stunde beendigte. Da er mit seiner Arbeit zufrieden war, machte er sich
- sofort an die eigentliche Ausführung. Das Schaffen riß ihn vollkommen
- hin, er hatte sogar schon die Gegenwart der aristokratischen Damen
- vergessen, kehrte hin und wieder zu seinen Bohèmegepflogenheiten zurück,
- indem er sich durch einige Ausrufe anfeuerte, und machte zuweilen
- halblaute Bemerkungen, wie es so die Art eines Künstlers ist, wenn er
- sich mit ganzer Seele seinem Werke hingibt. Ohne viel Umstände zu
- machen, ließ er auf einen Wink des Pinsels hin das Modell, das sich
- schließlich zu bewegen begann und eine starke Müdigkeit erkennen ließ,
- den Kopf hochheben.
- »Genug, fürs erste Mal wird es wohl genug sein!« sagte die Dame. »Nein
- bitte, noch ein wenig,« bat der eifrige Maler.
- »Nein, es ist Zeit! Liese, es ist schon 3 Uhr!« versetzte die Dame, zog
- ihre kleine, an einer goldnen Kette vom Gürtel herabhängende Uhr hervor
- und rief ganz überrascht aus: »Ach wie spät!«
- »Nur noch ein Augenblickchen,« sagte Tschartkow mit der einfältigen und
- bittenden Gebärde eines Kindes.
- Jedoch die Dame war diesmal offenbar nicht geneigt, seinen
- künstlerischen Wünschen nachzugeben, versprach ihm aber dafür, ein
- anderes Mal länger zu bleiben.
- »Das ist doch ärgerlich!« dachte Tschartkow, »meine Hand war gerade in
- Schwung gekommen.« Und er erinnerte sich daran, wie er von niemandem
- gestört und gehindert wurde, als er noch in seinem Atelier auf der
- Wassilij-Insel arbeitete. Nikita pflegte gewöhnlich ganz regungslos auf
- einem Flecke zu sitzen, man konnte ihn malen, so lange man wollte, ja,
- er schlief sogar in der gewünschten Stellung ein. Unzufrieden legte
- Tschartkow Pinsel und Palette auf den Stuhl und blieb verdrießlich vor
- der Leinwand stehn.
- Ein Kompliment der vornehmen Dame weckte den Nachdenklichen aus seinem
- Traume, er stürzte schnell zur Tür, um die Damen hinauszugeleiten. Auf
- der Treppe erhielt er die Einladung, in der nächsten Woche bei ihnen zu
- dinieren, und kehrte mit fröhlicher Miene in sein Zimmer zurück. Die
- aristokratische Dame hatte ihn vollkommen bezaubert -- bis dahin hatte
- er solche Geschöpfe als etwas für ihn Unerreichbares angesehen, als
- Wesen, die nur dazu geboren sind, in prächtigen Equipagen mit Dienern in
- kostbaren Livreen und gallonierten Kutschern an armen Sterblichen, wie
- er, vorbeizusausen und einen im verschlissenen Mantel zu Fuß
- einherschreitenden Burschen mit einem gleichgültigen Blick zu streifen.
- Mit einem Male aber war eines dieser Wesen zu ihm in seine Wohnung
- gekommen; er malte dessen Porträt und war zu einem Diner in ein
- aristokratisches Haus eingeladen. Eine ganz ungewöhnliche Zufriedenheit
- bemächtigte sich seiner, er war vollständig trunken vor Freude und
- belohnte sich für seine gute Laune mit einem famosen Souper, einem
- Theaterbesuch und einer nochmaligen ziellosen Spazierfahrt in einer
- Equipage durch die Stadt.
- Während all dieser Tage kam ihm seine gewohnte Arbeit gar nicht in den
- Sinn; er war nur mit Vorbereitungen auf den Besuch beschäftigt, und
- wartete auf den Augenblick, wo die Glocke zu ertönen pflegte. Endlich
- erschien die Dame mit ihrer blassen Tochter wieder. Er ließ sie Platz
- nehmen, rückte die Leinewand schon mit einer gewissen Sicherheit und mit
- den Prätensionen eines Mannes von feinen Manieren zurecht, und begann
- seine Arbeit. Der sonnige Tag und die gute Beleuchtung leisteten ihm
- große Dienste. Er entdeckte an seinem duftigen Modell eine Menge von
- Einzelheiten, deren Beachtung und Fixierung auf der Leinewand dem
- Porträt einen hohen Wert verleihen konnten. Er sah, daß es wohl möglich
- war, etwas Besonderes zu leisten, wenn er alles so vollkommen
- darzustellen vermochte, wie es ihm jetzt in der Natur entgegentrat. Sein
- Herz fing leicht zu klopfen an, weil er die Kraft in sich fühlte, etwas,
- was andere noch nicht bemerkt hatten, zum Ausdruck zu bringen. Die
- Arbeit nahm ihn ganz in Anspruch, er gab sich ihr völlig hin und vergaß
- bald wieder die aristokratische Herkunft des Originals; mit benommenem
- Atem stellte er fest, wie die zarten Züge und der fast durchsichtige
- Körper des siebenzehnjährigen Mädchens allmählich auf der Leinwand
- erschienen. Keine noch so zarte Nuance entging ihm, er traf den leichten
- gelben Ton, einen kaum merklichen bläulichen Schimmer unter den Augen --
- und war sogar schon im Begriff, einen kleinen Pickel, der sich auf der
- Stirne befand, zu verzeichnen, als er plötzlich neben sich die Stimme
- der Mutter vernahm. »Ach nein, wozu nur? Das ist nicht nötig! Auch hier
- haben Sie ... hier an einigen Stellen scheint es mir etwas zu gelb zu
- sein, und auch dies sieht ganz aus, wie ein dunkler Flecken.« Der Maler
- fing an zu erklären, daß sich gerade diese Pünktchen und die gelbe Farbe
- besonders gut machten, weil sie im Gesicht als angenehme und leichte
- Töne wirkten. Er erhielt jedoch zur Antwort, daß das überhaupt keine
- Töne seien, daß sie sich garnicht gut ausnähmen, und daß es ihm nur so
- vorkäme. »Aber so erlauben Sie mir doch wenigstens, hier, an dieser
- einen Stelle, etwas Gelb aufzutragen!« bat der Künstler mit harmloser
- Miene. Indessen gerade das wurde ihm nicht erlaubt. Man erklärte ihm,
- daß Liese heute bloß nicht in Stimmung sei, daß sie sonst ganz und gar
- nicht gelb aussehe, und daß ihr Gesicht im Gegenteil durch die Frische
- seines Teints überrasche. Traurig machte er sich daran, die
- beanstandeten Spuren seines Pinsels von der Leinewand zu tilgen. Viele
- fast unmerkliche Züge mußten schwinden, und mit Ihnen schwand zum Teil
- auch die Ähnlichkeit dahin. Gleichgültig begann er dem Bilde jenes
- konventionelle Kolorit mitzuteilen, das sich von vornherein ganz
- mechanisch und wie von selbst einstellt und auch einem nach der Natur
- gemalten Gesicht eine gewisse kühle Idealität verleiht, wie wir sie auf
- Schülerprogrammen antreffen. Die Dame war jedoch sehr zufrieden, daß
- nunmehr das Verletzende der Farbengebung gänzlich vermieden wurde. Sie
- drückte nur ihr Erstaunen darüber aus, daß die Arbeit so langsam vor
- sich ging, und fügte hinzu, sie hätte gehört, er könnte schon in zwei
- Sitzungen ein vollständiges Porträt malen. Der Maler fand hierauf keine
- Antwort. Die Damen erhoben sich und wollten fortgehen. Er legte den
- Pinsel nieder, geleitete sie bis an die Tür und blieb lange Zeit in
- trüber Stimmung vor seinem Porträt stehen.
- Er starrte es stumm und gedankenlos an; inzwischen aber schwebten jene
- zarten weiblichen Züge, jene Schatten und luftigen Töne, die er bemerkt,
- und die sein Pinsel dann so schonungslos vernichtet hatte, vor seinem
- Auge. Ganz von ihnen erfüllt, stellte er das Porträt beiseite und suchte
- aus irgend einer Ecke seine »Psyche« hervor, die er vor längerer Zeit
- einmal flüchtig skizziert hatte. Es war ein graziös hingemaltes, aber
- rein ideales und kaltes Gesichtchen, das bloß allgemeine und wenig
- charakteristische Züge aufwies und noch auf keinem lebendigen Körper
- saß. Er begann diese Züge mit dem Pinsel nachzuziehen, während er sich
- dabei an alles erinnerte, was sein scharfes Auge an dem Antlitze seiner
- aristokratischen Besucherin bemerkt hatte. Die von ihm erfaßten Linien,
- Schatten und Töne nahmen hierbei jene verklärte Form an, wie sie dem
- Künstler erscheinen, wenn er die Natur genügend in sich aufgenommen hat,
- sich nunmehr von ihr entfernt und ein ihr ebenbürtiges Werk schafft. Die
- Psyche lebte allmählich wieder auf, und der Gedanke, der ihn kaum
- flüchtig bewegt hatte, nahm wieder Fleisch und Blut an. Der
- Gesichtstypus der vornehmen jungen Dame teilte sich von selbst der
- Psyche mit, und dadurch erhielt sie einen eigenartigen Ausdruck, der ihr
- das Recht auf den Namen eines wahrhaft originellen Werkes verleihen
- durfte. Er hatte gleichsam in den Einzelheiten und im Ganzen ausgenutzt,
- was ihm das Original bot, und war von seiner Arbeit vollkommen
- hingerissen. Einige Tage lang beschäftigte er sich nur mit ihr, da
- überraschte ihn zufällig das Eintreten der bekannten Damen bei dieser
- Arbeit. Er hatte keine Zeit, das Bild von der Staffelei zu entfernen;
- die beiden Damen stießen einen frohen Ruf des Erstaunens aus und
- schlugen die Hände zusammen.
- »_Lise, Lise!_ ach, wie ähnlich! _Superbe, superbe!_ Was für ein schöner
- Einfall, sie in einem griechischen Kostüm zu malen! Welche
- Überraschung!«
- Der Künstler wußte nicht, wie er die Damen über ihren angenehmen Irrtum
- aufklären sollte. Verlegen und mit gesenktem Kopf bemerkte er leise:
- »Das ist Psyche!«
- »Als Psyche? _C'est charmant!_« sagte die Mutter lächelnd zu ihrer
- gleichfalls lächelnden Tochter. »Nicht wahr, _Lise_, so machst du dich
- am besten, so als Psyche, nicht? _Quelle idée délicieuse!_ Aber was für
- eine Arbeit! Das ist ja ein Correggio! Offengestanden, ich habe zwar von
- Ihnen gelesen und gehört, ich wußte aber doch nicht, daß Sie ein solches
- Talent sind. Nein, Sie müssen unbedingt auch noch _mein_ Porträt malen!«
- Die Dame wollte sich offenbar gleichfalls als Psyche präsentieren ...
- »Was soll ich mit ihnen anfangen?« dachte der Künstler. »Wenn sie es
- selbst durchaus wollen, gebe ich einfach die »Psyche« für das aus, was
- ihnen am meisten behagt!« Und er sagte laut: »Belieben Sie noch für eine
- Weile Platz zu nehmen. Ich möchte hier noch einen Tupfen auftragen!«
- »Ach, ich fürchte, daß Sie hier irgend etwas ... Sie ist jetzt so
- ähnlich.«
- Aber der Künstler merkte wohl, daß sich ihre Befürchtungen nur auf
- gelben Ton bezogen, und beruhigte sie, indem er sagte, daß er den Augen
- nur noch etwas mehr Glanz und Ausdruck geben wolle. In Wirklichkeit aber
- war es ihm zu peinlich zumute, er wollte wenigstens die Ähnlichkeit mit
- dem Original noch etwas verstärken, damit ihm wenigstens niemand seine
- Schamlosigkeit zum Vorwurf machen könne. Und in der Tat, das Antlitz
- ließ bald immer deutlicher die Züge des blassen Mädchens erkennen.
- »Genug,« sagte die Mutter, die zu fürchten begann, daß die Ähnlichkeit
- allzu groß werden könnte. Dem Künstler wurde durch ein Lächeln, durch
- Geld, Komplimente, herzliche Händedrücke und eine Einladung zum Diner
- eine reichliche Belohnung zuteil: mit einem Worte, er wurde nur so
- überschüttet mit Schmeicheleien und höchsten Zeichen der Anerkennung.
- Das Porträt erregte in der Stadt Aufsehen. Die Damen zeigten es ihren
- Freundinnen; alle bewunderten die Kunst, mit der der Maler es verstanden
- hatte, die Ähnlichkeit zu wahren und dem Original dennoch Schönheit und
- Liebreiz zu verleihen. Dieser Punkt wurde natürlich nicht ohne einen
- leichten Anflug von Neid festgestellt, und mit einem Male war der
- Künstler mit Arbeiten überhäuft. Fast schien es, als wollte die ganze
- Stadt sich bei ihm porträtieren lassen. Im Flur ertönte jeden Augenblick
- die Glocke. -- Dieser äußere Erfolg konnte zwar sein Glück ausmachen, da
- er ihm eine große Praxis verschaffte, und die Mannigfaltigkeit und die
- Zahl der Gesichter, die er malen mußte, war in der Tat sehr groß. Leider
- waren es jedoch alles Menschen, mit denen man nur schwer auskommen
- konnte, eilige, beschäftigte Menschen oder Personen, die der großen
- Gesellschaft angehörten und infolgedessen noch mehr als alle anderen
- abgehetzt und aufs äußerste ungeduldig waren.
- Die einzige Forderung, die von allen Seiten an ihn gestellt wurde, war
- diese, daß er was Gutes leisten und möglichst schnell arbeiten solle.
- Bald sah der Maler die Unmöglichkeit ein, seine Porträts sorgfältig
- auszuführen, er gelangte vielmehr zur Überzeugung, daß man die genauere
- Charakteristik durch einen leichten und flotten Pinselstrich ersetzen,
- nur das große Ganze, den allgemeinen Ausdruck festhalten müsse und sich
- nicht mit besonderen subtilen Einzelheiten abgeben dürfe: mit einem
- Worte, er begriff, daß er es sich nicht erlauben konnte, die Natur in
- ihrer ganzen Vollkommenheit wiederzugeben. Außerdem muß hinzugefügt
- werden, daß fast alle seine Modelle auch noch andere Wünsche geltend
- machten. Die Damen verlangten, daß hauptsächlich die Seele und das Wesen
- auf den Porträts betont, andere Züge dagegen unter Umständen durchaus
- hintangesetzt würden, daß alle Ecken abgerundet, alle Mängel verwischt
- oder wenn möglich ganz und gar ausgemerzt werden sollten, mit einem
- Worte, daß das Gesicht zur Bewunderung, wenn nicht gar zur Anbetung
- reizen solle. Daher nahmen, wenn sie zur Sitzung kamen, ihre Mienen
- einen solchen Ausdruck an, daß der Künstler aufs höchste erstaunt war.
- Die eine bemühte sich, eine gewisse Melancholie auf ihrem Gesichte
- wiederzuspiegeln, die andere nahm eine verträumte Pose an, die dritte
- wollte um jeden Preis den Mund kleiner erscheinen lassen und spitzte ihn
- so zu, bis er sich endlich in einen Punkt verwandelte, der nicht größer
- als ein Stecknadelknopf war. Trotz alledem aber verlangte man
- Ähnlichkeit und ungezwungene Natürlichkeit von ihm. Und die Herren waren
- nicht besser als die Damen. Der eine wollte mit einer kraftvollen,
- energischen Kopfhaltung dargestellt werden, der andere mit
- durchgeistigten und gen oben gerichteten Augen. Ein Gardeleutnant
- wünschte, daß Mars aus seinen Blicken hervorleuchte, ein Zivilbeamter
- hatte das Bestreben, möglichst viel Gradheit und Edelmut in seinen
- Gesichtsausdruck zu legen, stützte die Hand auf ein Buch, das die
- deutliche Aufschrift trug: »Ich bin stets für die Wahrheit
- eingetreten!«, und wollte in dieser Pose porträtiert sein. Anfangs trat
- dem Künstler infolge dieser Forderungen der Schweiß auf die Stirn, all
- dies mußte genau durchdacht werden, und doch räumte man ihm nur eine
- geringe Frist dafür ein. Schließlich jedoch begriff er den Kern der
- Sache und wurde nicht im geringsten mehr verlegen. Schon zwei, drei
- Worte reichten hin, ihn darüber zu belehren, wie sich ein jeder
- dargestellt wissen wollte. Wer nach einem Mars Verlangen trug, dem
- steckte er einen Mars ins Gesicht, wer es auf einen Byron abgesehen
- hatte, dem gab er eine byronische Haltung! Ob die Damen als Corinna, als
- Undine oder gar als Aspasia erscheinen wollten, war für ihn ohne jeden
- Belang: er willigte mit großem Vergnügen in alles ein und legte schon
- aus eigner Machtvollkommenheit einem jeden eine beträchtliche Dosis
- Wohlgeratenheit bei, bekanntlich eine Willkür, die nirgends Schaden
- stiften kann und für die man sogar mitunter eine gewisse Unähnlichkeit
- mit in den Kauf nimmt. Allmählich fing er selbst an, sich über die
- erstaunliche Schnelligkeit und Flottheit seines Pinsels zu wundern. Die
- Porträtierten aber waren ganz entzückt und erklärten ihn für ein Genie.
- Tschartkow wurde in jeder Beziehung ein Modemaler. Er begann, Diners zu
- besuchen und Damen in die Galerien und sogar auf Bälle und Feste zu
- begleiten, sich geckenhaft zu kleiden und laut zu behaupten, daß ein
- Künstler gesellschaftsfähig sein müsse, daß er sich standesgemäß zu
- betragen habe, daß sich die Maler im allgemeinen wie die Schuster
- kleiden, sich nicht anständig zu benehmen, den höheren Ton nicht zu
- wahren verstehen und jeder Bildung entbehren. Bei sich zu Hause im
- Atelier beobachtete er die peinlichste Reinlichkeit und Akkuratesse; er
- hielt sich zwei elegante Lakaien, nahm stutzerhafte Schüler an, kleidete
- sich mehrere Male am Tage um, ließ sich das Haar brennen, beschäftigte
- sich damit, verschiedene Gesten einzustudieren, mit denen er seine
- Besucher zu empfangen gedachte, und legte den größten Wert auf die
- Pflege seines Äußeren, um einen möglichst günstigen Eindruck auf die
- Damen zu machen, mit einem Wort, man konnte in ihm bald kaum noch jenen
- Künstler wiedererkennen, der einst unbemerkt und im stillen in seinem
- Kämmerlein auf der Wassilij-Insel gearbeitet hatte. Über Künstler und
- Kunst fällte er nur noch die anmaßendsten Urteile, er behauptete, man
- mäße den früheren Meistern zu viel Wert bei, denn sie alle mit Ausnahme
- von Raffael hätten keine lebendigen Menschen, sondern bloß Heringe
- geschaffen, und er erklärte, die Ansicht, daß ihnen etwas Heiliges
- innewohne, existiere nur in der Einbildung der Beschauer; ja selbst
- Raffael habe nicht nur vollendete Werke geschaffen und viele seiner
- Bilder genössen überhaupt nur aus einem gewissen Atavismus einen so
- hohen Ruhm; er schrie, daß Michelangelo ein Prahler sei, der nur durch
- Kenntnis der Anatomie imponieren wollte, daß er gar keine Grazie besäße,
- und daß man einen wirklichen Glanz, und die wahre Kraft der
- Pinselführung und des Kolorits nur in dem gegenwärtigen Zeitalter finden
- könne. Dann kam er naturgemäß auch auf sich selbst zu sprechen. »Ich
- verstehe nicht, wozu sich die Menschen so anstrengen,« pflegte er zu
- sagen, »da hocken und brüten sie über ihrer Arbeit: ein Mensch, der
- mehrere Monate hintereinander an einem Bilde herumtiftelt, ist meines
- Erachtens nichts als ein gewöhnlicher Tagelöhner und kein Künstler; ich
- kann nicht glauben, daß er Talent besitzt. Ein Genie schafft kühn und
- schnell. Sehen Sie,« pflegte er zu sagen, indem er sich an seine
- Besucher wandte, »dieses Porträt hier habe ich in zwei Tagen gemalt,
- dieses Köpfchen in einem Tage, dies hier nur in wenigen Stunden, und das
- dort in etwas mehr als einer Stunde. Nein, offengestanden, ich kann doch
- ein Werk nicht als Kunst gelten lassen, in dem Strich neben Strich
- gesetzt ist, nein, das ist Handwerkerarbeit und keine Kunst mehr.« So
- sprach er zu seinen Gästen, und diese bewunderten die Kraft und
- Leichtigkeit seiner Pinselführung, stießen Rufe des Erstaunens aus, wenn
- sie hörten, in wie kurzer Zeit die Werke entstanden waren, und teilten
- es nachher auch anderen mit. »Das ist ein Talent, o ein großes, wahres
- Talent! Sehen Sie nur, wie seine Augen glänzen, wenn er spricht. _Il y a
- quelque chose d'extraordinaire dans toute sa figure!_«
- Dem Künstler schmeichelte es, solche Reden über sich zu hören. Wenn er
- in den Journalen öffentlich gelobt und gepriesen wurde, dann freute er
- sich wie ein Kind, obgleich diese Lobeserhebungen von ihm für bares Geld
- gekauft worden waren. Er trug ein solches Zeitungsblatt immer mit sich
- herum und zeigte es gleichsam unabsichtlich all seinen Bekannten und
- Freunden. Und dies ergötzte ihn aufs höchste, so einfältig und naiv es
- war. Sein Ruhm wuchs, die Aufträge und Bestellungen mehrten sich; schon
- fing er an, der immer gleichen Porträts und Gesichter, deren Ausdruck er
- bereits auswendig kannte, überdrüssig zu werden. Schon malte er ohne
- große Begeisterung, indem er sich nur noch bemühte, den Kopf auf die
- Leinewand zu werfen; das übrige überließ er seinen Schülern. Früher
- suchte er wenigstens noch, seinen Porträts ein neues Moment
- abzugewinnen, durch eine neue Stellung, durch die Kraft der
- Pinselführung oder durch gewisse Effekte zu überraschen. Jetzt
- langweilte ihn auch dies allmählich. Das dauernde Grübeln und Suchen
- nach Neuem ermüdete seinen Geist. Er _konnte_ es bald auch gar nicht
- mehr, er hatte dazu auch keine Zeit. Die unregelmäßige Lebensweise und
- die Gesellschaft, in der er die Rolle eines Lebemanns zu spielen suchte,
- entfremdeten ihn der wirklichen Arbeit. Seine Pinselführung wurde kalt
- und stumpf, und erstarrte unmerklich in eintönigen, konventionellen,
- längst verbrauchten Formen. Die langweiligen, kalten, ewig gepflegten,
- ledernen oder sozusagen zugeknöpften Gesichter der Beamten, der
- militärischen wie der zivilen, boten dem Pinsel in der Tat keinen großen
- Spielraum. Die prächtigen Drapierungen, die starken Bewegungen und
- Leidenschaften hatte er völlig vergessen. Von künstlerischer
- Komposition, von dramatischem Leben, von einer erhabenen Steigerung war
- überhaupt nicht mehr die Rede. Vor seinen Augen schwirrten nichts wie
- Uniformen, Korsetts und Fräcke, alles Dinge, die einen Künstler kalt
- lassen und die jede Phantasie ertöten. Selbst die am leichtesten zu
- erreichenden Vorzüge gingen seinen Arbeiten jetzt ab, trotzdem aber
- fanden sie immer noch Anerkennung, wenn auch wirklich Kenner und
- Künstler angesichts seiner letzten Bilder nur mit den Achseln zuckten.
- Die wenigen, die Tschartkow von früher her kannten, vermochten nicht zu
- verstehen, wie ein Talent, dessen Stärke sich schon in dem jungen
- Schüler gezeigt hatte, so zugrunde gehen konnte, und sie bemühten sich
- vergebens, zu erraten, wie in einem Menschen plötzlich die Begabung
- erlöschen könne, in demselben Augenblick, wo seine Kräfte erst eben zu
- voller Entfaltung gekommen waren.
- Aber der von seinen Erfolgen trunkene Künstler hörte alle diese
- Äußerungen nicht. Schon begann er zu altern, mit den Jahren bemächtigte
- sich seiner eine gewisse geistige Schwerfälligkeit, er wurde allmählich
- immer dicker und ging sichtlich in die Breite. Schon las er in den
- Zeitungen und Journalen Epitheta wie die folgenden: »Unser verehrter
- Andrej Petrowitsch!« »Unser hochverdienter ...!« Schon bot man ihm
- Ehrenämter an, lud ihn zu Prüfungen ein und wählte ihn in verschiedene
- Komitees, schon trat er, wie es im gesetzteren Alter immer zu geschehen
- pflegt, entschieden für Raffael und die alten Meister ein, nicht weil er
- durchaus von ihrem hohen Werte durchdrungen war, sondern nur deshalb, um
- sie als Angriffswaffe gegen seine jüngeren Kollegen zu benutzen. Schon
- vergnügte er sich damit, nach Art älterer Herren der ganzen Jugend ohne
- Ausnahme Sittenlosigkeit oder eine tadelnswerte Geistesrichtung zum
- Vorwurf zu machen. Schon neigte er sich der Auffassung zu, daß alles in
- der Welt ganz einfach und wie von selbst vor sich gehe, daß es keine
- Inspiration gebe und daß alles einem strengen Regiment, der Ordnung und
- einer monotonen Regelmäßigkeit unterworfen sein müsse, -- mit einem
- Wort, er war bereits in jene Jahre gekommen, wo aller Sturm und Drang,
- der überhaupt jemals in einem Menschen pulsiert hat, zu verschwinden
- beginnt, wo die Töne des zauberhaften Bogens nur gedämpft an die Seele
- rühren und das Herz nicht mehr mit erschütternden Klängen umkreisen, wo
- der Kuß der Schönheit keine jungfräulichen Kräfte mehr in Flammen
- wandelt -- wo sich dafür aber alle verglühten Gefühle dem Klirren des
- Goldes um so zugänglicher erweisen, immer aufmerksamer auf seine
- verlockende Musik lauschen, ihr allmählich und unmerklich immer mehr
- Macht über sich einräumen und sich sanft von ihr einlullen lassen.
- Der Ruhm kann dem, der ihn gestohlen und nicht verdient hat, keinen
- Genuß gewähren. Nur den, der seiner würdig ist, erfüllt er ständig mit
- einem wonnigen Schauder. Und so wandten sich alle seine Empfindungen und
- Wünsche dem Golde zu. Das Gold wurde ihm Leidenschaft, Ideal,
- Schreckbild, Genuß und Lebenszweck. In seinen Tischen häuften sich
- Päckchen von Banknoten an, und wie jeder, dem dieses schreckliche
- Geschenk zuteil wird, verwandelte er sich nach und nach immer mehr in
- einen langweiligen, nur dem Golde zugänglichen, törichten Geizhals,
- einen sinnlosen Sammler, und er war schon auf dem besten Wege, zu einem
- jener Sonderlinge zu werden, deren es in unserer seelenlosen Welt gar
- viele gibt. Ein warmblütiger und gütiger Mensch betrachtet sie voll
- Entsetzen, ihm erscheinen sie als steinerne Särge, die sich vor ihm
- bewegen und einen leblosen Klumpen anstelle eines Herzens in sich
- bergen. Aber eine merkwürdige Begebenheit sollte bald sein ganzes Wesen
- durchrütteln und erschüttern.
- Eines Tages erblickte er auf seinem Tische ein Schreiben, in dem die
- Akademie der Künste ihn als ihr hochverehrtes Mitglied um sein
- Erscheinen und um sein Urteil über ein neues Werk bat, das aus Italien
- angekommen war und einen dort zur Vervollkommnung weilenden russischen
- Künstler zum Urheber hatte. Dieser Künstler war ein ehemaliger Freund
- von ihm, der seit langem die Leidenschaft für die Kunst in sich barg,
- und sich mit der feurigen Seele eines Fanatikers in seine Arbeit
- vergraben hatte; er hatte sich von all seinen Freunden und Verwandten,
- von allen lieben Gewohnheiten losgerissen und war in ein Land geeilt, wo
- ein herrlicher Himmel eine majestätische Kunst reifen läßt: in das
- überwältigende Rom, bei dessen Erwähnung eines Künstlers feuriges Herz
- stets voll und stürmisch zu schlagen pflegt. Dort versenkte er sich wie
- ein Einsiedler in sein Werk und in ein durch nichts abgelenktes Studium.
- Ihn kümmerte es wenig, daß sich die Menschen über sein seltsames Wesen
- aufhielten, daß man seine Unfähigkeit, sich in der guten Gesellschaft zu
- bewegen, seine Verachtung der konventionellen Formen tadelte und von dem
- Schaden sprach, den er dem Künstlerstande durch seinen ärmlichen,
- altmodischen Anzug zufügte. Es war ihm völlig gleichgültig, ob ihm seine
- Kollegen zürnten oder nicht, er hatte auf alles zugunsten der Kunst
- verzichtet und hatte ihr alles geopfert. Unermüdlich besuchte er die
- Galerien und Museen, er konnte stundenlang vor den Werken der großen
- Meister stehen und deren wundervolle Pinselführung studieren. Er
- vollendete kein Werk, bevor er sich angesichts dieser großen Vorbilder
- geprüft und sich aus ihren Werken einen stummen und doch so beredten Rat
- geholt hatte. An lärmenden Unterhaltungen und Streitigkeiten beteiligte
- er sich nie, er nahm weder für, noch gegen die Puristen Partei, sondern
- ließ allen die schuldige Anerkennung zuteil werden, indem er in allem
- nur das Schöne zu entdecken wußte, bis er sich endlich einzig und allein
- dem göttlichen Raffael als seinem Lehrmeister überließ, -- wie auch ein
- großer Dichter, der schon so viele verschiedene Werke voll Anmut und
- majestätischer Schönheit kennen gelernt hat, zuletzt nur noch Homers
- Ilias als die überragende Dichtung gelten läßt, nachdem er entdeckt hat,
- daß in diesem Epos alles enthalten ist, was man von einem Kunstwerk
- verlangen kann, und daß sich hier alles in höchster Vollkommenheit
- wiederspiegelt. Und so hatte er sich denn bei dieser beständigen Arbeit
- an sich selbst eine hervorragende Schaffenskraft, eine machtvolle
- Schönheit der Gedanken und die hohe Anmut einer schier überirdischen
- Pinselführung erworben.
- Als Tschartkow in den Saal eintrat, fand er bereits eine Menge von
- Besuchern vor, die vor dem Bilde standen. Eine tiefe Stille, wie sie nur
- selten unter so zahlreichen Kritikern herrscht, empfing ihn diesmal. Er
- beeilte sich, seinem Gesicht einen bedeutenden Ausdruck und eine
- tiefsinnige Kennermiene zu geben und trat vor das Bild. Aber, o Gott!
- was war das, was er da erblickte!
- Nein, makellos und herrlich wie eine Braut stand das Werk des Künstlers
- vor ihm. Bescheiden, göttlich, unschuldig und einfach wie das Genie
- selbst, schien es hoch über allem zu schweben. Es war, als senkten die
- himmlischen Gestalten, verwundert über so viele auf sie gerichteten
- Blicke, schamhaft ihre herrlichen Wimpern. Mit einem Gefühl
- unwillkürlichen Staunens starrten die Eingeweihten die neue, nie
- gesehene Pinselführung an. Hier schien alles vereinigt zu sein: Die
- Schulung an Raffael, die sich in der hohen Vornehmheit der Haltung, und
- die an Corregio, die sich in der vollkommenen Technik verriet. Aber den
- gewaltigsten Eindruck machte die in der Seele des Künstlers wirkende
- Schöpferkraft. Jedes kleinste Detail des Gemäldes war von ihr
- durchdrungen; alles atmete eine strenge Gesetzmäßigkeit und innere
- Kraft; jedes Ding ließ jene wundervoll schwebende und fließende Rundung
- der Linien erkennen, die nur der Natur eigen ist und die nur das Auge
- des schaffenden Künstlers sieht, bei dem Nachahmer und Kopisten aber
- stets eckig und hart erscheint. Man fühlte ganz deutlich, wie der
- Künstler alles, was er der äußeren Welt entnommen, in sich, in seiner
- Seele verschlossen hatte, um es erst später aus dieser geistigen Quelle
- gleich einem harmonischen, feierlichen Liede hervorsprudeln zu lassen.
- Und sogar den Uneingeweihten wurde klar, was für ein unermeßlicher
- Abgrund zwischen einem Kunstwerk und einer einfachen Kopie der Natur
- gähnt. Es ist unmöglich, jene ungewöhnliche Stille zu schildern, die
- alle Anwesenden beobachteten, während sie ihre Augen auf das Bild
- gerichtet hatten. Kein Knistern, kein Laut störte die andächtige
- Stimmung. Die Wirkung des Bildes hatte sich inzwischen nur noch
- verstärkt. Strahlend und wie ein unbegreifliches Wunder löste es sich
- von allem Irdischen los, um sich schließlich ganz in einen Augenblick --
- die Frucht eines dem Künstler vom Himmel eingegebenen Gedankens -- zu
- verwandeln, in einen Moment, dem das ganze menschliche Leben nur als
- Vorbereitung dient. Unwillkürlich wandelte die das Bild umringenden
- Beschauer das Bedürfnis zu weinen an; es schien, als hätten sich alle
- Kunstanschauungen, alle dreisten, regellosen und willkürlichen
- Abweichungen des Geschmacks hier zu einem wortlosen Hymnus auf das
- göttliche Werk vereinigt.
- Unbeweglich, mit offenem Munde stand Tschartkow vor dem Bilde, und erst
- als schließlich doch eine kleine Bewegung durch die Reihen der Besucher
- und Autoritäten ging, als man sich laut über den Wert des Werkes zu
- unterhalten begann, als man sich schließlich auch an Tschartkow mit der
- Bitte wandte, sein Urteil abzugeben, kam er wieder zu sich, versuchte
- seine gewöhnliche gleichmütige Miene aufzusetzen und war eben im
- Begriff, ein paar Plattheiten zu äußern, wie man sie wohl von
- verknöcherten Routiniers zu hören bekommt. Er wollte schon sagen: »Hm,
- gewiß, man kann dem Maler ja nicht alles Talent absprechen; Talent hat
- er, das ist unleugbar. Man sieht, daß er etwas ausdrücken will. Was aber
- die Hauptsache betrifft,« -- und hierauf sollten natürlich einige
- lobende Worte folgen, die keinem Künstler gut bekommen wären. Aber er
- führte seine Absicht nicht aus, die Rede erstarb auf seinen Lippen,
- statt dessen drangen Tränen und Seufzer leidenschaftlich aus seiner
- Brust hervor, und wie ein Wahnsinniger lief er aus dem Saal.
- Eine Minute lang stand er regungslos und wie versteinert mitten in
- seinem prächtigen Atelier, seine ganze Vergangenheit lebte einen
- Augenblick wieder in ihm auf, als wäre die Jugend zu ihm zurückgekehrt,
- und als wären die erloschenen Funken seines Talentes in ihm wieder
- aufgelodert. Die Binde fiel plötzlich von seinen Augen. Gott! wie hatte
- er die besten Jahre seiner Jugend so unbarmherzig zugrunde richten, die
- spärliche Flamme, die vielleicht auch in seiner Brust gebrannt hatte,
- und die sich vielleicht jetzt groß und herrlich entfaltet und vielleicht
- ebenfalls Tränen des Staunens und der Dankbarkeit entlockt hätte, so
- plump ersticken können. Wie hatte er sie in sich ertöten, erbarmungslos
- vernichten können! Es schien, als wären in diesem Augenblicke plötzlich
- alles Streben und alle Leidenschaften in seiner Seele erwacht, alle
- Gefühle, die auch sie einmal gekannt hatte ... Er ergriff den Pinsel und
- trat vor die Leinwand. Ein kalter Schweiß bedeckte seine Stirn; er
- verwandelte sich völlig in _einen_ einzigen Wunsch und war ganz von
- _einem_ Gedanken beseelt. Er wollte den gefallenen Engel darstellen.
- Diese Vorstellung stimmte am besten mit seinem Seelenzustand überein,
- aber ach, alles was er begann: all seine Figuren, seine Posen, Gruppen
- und Ideen hatten etwas Gezwungenes und Wirres. Sein Pinsel und seine
- Phantasie wurden zu sehr von der Gewohnheit gehemmt, und der ohnmächtige
- Drang, die Schranken und Fesseln, die er sich selber auferlegt hatte, zu
- zerbrechen, verleitete ihn gleich zu Anfang zu Unrichtigkeiten und
- Fehlern. Er hatte die ermüdend lange Stufenleiter der nur allmählich zu
- erwerbenden Kenntnisse und der ersten Grundgesetze der großen
- zukünftigen Wissenschaft übersprungen. Ein heftiger Verdruß bemächtigte
- sich seiner, er ließ all' seine letzten Schöpfungen: die seelenlosen
- Modebilder, die Porträts von Husarenoffizieren, vornehmen Damen und
- Staatsräten aus seinem Atelier entfernen, sperrte sich allein in sein
- Zimmer ein, befahl, niemand hereinzulassen und versenkte sich ganz in
- die Arbeit. Wie ein geduldiger Knabe, wie ein Schüler saß er an seinem
- Werk; aber ach, wie unbefriedigend und schwächlich war alles, was sein
- Pinsel schuf. Bei jedem neuen Schritt strauchelte er über die Unkenntnis
- der elementarsten Regeln; jedes kleinste, unbedeutendste Detail wirkte
- erkältend auf seinen Eifer und stellte sich seiner Phantasie als
- unüberbrückbares Hindernis entgegen. Der Pinsel wandte sich
- unwillkürlich wieder den alten versteinerten Formen zu, die Arme nahmen
- ihre gewohnte Haltung an, der Kopf wagte es nicht, sich eine
- ungewöhnliche Wendung zu gestatten; selbst der Faltenwurf des Kleides
- hatte etwas Schablonenhaftes, wollte sich ihm durchaus nicht fügen und
- sich nicht an die neue Körperstellung anpassen. Und Tschartkow fühlte
- es, fühlte es selbst und sah es mit eigenen Augen.
- »Hatte ich denn wirklich einmal Talent? habe ich mich nicht selbst
- betrogen?« Mit diesen Worten suchte er seine früheren Werke hervor, die
- er einst in so reiner Stimmung, so völlig frei von Habsucht und Geldgier
- in seiner ärmlichen Mansarde auf der abgelegenen Wassilij-Insel, fern
- von den Menschen geschaffen hatte; damals, als er noch nichts von
- Überfluß und all den raffinierten Genüssen der Großstadt wußte. Jetzt
- stand er wieder vor den alten Bildern, betrachtete sie aufmerksam, und
- sein ganzes früheres Leben voll Not und Entbehrung erstand wieder vor
- ihm. »Ja ...« sagte er ganz verzweifelt, »ich _hatte_ Talent! wohin ich
- auch blicke, überall entdecke ich deutliche Spuren davon!«
- Er blieb stehen und erzitterte plötzlich am ganzen Leibe. Sein Blick
- begegnete einem Augenpaar, das starr auf ihn gerichtet war. Es war jenes
- ungewöhnliche Porträt, das er einst in der Schtschukin-Passage gekauft
- hatte. Die ganze Zeit hindurch hatte es hinten gestanden, von anderen
- Bildern verdeckt, und so war es ihm völlig aus dem Gedächtnis
- entschwunden. Jetzt aber, wo alle modernen Porträts und Gemälde, die
- sein Atelier anfüllten, entfernt waren, blickte es plötzlich zusammen
- mit den früheren Werken seiner Jugend hervor. Als er sich nun an die
- sonderbare Geschichte dieses Porträts erinnerte, als er daran dachte,
- daß dieses merkwürdige Bildnis gewissermaßen die Ursache seiner Wandlung
- geworden war, daß die große Geldsumme, die ihm auf so wunderbare Weise
- zuteil geworden, alle die falschen und eitlen Regungen, die sein Talent
- zugrunde richten sollten, in ihm erwecket hatte, da wurde seine Seele
- von einem fast sinnlosen Grimm erfaßt, und er ließ das verhaßte Bildnis
- sofort hinaustragen. Aber die seelische Erregung wollte ihn trotzdem
- nicht verlassen. All seine Gefühle, ja sein ganzes Wesen waren bis aufs
- Tiefste aufgerührt, jetzt lernte auch er jene entsetzliche Qual kennen,
- die nur ganz selten und wie ausnahmsweise in der Natur vorkommt, wenn
- ein schwaches Talent sich mehr abzuringen versucht, als es zu leisten
- vermag, und doch den rechten Ausdruck nicht finden kann; jene Qual, die
- zwar einen Jüngling zu großen Taten spornt, aber den, der schon zu alt
- ist, um zu träumen, vergebens und fruchtlos mit einem heißen
- Schaffensdurste peinigt -- jene entsetzliche Qual, die einen Menschen zu
- grauenhaften Untaten anstiften kann! Ein entsetzlicher, rasender Neid
- bemächtigte sich seiner. Er wurde gelb vor Ärger, wenn er einem Werke
- gegenüberstand, das den Stempel des Talentes trug. Er knirschte mit den
- Zähnen und durchbohrte es mit seinem Blick gleich einem Basilisk. In
- seiner Seele regten sich höllische Vorsätze, wie sie so leicht kein
- Mensch ersinnt, und mit einer schier rasenden Energie war er bemüht, sie
- zur Ausführung zu bringen. Er fing an, alles Beste anzukaufen, was in
- seiner Kunst produziert wurde. Nachdem er um teures Geld ein Bild
- erstanden hatte, trug er es behutsam in sein Zimmer, stürzte sich mit
- der Wut eines Tigers darauf, riß es entzwei, schnitt es in Stücke und
- zerstampfte es mit frohlockendem Lachen. Das bedeutende Vermögen, das er
- angehäuft hatte, ermöglichte es ihm, dieses teuflische Bedürfnis zu
- befriedigen: er riß all seine mit Gold gefüllten Säcke auf und öffnete
- all seine Truhen. Nie hat es ein so verständnisloses Scheusal gegeben,
- das so viele herrliche Kunstwerke vernichtet hätte, wie dieser rasende
- Racheteufel. Auf allen Auktionen, wo er sich zeigte, verzweifelte jeder
- im voraus daran, sich ein Kunstwerk erwerben zu können, es schien, als
- hätte der erzürnte Himmel diese entsetzliche Geißel absichtlich in die
- Welt gesandt, um sie aller Harmonie zu berauben. Diese grauenhafte
- Leidenschaft ließ ihn in einem schrecklichen Lichte erscheinen. Von
- ewiger Bosheit sprach sein Angesicht. Ein wütender Welt- und Menschenhaß
- und eine furchtbare Lebensfeindschaft spiegelten sich in seinen Zügen
- wieder. Er schien jener leibhaftige furchtbare Dämon zu sein, den uns
- Puschkin so wunderbar geschildert hat. Nichts als giftgeschwollene Reden
- und heftige Worte des Tadels entquollen seinem Munde. Er glich einer
- Harpye, wenn er auf der Straße dahergestürmt kam; alle, selbst seine
- guten Bekannten, bemühten sich, ihm auszuweichen, wenn sie seiner von
- ferne ansichtig wurden, und suchten eine solche Begegnung zu vermeiden,
- ja sie erklärten, ein solches Zusammentreffen genüge schon, um ihnen den
- ganzen Tag zu vergiften.
- Zum Glück für die Welt und die Kunst konnte ein solch aufgeregtes und
- gewalttätiges Leben nicht lange dauern. Die Dimensionen, zu denen seine
- Leidenschaft anwuchs, waren zu kolossal und übertrieben, als daß ein
- schwacher Mensch sie auf die Dauer aushalten konnte. Die Wut- und
- Wahnsinnsanfälle wiederholten sich immer häufiger und gingen schließlich
- in eine entsetzliche Krankheit über, -- ein furchtbares, von einem
- heftigen, schnell um sich greifenden Schwindsuchtsanfall begleitetes
- Fieber ergriff ihn und binnen drei Tagen war nur noch ein Schatten von
- ihm zurückgeblieben. Dazu kamen noch alle Merkmale eines unheilbaren
- Irrsinns. Er wütete so um sich, daß ihn oft mehrere Menschen nicht
- bändigen konnten. Immer wieder tauchten die längst vergessenen
- lebendigen Augen eines seltsamen Porträts vor ihm auf; und dann verfiel
- er in ein fürchterliches Toben. Alle Menschen, die sein Bett umstanden,
- schienen ihm diesen grauenhaften Porträts zu gleichen, und diese
- Porträts verdoppelten, verdreifachten, vervierfachten sich vor seinen
- Augen; es kam ihm vor, als wenn alle Wände mit Bildern bedeckt wären,
- die ihre lebendigen Augen starr und unbeweglich auf ihn gerichtet
- hielten; schreckliche Porträts blickten von der Decke, vom Boden nach
- ihm hin, das Zimmer weitete sich aus und dehnte sich bis ins Unendliche,
- um immer noch mehr von diesen starren und unbeweglichen Augen fassen zu
- können. Der Arzt, der sich verpflichtet hatte, ihn zu behandeln, und der
- schon manches über seine seltsame Geschichte gehört hatte, bemühte sich
- aus aller Kraft, die geheimnisvolle Beziehung zwischen den
- Wahnvorstellungen, die der Irrsinn erzeugte, und den realen Vorgängen zu
- ermitteln, er hatte jedoch keinen Erfolg damit. Der Kranke begriff und
- fühlte nichts als seine Qual, stieß nur entsetzliche Schreie aus und
- führte ganz unzusammenhängende Reden. Endlich gab er in einem letzten
- stummen Ausbruch des Schmerzes sein Leben auf. Seine Leiche war
- schrecklich anzusehen. Von seinen ungeheuren Reichtümern war nichts mehr
- zu entdecken; als man jedoch die zerstreuten Fetzen und Stücke der
- großen Kunstwerke fand, deren Wert viele Millionen betrug, da erst
- verstand man, welch entsetzlichen Gebrauch er von ihnen gemacht hatte.
- Zweiter Teil
- Eine Menge von Equipagen, Droschken und Kaleschen stand vor dem Portal
- eines Hauses, in dem der Nachlaß eines jener reichen Kunstliebhaber
- versteigert wurde, die einstmals in den Anblick von Zephyren und Kupidos
- versenkt, ihr ganzes Leben sanft verträumten, ohne eigenes Zutun sich
- den Ruf von Mäzenen erwarben und treuherzig ihre Millionen
- verschwendeten, die sie von ihren soliden Vätern geerbt oder sogar
- früher einmal durch ihre eigene Arbeit erworben hatten. Solche Mäzene
- gibt es bekanntlich heute nicht mehr, unser neunzehntes Jahrhundert hat
- schon längst die langweilige Physiognomie eines Bankiers angenommen, der
- seine Millionen nur in der Gestalt von nüchternen auf dem Papier
- verzeichneten Zahlenreihen genießt. Eine bunte Menge von Besuchern und
- Käufern, die von allen Seiten wie die Raubvögel herbeigestürzt waren,
- erfüllte den großen Saal. Da sah man ganze Scharen von russischen
- Händlern aus der Passage und sogar von dem Trödelmarkt in blauen
- deutschen Röcken; ihr Aussehen und ihr Gesichtsausdruck war hier
- sicherer, freier und fiel nicht durch jene unangenehmere Unterwürfigkeit
- und Dienstbereitschaft auf, die dem russischen Händler so eigentümlich
- ist, wenn er die Kunden in seinem Laden bedient. Hier ließen sie sich
- ruhig gehen, trotzdem sich in demselben Saale viele Aristokraten
- befanden, vor denen sie an einem andern Orte durch tiefe Bücklinge und
- Kratzfüße den an den eigenen Stiefeln herbeigetragenen Staub weggefegt
- hätten. Hier benahmen sie sich ganz ungezwungen, betasteten ohne viel
- Umstände zu machen, die Bilder und Bücher, um die Güte der Waren
- festzustellen, und schraubten dreist die Preise, die die gräflichen
- Kunstkenner für ein Werk boten, in die Höhe. Hier traf man so manchen
- Repräsentanten jener Menschenklasse, die man auf allen Auktionen findet,
- und die täglich zu einer Versteigerung gehen, so wie man wohl in ein
- Wirtshaus geht; hier begegnete man all den vornehmen und
- aristokratischen Kunstfreunden, die es für ihre Pflicht hielten, keine
- Gelegenheit zu versäumen, bei der sie ihre Sammlungen vergrößern
- könnten, und die zwischen 12 und 1 Uhr nichts Besseres zu tun hatten,
- und endlich fehlte es auch nicht an jenen ehrenwerten Herren, deren
- Anzüge und Börsen einen recht dürftigen Eindruck machen und die hier
- täglich ohne jedes eigennützige Ziel erscheinen, einzig und allein zu
- dem Zwecke, um zu beobachten, wie ein Kauf zustande kommt, -- wer mehr,
- und wer weniger geben, wer den andern überbieten, und wem endlich der
- Gegenstand zugesprochen werden wird. Viele Bilder standen ganz regellos
- durcheinander, dazwischen sah man Möbel und Bücher mit den Initialen des
- früheren Besitzers, der vielleicht niemals das löbliche Bedürfnis
- gespürt hatte, in sie hineinzublicken. Da gab es chinesische Vasen,
- marmorne Tischplatten, neue und alte Möbel mit verschnörkelten Linien,
- Greifen, Sphinxen und Löwentatzen, Lampen und Kronleuchter _mit_ und
- _ohne_ Vergoldung: alles war aufeinandergestapelt, und es herrschte hier
- nicht einmal so viel Ordnung, wie man sie selbst in einem Kunstladen
- vorzufinden pflegt. Das Ganze stellte sozusagen ein großes Chaos von
- Kunstwerken dar. Überhaupt ist ja das Gefühl, das wir angesichts einer
- Versteigerung empfinden, sehr seltsam. Alles mutet einen an wie ein
- Begräbnis. Der Saal, in dem sie stattfindet, ist stets düster, die mit
- Möbeln und Bildern verstellten Fenster lassen das Licht nur spärlich
- hineindringen, das auf den Gesichtern liegende Schweigen und die
- Grabesstimme des Ausrufers, der mit dem Hammer aufschlägt und zu Ehren
- der armen, hier auf so sonderbare Weise zusammengeratenen Künste eine
- Messe liest: alle diese Momente verstecken, wie es scheint, noch das
- eigentümlich Frostige des Eindrucks. Die Auktion war offenbar im vollen
- Gange. Ein großer Haufe anständig gekleideter, dicht zusammenstehender
- Menschen ließ deutliche Spuren seines Interesses und seiner Erregung
- erkennen. Die Worte »... Rubel! ... Rubel!« die von allen Seiten
- ertönten, ließen dem Ausrufer keine Zeit, den immer noch wachsenden
- Preis, der bereits das Vierfache des zu Anfang genannten betrug, zu
- wiederholen; die herumstehende Menge bemühte sich um ein Porträt, das
- jeden, der auch nur ein wenig von der Malerei verstand, aufs lebhafteste
- fesseln mußte. Es trug den sichtbaren Stempel eines Genies. Anscheinend
- war es schon des öfteren restauriert und erneuert worden, es stellte die
- dunklen Züge eines mit einem weiten Gewande bekleideten Asiaten dar,
- dessen Gesicht einen ganz ungewöhnlich eigenartigen Ausdruck hatte. Was
- jedoch die Umstehenden am meisten in Staunen setzte, das war das
- intensive Leben, das aus seinen Augen strahlte; je länger man sie
- betrachtete, um so tiefer schienen sie einem bis ins innerste Innere zu
- blicken. Diese Eigentümlichkeit, die auffallende Kunstfertigkeit des
- Malers nahmen die Aufmerksamkeit fast aller in Anspruch. Viele der
- Bewerber waren bereits zurückgetreten, weil der Preis ganz enorm in die
- Höhe geschraubt wurde. Lediglich zwei als Kunstliebhaber bekannte
- Aristokraten waren noch übriggeblieben und wollten durchaus nicht auf
- die Erwerbung des Gemäldes verzichten. Sie erhitzten sich und hätten
- wahrscheinlich den Preis bis zum Absurden emporgetrieben, wenn nicht
- plötzlich einer der Anwesenden sich mit der folgenden Bemerkung an sie
- gewandt hätte: »Darf ich Sie bitten, Ihren Streit einen Augenblick ruhen
- zu lassen? Ich habe vielleicht mehr Anrecht auf dieses Porträt als jeder
- andere!«
- Diese Worte lenkten sofort die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf den
- Sprecher; es war ein schlanker Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, mit
- langen schwarzen Locken. Sein sympathisches Gesicht, das eine gewisse
- freundliche Sorglosigkeit wiederspiegelte, ließ eine Seele erkennen, die
- sich von allen aufreibenden Erregungen, die der gesellschaftliche
- Verkehr mit sich bringt, fernhielt. Seine Kleidung entbehrte aller
- modischen Übertriebenheiten, jeder seiner Züge deutete auf seinen
- Künstlerberuf hin. Und in der Tat, es war ein Maler namens B., den viele
- der Anwesenden persönlich kannten.
- »Wie seltsam Ihnen auch meine Worte erscheinen mögen,« fuhr er fort, als
- er die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gerichtet sah, »Sie würden
- doch vielleicht selbst einsehen, daß ich berechtigt war, sie zu äußern,
- wenn Sie sich dazu entschließen könnten, eine kleine Geschichte mit
- anzuhören. Alles bestärkt mich in der Überzeugung, daß gerade dies das
- Porträt ist, das ich suche.«
- Eine nur allzu natürliche Neugierde sprach aus allen Gesichtern, und
- selbst der Ausrufer hielt mit offenem Munde und mit erhobenem Hammer,
- neugierig und gespannt in seinem Geschäfte inne. Zu Beginn der Erzählung
- wandten sich die Blicke vieler unwillkürlich dem Porträt zu, um sich
- nach und nach immer mehr auf den Erzähler zu heften, dessen Bericht
- immer interessanter und spannender wurde.
- »Jedem von Ihnen ist doch wohl jener Stadtteil bekannt, den man Kolomna
- nennt,« begann er. »Hier ist alles anders als in den andern Teilen
- Petersburgs. Dies Quartal erinnert weder an die Hauptstadt, noch an die
- Provinz. Wenn man in dies Kolomnaviertel gerät, ist einem fast zumute,
- als ob einen nach und nach alle jugendlichen Gefühle und Leidenschaften
- verlassen. Hier hinein fällt kein Zukunftsblick, hier ist alles ruhig
- und starr und unbeweglich. Hierher flüchtet sich alles, was sich als
- Niederschlag des Hauptstadtbetriebes absetzt. Hier schlagen inaktive
- Beamte, Witwen und Personen in bescheidenen Verhältnissen ihr
- Ruheplätzchen auf, die auf eine Entscheidung des Senats harren und sich
- daher selbst zu einem fast lebenslänglichen Aufenthalt in diesem
- Quartier verurteilt haben; hier wohnen verabschiedete Köchinnen, die
- sich den ganzen Tag hindurch auf den Märkten herumtreiben, stundenlang
- in dem Kramladen stehen, mit dem Verkäufer schwatzen und sich jeden Tag
- für fünf Kopeken Kaffee und für vier Kopeken Zucker kaufen, und endlich
- findet sich hier noch jene Sorte von Leuten, die man am besten mit dem
- einen Worte »die Aschgrauen« bezeichnen könnte, Menschen, deren Anzug
- und deren Gesicht, Haare und Augen eine trübe, aschgraue Farbe haben,
- wie ein Tag, an dem es nicht stürmt und wo die Sonne nicht scheint,
- sondern wo weder das eine noch das andre stattfindet: ein grauer Nebel
- hüllt alles ein und nimmt allen Gegenständen ihre scharfen Konturen. Zu
- ihnen kann man alle abgedankten Logenschließer, Titularräte und
- Marsjünger mit einem ausgestochenen Auge und dicken aufgedunsenen Lippen
- rechnen. Lauter Menschen ohne Temperament und ohne jede Leidenschaft,
- sie gehen stumpfsinnig einher ohne dem, was um sie her passiert, die
- geringste Aufmerksamkeit zu schenken und schweigen tagelang, ohne an
- etwas zu denken. In ihren Zimmern sieht es öde und leer aus; oft besteht
- ihr Mobiliar einzig und allein aus einer Karaffe mit echter russischer
- Wodka, an der sie den ganzen Tag unaufhörlich nippen, ohne daß sie ihnen
- ernstlich zu Kopfe steigt, was einem gewöhnlich nur nach einem kräftigen
- Schluck zustößt, wie ihn sich wohl Sonntags ein junger deutscher
- Handwerksbursche -- dieser Student der Meschtschanskistraße[14] und
- alleinige Beherrscher des Bürgersteigs zu gestatten pflegt, --
- allerdings erst -- wenn Mitternacht vorüber ist.
- In Kolomna geht es äußerst still zu; nur selten zeigt sich ein Wagen, in
- dem Schauspieler sitzen, und der dann durch sein donnerndes Gerassel
- allein die allgemeine Ruhe stört. Hier gibt es nur Fußgänger, so mancher
- Droschkenkutscher kommt hier oft langsam und ohne Fahrgast dahergefahren
- oder schleppt etwas Heu für seine struppige Mähre herbei. Eine Wohnung
- kann man hier schon für fünf Rubel monatlich haben, den Morgenkaffee
- miteingeschlossen. Witwen, die eine kleine Pension beziehen, gehören
- hier schon zu den vornehmsten Leuten; das sind Damen von gutem Benehmen,
- die ihre Zimmer oft fegen und sich mit ihren Nachbarinnen über die
- teuren Preise des Fleisches und des Kohles unterhalten. Sie haben
- gewöhnlich eine junge Tochter, ein wortkarges, mitunter recht niedliches
- Geschöpf, dazu ein garstiges Hündchen und eine Wanduhr mit einem traurig
- tickenden Pendel. Weiter gibt es hier Schauspieler, denen es ihre Gage
- nicht gestattet, von Kolomna wegzugehen, ein freies Völkchen, das wie
- alle Künstler nur dem Genusse lebt. Sie sitzen in ihren Schlafröcken da,
- und reparieren wohl eine Pistole, kleben aus Pappe allerlei Gegenstände,
- die man im Hause braucht, spielen mit einem Freunde oder Gast eine
- Partie Dame oder Karten und verbringen so den ganzen Tag, wobei man
- jedoch nicht etwa denken darf, daß sie am Abend etwas anderes tun,
- höchstens daß sie zuweilen noch einen Grog zu sich nehmen. Auf diese
- Magnaten und Aristokraten von Kolomna folgt schließlich nur noch das
- gemeinste und verkommenste Pack; es genauer zu bezeichnen, wäre ebenso
- schwierig, wie die Aufzählung jener zahlreichen Insekten, die in altem
- Essig keimen. Da gibt es alte Weiber, die beten, alte Weiber, die
- trinken, und solche, die zugleich beten und trinken, ferner solche, die
- sich auf völlig unbekannte Weise durchschlagen, und wie emsige Ameisen
- ganze Haufen alter Lumpen und Wäschestücke von der Kalinkin-Brücke nach
- dem Trödelmarkte schleppen, um sie dort für fünfzehn Kopeken zu
- verkaufen; mit einem Worte der elendeste Bodensatz der Menschheit,
- dessen Lage selbst der menschenfreundlichste Sozialpolitiker kaum zu
- verbessern vermöchte.
- [Fußnote 14: Kleinbürgerstraße.]
- All diese Leute habe ich nur zu dem Zwecke angeführt, um Ihnen zu
- zeigen, wie oft dieses Volk in die Notlage kommt, eine plötzliche,
- vorübergehende Hilfe in Anspruch und zu einer Anleihe seine Zuflucht zu
- nehmen. Und in der Tat findet man unter ihnen auch viele Wucherer, die
- ihnen gegen ein Pfand und hohe Zinsen kleinere Summen leihen. Diese
- kleinen Wucherer sind viel herzloser und gefühlloser, als die großen,
- denn sie entspringen aus der Armut und aus einem seine Lumpen offen zur
- Schau stellenden Elend, das der reiche und vornehme Wucherer gar nicht
- kennt, weil er nur mit solchen Kunden zu tun hat, die in einer eleganten
- Equipage vorfahren, -- und daher erstirbt in ihnen schon früh jedes
- menschliche Gefühl. Unter diesen Wucherern gab es einen ... aber hier
- darf ich wohl erwähnen, daß das Geschehnis, welches ich Ihnen erzählen
- will, in das verflossene Jahrhundert, nämlich in die Regierungszeit der
- verstorbenen Zarin Katharina II. fällt. Sie können sich vorstellen, daß
- auch das Äußere Kolomnas und ihr inneres Leben sich seitdem bedeutend
- verändert haben. Also unter den Wucherern gab es einen, der in jeder
- Beziehung ein ungewöhnlicher Mensch war. Er hatte sich schon vor langer
- Zeit in diesem Viertel niedergelassen und trug stets ein weites,
- asiatisches Gewand. Seine dunkle Gesichtsfarbe deutete auf seine
- südliche Herkunft hin; welcher Nation er jedoch eigentlich angehörte, ob
- er ein Inder, Grieche oder Perser war, darüber konnte niemand etwas
- Bestimmtes aussagen. Der hohe, fast ungewöhnliche Wuchs, das dunkle,
- magere, verbrannte Antlitz, die seltsame, auffallende Gesichtsfarbe und
- die großen, feurigen Augen mit den finsteren, buschigen Augenbrauen
- ließen ihn als eine markante Erscheinung unter allen aschgrauen
- Bewohnern der Hauptstadt hervortreten. Selbst seine Behausung hatte
- keine Ähnlichkeit mit den einförmigen Holzbaracken Kolomnas. Er wohnte
- in einem steinernen Hause, wie sie vormals genuesische Kaufleute zu
- errichten pflegten. Die Fenster hatten eine unregelmäßige Form, waren
- alle verschieden groß und mit Riegeln und hölzernen Läden versehen.
- Dieser Wucherer unterschied sich schon dadurch von seinen Kollegen, daß
- er jeden seiner Klienten, ob es nun eine alte Bettlerin oder ein
- verschwenderischer höherer Beamter des Hofes war, mit einer beliebigen
- Summe zu versehen vermochte. Vor seinem Hause hielten oft elegante
- Equipagen, aus deren Schlag bisweilen der Kopf einer feinen Weltdame
- hervorlugte. Man erzählte sich, wie das so gewöhnlich geschieht, daß
- seine eisernen Truhen mit unermeßlich viel Geld, Diamanten und
- verschiedenen kostbaren Pfandgegenständen angefüllt seien, daß er aber
- trotzdem frei von der Habgier gewöhnlicher Wucherer wäre. Er verlieh
- sein Geld sehr gerne und setzte annehmbare äußerst bequeme
- Zahlungstermine für seine Kunden an, nur ließ er die Zinsen durch
- allerhand eigentümliche arithmetische Operationen zu ganz maßlosen
- Summen anwachsen. So wenigstens urteilte Fama über ihn; was aber am
- auffälligsten war und auf jeden Fall alle verblüffen mußte, das war das
- seltsame Schicksal aller derer, die bei ihm Geld borgten. Sie gingen
- alle auf klägliche Weise zugrunde. Ob es nun aber nur leeres Geschwätz,
- nur ein sinnloses, abergläubiges Gerede der Menschen oder ein mit
- Absicht verbreiteter Klatsch war, das blieb unbekannt. Indessen gab es
- doch einige Fälle, die sich binnen ganz kurzer Zeit vor allen Augen
- abspielten und die einen tiefen und überwältigenden Eindruck auf die
- Leute machten. Damals lenkte gerade ein Jüngling aus einer vornehmen
- aristokratischen Familie, der sich bereits in jenen Jahren im
- Staatsdienste ausgezeichnet hatte, die Aufmerksamkeit auf sich: ein
- glühender Verehrer alles Echten und Erhabenen, ein eifriger Förderer
- menschlicher Geistesarbeit und hoher Kunst, mit einem Worte ein Mensch,
- der ein wahrhafter Mäzen zu werden versprach. So kam es denn, daß er
- sehr bald nach seinen Verdiensten von der Zarin selbst ausgezeichnet
- wurde, die ihm ein mit seinen eigenen Wünschen und Ansprüchen
- übereinstimmendes bedeutendes Amt und einen Posten anvertraute, auf dem
- er viel für die Wissenschaften und für alles Gute wirken konnte. Der
- junge Beamte umgab sich mit Künstlern, Dichtern und Gelehrten. Er wollte
- allen Arbeit verschaffen und alle nach Kräften fördern. Er gab auf
- eigene Kosten eine Reihe von nützlichen Werken heraus, verteilte eine
- Menge von Aufträgen und setzte viele Preise aus; auf diese Weise
- verausgabte er ungeheuer viel Geld und geriet schließlich in pekuniäre
- Verlegenheiten. Aber da er ein vornehmer und hochherziger Charakter war,
- wollte er nicht von seinem Vorhaben abstehen, er suchte überall Anleihen
- aufzunehmen und wandte sich endlich an den uns schon bekannten Wucherer.
- Er erhielt auch eine bedeutende Summe von ihm, aber bald darauf ging
- eine gewaltige Veränderung mit ihm vor: er wurde mit einem Male ein
- Verfolger und Unterdrücker aller aufstrebenden Geister und Talente. An
- allem, was ihm vor Augen kam, entdeckte er sofort die schlechten Seiten
- und deutete jedes harmlose Wort falsch. Um diese Zeit brach gerade die
- französische Revolution aus, und dieses Ereignis gab ihm plötzlich den
- Anlaß zu allen möglichen Verdächtigungen und häßlichen Taten, überall
- fing er an, revolutionäre Umtriebe zu wittern; jedes Ereignis schien ihm
- eine schlimme Andeutung zu enthalten. Er wurde so argwöhnisch, daß er
- sich schließlich sogar selbst zu mißtrauen begann; er gab sich zu einer
- ganzen Reihe abscheulicher und höchst ungerechter Denunziationen her und
- machte dadurch unzählige Menschen unglücklich. Die Folgen einer solchen
- Handlungsweise war natürlich die, daß das Gerücht davon bis an den Thron
- gelangte. Die großmütige Kaiserin war ganz entsetzt und sprach sich in
- hochherziger Weise, die der schönste Schmuck gekrönter Häupter ist,
- darüber aus. Ihre Worte sind uns zwar nicht genau überliefert, aber ihr
- tiefer Sinn prägte sich im Herzen vieler ein. Die Kaiserin bemerkte, es
- seien gar nicht die monarchischen Regierungen, die die hohen und
- vornehmen Seelenregungen unterdrückten; in einer solchen Staatsform
- seien die Werke des Geistes, der Dichtung und der Künste keineswegs
- verachtet und Verfolgungen ausgesetzt, vielmehr seien die Monarchen ihre
- natürlichen Protektoren, erst unter _ihrem_ hochherzigen Schutze
- erstände ein Shakespeare, ein Molière usw., während andererseits ein
- Dante in seinem republikanischen Vaterlande keine Ruhestätte finden
- konnte. Wahre Genies entfalteten sich nur in den glänzenden Zeitaltern
- mächtiger Könige und Königreiche und nicht unter dem Einflusse häßlicher
- politischer Vorgänge und terroristischer Republiken, die der Welt bis
- jetzt noch keinen einzigen Dichter geschenkt hätten. Sie erklärte, man
- müsse die Dichter und Künstler reichlich belohnen und auszeichnen, denn
- sie schenkten der Seele Ruhe und Frieden und bewahrten sie vor häßlichen
- Leidenschaften und Empörung; die Gelehrten, die Dichter und alle
- schaffenden Künstler seien die Perlen und Diamanten in den Kaiserkronen:
- sie seien der höchste Schmuck, der das Zeitalter eines großen Herrschers
- kröne und ihm einen herrlichen Glanz verleihe. Während die Kaiserin
- diese Worte sprach, war sie unendlich schön und göttlich. Ich erinnere
- mich, daß die alten Leute nicht anders als mit Tränen in Augen davon
- sprechen konnten. Alle zeigten die lebhafteste Teilnahme für den Fall.
- Zur Ehre unserer Nation muß hier bemerkt werden, daß sich in dem Herzen
- eines Russen stets der hochherzige Wunsch regt, die Partei der
- Bedrückten zu ergreifen. Der hohe Beamte, der das ihm geschenkte
- Vertrauen zu sehr mißbraucht hatte, wurde gebührend bestraft und seines
- Amtes enthoben, aber noch eine weit peinigendere Strafe war es für ihn,
- daß er eine unverhüllte und allgemeine Mißachtung aus den Gesichtern
- seiner Mitbürger lesen konnte. Es läßt sich kaum beschreiben, wie sehr
- seine eitle Seele darunter litt. Gekränkter Stolz, betrogener Ehrgeiz,
- vernichtete Hoffnungen: all diese Empfindungen vereinigten sich zu einer
- drückenden Qual, und in entsetzlichen Wahnsinnsanfällen riß sein
- Lebensfaden ab. Noch ein anderer frappanter Fall trug sich gleichfalls
- vor aller Augen zu. Von den vielen schönen Frauen, an denen unsere
- nordische Hauptstadt damals nicht arm war, lief besonders _eine_ allen
- anderen den Rang ab. Sie vereinigte in sich in wunderbarer Weise alle
- Reize unserer nordischen Schönheit mit denen des Südens; das war ein
- kostbarer Edelstein, wie man ihn nur selten auf der Welt findet. Mein
- Vater gestand, niemals in seinem Leben etwas Ähnliches gesehen zu haben.
- Alle Vorzüge schienen sich in diesem Wesen vereinigt zu haben: Reichtum,
- Geld und seelische Anmut. An Bewerbern fehlte es natürlich nicht; der
- interessanteste und hervorragendste unter ihnen aber war ein Fürst R...,
- ein vornehmer junger Mann von wahrhaft edelem Charakter, wohlgestaltet
- und von ritterlichem, hochherzigem Wesen, das höchste Ideal aller
- Frauen, ein richtiger Romanheld und in allem ein echter Grandisson.
- Fürst R. war leidenschaftlich, ja geradezu wahnsinnig in sie verliebt,
- und seine Liebe wurde ebenso feurig erwidert. Leider erschien bloß den
- Verwandten diese Partie als Mesalliance. Die Erbgüter seiner Familie
- gehörten nämlich nicht mehr ihm, die ganze Familie war in Ungnade
- gefallen, und der schlechte Zustand seiner Verhältnisse war allgemein
- bekannt. Plötzlich verläßt der Fürst für eine Zeitlang die Hauptstadt,
- allem Anscheine nach, um seine Verhältnisse zu regeln, taucht aber bald
- darauf wieder auf, wobei er einen unglaublichen Prunk und Luxus
- entfaltete. Seine glänzenden Feste und Bälle machen ihn bald bei Hofe
- bekannt. Der Vater der Schönen ist ihm wohlgeneigt, und bald darauf
- findet in der Stadt eine Hochzeitsfeier statt, die überall Aufsehen
- erregt. Woher diese Veränderung und der ungeheure Reichtum des
- Bräutigams stammte, darüber konnte freilich niemand genauere Auskunft
- geben; man tuschelte bloß im geheimen davon, er wäre irgendwelche
- Abmachungen mit dem rätselhaften Wucherer eingegangen und hätte bei ihm
- eine größere Anleihe gemacht. Wie dem aber auch war, die Hochzeit
- beschäftigte die ganze Stadt, und Bräutigam wie Braut erregten den Neid
- aller Leute. Jedermann wußte, wie heiß und standhaft sie sich geliebt --
- und was für lange Qualen beide zu erdulden gehabt hatten; überall
- schätzte man sie wegen ihres edelen Charakters und ihrer hohen Vorzüge.
- Die leidenschaftlichsten unter den Frauen malten sich schon im voraus
- die paradiesischen Wonnen aus, die den jungen Ehegatten bevorständen.
- Und doch kam alles anders. Im Lauf eines einzigen Jahres ging mit dem
- Gatten eine furchtbare Veränderung vor. Das Gift einer argwöhnischen
- Eifersucht und Unduldsamkeit schien plötzlich seinen bis dahin vornehmen
- und makellosen Charakter angefressen zu haben; unerklärliche Launen
- entstellten sein ganzes Wesen; er wurde ein Tyrann, der seine Frau
- beständig quälte, und scheute schließlich -- was niemand voraussehen
- konnte -- nicht einmal vor den unmenschlichsten Taten zurück: er
- peinigte und schlug seine eigene Gattin. Schon nach einem Jahre war die
- Frau nicht wieder zu erkennen, sie, die noch unlängst eine so glänzende
- Erscheinung gewesen war und Scharen von treuen Anbetern und glühenden
- Verehrern angezogen hatte. Endlich ließ sie -- unfähig, ihr schweres Los
- noch weiter zu ertragen -- ein Wort über Scheidung fallen, aber der
- Gatte geriet schon bei dem leisesten Gedanken daran in Wut. In der
- ersten Erregung drang er mit einem Messer bewaffnet in ihr Zimmer ein,
- und er hätte sie zweifellos sofort niedergestochen, wenn er nicht
- überwältigt und festgehalten worden wäre. Ganz außer sich und voller
- Verzweiflung zückte er sein Messer gegen sich selbst und beschloß sein
- Leben in schrecklichen Qualen.
- Außer diesen beiden Fällen, die sich vor den Augen der ganzen Welt
- abgespielt hatten, wurde noch eine Reihe anderer erzählt, die sich unter
- den niedren Klassen zutrugen, und die fast alle einen ebenso
- entsetzlichen Ausgang nahmen. Ehrliche, nüchterne Männer wurden
- plötzlich zu Trunkenbolden, Gehilfen bestahlen ihre Chefs, ein
- Droschkenkutscher, der viele Jahre hindurch ehrlich und fleißig gedient
- hatte, erstach auf einmal einen Fahrgast wegen einiger Pfennige.
- Natürlich mußten solche Erzählungen, die noch dazu meist sehr
- ausgeschmückt und übertrieben waren, den einfältigen Bewohnern Kolomnas
- eine Art unwillkürlichen Grauens einflößen. Niemand zweifelte mehr
- daran, daß dieser Mann mit der Hölle im Bunde stehe. Man erzählte sich,
- daß er seinen Kunden Bedingungen stelle, die einem die Haare zu Berge
- steigen ließen, und die der unglückliche Schuldner nie einem andern
- mitzuteilen wagte; daß sein Geld eine besondere Anziehungskraft ausübe,
- von selbst zu glühen anfange und seltsame Merkzeichen an sich trage ...,
- mit einem Worte, es waren viele unsinnige Gerüchte über ihn im Umlauf.
- Und so ist es denn auch nicht weiter merkwürdig, daß die ganze
- Einwohnerschaft Kolomnas, diese ganze Welt armer alter Frauen, kleiner
- Beamter und untergeordneter Schauspieler, kurz, all dieses elenden
- Volkes, das wir soeben beschrieben haben, lieber alle Leiden und die
- höchste Not auf sich nehmen, als den schrecklichen Wucherer um ein
- Darlehn angehn wollte, es gab sogar arme alte Frauen, die es vorzogen,
- vor Hunger zu sterben, als ihre Seele zugrunde zu richten. Wenn man dem
- Wucherer auf der Straße begegnete, wurde man unwillkürlich von einer
- seltsamen Angst ergriffen. Die Passanten wichen ihm furchtsam aus,
- drehten sich immer wieder nach ihm um und verfolgten die in der Ferne
- verschwindende riesenhafte Gestalt noch lange mit ihren Blicken. Schon
- in seinem Äußern lag so viel Ungewöhnliches, daß jedermann unwillkürlich
- den Eindruck hatte, es mit einem übernatürlichen Wesen zu tun zu haben.
- Diese harten, scharf gemeißelten Züge, wie man sie selten bei einem
- Menschen antrifft, diese glühende, bronzene Gesichtsfarbe, diese dichten
- buschigen Augenbrauen, die unerträglich schrecklichen Augen, selbst
- seine weite, bauschige asiatische Kleidung -- alles schien darauf
- hinzudeuten, daß alle Leidenschaften anderer Menschen vor denen, die
- dieser Körper in sich barg, verbleichen mußten. Jedesmal, wenn mein
- Vater ihm begegnete, blieb er unbeweglich stehen und konnte sich bei
- solch einer Gelegenheit nicht enthalten, laut auszurufen: »Ein Teufel!
- Ein wahrhaftiger Teufel!« Doch nun muß ich Sie schnell noch mit meinem
- Vater bekannt machen, der übrigens der eigentliche Held dieser
- Geschichte ist.
- Mein Vater war in vielen Beziehungen ein merkwürdiger Mensch. Er war ein
- seltener Künstler, einer von denen, wie sie nur Rußland aus seinem
- jungfräulichen Schoße erzeugt, ein Autodidakt, der alle künstlerischen
- Gesetze und Regeln ohne Lehrer und ohne die Anleitung der Schule ganz
- aus sich selbst heraus entdeckt hatte, und in dem mächtigen Drange nach
- ständiger Vervollkommnung, aus Gründen, die ihm vielleicht selbst
- unbekannt blieben, immer den Weg ging, den ihm sein Instinkt wies: er
- war eines jener ursprünglichen Wunder, die von den Zeitgenossen nicht
- selten mit dem verletzenden Beiwort »ungebildeter Mensch« bezeichnet und
- die durch Angriffe und eigenes Mißgeschick nicht ernüchtert und
- abgekühlt werden, sondern nur noch neuen Eifer und neuen Drang aus ihnen
- schöpfen und dann jene Werke innerlich weit hinter sich lassen, die
- ihnen den oben erwähnten Titel eingebracht haben. Er erkannte in jedem
- Gegenstand intuitiv die Gegenwart einer Idee; ganz von selbst ging ihm
- die wahre Bedeutung des Wortes »Historische Malerei« auf, er begriff,
- warum ein einfacher Zopf, ein schlichtes Porträt von Raffael, Lionardo
- da Vinci, Tizian oder Correggio einen Anspruch auf diese Bezeichnung
- hatten, während ein riesiges Gemälde geschichtlichen Inhalts dennoch nur
- ein Genrebild bleiben konnte, trotz aller Prätensionen des Malers, damit
- ein großes historisches Gemälde geschaffen zu haben. Sowohl eigene
- Neigung als innere Überzeugung führten ihn den religiösen Stoffen des
- Christentums, der höchsten und letzten Stufe des Erhabenen, zu. Er besaß
- weder Ehrgeiz, noch Empfindlichkeit, Eigenschaften, die leider bei so
- vielen Künstlern einen wesentlichen Bestandteil ihres Charakters bilden.
- Dies war eine herbe Persönlichkeit, ein ehrlicher, gerader, beinahe
- grober Mensch, der sich nach außen durch eine harte Rinde gegen die
- Umwelt abschloß und innerlich nicht ohne Stolz war, der sich jedoch über
- seine Mitmenschen zwar stets in schroffer Weise, doch zugleich milde und
- versöhnlich äußerte. »Wozu soll ich mich nach ihnen richten?« pflegte er
- gewöhnlich zu sagen; »ich arbeite ja nicht für sie! Ich will meine
- Bilder ja nicht in einem Salon bewundern lassen! Wer mich versteht, wird
- mir sicher dankbar sein. Einem Mann aus der vornehmen Gesellschaft kann
- man es nicht weiter verargen, wenn er nichts von Malerei versteht; dafür
- versteht er was von Karten, von guten Weinen oder Pferden ... Wozu
- braucht denn ein großer Herr auch mehr zu wissen? Wenn so ein Mensch
- erst von allem gekostet hat und sich auf das Geistreicheln verlegt, dann
- ist er erst recht nicht zu ertragen. _Suum cuique!_ Schuster bleib bei
- deinen Leisten! Meiner Meinung nach ist ein Mensch, der es offen
- eingesteht, wo er nicht Bescheid weiß, einem Heuchler vorzuziehen, der
- so tut, als ob er etwas von Dingen versteht, von denen er gar keine
- Ahnung hat, und der nur herumpfuscht und andre Leute schädigt.« Er
- arbeitete schon für den bescheidensten Preis, der ihm nur die Mittel zum
- Unterhalt seiner Familie und die Möglichkeit zu weiterem Schaffen bot.
- Auch weigerte er sich niemals, einem andern zu helfen und einem armen
- Kollegen hilfreich die Hand zu reichen. Er hatte sich den einfachen,
- frommen Glauben unserer Ahnen erhalten, und das war vielleicht der
- Grund, daß es ihm so gut gelang, den von ihm gemalten Gesichtern jenen
- hohen Ausdruck zu verleihen, nach dem so manches große Talent vergebens
- strebt. Endlich glückte es ihm, durch unausgesetzte Arbeit und rastlose
- Verfolgung des einmal vorgesteckten Zieles auch die Achtung derer zu
- erringen, die ihn früher einen ungebildeten Menschen und einen
- hausbackenen Autodidakten genannt hatten. Er bekam Aufträge, Wandgemälde
- für Kirchen zu malen, und es fehlte ihm nie an Arbeit. Einmal war er
- gerade durch solch ein Werk sehr in Anspruch genommen. Ich erinnere mich
- nicht mehr genau an das Sujet und weiß nur noch, daß auf dem Gemälde der
- gefallene Engel, der Geist der Finsternis, dargestellt werden sollte.
- Dieses Problem beschäftigte ihn lange Zeit: Wie würde er ihn malen? In
- der Person dieses Engels mußte der furchtbare Druck und die Pein, die
- auf dem Menschen lastet, zum Ausdruck kommen. Hierbei schwebte ihm wohl
- oft das Bild des rätselhaften Wucherers vor, und er dachte sich
- unwillkürlich: »Das wäre das rechte Vorbild für meinen Teufel!« Und nun
- stellen Sie sich selbst vor, wie erstaunt und erschrocken er war, als
- eines Tages, während er arbeitete, an die Tür seines Ateliers gepocht
- wurde, und der schreckliche Wucherer bei ihm eintrat. Kein Wunder, daß
- sein Inneres erbebte, und ein heftiges Zittern seinen ganzen Körper
- überlief.
- »Du bist Maler?« fragte er, ohne viel Umstände zu machen, meinen Vater.
- »Ja, ich bin Maler!« versetzte mein Vater verwirrt und gespannt, was nun
- folgen würde.
- »Gut! Dann porträtiere mich! Ich werde vielleicht bald sterben! Kinder
- habe ich nicht. Aber ich will nicht ganz untergehen, ich will
- weiterleben. Kannst du mir ein solches Porträt malen, das den vollen
- Eindruck des Lebens macht?«
- Mein Vater dachte: »Was kann ich mir Besseres wünschen? Er bietet sich
- mir selbst als Modell für den Teufel an!« So willigte er denn ein, sie
- einigten sich über Zeit und Preis, und gleich am nächsten Tage erschien
- mein Vater mit Pinsel und Palette bei ihm. Der Hof mit den hohen Mauern,
- die Hunde, die eisernen Tore und Riegel, die bogenförmigen Fenster, die
- mit merkwürdigen Teppichen bedeckten Truhen und endlich der seltsame
- Hausherr selbst, der ihm unbeweglich gegenüber saß: all das machte einen
- eigentümlichen Eindruck auf ihn. Die Fenster waren wie mit Absicht unten
- so verstellt und verhängt, daß das Licht nur von oben hereindringen
- konnte. »Hol's der Teufel! wie fein sein Gesicht jetzt beleuchtet ist!«
- sagte er vor sich hin und fing eifrig an zu arbeiten, wie wenn er
- befürchtete, daß die günstige Beleuchtung bald verschwinden könne. »Was
- für eine Kraft in ihm liegt,« wiederholte er leise; »wenn es mir nur zur
- Hälfte gelingt, ihn so darzustellen, wie er jetzt dasitzt, dann wird er
- alle meine früheren Arbeiten in den Schatten stellen. Er wird mir
- wahrhaftig aus der Leinwand herausspringen, wenn ich der Natur auch nur
- im mindesten treu bleibe. Was für auffallende Züge!« wiederholte er
- unaufhörlich, indem er noch eifriger arbeitete, und nun sah er selbst,
- wie schon einige Partien des Gesichts auf der Leinwand erschienen. Aber
- je mehr er sich ihnen näherte, ein desto stärkeres, ihm selbst
- unbegreifliches Gefühl der Unruhe und der Furcht überfiel ihn. Trotzdem
- aber nahm er sich vor, jede kaum merkliche Linie, jeden kleinsten
- Ausdruck mit peinlicher Genauigkeit zu registrieren. Vor allem
- beschäftigte er sich mit der Darstellung der Augen; in ihnen lag so viel
- Kraft, daß man offenbar gar nicht hoffen durfte, ihr tiefstes Wesen auf
- dem Bilde wiederzugeben. Dennoch hatte er sich fest vorgenommen, um
- jeden Preis alle, auch die unwesentlichsten Töne und Schattierungen aus
- ihnen herauszuholen und ihr Geheimnis zu ergründen ... Aber kaum hatte
- er begonnen, sich in sie zu versenken und zu vertiefen, als ein solch
- unbegreiflicher Druck, ein solch eigentümlicher Widerwille seine Seele
- erfaßte, daß er für einige Zeit den Pinsel niederlegen mußte, um erst
- nach dieser Ruhepause die Arbeit wieder aufzunehmen. Endlich konnte er
- es nicht länger ertragen; er fühlte, wie sich diese Augen in seine Seele
- bohrten und eine sonderbare Unruhe in ihr hervorriefen. Am dritten Tage
- wurde dieses Gefühl noch intensiver. Ihm wurde ganz ängstlich zumute. Er
- warf den Pinsel in die Ecke und erklärte dem Wucherer mit Nachdruck, er
- könne ihn unmöglich weiter malen. Da hätte man sehen müssen, welche
- Veränderung diese Worte in dem schrecklichen Manne hervorriefen. Er warf
- sich plötzlich vor dem Maler auf die Knie, umklammerte seine Füße und
- flehte ihn an, das Porträt zu vollenden, er erklärte, daß sein ganzes
- Schicksal und seine ganze irdische Existenz von diesem Porträt abhingen,
- schon jetzt habe ja des Künstlers Pinsel seine lebendigen Züge auf der
- Leinwand festgehalten -- wenn diese Züge genau im Bilde fixiert würden
- -- werde sein Leben durch eine übernatürliche Macht im Porträt weiter
- fortbestehen; dann brauche er nicht ganz zu sterben, und er werde der
- Welt erhalten bleiben. Diese Bitten entsetzten meinen Vater; sie
- erschienen ihm so ungewöhnlich und frevelhaft, daß er Pinsel und Palette
- wegwarf und jählings aus dem Zimmer stürzte.
- Der Gedanke an dieses Ereignis beunruhigte ihn die ganze Nacht und den
- ganzen Tag hindurch; am andern Morgen ließ ihm der Wucherer durch eine
- Frau, das einzige Wesen, das bei ihm diente, das Porträt zustellen. Sie
- erklärte ihm ohne alle Umschweife, daß ihr Herr das Bild nicht haben
- wolle, nichts dafür bezahlen werde und es ihm daher zurücksende. Am
- Abend desselben Tags erhielt er die Kunde von dem Tode des Wucherers,
- und die Nachricht, daß er demnächst nach dem Brauche seiner Religion
- beigesetzt werden solle. Dies alles erschien ihm höchst unerklärlich und
- seltsam, zu alledem aber machten sich von diesem Moment an in seinem
- Charakter gewisse Veränderungen bemerkbar. Er litt unter einer
- merkwürdigen Erregtheit und Ruhelosigkeit, deren Ursache er selbst nicht
- begreifen konnte, ja er tat bald darauf etwas, was wohl niemand von ihm
- erwartet hätte. Seit einer gewissen Zeit lenkten die Arbeiten eines
- seiner Schüler die Aufmerksamkeit eines kleinen Kreises von Kennern und
- Liebhabern auf sich; mein Vater hatte sein Talent immer anerkannt und
- eine tiefe Neigung für ihn gefaßt. Jetzt aber wurde er plötzlich von
- einem häßlichen Neid gegen ihn ergriffen. Die allgemeine Sympathie, die
- sich in den Unterhaltungen über ihn äußerte, wurde meinem Vater ganz
- unerträglich. Endlich erfuhr er zu seinem großen Verdruß, daß sein
- Schüler den Auftrag erhalten hatte, ein Bild für eine erst vor kurzem
- vollendete prachtvolle Kirche zu malen. Das versetzte ihn in eine
- furchtbare Wut. »Ich werde diesem Grünschnabel doch nicht den Triumph
- gönnen!« rief er aus. »Nein, mein Lieber, du hoffst zu früh, die Alten
- in den Staub zu ziehen! Gott sei Dank, noch fühle ich genug Kraft in
- mir! Wir wollen doch abwarten, wer den andern zuerst in den Staub
- zieht!« Und der biedere, in seinem Kerne grundehrliche Mann wandte sich
- allen möglichen Ränken und Schleichwegen zu, die er bisher stets
- verabscheut hatte, und brachte es endlich auch so weit, daß um den
- Auftrag für das Kirchenbild ein allgemeiner Wettbewerb ausgeschrieben
- wurde, an dem sich natürlich auch andere Künstler beteiligten durften.
- Hierauf schloß er sich in seinem Atelier ein und machte sich eifrig an
- die Arbeit. Es schien, als ob sich seine ganzen Kräfte und seine ganze
- Persönlichkeit auf dieses Gemälde konzentriert hätten, und in der Tat
- kam so eins seiner besten Werke zustande. Niemand zweifelte daran, daß
- ihm die Palme zufallen würde. Die Bilder wurden der Jury eingereicht,
- aber alle anderen Werke verhielten sich zu diesem wie die Nacht zum
- Tage. Plötzlich jedoch machte einer der anwesenden Kunstrichter -- wenn
- ich nicht irre, ein Geistlicher -- eine Bemerkung, die alle überraschte.
- »In dem Bilde dieses Künstlers offenbart sich wirklich ein starkes
- Talent,« meinte er, »aber den Gesichtern geht der fromme, heilige
- Ausdruck ab. Es liegt vielmehr etwas Dämonisches in diesen Augen, als
- hätte eine böse Macht die Hand des Künstlers geführt.« Alle blickten
- hin, und in der Tat, die Wahrheit dieser Worte ließ sich nicht
- bestreiten. Mein Vater stürzte auf sein Bild los, wie um diese
- verletzende Bemerkung selbst auf ihre Berechtigung hin zu prüfen, aber
- er gewahrte mit Entsetzen, daß er allen seinen Gestalten die Augen des
- Wucherers verliehen hatte. Sie blickten ihn so teuflisch und vernichtend
- an, daß er selbst unwillkürlich schauderte. Das Bild wurde abgelehnt,
- und er mußte zu seinem unbeschreiblichen Ärger erfahren, daß die Palme
- seinem Schüler zufiel. Es läßt sich unmöglich beschreiben, in welcher
- Wut und Raserei er nach Hause zurückkehrte. Er hätte beinahe meine
- Mutter geschlagen, er warf die Kinder hinaus, zerbrach Pinsel und
- Staffeleien, riß das Porträt des Wucherers von der Wand, ließ sich ein
- Messer geben und wollte Feuer im Kamin entzünden, um das Bild -- nachdem
- er es in Stücke geschnitten hätte -- zu verbrennen. Aber bei diesem
- Vorhaben wurde er durch die Ankunft eines Freundes überrascht, der
- soeben in das Zimmer getreten war. Dieser Freund war gleich ihm ein
- Maler, ein lustiger Bursche, der stets mit sich zufrieden war, sich
- nicht mit weitliegenden Plänen abgab und alle Arbeiten, die ihm unter
- die Hand kamen, fröhlich in Angriff nahm, um sich nach deren Beendigung
- noch fröhlicher ans Schlemmen und Zechen zu machen.
- »Was hast du da? Was willst du verbrennen?« fragte er ihn, indem er an
- das Porträt herantrat. »Aber ich bitte dich, das ist ja eines deiner
- besten Werke! Das ist ja der Wucherer, der erst kürzlich gestorben ist!
- Ja, das ist ein vollkommenes Kunstwerk! Den hast du nicht bloß
- vorzüglich getroffen, du bist ihm sozusagen in die Augen
- hineingekrochen! So lebhaft haben sie ja nicht einmal geblickt, als er
- noch am Leben war, wie hier bei dir!«
- »Ich möchte gern sehen, wie sie mich aus dem Feuer anblicken werden!«
- sagte mein Vater, während er eine Bewegung machte, um das Porträt in den
- Kamin zu schleudern. »Halt, um Gottes willen,« fiel der Freund ein und
- hielt ihn am Arme fest. »Gib es doch lieber mir, wenn es dir so lästig
- ist!« Mein Vater sträubte sich anfangs, gab aber schließlich nach, und
- der lustige Kerl schleppte -- höchst erfreut über diese Erwerbung -- das
- Porträt mit sich fort.
- Nachdem er fortgegangen war, fühlte sich mein Vater mit einem Male
- ruhiger, als wäre ihm mit der Entfernung des Porträts eine Last vom
- Herzen gefallen. Er wunderte sich selbst über seinen Zorn, seinen Neid
- und die offenkundige Wandlung in seinem Charakter. Er dachte lange über
- seine Tat nach, war in tiefster Seele betrübt und sagte mit innerem Gram
- zu sich selbst: »Nein! Diese Strafe hat mir Gott auferlegt! Es war
- wohlverdient, daß mein Bild zurückgewiesen wurde; es war ja nur zu dem
- Zwecke geschaffen, um meinen Genossen zu vernichten. Ein teuflisches
- Gefühl des Neides hat meinen Pinsel geführt, daher mußte sich auch ein
- teuflisches Gefühl in dem Bilde wiederspiegeln.« Sofort suchte er seinen
- ehemaligen Schüler auf, umarmte ihn stürmisch, bat ihn um Verzeihung und
- bemühte sich -- soweit es ihm möglich war -- seine Schuld wieder gut zu
- machen. Von nun ab war er wieder friedlich bei der Arbeit wie ehedem,
- aber jetzt konnte man immer ein tiefes Sinnen in seinen Zügen bemerken.
- Er betete häufiger, er war viel schweigsamer als früher und drückte sich
- nicht mehr so schroff über die Menschen aus. Selbst das herbe Äußere
- seines Wesens schien sich verloren zu haben. Bald darauf aber ereignete
- sich etwas, was ihn noch tiefer erschütterte. Er hatte seinen Freund,
- der sich das Porträt von ihm ausgebeten hatte, schon seit längerer Zeit
- nicht gesehen und sich schon mehrmals vorgenommen, ihn zu besuchen, da
- erschien dieser selbst eines Tages plötzlich in seinem Atelier. Nachdem
- beide ein paar gleichgültige Worte gewechselt hatten, sagte der Freund:
- »Du hattest nicht so ganz unrecht, Bruder, als du das Porträt verbrennen
- wolltest! Mag es der Teufel holen; es hat etwas Schreckliches an sich!
- Ich glaube an keine Hexerei, aber man mag sagen, was man will! -- ich
- glaube, der Böse sitzt darin.«
- »Wieso?« fragte mein Vater.
- »Seitdem ich es bei mir aufgehängt habe, liegt es auf mir wie ein
- furchtbarer Druck ... als ob ich jemand ermorden wollte. Zeit meines
- Lebens wußte ich nicht, was Schlaflosigkeit heißt, jetzt aber habe ich
- nicht nur diesen Zustand kennen gelernt, ich habe auch solche Träume ...
- d. h. ich weiß selbst nicht recht, ob es nur Träume sind oder noch
- irgend etwas anders: wie wenn mich ein böser Geist erwürgen will ... und
- immer spukt der verfluchte Alte im Zimmer herum. Mit einem Worte, ich
- kann dir meinen Zustand gar nicht schildern. Niemals ist mir so etwas
- passiert. Ich bin all diese Tage wie ein Wahnsinniger herumgelaufen ...
- Eine entsetzliche Angst verfolgte mich, immer wartete ich auf etwas
- Furchtbares, ich fühlte, wie ich zu niemand ein fröhliches und
- aufrichtiges Wort sagen konnte, stets schien es mir, als würde ich
- beobachtet und bespitzelt. Erst nachdem ich das Porträt meinem Neffen
- geschenkt habe, der es sich selbst von mir erbeten hat, ist mir's, als
- wenn mir ein Stein vom Herzen gefallen wäre. Mit einem Schlage wurde mir
- wieder froh zumute, so wie du mich hier vor dir siehst! Wahrhaftig,
- Freund, da hast du aber einen schönen Teufel geschaffen!«
- Mein Vater lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit auf diese Erzählung
- und fragte schließlich: »Und jetzt ist das Porträt bei deinem Neffen?«
- »Ach was! Bei meinem Neffen ... Der hielt es ja auch nicht aus!«
- versetzte der Spaßvogel. »Des Wucherers eigene Seele scheint in dieses
- Porträt hinübergewandert zu sein. Er springt aus dem Rahmen, spaziert in
- dem Zimmer herum -- und was mein Neffe sonst noch darüber erzählt, geht
- über jede Beschreibung. Ich würde ihn tatsächlich für verrückt halten,
- hätte ich nicht fast ganz das Gleiche erlebt. Er hat das Porträt an
- irgend einen Kunstfreund verkauft, aber auch dieser konnte es nicht
- aushalten und hat es seinerseits wieder einem andern aufgehalst.«
- Diese Worte machten einen tiefen Eindruck auf meinen Vater. Er versank
- in tiefes Grübeln, wurde melancholisch und gelangte endlich zur
- Überzeugung, daß sein Pinsel dem Teufel als Werkzeug gedient hatte, daß
- das Leben des Wucherers tatsächlich zum Teil auf das Porträt
- übergegangen war, und daß es jetzt die Menschen beunruhige, ihnen
- dämonische Empfindungen einflöße, Künstler vom rechten Wege abbringe,
- häßliche Anwandlungen von Neid erzeuge usw. Drei Unglücksfälle, die sich
- unmittelbar darauf ereigneten: der plötzliche Tod seiner Frau, seiner
- Tochter und seines kleinen Sohnes, erschütterten ihn aufs tiefste, er
- hielt sie für eine Strafe des Himmels und entschloß sich, aus dem
- weltlichen Leben zu scheiden.
- Gleich nach Vollendung meines neunten Jahres ließ er mich in die
- Kunstschule eintreten und zog sich selbst nach Erledigung seiner
- geschäftlichen Angelegenheiten in ein einsames Kloster zurück, wo er
- bald die Mönchskutte anlegte. Dort setzte er alle Brüder durch seine
- asketische Lebensführung und durch die strenge Beobachtung aller
- Klostersatzungen in Erstaunen. Als der Prior erfahren hatte, daß er ein
- Maler sei, trug er ihm auf, für die Klosterkirche das Bild ihres
- Heiligen zu malen. Aber der fromme und demütige Bruder erklärte
- entschieden, daß er unwürdig sei, den Pinsel zu führen, weil er ihn
- entweiht habe, und daß er seine Seele zuerst durch harte Arbeit und
- schwere Opfer reinigen müsse, um wieder würdig zu sein, eine solche
- Arbeit zu übernehmen. Zwingen wollte man ihn nicht. Er versuchte es für
- seine Person -- soweit dies möglich war -- die strengen Satzungen des
- Klosterlebens noch zu verschärfen; schließlich genügte ihm jedoch auch
- dieses nicht mehr, es erschien ihm nicht hart genug. Er erbat sich den
- Segen des Priors, verließ das Kloster und zog sich in eine völlige
- Einsamkeit zurück. Er baute sich aus Baumzweigen eine Hütte, nährte sich
- nur von rohen Wurzeln, trug Steine von einer Stelle zur andern, stand
- von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang mit gen Himmel erhobenen Armen da,
- murmelte beständig Gebete -- mit einem Worte, er erlegte sich alle nur
- möglichen Geduldsproben und Prüfungen auf, für die man nur in den
- Lebensbeschreibungen der Heiligen Beispiele finden kann. So peinigte er
- einige Jahre hindurch seinen Körper und stärkte ihn gleichzeitig mit
- Hilfe der belebenden Kraft des Gebetes. Endlich erschien er eines Tages
- wieder in dem Kloster und sprach entschlossen zum Prior: »Jetzt bin ich
- bereit! Wenn es Gott gefällt, werde ich meine Arbeit vollenden.«
- Der Gegenstand, den er darstellen wollte, war die Geburt Jesu. Ein
- ganzes Jahr verbrachte er bei seiner Arbeit, ohne seine Zelle zu
- verlassen, wobei er sich nur notdürftig durch kärgliche Nahrung am Leben
- erhielt und ununterbrochen betete. Als diese Zeit vorüber war, war das
- Bild fertig. Es war ein Wunderwerk der Malerei geworden. Hier muß ich
- bemerken, daß weder die Brüder, noch der Prior viel von der Malerei
- verstanden, aber alle waren über die ungewöhnliche Reinheit und
- Heiligkeit der Gestalten aufs höchste erfreut. Eine göttliche Demut und
- Milde in den Zügen der heiligen Gottesmutter, die sich über ihr Kind
- beugt, ein tiefes Sinnen in den Augen des göttlichen Kindes, das schon
- etwas von der Zukunft zu erkennen scheint, ein feierliches Schweigen der
- von dem göttlichen Wunder überwältigten Könige, die vor dem Kinde knien,
- und endlich eine überirdische, unbeschreibliche Stille, die über dem
- ganzen Bilde lag: dies alles verband sich zu einer so harmonischen Kraft
- und Macht der Schönheit, daß der Eindruck ein geradezu zauberischer,
- magischer war. Alle Brüder stürzten vor dem neuen Bilde auf die Knie,
- und der gerührte Prior sprach: »Wahrlich! Es ist nicht möglich, daß ein
- Mensch nur mit Hilfe menschlicher Kunst ein solches Bild zu schaffen
- vermochte; eine höhere, heilige Kraft hat deinen Pinsel geführt; des
- Himmels Segen ruhte auf deinem Werke!«
- Um diese Zeit schloß ich mein Studium in der Akademie ab, ich erhielt
- die goldene Medaille und mit ihr eröffnete sich mir die frohe Aussicht
- auf eine Kunstreise nach Italien, den schönsten Traum eines
- zwanzigjährigen Künstlers. Ich hatte nur noch die Pflicht, mich von
- meinem Vater, von dem ich seit zwölf Jahren getrennt lebte, zu
- verabschieden. Ich muß gestehen, daß sein Bild längst aus meiner
- Erinnerung geschwunden war. Ich hatte einiges über die Strenge und
- Heiligkeit seines Lebens gehört und bereitete mich schon im voraus
- darauf vor, das herbe Äußere eines durch das ewige Fasten und Wachen
- abgemagerten und vertrockneten Anachoreten zu erblicken, für den nichts
- auf der Welt existiert, als seine Zelle und seine Gebete. Aber wie war
- ich erstaunt, als ich mich plötzlich einem herrlichen, göttlichen Greise
- gegenüber befand! In seinem Gesichte spiegelte sich auch nicht die
- geringste Ermattung oder Müdigkeit, es strahlte vielmehr von der
- Klarheit und Helligkeit einer himmlischen Freude. Ein schneeweißer Bart
- und ganz dünne, fast ätherische Haare von der gleichen silbrigen Farbe
- bedeckten malerisch seine Brust und die Falten seiner schwarzen Kutte,
- und reichten bis zu dem Stricke herab, der sein ärmliches Mönchsgewand
- umgürtete. Am meisten jedoch wunderte ich mich darüber, aus seinem Munde
- Gedanken und Worte über die Kunst zu vernehmen, die ich sicherlich noch
- lange in meiner Seele bewahren werde. Und ich wünschte aufrichtig, daß
- ein jeder meiner Kollegen ein Gleiches tue.
- »Ich habe auf dich gewartet, mein Sohn,« sagte er, während er mich
- segnete; »dir steht ein Weg bevor, den du von nun an dein ganzes Leben
- hindurch beschreiten wirst. Dein Weg ist rein, irre nicht von ihm ab. Du
- hast Talent, Talent aber ist die kostbarste Gabe Gottes. Richte es also
- nicht zugrunde. Erforsche, studiere alles was du siehst! Mache alles
- deinem Pinsel dienstbar! Doch strebe stets danach, in jedem Ding die
- innere Idee zu entdecken, und vor allem das tiefe Geheimnis der
- Schöpfung zu ergründen. Selig ist der Auserwählte, der es enthüllt hat.
- Für ihn gibt's in der Natur kein gemeines Motiv. Im Geringen und Kleinen
- bleibt der wahrhaft schöpferische Künstler ebenso erhaben wie im Großen.
- Das Verächtliche wirkt nicht mehr verächtlich, weil es von der
- herrlichen Seele des Schöpfers durchleuchtet wird und einen hohen
- Ausdruck erhält, indem es durch das reinigende Feuer seines Geistes
- hindurchgeht. Die Kunst läßt den Menschen das zukünftige himmlische
- Paradies ahnen; schon aus diesem Grunde steht sie höher als alles
- andere. Und wie die feierliche Ruhe jede weltliche Erregung, wie das
- Schaffen die Zerstörung, wie der Engel -- bloß durch die reine Unschuld
- seiner lichten Seele -- all die unzählbaren Kräfte und stolzen
- Leidenschaften des Satans übertrifft, so steht erhaben über allem, was
- es auf der Welt gibt, das hohe Werk der Kunst! Ihr sollst du alles zum
- Opfer bringen, sie mußt du lieben mit dem ganzen Feuer deiner Seele,
- nicht mit der Inbrunst, die die irdische Wollust entfacht, sondern mit
- einer stillen himmlischen Begeisterung; ohne sie ist der Mensch nicht
- imstande, sich über die Erde zu erheben und die hohe wunderbare Harmonie
- zu erzeugen, die den Frieden in unser Herz gießt. Denn um die ganze Welt
- zu dieser Besänftigung und Versöhnung zu bringen, steigt ja ein edles
- Kunstwerk zu uns vom Himmel herab. Daher erregt es nie Unfrieden und
- Empörung in der Seele, sondern strebt ewig, gleich einem wundersam
- klingenden Gebet, zu Gott empor. Freilich gibt es Augenblicke, finstere
- Augenblicke ...« Er hielt inne und ich sah, wie sich plötzlich sein
- klares Antlitz verdüsterte, als hätte eine Wolke es beschattet. »Ich
- hatte ein Erlebnis ...« fuhr er fort, »bis auf den heutigen Tag ist mir
- nicht klar, was jene rätselhafte Gestalt bedeutete, deren Porträt ich
- damals gemalt habe. Es war wie eine teuflische Erscheinung. Ich weiß,
- die Welt leugnet die Existenz des Teufels, und daher will auch ich nicht
- über ihn sprechen. Ich will nur sagen, daß ich jenen Mann nur mit einem
- heftigen Widerwillen gemalt habe. Ich arbeitete ohne jede Freude und
- Liebe an meinem Werk. Ich mußte mich mit Gewalt zur Arbeit zwingen. Ich
- suchte mein inneres Gefühl zu betäuben und der Natur treu zu bleiben.
- Das war kein Kunstwerk, das ich schuf, und daher sind auch die
- Empfindungen, die sich beim Anblick dieses Bildes aller Menschen
- bemächtigen, wild und rebellisch; es sind Gefühle der Unruhe, die es
- erzeugt, und keine Offenbarungen hoher Kunst, weil der Künstler auch in
- der Wiedergabe der Leidenschaft die edle Ruhe bewahrt. Ich habe gehört,
- daß dieses Porträt von Hand zu Hand geht und überall quälende,
- peinigende Eindrücke erregt, daß es im Künstler Gefühle des Neides, des
- dumpfen Hasses gegen seine Genossen und den bösen Trieb zur Verfolgung
- und Unterdrückung entfache. Möge der Allerhöchste dich vor solchen
- Leidenschaften bewahren! Es gibt nichts Entsetzlicheres als sie. Es ist
- besser, alle Leiden eines Gehetzten und Verfolgten auf sich zu nehmen,
- als einem andern auch nur das geringste Unrecht zuzufügen. Rette die
- Reinheit deiner Seele! Wem ein Talent geschenkt ward, dessen Seele muß
- reiner und edler sein, denn die der andern. Jenen wird vieles verziehen
- werden, ihm aber nichts. Den, der sein Haus in einem festlichen Gewande
- verläßt, braucht nur ein vorüberfahrender Wagen ein wenig mit Kot zu
- bespritzen, und schon umringen ihn hunderte von Leuten, zeigen mit den
- Fingern auf ihn und spotten über seine Nachlässigkeit, während ein
- anderer von unten bis oben beschmutzt sein kann, ohne daß es die Menge
- bemerkt; er trägt einen gewöhnlichen Alltagsrock, und da fällt es eben
- nicht weiter auf.«
- Nach diesen Worten segnete er und umarmte er mich. Niemals in meinem
- Leben fühlte ich mich so erhoben wie an diesem Tage. Mit tiefer
- Ehrfurcht und einem Gefühle seltener Bewunderung, das mehr war, als
- einfache Kindesliebe, schmiegte ich mich an seinen Busen und küßte seine
- herabhängenden, silberweißen Haare.
- Eine Träne glänzte in seinen Augen. »Erfülle mir noch eine Bitte, lieber
- Sohn,« sagte er beim Abschied zu mir. »Vielleicht gelingt es dir einmal,
- das Porträt zu entdecken, von dem ich dir erzählt habe. Du wirst es
- sofort an den ungewöhnlichen Augen und an ihrem unnatürlichen Ausdruck
- erkennen. Solltest du es finden, so gelobe mir, es zu vernichten.«
- Sie können selbst beurteilen, ob es mir nach alledem noch möglich war,
- ihm dieses heilige Versprechen zu verweigern. Ich schwur ihm hoch und
- heilig, seine Bitte zu erfüllen. Fünfzehn Jahre lang vermochte ich
- nicht, irgend etwas zu entdecken, was der Beschreibung meines Vaters
- auch nur im geringsten entsprach, als mir plötzlich bei dieser Auktion
- ....«
- Der Künstler vollendete den Satz nicht; er richtete sein Auge auf die
- Wand, um das Porträt noch einmal zu prüfen, und alle, die ihm mit
- Spannung zugehört hatten, taten instinktiv dasselbe, wie er; aller Augen
- suchten das geheimnisvolle Porträt. Aber zum allgemeinen Erstaunen war
- es plötzlich von der Wand verschwunden. Ein leises Gemurmel und
- Geflüster durchlief die Menge, doch plötzlich eilte wie ein Lauffeuer
- das Wort: Gestohlen! durch den Saal. Offenbar war es jemand gelungen,
- während die Zuhörer gespannt auf den Erzähler lauschten, das Bild zu
- entwenden, und noch lange nachher blieben die Zuhörer im Zweifel, ob sie
- diese merkwürdigen Augen wirklich gesehen hatten, oder ob es nur ein
- Traum gewesen war: ein Traum, der ihre von der Betrachtung der alten
- Gemälde ermüdeten Augen getäuscht hatte, um gleich darauf für immer zu
- verschwinden.
- Anhang zum zweiten Teil
- Varianten zum zweiten Teil der »Toten Seelen«.
- Der zweite Band der »Toten Seelen« wurde im Jahre 1840 begonnen, allein
- das Werk blieb Fragment. Von der ursprünglichen Fassung dieses zweiten
- Teiles hat sich nur ein einziges Heft mit dem ersten Entwurfe eines
- Kapitels erhalten. 1842 arbeitete Gogol nach seinen ersten
- Aufzeichnungen einen neuen Entwurf aus und schrieb ihn sauber ab. Es ist
- jedoch nicht bekannt, aus wieviel Kapiteln er bestand. Von dieser
- Fassung haben sich vier Hefte erhalten. Noch im selben Jahre 1842
- beginnt Gogol den ins Reine geschriebenen Text aufs neue umzuarbeiten
- und entwirft in diesen Heften: »ein Chaos, aus dem der Kosmos der >Toten
- Seelen< hervorgehen soll«. Dies ist der Text, den wir unserer Ausgabe
- des zweiten Bandes zugrunde gelegt haben. Der vollständige Text dieser
- Fassung ist nicht auf uns gekommen, er wurde Juni und Juli 1845 vom
- Autor verbrannt. Wir führen in diesem Anhang die wichtigsten Varianten
- der ursprünglichen Fassung an. Sie bilden eine wichtige Ergänzung zum
- vorliegenden Text und sind geeignet, dem Leser einen tieferen Einblick
- in die Idee und den Grundplan des ganzen Werkes, vorzüglich aber des
- unvollendeten zweiten Teiles zu vermitteln.
- _Der Herausgeber._
- * * * * *
- 1. Wir haben unserem Text auch die _letzten_ Verbesserungen und
- Ergänzungen mit eingefügt, die zum Teil über den Zeilen, zum Teil auf
- dem linken Rande der Seite nachgetragen waren. Das folgende Stück ist
- mehrfach verändert und umgestaltet worden. Der ursprüngliche Text hatte
- nach seiner ersten Umarbeitung folgende Fassung erhalten:
- Ob solche Charaktere _geboren_ werden -- oder ob sie allmählich dazu
- werden, was sie sind -- diese Frage läßt sich nicht beantworten. Wir
- wollen daher lieber zuerst die Geschichte seiner Kindheit und seiner
- Erziehung erzählen -- und den Leser selbst urteilen lassen. Der Direktor
- der Schule, in welcher Tentennikow erzogen wurde, war ein ganz
- außerordentlicher Mann: Alexander Petrowitsch besaß die Gabe, das Wesen
- eines Menschen durch eine Art Instinkt zu erraten. Es gab kein Kind,
- das, wenn es einen Streich begangen hatte, nicht selbst zu ihm ging, um
- ihm alles zu beichten. Aber mehr noch. Wenn der kleine Wildfang ihn
- verließ, dann ließ er nicht etwa die Nase hängen, sondern er ging
- erhobenen Hauptes von ihm hinaus, mit dem festen Entschluß, wieder gut
- zu machen, was er verbrochen hatte. In den Vorwürfen, die Alexander
- Petrowitsch seinen Schülern machte, lag etwas Ermutigendes und
- Kräftigendes: nach ihm war der Ehrgeiz die eigentliche Triebfeder, die
- die menschlichen Fähigkeiten zur Entwickelung und zur Reife bringt, und
- daher war er vor allem darauf bedacht, diesen Trieb zu erwecken.
- Alexander Petrowitsch sprach nie vom Betragen der Kinder. Statt dessen
- pflegte er zu sagen: »Ich verlange Verstand und nichts anderes von
- meinen Schülern. Wer darnach strebt, seinen Verstand auszubilden, der
- denkt nicht an dumme Streiche; diese verschwinden dann ganz von selbst.«
- Man warf ihm vor, er ließe den Begabten gar zu viel Freiheit und erlaube
- ihnen, sich über die weniger Begabten lustig zu machen und sie sogar zu
- kränken. Hierauf pflegte er zu entgegnen: »Was soll ich machen? Ich habe
- nun einmal eine Vorliebe für die Klugen und ich will, daß alle es sehen
- sollen.« Er hielt es auch für notwendig, vor allem ....
- 2. In der Gesamtausgabe der Werke Gogols, die 1867 unter der Redaktion
- von Th. W. Tschishow erschienen ist, hat diese Stelle folgenden
- Wortlaut: »Dieser wunderbare Lehrer machte einen tiefen Eindruck auf den
- Knaben. Andrei Iwanowitschs feuriges und von Ehrgeiz erfülltes Herz
- pochte noch lange bei dem Gedanken, daß er zu den Auserwählten gehören
- werde, die den zweiten Lehrgang durchmachen durften. Und in der Tat mit
- sechzehn Jahren hatte Tentennikow seine Genossen so weit überholt, daß
- er als einer der Tüchtigsten in die oberste Klasse versetzt wurde. Er
- selbst wollte kaum an dies große Glück glauben.«
- 3. Variante der andern Fassung.
- Als er klein war, war er ein gescheiter und begabter Knabe gewesen, bald
- lebhaft und ausgelassen, bald träumerisch und nachdenklich. War es ein
- glücklicher oder unglücklicher Zufall -- genug er kam in eine Schule,
- deren Direktor trotz einiger Schwächen und Eigenheiten, ein in seiner
- Art ungewöhnlicher Mensch war. Alexander Petrowitsch besaß die Gabe, das
- Wesen und die Eigenart russischer Charaktere richtig herauszufühlen und
- zu erkennen; und er wußte, welche Sprache man mit ihnen sprechen muß.
- Nie ließ ein Kind die Nase hängen, wenn es von ihm fortging; im
- Gegenteil, selbst wenn es einen strengen Verweis erhalten hatte, fühlte
- es sich gestärkt und ermutigt und von dem glühenden Wunsche beseelt,
- seinen Fehler oder sein Vergehen wieder gut zu machen. Die Schar der
- Zöglinge dieses Mannes war äußerlich so lebhaft, unartig und mutwillig,
- sodaß man sie für ein ungezügeltes Korps von Freischärlern hätte halten
- können; aber das wäre eine Täuschung gewesen; die Macht _eines_ Menschen
- hielt dieses ganze Korps zusammen. Es gab keinen Schelm oder Wildfang,
- der nicht selbst zum Direktor gekommen wäre, um ihm all seine Streiche
- und Untaten zu beichten. Die feinsten Regungen ihrer Seele waren ihm
- bekannt und vertraut. Sein Tun und Lassen war in jeder Hinsicht
- ungewöhnlich. Er erklärte, man müsse im Menschen vor allem das Ehrgefühl
- wecken -- er nannte den Ehrgeiz die Kraft, die den Menschen
- vorwärtstreibt --, ohne diesen Trieb zu entbinden, sei es unmöglich,
- einen Menschen zur Tätigkeit zu spornen. Manche Unarten und Streiche
- ließ er den Kindern hingehen, und machte gar nicht den Versuch, sie zu
- unterdrücken: in diesem Überdenstrangschlagen der Kinder sah er den
- Beginn der Entwickelung ihrer seelischen Regungen. Er bedurfte dessen,
- um zu erforschen, was im Kinde verborgen lag. So beobachtet ein kluger
- Arzt ruhig die vorübergehenden Anfälle des Kranken oder einen Ausschlag,
- der sich plötzlich auf der Haut zeigt, und er bekämpft sie nicht,
- sondern untersucht und betrachtet sie aufmerksam, um um so sicherer zu
- erkennen, was in des Menschen Innern vorgeht.
- Die Zahl seiner Lehrer war nicht sehr groß: in den meisten Fächern
- unterrichtete er selbst, und man muß gestehen, er verstand es, ohne
- Pedanterie und weitläufige Terminologie, ohne jene großartigen
- Anschauungen und Perspektiven, mit denen junge Professoren viel Staat zu
- machen pflegen, das eigentliche Wesen, die Seele einer Wissenschaft in
- wenigen Worten wiederzugeben, so daß auch die ungereiften Geister es
- sofort begriffen, warum sie dieses Wissen nötig hatten. Er behauptete,
- das was der Mensch am meisten brauche, sei die Wissenschaft des Lebens;
- wenn er sich erst diese angeeignet habe, dann werde er schon selbst
- begreifen und einsehen, womit er sich in erster Linie beschäftigen
- müsse.
- Diese Wissenschaft hatte er zum Gegenstand eines besonderen Lehrfaches
- erhoben, an dem nur die Bevorzugtesten teilnehmen durften. Die
- Unbegabten entließ er schon nach Beendigung der ersten Klasse, worauf
- sie gleich in den Staatsdienst eintraten. Er war nämlich der Ansicht,
- daß man sie nicht zuviel quälen und plagen dürfe; es sei schon genug,
- wenn man geduldige und fleißige Arbeiter aus ihnen mache, die einen
- gegebenen Auftrag genau und pünktlich zur Ausführung bringen, und sich
- ohne Hochmut, Überhebung und einen allzu weiten Horizont in ihrer Sphäre
- bewegen könnten. »Mit den Klugen und Begabten dagegen muß ich mir viel
- Mühe geben,« pflegte er oft zu sagen. Und hier, beim Unterricht dieses
- Gegenstandes wurde Alexander Petrowitsch ein völlig anderer Mensch; er
- erklärte schon in den allerersten Stunden, bisher habe er von seinen
- Schülern nichts wie gesunden Menschenverstand gefordert, nun aber werde
- er von ihnen einen höheren Verstand verlangen -- nicht jene Art von
- Verstand, die dazu gehört, um einen Dummkopf zu hänseln oder lächerlich
- zu machen, sondern jene, die es über sich zu gewinnen vermag, jegliche
- Beleidigung zu ertragen, dem Toren zu vergeben und sich stets zu
- beherrschen. Hier erst verlangte er das von seinen Schülern, was andre
- schon von Kindern fordern. Das war es, was er eine höhere Art von
- Verstand nannte: In jeder Lebenslage in Schmerz, Bitternis und
- Enttäuschung jene hohe Ruhe zu bewahren, -- die das dauernde Besitztum
- jedes Menschen sein sollte -- das war es, was er Verstand nannte. Aber
- Alexander Petrowitsch zeigte bei dieser Gelegenheit auch, daß er die
- Wissenschaft vom Leben wirklich kannte. Von allen Wissenschaften wählte
- er nur die aus, welche geeignet waren, aus dem Menschen einen tüchtigen
- Bürger seines Landes zu machen. Der größte Teil der Vorlesungen bestand
- darin, daß der Lehrer den Schülern erzählte, was den Menschen in allen
- Berufsarten und auf allen Stufen des Staatsdienstes und privater
- Betätigung erwarte. Alle Bitternisse und Enttäuschungen, alle
- Hindernisse, die sich vor dem Menschen auf seinem Lebenswege erheben,
- alle Verführungen und Versuchungen, die ihm bevorstehen, führte er ihnen
- nackt und ungeschminkt vor Augen, und er verheimlichte nichts von ihnen.
- Nichts war ihm fremd, wie wenn er selbst alle Berufe und Ämter kennen
- gelernt hätte. Mit einem Wort, die Zukunft, wie er sie den Schülern
- ausmalte, war keineswegs rosig. Und seltsam! sei es nun, daß der Ehrgeiz
- in ihnen so stark angeregt war, sei es, daß im Auge dieses merkwürdigen
- Pädagogen etwas aufblitzte und leuchtete, das dem Jüngling ein
- beständiges »Vorwärts« zuzurufen schien -- dieses herrliche Wort,
- welches im russischen Volke solche Wunder wirkt, -- genug, die jungen
- Leute fingen sogleich selbst an, die Schwierigkeiten und Fährnisse
- aufzusuchen, und dürsteten darnach, sich überall da tätig und wirksam zu
- zeigen, wo es ein Hindernis zu überwinden, wo es galt, einen hohen Mut
- und Seelenstärke an den Tag zu legen. Es kam etwas Nüchternes und
- Vernünftiges in ihr Leben hinein. Alexander Petrowitsch stellte
- allerhand Versuche und Prüfungen mit ihnen an, und sorgte dafür, daß
- ihnen bald durch sie selbst, bald seitens ihrer eigenen Kameraden
- schwere Kränkungen widerfuhren; als sie es aber merkten, wurden sie noch
- vorsichtiger. Der Erfolg dieses Lehrganges war nicht sehr bedeutend. Die
- wenigen Jünglinge jedoch, die ihn vollständig absolvierten, waren
- abgehärtete Männer geworden, die gewissermaßen im Pulverdampf gestanden
- hatten. Im Dienste wußten sie sich auf dem exponiertesten Posten zu
- halten, während viele, die weit klüger waren, als sie, es nicht lange
- aushielten, wegen kleiner persönlicher Unannehmlichkeiten den Dienst
- quittierten oder, ahnungslos wie sie waren, in die Hände von Gaunern und
- Erpressern gerieten. Dagegen verharrten die Zöglinge des Alexander
- Petrowitsch nicht nur fest auf ihren Posten, sondern verstanden es auch,
- gereift durch Menschen- und Seelenkenntnis, einen hohen sittlichen
- Einfluß noch auf die schlechten und unehrlichen Menschen auszuüben.
- 4. In dem von Tschishow herausgegebenen Text der »Toten Seelen« findet
- sich folgende Variante dieser Stelle:
- »An die Stelle Alexander Petrowitschs trat ein gewisser Fjodor
- Iwanowitsch, ein gutmütiger und eifriger Mann, der jedoch eine ganz
- andre Ansicht vertrat als jener. In dem freien Sichgehenlassen der
- Kinder der oberen Klasse witterte er etwas wie Unerzogenheit und
- Zügellosigkeit. Daher ging er sogleich daran, allerlei äußere
- Vorschriften und Regeln aufzustellen, er verlangte, daß die jungen Leute
- während der Stunde die äußerste Stille bewahren und niemals anders als
- paarweise spazieren gehen sollten; ja er wollte sogar die Distanz
- zwischen zwei Paaren mit dem Metermaße abmessen. Die Schüler mußten, des
- schöneren Anblicks wegen, nach der Größe und nicht nach ihren
- Fähigkeiten auf den Schulbänken Platz nehmen, so daß die Dummen die
- fettesten Bissen erhielten und -- die Klugen sich mit den Knochen
- begnügen mußten. Dies erregte Unzufriedenheit, und alles murrte laut,
- als der neue Direktor wie mit Absicht im Gegensatz zu seinem Vorgänger
- erklärte, daß er keinen Wert auf die Begabung und die Fortschritte der
- Schüler in den Wissenschaften lege, vor allem auf ein gutes Betragen
- sehe, und daß er einen Knaben, der schlecht lerne, aber ein gutes
- Betragen habe, noch immer einem gescheiten Schlingel vorziehe. Aber
- gerade das, wonach er so eifrig strebte, sollte Fjodor Iwanowitsch nicht
- erreichen.«
- 5. Variante der andern Fassung.
- Unterdessen aber wartete seiner ein andres Schauspiel. Das ganze Gut
- hatte von der Ankunft erfahren und sich vor der Freitreppe des
- herrschaftlichen Hauses versammelt. Bauernkittel, Bärte von jeder nur
- möglichen Form: spatenförmige, schaufelförmige, keilförmige, rote,
- blonde, silberweiße ... bedeckten den Platz. Die Bauern schrieen aus
- voller Kehle: »Bist du endlich da Väterchen? Wir haben so lange auf dich
- gewartet!« Unter den etwas ferner stehenden kam es zu einer Prügelei,
- weil jeder sich in die vorderen Reihen durchdrängen wollte. Ein altes,
- welkes Mütterchen, das wie eine getrocknete Birne aussah, wand sich
- zwischen den Beinen der andern durch, ging auf ihn zu, schlug die Hände
- zusammen und quiekte: »Du mein liebes Rotznäschen! Nein, wie mager du
- bist. Die verfluchten Deutschen haben dich, scheint's, halbtot gequält!«
- -- »Fort mit dir, Alte!« riefen ihr all die Schaufel-, Spaten- und
- Spitzbärtigen zu: »drängt sich da vor, das krumme Gestell!« Einer von
- ihnen ließ hier noch ein Wörtchen folgen, bei dem nur ein russischer
- Bauer sich das Lachen verbeißen kann. Der Herr aber hielt es nicht aus
- und lachte laut auf, und doch war er gerührt bis in die tiefste Seele.
- »So viel Liebe! Und wofür nur?« dachte er. »Dafür, daß ich sie nie
- gesehen, mich nie um sie gekümmert habe! Von heut ab aber geb ich euch
- das Versprechen, eure Mühen und Arbeiten mit euch zu teilen! Ich will
- all meine Kräfte anspannen und euch helfen, das zu werden, was ihr sein
- solltet, wozu euch eure eigenste gute und prächtige Natur bestimmt hat,
- -- eure Liebe zu mir soll nicht vergeblich gewesen sein, ich will euer
- wahrhafter Vater werden!«
- Und Tentennikow ging ganz ernstlich an die Verwaltung und
- Bewirtschaftung des Gutes. Er sah sofort, daß sein Verwalter wirklich
- ein altes Weib und ein Narr war mit allen schlechten Eigenschaften eines
- Verwalters; d. h. er führte zwar sorgfältig Rechnung über Hühner und
- Eier, über Hanf und Leinwand, welche von den Bauernfrauen geliefert
- wurden, aber er hatte keine Ahnung von der Getreideernte und Aussaat,
- und zu alledem war er sehr argwöhnisch und fürchtete sich vor jedem
- Bauern, weil er glaubte, er stelle ihm nach dem Leben. Tentennikow jagte
- den dummen Verwalter davon und nahm sich einen andern, einen
- energischen, forschen Mann; er ging über die nebensächlichen Dinge
- hinweg und richtete sein Augenmerk auf das Wesentliche, er setzte den
- Erbzins herab, verringerte die Fronarbeit, ließ den Bauern mehr Zeit,
- für sich selbst zu arbeiten, und glaubte, nun würde alles ganz
- vortrefflich weitergehen. Er interessierte sich für alles, erschien
- selbst auf den Feldern, auf der Tenne, auf der Korndarre, in den Mühlen,
- am Landungsplatz und war beim Laden und bei der Abfertigung der Barken
- und Kähne zugegen.
- »Ja, ja, der ist schnellfüßig!« sagten die Bauern und kratzten sich
- hinter den Ohren, denn sie waren bei dem langen Weiberregiment des
- früheren Verwalters allesamt in Trägheit und Müßiggang verfallen. Aber
- das dauerte nicht lange.
- 6. Variante der andern Fassung.
- Bisweilen sieht wohl ein Mensch etwas Ähnliches im Traume und dann
- träumt er sein ganzes Leben lang davon, (die Wirklichkeit versinkt ihm
- für alle Zeiten) und er ist zu nichts mehr zu brauchen. Ihr Name war
- Ulinka. Sie hatte eine merkwürdige Erziehung genossen. Sie war von einer
- englischen Gouvernante erzogen worden, die kein Wort Russisch verstand.
- Ihre Mutter war schon früh gestorben, und ihr Vater hatte keine Zeit,
- sich viel um sie zu kümmern. Übrigens konnte es bei seiner unsinnigen
- Liebe zu seiner Tochter nicht anders kommen, als daß er sie verwöhnte.
- Es ist außerordentlich schwer ein Bild von ihr zu geben. Sie hatte etwas
- Lebendiges wie das Leben selbst. Sie war eigentlich mehr lieblich als
- schön und gütig als klug; sie war schlanker und ätherischer als ein
- klassisches Frauenbildnis. Man hätte unmöglich sagen können, welches
- Land ihr seinen Stempel aufgedrückt habe, denn man hätte nicht so leicht
- ein ähnliches Profil und ähnliche Gesichtszüge finden können, es sei
- denn auf antiken Kameen. Da sie in voller Freiheit aufgewachsen war, war
- alles an ihr eigenartig und urwüchsig. Wenn jemand gesehen hätte, wie
- ein plötzlicher Zorn strenge Falten in ihre herrliche Stirne grub, und
- wie sie sich leidenschaftlich mit ihrem Vater stritt, er hätte glauben
- können, dies sei das launischste Geschöpf von der Welt. Aber sie wurde
- nur dann zornig, wenn sie davon hörte, daß ein anderer ungerecht oder
- grausam behandelt worden war. Wie schnell jedoch wäre dieser Zorn
- verschwunden, wenn sie denselben Menschen, dem sie zürnte, im Unglück
- gesehen hätte. Wie hätte sie ihm da ihren Geldbeutel zugeworfen, ohne
- darüber nachzudenken, ob dies klug oder dumm sei, wie hätte sie ihr
- Kleid in Stücke gerissen, um ihn zu verbinden, wenn er verwundet gewesen
- wäre.
- 7. Variante der andern Fassung.
- »O nein, Exzellenz,« fiel hier Tschitschikow ein, indem er sich an
- Ulinka wandte. »Als Christen müssen wir gerade solche Menschen lieben.«
- Und er fuhr gleich darauf mit einem verschmitzten Lächeln zum General
- gewendet fort: »Kennen Sie vielleicht die Geschichte, Exzellenz: Lieb'
- uns so schwarz, wie wir sind, wenn wir weiß und sauber sind, wird uns
- jeder lieb haben.«
- »Nein, ich kenne sie nicht.«
- »Oh, das ist eine sehr verzwickte Geschichte,« sprach Tschitschikow noch
- immer verschmitzt lächelnd. »Auf dem Gute des Fürsten Guksowski, den
- Eure Exzellenz sicherlich kennen ...«
- »Nein, ich habe nicht das Vergnügen.«
- »Lebte einmal ein Verwalter, ein junger Deutscher, Exzellenz. Eines
- Tages mußte er wegen der Rekrutenaushebung usw. nach der Stadt fahren.
- Natürlich mußten die Richter tüchtig geschmiert werden. Übrigens
- gewannen sie ihn gleichfalls lieb und nahmen ihn sehr freundlich auf.
- Einmal war er bei ihnen zum Mittag eingeladen, und da sagte er denn
- unter anderem: >Nun, meine Herren? Wollen Sie _mir_ nicht auch einmal
- die Ehre geben und mich auf dem Gute des Fürsten besuchen?< >Gern<,
- sagen sie. >Wir kommen<. Kurze Zeit darauf hatte das Gericht auf einem
- der Güter des Grafen Trechmetjew eine Untersuchung vorzunehmen. Eure
- Exzellenz kennen doch wohl den Grafen ...?«
- »Nein, ich habe nicht die Ehre.«
- »Die Untersuchung selbst fand nun freilich nicht statt, dafür aber
- kehrten sie im Wirtschaftsgebäude, beim alten gräflichen Ökonomen ein,
- und da wurden dann drei Tage und drei Nächte lang ununterbrochen Karten
- gespielt. Die Teemaschine und der Punsch wurden natürlich überhaupt
- nicht abgetragen. Bald war es dem Alten indessen zu viel, und, um sie
- los zu werden, sagte er zu ihnen: >Warum sucht ihr denn nicht diesen
- Deutschen, den Verwalter des Fürsten, auf? Er wohnt ja gar nicht weit
- von hier.< -- >Ei, das ist eine Idee,< schreien sie, setzen sich
- halbbetrunken, unrasiert und verschlafen wie sie sind in ihre Wagen, und
- fort geht es zu dem Deutschen. -- Dieser aber hatte sich gerade
- verheiratet, Exzellenz: mit einem jungen subtilen Fräulein aus einem
- Pensionat (Tschitschikow versuchte die Subtilität mimisch auszudrücken).
- Sie saßen gerade zusammen beim Tee und dachten an nichts Schlimmes -- da
- öffnet sich plötzlich die Tür -- und die ganze Gesellschaft stürmt
- herein.«
- »Ich kann mir die Situation denken -- die sind mir aber auch gut!«
- bemerkte der General.
- »Der Verwalter war ganz erschrocken und sagt: >Was wünschen Sie?<
- >He!< rufen sie. >Bist du so einer?< Und bei diesen Worten veränderten
- sich plötzlich ihre Gesichter und ihre Mienen. >Wir kommen in einer
- offiziellen Angelegenheit. Wieviel Schnaps brennt ihr hier auf dem Gute!
- Her mit den Kassenbüchern!< Der versucht Einwände zu machen. >Hollah. Wo
- sind die Zeugen!< Sie lassen ihn packen, schleppen ihn gebunden in die
- Stadt, und der brave Deutsche muß anderthalb Jahr in der
- Untersuchungshaft schmachten.«
- »Schöne Geschichte!« sagte der General.
- Ulinka schlug vor Schreck die Hände zusammen.
- »Seine Frau suchte sich überall für ihn zu verwenden,« fuhr
- Tschitschikow fort. »Aber was kann eine junge, unerfahrene Frau
- ausrichten? Noch gut, daß sich ein paar brave Leute fanden, die ihr den
- Rat gaben, die Sache auf dem Wege des Vergleichs aus der Welt zu
- schaffen. So kam er denn schließlich mit zweitausend Rubeln und einem
- Mittagessen davon. Während dieses Mittagessens nun, als alle bereits ein
- wenig angeheitert waren, und er gleichfalls, sagen sie plötzlich zu ihm:
- >Schämtest du dich denn gar nicht, uns so zu behandeln? Du wolltest uns
- durchaus geschniegelt und gebügelt, rasiert und im Frack vor dir sehen:
- Nein Verehrtester, lieb uns so schwarz wie wir sind, wenn wir weiß und
- sauber sind, wird uns jeder lieb haben.<«
- Der General lachte laut auf. Ulinka seufzte schmerzlich.
- »Ich verstehe nicht, wie Sie lachen können, Papa!« sagte sie schnell,
- und edler Zorn verdunkelte ihre herrliche Stirn ... »So eine gemeine
- Handlung, für die man sie, ich weiß nicht wohin, schicken sollte ...«
- »Liebes Kind, ich verteidige sie ja gar nicht,« sagte der General, »aber
- was soll ich machen, wenn ich es so lächerlich finde. Wie sagten Sie
- gleich: Liebe uns so weiß wie ...«
- »So schwarz ... Exzellenz,« verbesserte ihn Tschitschikow.
- »Lieb uns so schwarz wie wir sind, wenn wir weiß sind, wird uns jeder
- lieb haben. Ha, ha, ha, ha ...« Und der ganze Körper des Generals
- schüttelte sich vor Lachen. Die Schultern, welche einstmals
- Achselklappen getragen hatten, bebten, als ob sie auch noch heute mit
- Achselklappen geschmückt wären.
- Tschitschikow lachte gleichfalls kurz auf, stimmte sein Gelächter jedoch
- aus Achtung vor dem General mehr auf den Laut e ab: »he, he, he, he.«
- Und sein Körper begann sich gleichfalls vor Lachen zu schütteln, nur
- seine Schultern bebten nicht, denn sie trugen keine dicken
- Achselklappen.
- »Dieser unrasierte Gerichtshof mag schön ausgesehen haben!« rief der
- General aus und fuhr fort zu lachen.
- »Ja, Exzellenz, ein drei Tage langes Wachen ohne Schlaf -- -- das ist so
- gut wie gefastet: sie sahen sehr mitgenommen aus, sehr mitgenommen!«
- sagte Tschitschikow und fuhr fort, zu lachen.
- 8. Variante der andern Fassung.
- »Ich errichte auch keine besonderen Gebäude zu diesem Zwecke. Ich
- besitze keine großartigen Prachtbauten mit Säulen und Giebeln, ich
- verschreibe mir keine Meister und Handwerker aus dem Auslande, vor allem
- aber würde ich nie einen Bauern seiner natürlichen Tätigkeit: der
- Landwirtschaft entziehen; in meinen Fabriken wird nur während einer
- Hungersnot gearbeitet, und auch dann beschäftige ich nur zugewanderte
- Arbeiter, die sich damit ihren Lebensunterhalt verdienen. Ich habe eine
- ganze Menge solcher Fabriken, Verehrtester. Jedermann sollte sich erst
- einmal genauer auf seinem Gute umsehen, dann würde er bemerken, daß sich
- jeder Lappen noch zu was verwenden läßt, und daß man aus jedem Plunder
- noch einen Gewinn herausschlagen kann, so daß man ihn schließlich sogar
- wegwirft und sagt: »Fort damit! Ich brauche dich nicht!«
- »Das ist wirklich erstaunlich!« sagte Tschitschikow ganz ergriffen. »Im
- höchsten Grade erstaunlich! Das wunderbarste aber ist, daß jeglicher
- Plunder noch Gewinn bringen kann!«
- »Hm! Das ist es nicht allein!« Skudronshoglo schloß seine Rede nicht:
- die Galle hatte sich in ihm angesammelt, und er mußte seinen Zorn an
- seinen Gutsnachbarn auslassen. »Da ist noch so ein gescheiter Kopf! --
- Was denken Sie wohl, was der für ein Gebäude errichtet hat. Ein Asyl für
- Arme; einen steinernen Palast -- auf dem Lande! Ein christliches Werk!
- Wenn der Mensch sich durchaus nützlich machen und hilfsbereit erweisen
- will, dann mag er doch dem Bauern helfen, seine Schuldigkeit zu tun und
- ihn nicht daran hindern, seine Pflicht als Christenmensch zu erfüllen.
- Hilf dem Sohne, seinen kranken Vater pflegen, und laß es nicht zu, daß
- er sich ihn vom Leibe schafft. Verhilf ihm dazu, daß er seinen Bruder
- und seinen Nächsten bei sich im Hause aufnehmen kann, gib ihm die Mittel
- dazu, unterstütze ihn aus allen Kräften, und ziehe dich nicht von ihm
- zurück, sonst wird er seine christlichen Pflichten vollkommen vergessen.
- Wohin man blickt, lauter Don Quixotes! _Zweihundert Rubel_ jährlich
- kommt _ein_ Mensch dem Armenhause zu stehen! Mit diesem Gelde will ich
- auf meinem Gute ganze _zehn_ Menschen ernähren!« Skudronshoglo war sehr
- zornig und spie vor Wut aus.
- Tschitschikow interessierte sich nicht für das Armenhaus: er wollte
- durchaus die Rede darauf bringen, daß jeder Plunder Gewinn bringen kann.
- Aber Skudronshoglo war sehr zornig, die Galle regte sich lebhaft in ihm,
- und seine Rede strömte unaufhaltsam fort.
- »Und dann gibt es da noch einen andern Don Quixote: einen Don Quixote
- der Aufklärung! Der baut überall Schulen! In der Tat, gibt es etwas
- Nützlicheres für den Menschen als die Kenntnis der Sprache und Schrift?
- Was aber macht _er_? Jetzt kommen die Bauern aus den Dörfern und klagen
- mir: >Was sind denn das für Zustände, Väterchen! Unsere Söhne sind ganz
- aufsässig geworden, sie wollen uns gar nicht mehr bei der Arbeit helfen,
- wollen alle Schreiber werden -- man braucht aber doch gar nicht so viele
- Schreiber -- einer ist schon genug!< So weit ist es also schon
- gekommen!«
- Tschitschikow interessierte sich auch nicht für die Schulen, jedoch
- Platonow griff diese Frage auf und bemerkte: »Dabei kann man aber doch
- nicht stehen bleiben, daß wir _jetzt_ keine Schreiber brauchen. Wir
- müssen auch an unsere Nachkommen denken.«
- »Ach laß doch, Bruder! Laß doch das Klügeln! Was wollt Ihr nur mit Euren
- Nachkommen! Alle Menschen glauben, sie seien Genies, wie Peter der
- Große. Achtet doch lieber darauf, was vor Eurer Nase vorgeht, und denkt
- nicht immer an Eure Nachkommen; sorgt lieber dafür, daß Eure Bauern
- wohlhabend und reich werden, und daß sie Zeit behalten, auch etwas zu
- lernen, wenn sie Lust dazu haben; stellt Euch nicht mit dem Stocke in
- der Hand vor sie hin und schreit sie nicht an: >Du mußt in die Schule
- gehen, ob du willst oder nicht!< Weiß der Teufel, womit die Leute
- heutzutage anfangen! Nein, bitte, hören Sie mal, ich fordere Sie auf,
- selbst zu urteilen.« Hier rückte Skudronshoglo näher an Tschitschikow
- heran und nahm ihn sozusagen gründlich ins Gebet, um ihn recht tief in
- die Sache einzuweihen, d. h. er packte ihn beim Knopfloch seines
- Frackes: »Sagen Sie, was kann klarer sein? Die Bauern sind doch dazu da,
- damit Sie sie in ihrem Beruf und Stand unterstützen und fördern. Worin
- aber besteht dieser? Was ist denn die Beschäftigung der Bauern? Doch
- wohl der Ackerbau, die Landwirtschaft? Nun, so sorgen Sie auch dafür,
- daß er ein tüchtiger Landwirt wird. Das ist doch klar. Nicht? Nein, da
- finden sich gescheite Köpfe, die erklären: >Aus diesem Zustande muß er
- herausgeführt werden. Sein Leben ist zu primitiv und einfach: er soll
- auch etwas von dem Luxus kosten.< Daß ihr selbst infolge dieses Luxus
- lauter Waschlappen und keine Menschen mehr seid und, weiß der Teufel, an
- was für neuen Krankheiten leidet, und daß es bald keinen
- achtzehnjährigen Bengel mehr geben wird, der nicht schon von allem
- gekostet hat -- der keine Zähne im Munde und keine Haare mehr auf dem
- Kopfe hat, -- daran denkt ihr nicht und wollt auch noch andre Leute
- anstecken! Gott sei Dank, daß wir wenigstens noch einen gesunden Stand
- besitzen, der noch nichts von all diesen Finessen weiß! Dafür müßten wir
- Gott ewig dankbar sein. Jawohl, einen Landwirt achte ich weit höher als
- einen andern Menschen. Gott gäbe, daß alle Menschen Ackerbau trieben!«
- »Sie sind also der Ansicht, es sei am vorteilhaftesten, Landwirt zu
- werden?« fragte Tschitschikow.
- »Ich meine, es ist vernünftiger und ehrenhafter und nicht vorteilhafter.
- Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot erwerben -- das ward
- uns allen gesagt, und nicht umsonst. Es ist durch eine jahrhundertlange
- Erfahrung bewiesen, daß die Landwirtschaft die Sitten verbessert und
- veredelt. Wo der Ackerbau die Grundlage des gesellschaftlichen Lebens
- bildet, da herrscht Wohlstand und Überfluß! Da gibt es keine Armut und
- keinen Luxus, sondern Gesundheit und Zufriedenheit. Es ist dem Menschen
- gesagt: Erwirb dir dein Brot, arbeite .. da gibt es nichts zu klügeln!
- Ich sage zum Bauern: >Es ist ganz gleich, für wen du dich mühst: für
- mich, für dich, für deinen Nachbarn ... die Hauptsache ist, daß du
- arbeitest. Bei der Arbeit bin ich dein erster Gehilfe. Hast du kein
- Vieh, nun wohl -- da ist ein Pferd, eine Kuh, ein Wagen. Ich bin bereit,
- dir alles zu geben, nur sei fleißig und arbeite! Für mich wäre es der
- Tod, wenn dein Haushalt in Unordnung geriete und wenn ich Armut und
- Mißwirtschaft um mich sehe. Ich dulde keinen Müßiggang: ich bin bei dir,
- damit du arbeitest.< Hm. Man glaubt, man könne seine Einkünfte durch
- Fabriken und industrielle Unternehmungen vermehren! Denken Sie doch
- lieber erst daran, daß jeder Ihrer Bauern wohlhabend werde, dann werden
- Sie ganz von selbst reich werden, auch ohne Fabriken und all diese
- dummen Erfindungen.« ...
- 9. Variante der andern Fassung.
- »So ein Esel!« dachte Tschitschikow. »Solch eine Tante würde ich hegen
- und pflegen, wie eine Amme ihr Kind.«
- »Wissen Sie, so eine Unterhaltung ist doch recht trocken!« sagte
- Chlobujew. »He, Kirjuschka! Bring schnell noch eine Flasche Champagner.«
- »Nein, nein, ich kann nicht mehr trinken,« fiel hier Platonow ein.
- »Ich auch nicht,« sagte Tschitschikow, und beide weigerten sich
- kategorisch, weiter zu trinken.
- »Nun, so versprechen Sie mir wenigstens, daß Sie mich in der Stadt
- besuchen werden. Am 8. Juni gebe ich ein kleines Diner für die
- Honoratioren der Stadt.«
- »Wie!« rief Platonow aus. »Jetzt, wo Sie so gut wie ruiniert sind, geben
- Sie Diners?«
- »Was soll ich machen? Ich kann nicht anders, das ist halt meine
- Pflicht,« versetzte Chlobujew. »Sie haben mich doch auch eingeladen.«
- 10. Vor diesem Worte sind in der vorliegenden Fassung zwei Seiten
- herausgeschnitten. Wir führen hier die entsprechende Stelle aus der
- andern Fassung an:
- »Die Sache ist eigentlich ein großer Unsinn. Er hat nicht genug Land,
- und da hat er sich eben ein fremdes Stück Brachland angeeignet, d. h. er
- rechnete darauf, daß niemand es braucht, und daß die Besitzer nicht
- drauf achten werden ... bei uns aber versammeln sich schon seit vielen
- Jahren die Bauern gerade an dieser Stelle, um dort Johannisnacht zu
- feiern. Daher bin ich noch eher bereit, ihm ein anderes und sogar
- besseres Stück Land abzutreten, als dieses. Jede alte Sitte ist mir
- heilig.«
- »Sie würden ihm also unter Umständen ein anderes Stück Land abgeben?«
- »Ja, d. h. wenn er nicht so mit mir verfahren wäre, aber ich glaube, er
- will die Gerichte anrufen. Meinetwegen, wir wollen doch sehen, wer den
- Prozeß gewinnt. Nach dem Plan ist es freilich nicht vollkommen klar,
- aber ich habe genug Zeugen, lauter alte Leute, die noch am Leben sind,
- und sich sehr gut erinnern, wem das Land gehört hat.«
- »Hm!« dachte Tschitschikow. »Wie ich sehe, seid ihr alle beide
- raffinierte Kerls.« Und er fügte laut hinzu: »Mir scheint, diese Sache
- läßt sich friedlich beilegen. Alles hängt davon ab, ob sich jemand
- findet, der zwischen Ihnen vermitteln kann .. Schriftl....«
- Damit schließt die 96. Seite der Handschrift; die folgenden zwei Seiten
- sind verloren gegangen. In der ersten Ausgabe des zweiten Bandes der
- »Toten Seelen« hat S. P. Schewyrew folgende Bemerkung zu dieser Stelle
- gemacht: Hier fehlt eine größere Partie, in der wahrscheinlich erzählt
- wird, wie Tschitschikow zum Gutsbesitzer Lenitzyn fährt. Der Her.
- »... daß es auch für Sie selbst sehr vorteilhaft wäre z. B. alle toten
- Seelen auf meinen Namen zu übertragen, d. h. ich meine alle die toten
- Bauern auf Ihrem Gute, die noch in den Revisionslisten stehen. Dann
- könnte ich auch die Steuern für sie bezahlen. Um aber kein Ärgernis zu
- geben, könnten wir _pro forma_ einen Kaufkontrakt aufsetzen, ganz so,
- als ob sie noch am Leben wären.«
- »Da haben wir's!« dachte Lenitzyn: »das ist aber eine höchst merkwürdige
- Geschichte.« Er schob sogar seinen Stuhl ein wenig zurück, denn er
- befand sich in der höchsten Verlegenheit.
- »Ich zweifele nicht im mindesten daran, daß Sie hierüber mit mir
- einverstanden sein werden,« fuhr Tschitschikow fort, »denn das ist eine
- ganz ähnliche Sache, wie die, welche wir soeben besprochen haben. Sie
- bleibt natürlich ganz unter uns -- wir sind doch gesetzte und
- vernünftige Leute, und es kann daher gar kein Ärgernis geben.«
- Was war zu machen? Lenitzyn befand sich in einer äußerst peinlichen
- Situation. Er hatte durchaus nicht voraussehen können, daß die von ihm
- noch vor wenigen Minuten geäußerte Ansicht so schnell in die Tat
- umgesetzt werden könnte. Dieser Vorschlag kam ihm vollkommen unerwartet.
- Selbstverständlich konnte für niemand etwas Schädliches daraus
- entstehen: jeder Gutsbesitzer hätte, wenn es darauf angekommen wäre,
- ebensogut Hypotheken auf diese Seelen aufgenommen, wie auf die
- lebendigen, dem Staat konnten also keinerlei Verluste daraus entstehen;
- der ganze Unterschied bestand bloß darin, daß sie jetzt in _einer_ Hand
- vereinigt sein würden, während sie sich im andern Falle in vielen
- befunden hätten. Trotzdem aber hatte er seine Bedenken. Er war ein
- Mensch, der sich streng an die Gesetze hielt und ein Geschäftsmann im
- guten Sinne war. Er hätte sich nie bestechen lassen und für Geld eine
- schlechte Sache vertreten. Diesmal aber war er unschlüssig, denn er
- wußte nicht recht, wie er von diesem Fall denken, wie er ihn bezeichnen
- sollte: handelte es sich hier um ein sauberes oder um ein unsauberes
- Geschäft? Hätte sich ein andrer mit einem solchen Vorschlag an ihn
- gewandt, dann hätte er sagen können: »Ach Unsinn, das sind Torheiten!
- Ich will doch nicht mehr Puppen spielen und alberne Streiche machen!«
- Aber der Gast gefiel ihm so sehr, es bestanden zwischen ihnen so viele
- Berührungspunkte in bezug auf ihre Anschauungen über die Fortschritte
- der Aufklärung und der Wissenschaften, wie konnte er ihm da etwas
- abschlagen? Lenitzyn befand sich in einer überaus verzwickten Lage.
- In diesem Augenblick trat die Hausfrau, die junge Gattin Lenitzyns ins
- Zimmer, wie um ihn aus dieser verzweifelten Situation zu erlösen. Sie
- war bleich und mager wie alle Petersburger Damen und ebenso
- geschmackvoll gekleidet wie diese. Ihr folgte die Amme auf dem Fuße, die
- ein Kind auf den Armen trug, die jüngste Frucht der jungen Ehe.
- Tschitschikow ging natürlich sofort auf die Dame zu und begrüßte sie
- aufs liebenswürdigste. Aber ganz abgesehen hiervon, schon die Geste mit
- der er ihr entgegentrat und dabei den Kopf anmutig auf die Seite neigte,
- genügte vollkommen, um sie ganz für sich einzunehmen. Dann eilte er auf
- das Kind zu, welches zwar im ersten Augenblick laut zu schreien begann,
- sich aber sehr schnell wieder beruhigte, als Tschitschikow ein paar
- freundliche Worte sagte, ihm A--u, A--u zurief, mit den Fingern
- schnippte und ihm seine Uhrkette mit dem Carneolpetschaft zeigte.
- Schließlich wurde es so zutraulich, daß es sich von Tschitschikow ruhig
- auf die Hände nehmen und hoch in die Luft heben ließ, ja, es begann
- sogar fröhlich zu lachen, was auch das Elternpaar höchlich erfreute.
- Aber war es nun das Vergnügen, welches das Kindchen verspürte, oder
- etwas andres, genug es passierte ihm plötzlich etwas sehr Unangenehmes.
- Frau Lenitzyn schrie laut auf: »Ach Gott, ach Gott, er wird Ihnen noch
- den ganzen Frack verderben!«
- Tschitschikow warf einen Blick auf den Ärmel seines neuen Frackes und
- war aufs höchste erschrocken. Der ganze Ärmel war hin: »Wenn dich doch
- der Teufel holte, verdammter Schelm!« murmelte er ärgerlich vor sich in.
- Der Hausherr, die Hausfrau und die Amme eilten schleunigst davon, um
- kölnisches Wasser zu holen; hierauf liefen sie von allen Seiten auf ihn
- zu und begannen seinen Frack zu waschen und zu scheuern.
- »Das macht nichts, das macht wirklich nichts,« sagte Tschitschikow: »Was
- kann einem denn ein unschuldiges Kind antun?« Zugleich aber dachte er
- sich: »Und wie geschickt er das gemacht hat, der kleine Teufel! Ein
- goldenes Alter!« bemerkte er, als er endlich ganz trocken war, und ein
- freundliches Lächeln erhellte aufs neue seine Züge.
- »Tatsächlich,« versetzte der Hausherr, der sich gleichfalls mit einem
- freundlichen Lächeln an Tschitschikow wandte, »was gibt es Schöneres als
- das Kindesalter. Man hat keine Sorgen, man denkt nicht an die Zukunft
- ...«
- »Ja, mit einem Kinde würde ich sofort tauschen,« entgegnete
- Tschitschikow.
- »Sofort!« sagte Lenitzyn.
- Ich glaube indes, daß beide schwindelten. Wenn man ihnen im Ernst einen
- solchen Tausch angeboten hätte, sie wären sofort zu Kreuze gekrochen. Es
- ist doch auch wirklich kein Vergnügen, bei der Amme auf dem Arme zu
- sitzen und fremde Fräcke zu ruinieren.
- Die junge Frau, die Amme und das Kind hatten sich entfernt, denn auch
- der Kleine bedurfte einer gründlichen Reinigung: er hatte nicht nur
- Tschitschikow beglückt, sondern auch sich selbst nicht ganz vergessen.
- Übrigens nahm dieser scheinbar so unwesentliche Vorfall den Hausherrn
- noch mehr für Tschitschikow ein. Und in der Tat, wie konnte er einem so
- angenehmen und höflichen Gast etwas abschlagen, einem Gaste, der so
- freundlich gegen seinen Kleinen gewesen war, und seine Güte noch dazu so
- großmütig mit seinem Frack bezahlen mußte. Lenitzyn dachte nämlich:
- »Warum sollte ich seine Bitte eigentlich nicht erfüllen, wenn er es doch
- so sehr wünscht ...«
- 11. Variante der andern Fassung.
- Um dieselbe Zeit lag Tschitschikow in seinem persischen mit Gold
- bordierten Schlafrock auf dem Sofa und verhandelte mit einem
- vorüberreisenden Schmuggler jüdischer Abstammung, der das Russische mit
- einem deutschen Akzent sprach; vor ihnen lagen ein Stück feinste
- holländische Leinwand, die Tschitschikow gekauft hatte, um sich neue
- Hemden machen zu lassen, und zwei Pappschachteln mit Seife von
- allererster Qualität (es war dieselbe Seife, die er sich ehemals während
- seines Dienstes im Raziwillschen Zollamt zu halten pflegte, und die
- tatsächlich die Kraft besaß, den Wangen eine geradezu unerhörte Reinheit
- und Zartheit zu verleihen). Während nun Tschitschikow mit Kennerblick
- all diese für jeden gebildeten Menschen so überaus notwendigen
- Gegenstände einkaufte, hörte man draußen das Gerassel eines
- heranrollenden Wagens. Die Fensterscheiben erklirrten, und gleich darauf
- betrat Seine Exzellenz Alexei Iwanowitsch Lenitzyn das Zimmer.
- »Exzellenz, was sagen Sie zu dieser Leinwand und zu dieser Seife, und
- wie gefällt Ihnen dies Ding hier, das ich mir gestern angeschafft habe?«
- Mit diesen Worten setzte Tschitschikow eine mit Gold und Glasperlen
- verzierte Kappe auf und präsentierte sich seinem Gast mit einem Anstand
- und einer Würde, die der des persischen Schahs nicht viel nachgegeben
- hätte.
- Aber Seine Exzellenz antwortete nichts und sagte nur:
- »Ich muß Sie dringend in einer Angelegenheit sprechen.« Man sah es ihm
- an, daß er sehr erregt war. Der ehrenwerte Kaufmann mit dem deutschen
- Akzent wurde sofort hinausbefördert, und beide Freunde blieben allein.
- »Wissen Sie, was passiert ist? Eine schöne Geschichte! Es hat sich noch
- ein zweites Testament gefunden, das die alte Dame vor fünf Jahren
- gemacht hat. Darin verschreibt sie die Hälfte ihrer Güter dem Kloster
- und die andre Hälfte ihren beiden Adoptivtöchtern. Das ist alles.«
- Tschitschikow war ganz erschrocken.
- »Aber dies Testament gilt doch nicht, es hat doch nichts zu bedeuten; es
- hat durch das zweite seine Rechtskraft verloren!«
- »Es steht aber im zweiten Testament nichts davon drin, daß das erste
- dadurch annulliert wird.«
- »Das versteht sich ganz von selbst: das letzte stößt alle vorhergehenden
- um. Das bedeutet nichts! Das erste Testament hat keine Gültigkeit. Ich
- kenne den Willen der Verstorbenen sehr gut. Ich war doch zugegen, als es
- aufgesetzt wurde. Wer hat es unterschrieben, wer waren die Zeugen?«
- »Es ist nach allen Regeln beim Gericht attestiert. Als Zeugen fungierten
- die Assessoren a. D. Burmilow und Chawanow.«
- »Das ist schlimm, sehr schlimm!« dachte Tschitschikow. »Dieser Chawanow
- soll ein ehrlicher Mensch sein. Burmilow ist ein alter Tartüffe, der
- liest Sonntags in der Kirche aus der Bibel vor. -- Ach was, Unsinn,
- Unsinn,« fuhr er laut fort, denn er fühlte sich wieder mutig und
- entschlossen. »Das weiß ich besser: ich war zugegen, als die Alte starb.
- Ich muß das doch besser wissen als andre Leute. Ich bin bereit, die
- Sache zu beschwören.«
- Diese Worte und diese Entschlossenheit beruhigten Lenitzyn ein wenig.
- Er war sehr aufgeregt und fragte sich schon, ob Tschitschikow nicht am
- Ende das Testament gefälscht haben könnte (er hätte es sich freilich
- nicht einmal vorstellen können, daß die Sache sich so verhalte, wie sie
- sich in Wahrheit verhielt). Jetzt machte er sich Vorwürfe wegen seines
- Argwohnes. Tschitschikows Bereitwilligkeit, alles zu beschwören, war ein
- offenkundiger Beweis, daß er .... Wir wissen freilich nicht, ob Pawel
- Iwanowitsch wirklich den Mut gehabt hätte, einen Eid darauf abzulegen,
- jedenfalls aber hatte er den Mut, es zu behaupten.
- Tschitschikow ließ sofort den Wagen vorfahren und begab sich zu seinem
- Rechtsanwalt. Dieser Rechtsanwalt war ein außerordentlich geschickter
- und erfahrener Mann. Er befand sich schon seit fünfzehn Jahren im
- Anklagezustand, aber er verstand es, seine Maßregeln so gut zu treffen,
- daß es unmöglich war, ihn seines Amtes zu entsetzen. Jedermann wußte,
- daß er es für seine Heldentaten hundertfach verdient hatte, in die
- Strafkolonien verschickt zu werden. Er wurde der schlimmsten Dinge
- verdächtigt, aber es wollte nie gelingen, zwingende Beweise gegen ihn
- aufzubringen. Der Mann war tatsächlich mit einem geheimnisvollen
- Schimmer umgeben, man hätte ihn sicher für einen Zauberer erklärt, wenn
- unsere Erzählung in einem unaufgeklärten Zeitalter gespielt hätte.
- Der Rechtsanwalt setzte Tschitschikow durch seinen fettigen Schlafrock
- in Erstaunen, der in einem krassen Gegensatz zu den schönen
- Mahagonimöbeln, der goldenen, mit einer Glasglocke bedeckten Stutzuhr,
- dem Armleuchter, der durch die Tüllhülle hindurchschimmerte und zu der
- ganzen Umgebung stand, denn diese trug den deutlichen Stempel einer
- weltmännischen europäischen Bildung.
- Tschitschikow ließ sich jedoch durch den skeptischen Blick des
- Rechtsanwalts keineswegs aus der Fassung bringen, sondern klärte ihn
- über die schwierige Sachlage auf und ließ die verlockende Aussicht auf
- seinen Dank und seine Erkenntlichkeit für den ihm erteilten Rat und
- Beistand vor ihm erstehen.
- Der Rechtsanwalt spielte dagegen auf die Unzuverlässigkeit aller
- irdischen Dinge und Güter an und deutete Tschitschikow gegenüber in
- zarter Weise an, daß eine Taube auf dem Dache wenig gilt, und ein
- Sperling in der Hand ihm lieber sei.
- Was war da zu machen? Man mußte ihm schon den Sperling in die Hand
- drücken. Die skeptische Kühle unseres Philosophen verschwand sofort, und
- es stellte sich heraus, daß er der beste Mensch von der Welt und ein
- äußerst angenehmer Gesellschafter war, der selbst Tschitschikow, was die
- Schönheit und weltmännische Gewandtheit der Umgangsformen anbelangte,
- wenig nachgab.
- »Machen wir doch lieber nicht so viel Umstände -- Sie haben sich wohl
- das Testament gar nicht ordentlich angesehn; es wird sicher noch irgend
- eine Bemerkung oder eine Notiz darin stehen. Nehmen Sie es lieber für
- einige Zeit an sich. Eigentlich ist es ja verboten, solche Objekte mit
- sich nach Hause zu nehmen, aber wenn man die Beamten ordentlich darum
- angeht ... Ich für meinen Teil werde meinen ganzen Einfluß aufbieten.«
- »Ich verstehe,« dachte Tschitschikow und versetzte: »In der Tat, ich
- kann mich nicht mehr genau darauf besinnen, ob es nicht doch eine Notiz
- enthielt -- es ist fast so, als ob ich das Testament gar nicht selbst
- aufgesetzt hätte.«
- »Das Beste ist, Sie sehen selbst nach. Übrigens können Sie ganz ruhig
- sein,« fuhr er gutmütig fort. »Machen Sie sich jedenfalls keine Sorgen,
- selbst wenn es noch schlimmer kommt. Verzweifeln Sie niemals, es gibt
- keine solche Sache, die sich nicht wieder gut machen ließe. Sehen Sie
- doch mich an. Ich bin immer ruhig. Was man auch gegen mich unternehmen
- mag, ich lasse mich nicht in meiner Gemütsruhe stören.« Und in der Tat,
- das Gesicht unseres Philosophen ließ nicht die geringste Bewegung
- erkennen, so daß Tschitschikow lange ...
- »Natürlich ist das das wichtigste,« versetzte er. »Aber Sie werden mir
- doch zugestehen, daß es Verhältnisse geben kann, Gefahren und
- Nachstellungen seitens der Feinde, und so verzwickte Lagen, daß man
- darüber seine Geistesgegenwart verlieren muß.«
- »Glauben Sie mir, das wäre kleinmütig,« entgegnete der Philosoph sehr
- ruhig und freundlich. »Achten Sie vor allem darauf, daß die Sache auf
- dem Aktenwege erledigt wird, und daß es keine mündlichen
- Auseinandersetzungen gibt. Sobald Sie jedoch bemerken, daß es zum
- Klappen kommt, und daß die Entscheidung herannaht, -- dann dürfen Sie
- sich nicht etwa rechtfertigen oder verteidigen, sondern Sie müssen
- einfach mit neuen Tatsachen herausrücken.«
- »Man muß also ...«
- »Die Sache möglichst verwickeln -- das ist alles,« versetzte der
- Philosoph, »sie mit neuen, nicht zur Sache gehörigen Details
- komplizieren, die auch noch andre Leute in die Affäre hineinziehen. Man
- muß die Fäden durcheinander wirren -- das ist das ganze Geheimnis. Mögen
- doch die Petersburger Beamten sehen, wie sie damit fertig werden!«
- wiederholte er, indem er Tschitschikow sehr vergnügt ansah, so wie ein
- Lehrer seinen Schüler, wenn er ihm ein besonders interessantes Kapitel
- aus der russischen Grammatik erklärt.
- »Ja, es ist gut, wenn man solche Details findet, mit denen man die Augen
- anderer Leute umnebeln kann!« sagte Tschitschikow, indem er den
- Philosophen gleichfalls mit Vergnügen betrachtete, wie ein Schüler, der
- die interessante Stelle aus der Grammatik, die ihm sein Lehrer erklärt,
- schon begriffen hat.
- »Sie werden sich schon finden! Glauben Sie mir, daß Sie sich finden
- werden: wenn man sich nur häufig genug darin übt, dann wird auch der
- Kopf allmählig erfinderischer. Vor allem aber bedenken Sie, daß man
- Ihnen dabei helfen wird. Wenn die Sache recht kompliziert ist, dann
- finden viele Leute ihren Vorteil dabei: man braucht immer mehr Beamte,
- und diese wollen ihrerseits immer mehr Gehalt haben. Mit einem Wort, man
- muß nur recht viele Leute an der Sache interessieren. Es macht nichts,
- wenn ein paar Unschuldige mit hineingezogen werden: sie müssen sich
- rechtfertigen, auf die Anklagen antworten, sich loskaufen usw. Da gibt's
- eben was zu verdienen. Glauben Sie mir: sowie die Umstände wirklich
- kritisch werden, muß man zuallererst daran denken, die ganze Affäre
- recht verwickelt zu machen. Und das läßt sich so gut bewerkstelligen,
- daß sich bald niemand mehr auskennt. Warum bin ich immer so ruhig? Weil
- ich genau weiß: wenn meine Sache schief geht, dann ziehe ich alle
- miteinander in sie hinein: den Gouverneur, den Vizegouverneur, den
- Polizeimeister, den Kassierer -- ich lasse keinen frei ausgehen. Ich
- kenne ihre Verhältnisse ganz genau; ich weiß, ob einer dem andern zürnt,
- ob er sich über ihn ärgert und ihm etwas Böses gönnt. Meinetwegen mögen
- sie sich nachher aus der Affäre ziehen. Unterdessen aber können andere
- Leute etwas dabei verdienen. Man kann eben nur im trüben Wasser krebsen
- gehn. Sie warten ja alle zusammen darauf, daß nur ein möglichst großer
- Wirrwarr entsteht.« Hier sah der Jurist und Philosoph Tschitschikow
- wiederum so vergnügt an, wie ein Lehrer seinen Schüler, dem er ein noch
- weit interessanteres Kapitel aus der russischen Grammatik erklärt.
- »Nein, dieser Mann ist tatsächlich ein Weiser,« dachte Tschitschikow und
- verabschiedete sich in der besten und vergnügtesten Laune vom
- Rechtsanwalt.
- Er fühlte sich wieder vollständig beruhigt, daher warf er sich mit einer
- nachlässigen Sicherheit in die weichen Kissen seiner Equipage, befahl
- Seliphan das Verdeck herabzulassen und setzte sich bequem im Polster
- zurecht, ganz wie ein Husarenoberst a. D. oder Herr Wyschnepokromow in
- eigener Person. Als er _zum_ Rechtsanwalt fuhr, hatte er das Verdeck
- schließen lassen und sogar seine Füße tief in die Lederdecke gehüllt,
- jetzt dagegen schlug er ein Bein über das andre, und wandte allen
- Vorübergehenden sein lächelndes Gesicht zu, das unter dem keck auf das
- Ohr gerückten neuen Seidenhut nur so vor Heiterkeit strahlte. Seliphan
- erhielt den Befehl, die Richtung nach dem Tuchmarkt zu nehmen. Die
- einheimischen und zugereisten Kaufleute standen an ihren Ladentüren und
- grüßten ihn ehrerbietig; Tschitschikow erwiderte seinerseits ihren Gruß
- nicht ohne ein gewisses Selbstbewußtsein. Viele von ihnen kannte er
- schon; andre waren zwar erst vor kurzem angekommen, doch waren auch sie
- ganz entzückt von dem gewandten und sicheren Wesen und den feinen
- Manieren des fremden Herrn, und bewillkommneten ihn daher wie einen
- alten Bekannten. In der Stadt Tfuslawlew gab es fast immer eine Messe;
- war der Pferde- und Getreidemarkt zu Ende, dann kamen die Luxuswaren für
- die vornehmeren und gebildeteren Herrschaften an die Reihe. Die
- Kaufleute, die per Axe angereist kamen, rechneten damit, per Schlitten
- nach Hause zurückzukehren.
- »Bitte hierher, treten Sie gefälligst ein,« rief ihm ein Kaufmann von
- der Ladentüre aus entgegen. Er trug einen deutschen Rock, der in Moskau
- verfertigt war, und verbeugte sich mit selbstgefälliger Höflichkeit.
- Sein Haupt war entblößt, und er schwenkte mit der einen Hand seinen Hut,
- während er mit der andern leicht über sein rundes Kinn strich. Hierbei
- suchte er seinem Gesicht einen ausnehmend feinen und gebildeten Ausdruck
- zu geben.
- Tschitschikow trat in den Laden: »Lassen Sie sehen, was Sie für Stoffe
- haben, Verehrtester.«
- Der vornehme Kaufmann hob sofort das Brett, das die zwei Ladentische
- verband, in die Höhe, schaffte sich so einen Durchgang und stand
- sogleich dienstbereit da, indem er seinen Waren den Rücken und dem
- Käufer sein Gesicht zuwendete. In dieser Stellung begrüßte er entblößten
- Hauptes und den Hut respektvoll lüftend, noch einmal seinen Gast. Dann
- setzte er den Hut auf, stützte sich mit beiden Händen auf den
- Ladentisch, beugte sich etwas vor und sagte: »Was für Stoffe wünschen
- Sie? Englische Manufakturwaren? oder ziehen Sie unsere vaterländischen
- Produkte vor?«
- »Ich wünsche einen russischen Stoff,« versetzte Tschitschikow, »aber von
- der allerbesten Sorte, einen sogenannten englischen.«
- »Und welche Farben finden Ihren Beifall?« fragte der Kaufmann, der sich
- noch immer in der angenehmsten Weise auf seinen beiden Händen
- balancierte.
- »Haben Sie einen glänzenden dunkelen oder oliven- oder flaschengrünen
- Stoff, wenn möglich mit einer preißelbeerfarbenen Nuance?«
- »Ich kann Ihnen das Versprechen geben, daß Sie die allerbeste Sorte
- erhalten werden, was Besseres werden Sie auch in beiden Hauptstädten
- nicht finden,« versetzte der Kaufmann und schickte sich an, den Stoff zu
- holen. Er warf die Rolle gewandt auf den Tisch, rollte sie von hinten
- auf und hielt den Stoff ans Licht. »Ein wunderbares Farbenspiel! Das
- Allermodernste, etwas für den erlesensten Geschmack!« Und in der Tat,
- der Stoff glänzte wie Seide. Der Kaufmann hatte mit feinem Instinkte
- erkannt, daß ein Kenner der Tuchsorten vor ihm stand und daher wollte er
- erst gar nicht mit einem Stoff zu zehn Rubel pro Meter anfangen.
- »Hm, nicht übel,« bemerkte Tschitschikow, nachdem er das Tuch flüchtig
- gemustert hatte. »Aber wissen Sie was, Verehrtester, zeigen Sie mir
- lieber gleich die Sorte, die Sie zuletzt vorlegen; und dann: haben Sie
- keinen mit einem Stich ins Rote?«
- »Ich verstehe: Sie wollen genau so eine Farbe, wie sie heute modern zu
- werden beginnt. Da habe ich einen Stoff von allererster Qualität. Ich
- mache Sie darauf aufmerksam, daß er sehr teuer ist, aber wie gesagt:
- dafür ist es auch die allerbeste Sorte.«
- Die Rolle fiel von oben herab. Der Kaufmann rollte sie mit noch größerer
- Geschwindigkeit auseinander und fing sie am andern Ende auf. Diesmal war
- es ein echter Seidenstoff; er zeigte ihn Tschitschikow, jedoch so, daß
- dieser nicht nur die Möglichkeit hatte, ihn gründlich zu besichtigen,
- sondern sogar zu betasten und zu beriechen. Und er fügte nur kurz hinzu:
- »Navarinosche Rauchfarbe mit Feuerglanz.«
- 12. Variante der andern Fassung.
- Man einigte sich über den Preis. Ein eisernes Metermaß maß Tschitschikow
- gleich einem Zauberstabe in wenigen Augenblicken den Stoff für Frack und
- Hosen zu. Dann machte der Kaufmann einen kleinen Einschnitt mit der
- Schere, riß das Tuch mit beiden Händen der ganzen Breite nach
- auseinander und verbeugte sich, nachdem diese Operation vollendet war,
- in außerordentlich feiner und liebenswürdiger Weise vor Tschitschikow.
- Das Zeug wurde hierauf zusammengerollt und geschickt in Papier
- gewickelt. Hierauf wurde eine dünne Schnur herumgeschlungen und das
- Paket war fertig. Tschitschikow wollte schon in die Tasche greifen, aber
- da fühlte er, wie eine zarte Hand seine Taille angenehm umschlang, und
- seine Ohren vernahmen die Worte: »Was kaufen Sie hier ein,
- Verehrtester.«
- »Ah, welch glückliches Zusammentreffen!« rief Tschitschikow aus.
- »Ja, es ist ein glücklicher Zufall, der uns hier zusammenführt,« hörte
- er die Stimme desselben Mannes sagen, der seine Taille umschlungen
- hatte. Es war Wyschnepokromow. »Ich wollte schon achtlos an dem Laden
- vorübergehn, da sehe ich plötzlich ein bekanntes Gesicht -- einem
- solchen Vergnügen kann man sich doch unmöglich entziehen. Ja, ja, dies
- Jahr sind die Stoffe weit schöner. Es ist eine wahre Schande. Früher
- konnte man beim besten Willen nichts Vernünftiges bekommen. Ich hätte
- gern vierzig Rubel bezahlt ... meinetwegen sogar fünfzig, wenn ich nur
- etwas Gutes bekommen hätte. Was mich anbelangt, so will ich entweder das
- Allerbeste oder lieber gar nichts haben. Nicht wahr?«
- »Sehr richtig!« versetzte Tschitschikow. »Wozu quält man sich so, wenn
- man nicht auch was Gutes haben soll?«
- 13. Variante der andern Fassung.
- Der alte Mann begrüßte alle Anwesenden und wandte sich direkt an
- Chlobujew: »Entschuldigen Sie, aber ich sah von weitem, wie Sie in den
- Laden traten, und da entschloß ich mich, Ihnen nachzugehen und Ihre Zeit
- ein wenig in Anspruch zu nehmen. Wenn Sie nachher frei sind und an
- meinem Hause vorüberkommen, dann seien Sie doch so freundlich, einen
- Augenblick bei mir einzutreten. Ich habe mit Ihnen zu sprechen.«
- Chlobujew versetzte: »Sehr gern, Afanassij Wassiljewitsch.«
- Der alte Herr verabschiedete sich und ging hinaus. »Mir wirbelt's
- förmlich im Kopfe,« sagte Tschitschikow »wenn ich daran denke, daß
- dieser Mensch ganze zehn Millionen hat. Das ist einfach unmöglich!«
- »Ja, das gehört sich in der Tat nicht,« bemerkte Wyschnepokromow; »die
- Kapitale sollten nicht in der Hand Einzelner konzentriert sein. Das ist
- ein Gegenstand, über den in Europa sehr viel geschrieben wird. Wenn du
- Geld hast, mußt du es auch mit den andern teilen: mache Geschenke, gib
- Bälle, entwickele einen wohltätigen Luxus, bei dem die Arbeiter und
- Handwerker etwas verdienen.«
- »Das kann ich gar nicht verstehen!« wiederholte Tschitschikow. »Zehn
- Millionen! Und dabei lebt er wie ein gewöhnlicher Bauer! Hol's der
- Teufel, was kann man nicht alles mit zehn Millionen anfangen! Da kann
- man ein Leben beginnen. Nur Fürsten und Generäle sollten bei mir
- verkehren!«
- »Jawohl,« bemerkte der Kaufmann, »das ist in der Tat keine gebildete
- Art. Wenn ein Kaufmann Ehrenbürger ist, dann ist er eben nicht mehr
- Kaufmann sondern gewissermaßen schon Negoziant. Dann muß ich mir auch
- eine Loge im Theater halten, und kann meine Tochter doch keinem
- einfachen Oberst mehr zur Frau geben. Nein, dann müßte schon mindestens
- ein General kommen, einem andern geb ich sie einfach nicht. Was ist mir
- ein Oberst? Und mein Essen bestellte ich beim Konditor und nicht bei
- einer gewöhnlichen Köchin ...«
- »Da ist doch jedes Wort überflüssig!« sagte Wyschnepokromow. »Mit zehn
- Millionen kann man vieles anfangen. Geben Sie mir nur die zehn
- Millionen, Sie sollen schon sehen, was ich damit beginne!«
- »Nein,« dachte Tschitschikow: »bei _dir_ wären die zehn Millionen
- schlecht aufgehoben. Wenn ich dagegen ein solches Sümmchen hätte, ich
- wüßte sie in der Tat gut anzulegen.«
- »Ja, wenn ich zehn Millionen besäße,« dachte Chlobujew, »dann wäre ich
- nicht so töricht wie früher, ich würde sie nicht so sinnlos vergeuden.
- Nachdem man so schreckliche Erfahrungen gemacht hat, kennt man den Wert
- jeder Kopeke. Ja, jetzt würde ich es ganz anders anfangen ...« Aber
- gleich darauf wurde er nachdenklich und legte sich innerlich die Frage
- vor: »Würde ich das Geld jetzt wirklich vernünftiger anlegen?« dann
- machte er eine hoffnungslose Gebärde und fügte hinzu: »Kein Gedanke! Ich
- glaube, ich würde es ebenso ausgeben wie früher.« Damit verließ er den
- Laden und begab sich zu Murasow, höchst gespannt darauf, was dieser ihm
- mitzuteilen habe.
- »Ich erwartete Sie!« sagte Murasow, als er Chlobujew eintreten sah.
- »Bitte, kommen Sie doch in mein Zimmer.« Und er führte Chlobujew in das
- Stübchen, welches der Leser bereits kennen gelernt hat. Selbst ein
- Beamter, der jährlich nur 700 Rubel Gehalt bezieht, könnte in keinem
- schlichteren und unscheinbareren Stübchen hausen.
- »Sagen Sie bitte, Ihre Verhältnisse haben sich doch gebessert? Ich
- glaube, Ihre Tante hat Ihnen etwas hinterlassen?«
- »Was soll ich Ihnen sagen, Afanassij Wassiljewitsch? Ich weiß nicht, ob
- sich meine Verhältnisse wirklich gebessert haben. Ich habe bloß fünfzig
- Bauern und dreißigtausend Rubel geerbt; damit muß ich einen Teil meiner
- Schulden bezahlen, und dann behalte ich so gut wie nichts übrig. Was
- aber die Hauptsache ist, die Geschichte mit diesem Testament ist nicht
- ganz sauber. Es sind da allerhand Betrügereien vorgekommen, Afanassij
- Wassiljewitsch! Ich will Ihnen alles erzählen, Sie werden sich wundern,
- was für Dinge in der Welt passieren. Dieser Tschitschikow ...«
- »Erlauben Sie, Peter Petrowitsch, bevor wir von diesem Tschitschikow
- reden, möchte ich zuerst von Ihnen selber sprechen. Sagen Sie mir bitte,
- wieviel Geld hätten Sie wohl nötig, um wieder in geordnete Verhältnisse
- hineinzukommen? Was denken Sie wohl?«
- »Um meine Verhältnisse zu ordnen, und ein ganz bescheidenes Leben
- beginnen zu können -- dazu brauche ich mindestens hunderttausend Rubel,
- wenn nicht noch mehr.«
- »Nun und wenn Sie dieses Geld hätten, was würden Sie dann wohl
- anfangen?«
- »Ich würde mir eine kleine Wohnung mieten und mich der Erziehung meiner
- Kinder widmen, ich kann doch nicht mehr in den Staatsdienst eintreten.
- Ich bin ja zu nichts mehr zu gebrauchen.«
- »Warum sind Sie zu nichts zu gebrauchen?«
- »Ja was könnte ich denn beginnen? Sagen Sie selbst, ich kann doch nicht
- wieder als Bureauschreiber anfangen. Sie vergessen, daß ich Familie
- habe. Ich bin schon über die Vierzig, leide an Kreuzschmerzen und bin
- träge und müde geworden. Und eine bessere Stelle werde ich doch nicht
- erhalten; dazu bin ich zu schlecht angeschrieben. Ich muß Ihnen übrigens
- gestehen, ich würde auch keine Stellung annehmen, wo es was zu verdienen
- gibt. Ich bin zwar ein schlechter Kerl und ein Spieler, aber
- Geldgeschenke würde ich nicht nehmen. Alles andre, nur nicht dies. Mit
- diesem Krasnonossow und Samosistow würde ich mich nicht vertragen.«
- »Verzeihen Sie, aber ich kann trotzdem nicht begreifen, wie man leben
- kann, wenn man kein Ziel, wenn man keinen Weg vor Augen hat; man kann
- doch nicht weiterfahren, wenn man keinen Boden unter den Füßen hat; man
- kann doch das Wasser nicht ohne Kahn durchschiffen. Das Leben ist eben
- eine Reise. Entschuldigen Sie, Peter Petrowitsch, aber die Leute, von
- denen Sie da reden, haben doch wenigstens einen Weg vor sich, sie sind
- tätig und arbeiten zum mindesten. Freilich sind sie vom rechten Wege
- abgekommen, wie das uns sündigen Menschen wohl passieren kann; aber wir
- wollen hoffen, daß sie sich wieder zurecht finden werden. Wer nur
- vorwärts marschiert, -- _muß_ schließlich das Ziel erreichen, man
- braucht die Hoffnung nicht aufzugeben, daß er wieder auf den rechten Weg
- hinauskommt. Wie aber soll einer den Weg finden, der müßig dahinlebt.
- Der Weg kommt doch nicht selbst zu uns.«
- »Glauben Sie mir, Afanassij Wassiljewitsch, ich fühle, wie recht Sie
- haben .... aber ich sage Ihnen, in mir ist jeder Trieb zur Tätigkeit
- erstorben. Ich sehe nicht, daß ich noch jemandem in der Welt von Nutzen
- sein könnte. Ich fühle, ich bin nichts wie ein unnützer Holzklotz.
- Früher, als ich noch jünger war, da schien es mir, daß alles vom Gelde
- abhänge, daß, wenn ich bloß ein paar Hunderttausende in der Hand hätte,
- ich alle Menschen glücklich machen könnte. Ich wollte arme Künstler
- unterstützen, Bibliotheken einrichten, allerhand nützliche Institutionen
- gründen und Sammlungen anlegen. Ich bin nicht ohne Geschmack und weiß,
- daß ich das Geld besser zu verwenden wüßte, als die meisten reichen
- Leute, die nichts Vernünftiges zuwege bringen. Jetzt sehe ich jedoch,
- daß auch dies eitel ist und wenig Wert hat. Nein, Afanassij
- Wassiljewitsch, ich tauge nichts mehr, gar nichts mehr, das können Sie
- mir glauben. Ich bin zu nichts mehr fähig.«
- 14. Hier schließt der Text des späteren Entwurfs. Die neuere Fassung
- dieser Stelle hängt in der Handschrift nicht mit der ursprünglichen
- zusammen. Daher mußte der ursprüngliche Text bis zu der Stelle
- reproduziert werden, die keiner weiteren Überarbeitung unterzogen wurde.
- Variante der andern Fassung.
- »Hören Sie, Peter Petrowitsch, Sie gehen doch auch in die Kirche, um zu
- beten; ich weiß es, Sie versäumen keine Früh- noch Abendmesse. Sie
- stehen nicht gern früh auf, und doch tuen Sie es und gehen -- schon um 4
- Uhr zum Gottesdienst, wenn noch alle Leute schlafen.«
- »Das ist etwas ganz andres, Afanassij Wassiljewitsch. Das tue ich um
- meines Seelenheiles willen, denn ich bin überzeugt, daß ich damit mein
- müßiges Leben mindestens ein klein wenig wieder gut mache. So
- widerwärtig ich mir selbst bin, ein so schlechter Kerl ich auch sein
- mag, ich hoffe doch, daß ein demütiges Gebet und eine gewisse
- Selbstüberwindung Gott wohlgefällig sind. Ich will Ihnen gestehen, ich
- bete ohne Glauben, aber ich bete dennoch. Ich fühle bloß, daß es einen
- Herrn gibt, von dem alles abhängt; so erkennt auch das Pferd und das
- Vieh seinen Herrn, der über sie gebietet.«
- »Sie beten also zu dem, dem Sie wohlgefällig sein wollen, weil Sie um
- das Heil Ihrer Seele besorgt sind, und das gibt Ihnen Kraft und
- veranlaßt Sie so früh aufzustehen. Glauben Sie mir, wenn Sie mit
- derselben Energie Ihrem Berufe nachgehen wollten, wie Sie Ihm dienen, zu
- dem Sie beten, Sie würden bald eine Tätigkeit finden, und kein Mensch in
- der Welt könnte Ihre Begeisterung dämpfen.«
- »Afanassij Wassiljewitsch. Ich muß wiederholen, das ist was ganz andres.
- Im ersten Falle sehe ich doch, daß ich handele. Ich sage Ihnen, ich bin
- bereit, in ein Kloster zu gehen, ich will die schwersten Lasten tragen,
- die man mir auferlegt, und die härtesten Arbeiten tun, denn dort werde
- ich wissen, für wen ich mich mühe. Da brauche ich nicht nachzudenken und
- zu grübeln. Dort bin ich überzeugt, daß die für mich Rechenschaft
- ablegen werden, die mir sagen, was ich zu tun habe. Dort habe ich mich
- zu unterwerfen, und ich weiß, daß ich mich Gott unterwerfe.«
- »Ja, aber warum denken Sie denn in weltlichen Dingen nicht ebenso? Wir
- sollen doch auch in der Welt _Gott_ dienen und keinem andern. Und wenn
- wir einem andern dienen, so tuen wir es auch nur deswegen, weil wir
- überzeugt sind, daß Gott selbst es so will; ohne das könnten wir
- niemandem dienen. Was sind denn all unsere Gaben und Fähigkeiten, die
- bei jedem anders geartet sind? Das sind doch nur Werkzeuge unseres
- Gottesdienstes: in Worten oder Taten. Sie können doch nicht ins Kloster
- gehen; Sie sind an die Welt gewöhnt und haben Familie!«
- Murasow schwieg. Auch Chlobujew sagte kein Wort.
- »Sie glauben also, Sie könnten Ihr Leben auf eine feste Grundlage
- stellen und von nun ab vernünftiger und sparsamer wirtschaften, wenn Sie
- zweihunderttausend Rubel hätten?«
- »Das heißt, ich würde wenigstens eine Tätigkeit haben, der ich gewachsen
- bin -- ich würde mich der Erziehung meiner Kinder widmen, und ich hätte
- die Möglichkeit, ihnen tüchtige Lehrer zu halten.«
- »Soll ich Ihnen etwas sagen, Peter Petrowitsch! Nach zwei Jahren werden
- Sie wieder ganz tief in Schulden stecken, wie in einem Netz.«
- Chlobujew schwieg eine Weile still und sagte dann gedehnt: »Aber nach
- den Erfahrungen, die ich ....«
- »Ach, da ist doch kein Wort zu verlieren!« fiel Murasow ein. »Sie haben
- ein gutes Herz, Ihre Freunde werden zu Ihnen kommen und Sie um Geld
- bitten -- Sie werden es ihnen ja doch nicht abschlagen können; wenn Sie
- einen armen Mann sehen, werden Sie ihm helfen; wenn ein Freund zu Ihnen
- kommt, werden Sie ihn recht gut bewirten wollen und sich jeder
- menschenfreundlichen Regung hingeben. Ihren Vorteil und das Rechnen aber
- werden Sie dabei vergessen. Und schließlich lassen Sie mich Ihnen noch
- in aller Aufrichtigkeit das eine sagen: Sie sind ja garnicht imstande,
- Ihre Kinder gut zu erziehen. Seine Kinder kann nur ein Vater erziehen,
- der seine Pflicht schon erfüllt hat. Und Ihre Frau ... sie hat ja ein
- gutes Herz ... aber sie ist selbst nicht so erzogen, um Kinder erziehen
- zu können. Ich frage mich sogar -- Sie entschuldigen mich doch, Peter
- Petrowitsch -- ob es Ihren Kindern nicht am Ende schaden könnte, stets
- mit Ihnen zusammen zu sein!«
- Chlobujew war nachdenklich geworden; er prüfte sich in Gedanken nach
- allen Richtungen und hatte schließlich das Gefühl, daß Murasow nicht
- ganz unrecht hatte.
- »Wissen Sie was, Peter Petrowitsch! Überlassen Sie mir Ihre Kinder und
- die Ordnung Ihrer Verhältnisse, verlassen Sie Ihre Familie und Ihre
- Kinder, ich will schon für sie sorgen. Ihre Verhältnisse sind doch
- gewissermaßen so, daß Sie ganz in meiner Hand sind; Sie sind doch nahe
- am Verhungern. Hier gilt es einen Entschluß zu fassen. Kennen Sie Iwan
- Potapytsch?«
- »Gewiß, und ich verehre ihn sehr, trotzdem er in einer Joppe
- herumläuft.«
- »Iwan Potapytsch war Millionär, seine Töchter heirateten lauter Beamte,
- und er lebte wie ein Fürst. Aber er machte Bankrott -- und da blieb ihm
- eben nichts andres übrig, als ein gewöhnlicher Kommis zu werden. Es
- wurde ihm wirklich nicht leicht, aus einer einfachen Schüssel zu essen,
- _ihm_, der an silberne Teller gewöhnt war, und die Hände wollten nicht
- recht arbeiten, denn sie hatten es nicht gelernt. Sehen Sie, jetzt
- könnte Iwan Potapytsch wieder aus silbernen Schüsseln essen, aber nun
- will er es selbst nicht. Er hat sich wieder genug zusammengespart, aber
- er sagt: >Nein, Afanassij Wassiljewitsch, jetzt diene ich nicht mehr mir
- selber, sondern _Gott_. Ich mag jetzt nichts mehr um meiner selbst
- willen tun. Ich gehorche Ihnen, weil ich Gott gehorchen will und nicht
- den Menschen, und da Gott nur durch den Mund der besten Menschen zu uns
- spricht. Sie sind klüger als ich, und daher bin nicht ich dafür
- verantwortlich, sondern Sie.< -- Sehen Sie, so denkt Iwan Potapytsch,
- und doch ist er, wenn ich ehrlich sein soll, viel, viel klüger als ich.«
- »Afanassij Wassiljewitsch, ich will ja gern Ihre Überlegenheit
- anerkennen ... ich will gern Ihr Diener sein, und alles tun, was Sie
- wollen, ich gebe mich ganz in Ihre Hände. Aber legen Sie mir keine Last
- auf, die ich nicht tragen kann: ich bin kein Potapytsch, und ich sage
- Ihnen, daß ich zu nichts Gutem mehr tauge.«
- »Ich werde Ihnen nichts auferlegen, Peter Petrowitsch, aber da Sie doch
- nun einmal Gott dienen wollen -- da haben Sie ein Gott wohlgefälliges
- Werk! Es wird hier eine Kirche gebaut, das Geld dazu muß durch
- freiwillige Spenden frommer Menschen aufgebracht werden. Leider fehlt es
- an Mitteln, sie müssen durch eine Sammlung herbeigeschafft werden.
- Ziehen Sie einen einfachen Pelz an -- Sie sind doch jetzt ein schlichter
- Mensch -- ein verarmter Edelmann -- und so gut wie ein Bettler, was
- brauchen Sie sich zu schämen? -- nehmen Sie das Kassenbuch in die Hand,
- besteigen Sie einen einfachen Bauernwagen und besuchen Sie alle Städte
- und Dörfer der Umgegend. Der Archierei[15] wird Ihnen seinen Segen geben
- und Ihnen das Kassenbuch aushändigen. Nehmen Sie es und ziehen Sie mit
- Gott!«
- [Fußnote 15: Erzpriester.]
- Peter Petrowitsch war sehr erstaunt über die völlig neue Tätigkeit, die
- ihm hier vorgeschlagen wurde. Er war doch immerhin ein Mann von altem
- Adel und sollte sich jetzt in einem Bauernwagen durchrütteln lassen und
- mit dem Buche durch Städte und Dörfer ziehen, um Geld für die Kirche zu
- sammeln! Aber er konnte nicht mehr zurück, er konnte sich der Sache
- nicht mehr entziehen. War es doch ein von Gott gewolltes Werk!
- »Sie überlegen noch?« fragte Murasow, »Sie werden damit einen doppelten
- Dienst leisten: Gott und mir.«
- »Ihnen?«
- »Das will ich Ihnen gleich sagen. Sie werden in Gegenden kommen, wo ich
- noch nicht war, und werden dort an Ort und Stelle alles erfahren: wie
- die Bauern leben, wo die Leute reicher sind, wo sie Not leiden, und wie
- überall die Verhältnisse liegen. Ich will Ihnen gestehen, ich liebe die
- Bauern von ganzem Herzen, vielleicht deshalb, weil ich selbst von Bauern
- abstamme. Die Sache ist nämlich die, es haben sich da schlimme Dinge
- unter ihnen verbreitet. Allerhand Herumtreiber und Sektierer suchen sie
- zu verführen und gegen die Obrigkeit aufzureizen, und wenn ein Mensch
- Not leidet, dann lehnt er sich so leicht auf. Als ob es eine so schwere
- Sache ist, einen Menschen unzufrieden zu machen, der sich in einer
- bedrängten Lage befindet. Aber das ist es ja gerade, die Hilfe und
- Strafe darf nicht von unten kommen. Es wäre schlimm, wenn man sich sein
- Recht mit den Fäusten erkämpfen wollte, daraus kann nichts Gutes
- entstehen; dabei haben nur die Diebe und Räuber den Vorteil. Sie sind
- ein kluger Mensch, Sie werden alles gründlich studieren und in Erfahrung
- bringen, wo ein Mensch wirklich Not leidet, wo andre ihn bedrücken, und
- wo sein eigner unruhiger Charakter die Schuld trägt. Und dann, wenn Sie
- wiederkommen, werden Sie mir alles ganz genau erzählen. Ich will Ihnen
- auf jeden Fall eine kleine Summe mitgeben, die Sie unter die verteilen
- mögen, die wirklich und unschuldigerweise Not leiden. Es wird auch gut
- sein, wenn Sie sie mit Worten trösten und es ihnen recht klar machen, es
- sei Gottes Wille, daß wir unsere Bürde ohne Murren tragen, zu ihm beten,
- wenn wir unglücklich sind und nicht toben, uns nicht auflehnen und uns
- nicht selbst zu unserem Rechte verhelfen. Mit einem Worte, reden Sie
- ihnen gut zu, ohne sie gegen jemand aufzuwiegeln, und lehren Sie sie,
- ihr Los geduldig ertragen. Wo Sie aber Haß und Zorn gegen jemand finden,
- da nehmen Sie all Ihre Kräfte zusammen.«
- »Afanassij Wassiljewitsch! Das Amt, das Sie mir übertragen wollen, ist
- ein heiliges Amt,« sagte Chlobujew. »Dies ist ein heiliges Werk!
- Bedenken Sie, wen Sie damit betrauen. Man kann es nur einem Menschen
- übertragen, der selbst gewissermaßen einen heiligen Lebenswandel führt,
- der es versteht, andern Leuten zu verzeihen.«
- »Ich sage ja auch nicht, das Sie dies _alles_ ausführen sollen, tuen
- Sie, was möglich ist, was in Ihren Kräften steht. Die Sache ist die: Sie
- werden trotzdem mit einem großen Wissensschatz und einer großen
- Ortskenntnis zurückkehren, Sie werden genau über die Lage der
- betreffenden Provinzen orientiert sein. Ein Beamter würde dem Bauern nie
- persönlich gegenübertreten, und auch der Bauer würde nicht aufrichtig
- gegen ihn sein. Sie aber, der Sie zu ihm kommen, um Beiträge für die
- Kirche zu sammeln, -- Sie werden überall einen Einblick gewinnen in die
- Lage des kleinen Mannes, in den Hausstand des Kaufmanns usw., Sie werden
- Gelegenheit haben, jeden genau nach allem auszufragen. Ich sage Ihnen
- das, weil der Generalgouverneur solche Leute wie Sie gerade jetzt
- besonders nötig hat, und Sie können, ganz abgesehen von den
- bureaukratischen Titeln, eine Stellung erhalten, wo Sie vielen Nutzen
- stiften werden.«
- »Gut denn! Ich will's versuchen, ich will all meine Kräfte anspannen und
- mir die größte Mühe geben,« sagte Chlobujew. Man hörte es seiner Stimme
- an, daß er wieder Mut und Kraft schöpfte, und er erhob wieder tapfer das
- Haupt, wie ein Mensch, den eine neue Hoffnung belebt. »Ich sehe, daß
- Gott Ihnen die rechte Einsicht geschenkt hat. Sie verstehen manche Dinge
- weit besser, als wir kurzsichtigen Leute.«
- »Doch nun möchte ich Sie endlich fragen: Was ist es mit Tschitschikow,
- und von welcher Angelegenheit sprachen Sie vorhin?« sagte Murasow.
- »Ach Gott, von Tschitschikow kann ich Ihnen geradezu unerhörte Dinge
- erzählen. Was der alles anstellt ... Wissen Sie auch, Afanassij
- Wassiljewitsch, daß das Testament gefälscht ist! Das echte Testament hat
- sich gefunden. Darnach sind die Pflegetöchter die Erbinnen des ganzen
- Gutes.«
- »Was sagen Sie? Und wer hat das falsche Testament hergestellt?«
- »Das ist es ja eben. Es ist eine ganz schmutzige Geschichte. Man sagt:
- Tschitschikow sei der Verfasser; das Testament sei erst nach dem Tode
- der Testantin unterschrieben: man hätte ein Weib gefunden, die man
- verkleidet habe, und die es anstelle der Verstorbenen unterschrieben
- hat. Mit einem Wort eine ganz häßliche und skandalöse Affäre. Man hat
- Verdacht, daß auch noch andere Beamte daran beteiligt sind. Man spricht
- schon überall davon, und der Generalgouverneur soll bereits davon Kunde
- haben. Man sagt, es seien über tausend Klagen von den verschiedensten
- Seiten eingelaufen. Die Freier machen sich jetzt schon an Marja
- Jeremejewna; zwei Beamte liegen sich ihretwegen in den Haaren. Eine
- widerwärtige Geschichte, Afanassij Wassiljewitsch.«
- »Ich habe noch garnichts davon gehört, aber die Sache wird sicherlich
- nicht ganz sauber sein. Ich muß gestehen, daß dieser Pawel Iwanowitsch
- Tschitschikow mir eine höchst rätselhafte Persönlichkeit ist,« sagte
- Murasow.
- »Ich habe meinerseits auch eine Klage eingereicht, um daran zu erinnern,
- daß es noch einen rechtmäßigen Erben gibt ...«
- »Mögen sie sich meinetwegen alle miteinander in den Haaren liegen,«
- dachte Chlobujew, als er sich von Murasow verabschiedet hatte. --
- »Afanassij Wassiljewitsch ist nicht dumm. Er wird sich die Sache wohl
- überlegt haben, als er mir diesen Auftrag gab. Ich muß ihn eben erfüllen
- -- das ist das Ganze.« Und er fing schon an, an seine Reise zu denken,
- während Murasow noch immer in Gedanken wiederholte: »Ein höchst
- rätselhafter Mensch dieser Pawel Iwanowitsch Tschitschikow! Wer mit
- dieser Willenskraft und dieser Ausdauer auf ein edles Ziel hinarbeitete!
- ...«
- * * * * *
- Nachdem Gogol 1845 das Manuskript des zweiten Teiles der toten Seelen
- verbrannt hatte, ging er sogleich an die Ausarbeitung eines neuen
- Planes. Anfang März 1846 war schon ein Teil des zweiten Bandes fertig.
- In den folgenden Jahren wurde die Arbeit unter mehreren größeren
- Unterbrechungen fortgesetzt. Juni 1849 las Gogol Frau A. O. Smirnow
- mehrere Kapitel der _neuen_ Fassung vor. Arnoldi, der einige Male bei
- diesen Vorlesungen zugegen war, gibt den Inhalt des von ihm Gehörten
- folgendermaßen wieder (vergl. Kap. 1 und 2 unserer Ausgabe):
- »Soweit ich mich erinnere, begann es (das erste Kapitel des zweiten
- Teils) ein wenig anders; es war überhaupt weit sorgfältiger
- durchgearbeitet, obwohl der Inhalt derselbe war. Dieses Kapitel schloß
- mit dem Gelächter des Generals Betrischtschew. Hierauf folgte ein
- zweites Kapitel, in dem ein Tag im Hause des Generals beschrieben wird.
- Tschitschikow blieb zum Mittagessen da. An dem Diner nahmen außer Ulinka
- noch zwei Personen teil: eine Engländerin, die die Rolle einer
- Gouvernante spielte, und ein Spanier oder Portugiese, der seit
- unvordenklichen Zeiten und ohne angebbaren Grund auf dem Gute
- Betrischtschews wohnte. Die Engländerin war eine ältere Jungfrau, ein
- farbloses, ziemlich häßliches Wesen mit einer großen schmalen Nase und
- sehr lebhaften Augen. Sie hielt sich kerzengerade, konnte tagelang
- schweigen und ließ nur ihre Augen mit dem dumm-fragenden Blick beständig
- nach allen Seiten schweifen. Der Portugiese hieß, soweit ich mich
- erinnere: Expanton, Chsitendon oder so ähnlich; aber ich weiß bestimmt,
- daß alle Dienstboten des Generals ihn bloß »Eskadron« nannten. Er
- schwieg auch fortwährend, mußte jedoch nach dem Essen eine Partie Schach
- mit dem General spielen. Während des Diners passierte nichts
- Außerordentliches. Der General war lustig und scherzte mit
- Tschitschikow, der einen großen Appetit entwickelte. Ulinka war
- nachdenklich, ihr Gesicht belebte sich bloß, wenn die Rede auf
- Tentennikow kam. Nach dem Essen spielte der General eine Partie Schach
- mit dem Spanier und wiederholte andauernd, während er eine Figur
- vorschob: »Lieb uns so weiß wie«, worauf Tschitschikow ihn beständig
- verbesserte: »So schwarz, Exzellenz.« »Ja, ja,« sagte der General, »lieb
- uns so schwarz, wie wir sind, weiß würde uns der Herrgott selbst lieb
- haben.« Nach fünf Minuten versprach er sich jedoch abermals und fing
- wieder an: »Lieb uns so weiß wie«. -- Tschitschikow verbesserte ihn aufs
- neue, und der General wiederholte noch einmal: »Lieb uns so schwarz wie
- wir sind, wenn wir weiß und sauber wären, würde uns auch der Herrgott
- lieb haben.« Nachdem der General mehrere Partieen mit dem Spanier
- gespielt hatte, schlug er Tschitschikow vor, ein paar Partieen mit ihm
- zu spielen, und auch hier wußte sich Tschitschikow äußerst geschickt aus
- der Affäre zu ziehen. Er spielte sehr gut, bedrängte und setzte den
- General mit seinen Zügen in Verlegenheit, verlor aber schließlich doch
- die Partie: der General war sehr zufrieden, daß er einen so starken
- Spieler wie Tschitschikow besiegt hatte, und gewann ihn noch mehr lieb.
- Beim Abschied bat er ihn, sobald als möglich wiederzukehren, und auch
- Tentennikow mitzubringen. Als Tschitschikow wieder zu Tentennikow kam,
- erzählte er ihm, wie traurig Ulinka sei, wie sehr der General es
- bedauere, daß er ihn gar nicht mehr bei sich sähe, wie der General sein
- Benehmen aufrichtig bereue und sogar bereit sei, ihm zuerst einen Besuch
- abzustatten und ihn um Verzeihung zu bitten, nur um das Mißverständnis
- aus der Welt zu schaffen. Das war natürlich alles erfunden. Aber
- Tentennikow, der sterblich in Ulinka verliebt war, freute sich
- selbstverständlich, einen Vorwand zu haben und erklärte, wenn die Sache
- sich so verhalte, werde er es nicht dazu kommen lassen und noch morgen
- zum General fahren, um ihm mit seinem Besuch zuvorzukommen.
- Tschitschikow billigt diesen Entschluß, und beide verabreden sich, am
- folgenden Tage zum General Betrischtschew zu fahren. Am Abend desselben
- Tages gesteht Tschitschikow Tentennikow, daß er den General
- angeschwindelt und ihm erzählt habe, daß Tentennikow eine Geschichte der
- Generäle schreibe. Dieser versteht nicht, wozu Tschitschikow so etwas
- gesagt habe, und weiß nicht, was er machen soll, wenn der General auf
- diese Geschichte zu sprechen kommen sollte. Tschitschikow erklärt ihm,
- er wisse eigentlich selbst nicht, wie ihm dieses Wort entschlüpft sei,
- aber es sei nun einmal nicht mehr zu ändern, und er bittet ihn, wenn er
- durchaus nicht lügen könne, doch wenigstens still zu schweigen und die
- Sache nicht geradezu abzuleugnen, um _ihn_ -- Tschitschikow nicht vor
- dem General zu kompromittieren. Hierauf fahren beide nach dem Gute des
- Generals. Tentennikow begrüßt den General und Ulinka, und man setzt sich
- zum Mittagessen. Die Beschreibung dieses Diners war meiner Ansicht nach
- die schönste Stelle im zweiten Bande. Der General saß in der Mitte,
- rechts von ihm Tentennikow, links Tschitschikow, neben Tschitschikow
- Ulinka, neben Tentennikow der Spanier und zwischen dem Spanier und
- Ulinka -- die Engländerin. Der General war sehr zufrieden, daß er sich
- wieder mit Tentennikow ausgesöhnt hatte, und mit einem Menschen plaudern
- konnte, der eine Geschichte der vaterländischen Generäle schrieb.
- Tentennikow war glücklich, weil Ulinka ihm gegenübersaß, mit der er von
- Zeit zu Zeit einen Blick wechselte. Ulinka war gleichfalls glücklich,
- weil der Geliebte wieder zu ihnen zurückgekehrt war, und der Vater die
- alten guten Beziehungen zu ihm wiederhergestellt hatte, und auch
- Tschitschikow war sehr zufrieden mit seiner Rolle als Mittler in dieser
- reichen und vornehmen Familie. Die Engländerin ließ ihre Augen frei nach
- allen Seiten schweifen, der Spanier betrachtete seinen Teller und erhob
- seinen Blick nur dann, wenn ein neues Gericht aufgetragen wurde. Er
- suchte sich den besten Bissen aus, und ließ ihn nicht aus den Augen,
- während die Schüssel längs der Tafel die Runde machte, oder bis sich
- jemand des guten Bissens bemächtigt hatte. Nach dem zweiten Gange
- brachte der General das Gespräch auf Tentennikows Werk und erwähnte das
- Jahr 1812. Tschitschikow zitterte vor Angst und wartete gespannt auf die
- Antwort. Aber Tentennikow zog sich gewandt aus der Affäre. Er erwiderte,
- es sei nicht seine Aufgabe, eine Geschichte des Feldzuges, der einzelnen
- Schlachten und der Personen zu schreiben, die in diesem Kriege eine
- Rolle gespielt hätten, das Jahr 1812 sei nicht durch die Taten Einzelner
- bemerkenswert, es gäbe auch ohne ihn genug Geschichtsschreiber, die
- diese Epoche behandelt hätten, aber man müsse diese Zeit von einer
- andern Seite ansehen; was sie besonders auszeichne, sei dies, daß das
- ganze Volk sich wie ein Mann erhoben habe, um das Vaterland zu
- verteidigen; alle Intrigen, alle kleinlichen Interessen und
- Leidenschaften seien für eine Zeitlang verstummt; alle Stände hätten
- sich in dem einen Gefühl der Vaterlandsliebe vereint, jeder wäre bereit
- gewesen, sein Letztes dahinzugeben und alles für die gemeinsame Sache
- aufzuopfern. Das sei das Große an diesem Kriege, und das wäre es, was er
- wohl in einem leuchtenden Bilde festhalten möchte: all diese vielen
- unbeachteten Heldentaten und diese geheimen und großen Opfer eines
- Volkes! Tentennikow sprach lange und mit Begeisterung; er war in diesem
- Augenblick völlig durchdrungen von glühender Liebe zu seinem russischen
- Vaterlande. Betrischtschew hörte ihm ganz entzückt zu; zum erstenmal
- hörte er ein so lebendiges, warmes Wort. Eine Träne rollte ihm wie ein
- reiner Diamant den Schnurrbart hinunter. In diesem Moment war der
- General sehr schön. Und Ulinka? Sie hing förmlich mit den Augen an
- Tentennikow, sie schien jedes seiner Worte gierig einzuschlürfen; wie
- eine herrliche Musik berauschten sie diese Reden, sie liebte, sie war
- stolz auf ihn. Der Spanier betrachtete seinen Teller noch aufmerksamer
- als früher und die Engländerin sah alle Anwesenden mit einem dummen und
- verständnislosen Blick an. Als Tentennikow geendigt hatte, blieb alles
- eine Zeitlang stumm, alle waren aufs tiefste erschüttert ...
- Tschitschikow, der gern auch etwas sagen wollte, brach zuerst das
- Schweigen. »Ja,« bemerkte er, »1812 herrschte eine furchtbare Kälte!« --
- »Es handelt sich hier gar nicht um die Kälte,« sagte der General und sah
- ihn sehr streng an. Tschitschikow wurde verlegen. Der General reichte
- Tentennikow die Hand und dankte ihm herzlich; aber Tentennikow war ganz
- selig, denn er las Beifall und Anerkennung in Ulinkas Augen, die
- Geschichte der Generäle war vergessen. Der Tag verlief still und
- angenehm für alle Beteiligten. -- An die nun folgende Anordnung der
- Kapitel kann ich mich nicht mehr genau erinnern, ich weiß nur noch, daß
- Ulinka sich nach diesem Vorfall entschloß, mit ihrem Vater ernstlich
- über Tentennikow zu sprechen. Eines Abends, kurz vor dieser
- entscheidenden Unterhaltung, besuchte sie das Grab ihrer Mutter um
- Stärkung in einem Gebet zu finden. Nach dem Gebet betrat sie das Zimmer
- ihres Vaters, kniete vor ihm nieder und bat ihn um seine Einwilligung zu
- ihrer Verlobung mit Tentennikow; der General schwankte lange, gab jedoch
- schließlich seine Zustimmung. Tentennikow wurde herbeigerufen und
- erfuhr, daß der General einverstanden sei. Dieses geschah einige Tage
- nach dem Friedensfest. Als Tentennikow die Einwilligung erhalten hatte,
- ließ er Ulinka einen Augenblick allein und lief ganz außer sich vor
- Glück in den Garten. Er mußte mit sich allein sein. Das Glück
- überwältigte ihn! ... Hier folgten bei Gogol zwei herrliche lyrische
- Seiten. -- Ein heißer Sommertag -- um die Mittagszeit. Tentennikow sitzt
- in dem dichten schattenreichen Garten, und rings um ihn herum herrscht
- eine tiefe heilige Stille. Dieser Garten war wunderbar geschildert;
- jedes Zweiglein war beschrieben: die glühende Mittagshitze in der Luft,
- die Grillen im Grase, die vielen schwärmenden Insekten, und endlich
- Tentennikows Gefühle, des glücklich Liebenden und Wiedergeliebten! --
- Ich erinnere mich lebhaft, daß diese Beschreibung so wundersam, so
- voller Kraft, Farbe und Poesie war, daß mir das Herz vor Erregung stille
- stand. Gogol las vorzüglich! -- Im Übermaß seines Gefühls weinte
- Tentennikow vor Glück und Seligkeit, und er schwor sich, sein ganzes
- Leben seiner Braut zu widmen. In diesem Moment erschien Tschitschikow am
- Ende der Allee. Tentennikow umarmt und dankt ihm: »Sie sind mein
- Wohltäter, Ihnen verdanke ich all mein Glück, wie kann ich Ihnen nur
- danken. Mein Leben wäre zu wenig für solch einen Dienst.« Sofort kommt
- Tschitschikow eine Idee: »Ich habe nichts für Sie getan, das ist ein
- bloßer Zufall,« antwortet er, »ich bin sehr erfreut, aber Sie können
- sich sehr leicht dankbar erweisen.« »Wodurch, wodurch?« ruft
- Tentennikow, »sprechen Sie es aus, schnell, und es ist geschehen.« Hier
- erzählt ihm Tschitschikow von seinem angeblichen Onkel, und daß er 300
- Bauern brauche, wenn auch bloß auf dem Papiere. »Aber warum müssen sie
- denn unbedingt tot sein?« fragt Tentennikow, der nicht recht versteht,
- was Tschitschikow eigentlich will. »Ich werde Ihnen _pro forma_ all
- meine 300 Seelen verschreiben, und Sie können unseren Vertrag Ihrem
- Onkel zeigen; nachher, wenn Sie Ihr Gut erhalten haben, können wir ja
- den Kontrakt wieder vernichten.« Tschitschikow ist ganz sprachlos vor
- Erstaunen. »Wie? Und Sie fürchten sich nicht vor solch einem Schritt ...
- Sie fürchten sich gar nicht, daß ich Sie betrügen und Ihr Vertrauen
- mißbrauchen könnte?« Aber Tentennikow läßt ihn nicht ausreden. »Was?«
- ruft er aus, »ich sollte _Ihnen_ mißtrauen, dem ich mehr verdanke als
- mein Leben.« Hier umarmen sie sich, und die Sache war abgemacht.
- Tschitschikow schlief an diesem Abend süß ein. Am andern Tage fand im
- Hause des Generals eine große Beratung statt, wie man den Verwandten die
- Verlobung mitteilen solle; ob es sich schriftlich erledigen ließe, oder
- ob jemand die Nachricht persönlich hinbringen solle. Betrischtschew war
- offenbar sehr unruhig und machte sich Sorgen, wie die Fürstin Sjusjukina
- und seine andern vornehmen Verwandten dieses Ereignis aufnehmen würden,
- Tschitschikow wußte sich auch hier wieder nützlich zu erweisen: er
- machte dem General den Vorschlag, ihn, Tschitschikow, zu sämtlichen
- Verwandten zu schicken, um sie durch ihn von der Verlobung Ulinkas und
- Tentennikows benachrichtigen zu lassen. Natürlich hatte er dabei wieder
- das Geschäft mit den toten Seelen im Auge. Sein Vorschlag wurde mit Dank
- angenommen. »Ich kann mir nichts Besseres wünschen,« dachte der General,
- »er ist ein gescheiter Kopf und hat gute Manieren; er wird es verstehen,
- den Leuten die Sache mit der Verlobung so plausibel zu machen, daß alle
- zufrieden sein werden.« Der General bot Tschitschikow seinen
- zweisitzigen, im Auslande verfertigten Wagen an, und Tentennikow stellte
- ihm noch ein viertes Pferd zur Verfügung. Tschitschikow sollte sich
- schon nach wenigen Tagen auf den Weg machen. Von da ab sahen ihn alle im
- Hause des Generals als einen ihrer Angehörigen, als einen Freund des
- Hauses an. Nachdem er zu Tentennikow zurückgekehrt war, ließ er sofort
- Seliphan und Petruschka rufen und erklärte ihnen, sie sollten sich zur
- Abreise rüsten. Seliphan war bei Tentennikow ganz träge und faul
- geworden, er glich kaum noch einem Kutscher mehr, und die Pferde blieben
- ganz ohne Pflege und Aufsicht. Petruschka aber stellte fortwährend den
- Bauernmädchen nach. Als jedoch der leichte und beinahe neue Wagen des
- Generals eintraf, und Seliphan hörte, daß er nun auf dem breiten
- Kutschbock sitzen und vier Pferde lenken werde, da erwachten wieder all
- seine Kutscherinstinkte, er betrachtete die Equipage mit großer
- Aufmerksamkeit, mit Kennerblick und verlangte von den Knechten des
- Generals allerhand Reserveschrauben und Schlüssel, wie sie überhaupt
- nicht existieren. Auch Tschitschikow dachte mit Vergnügen an seine Reise
- und malte sich schon aus, wie er sich auf den weichen Polstern
- ausstrecken, und wie das vierte Pferd seinen federleichten Wagen schnell
- wie der Wind dahintragen werde.«
- Auf wieviel Kapitel der hier wiedergegebene Inhalt verteilt war, hat
- Arnoldi nicht genau angegeben: er bemerkt hierzu: »Dies ist alles, was
- Gogol in meiner Gegenwart vom zweiten Bande vorgelesen hat. Meiner
- Schwester hat er, wie ich glaube, _neun_ Kapitel vorgelesen« [Rußkij
- Westnik (Russischer Bote) 1862, Januarheft, Seite 74-79]. Die
- Umarbeitung der Niederschrift fand gleichzeitig mit der Arbeit an der
- Fortsetzung der Dichtung statt. Im Januar 1850 waren »eigentlich nur
- zwei bis drei Kapitel« vollständig fertig.
- Gegen Ende 1851 oder im Anfang des Jahres 1852 las Gogol Schewyrew die
- beiden letzten Kapitel des zweiten Bandes der »Toten Seelen« vor. Alles,
- was er von diesem Teil in dem Zeitraum von 1845 bis 1852
- niedergeschrieben hatte, hat er selbst wenige Tage vor seinem Tode
- verbrannt.
- Anhang zu den Novellen
- _Der Mantel._ Der Plan zu dieser Novelle stammt aus dem Jahre 1834. Der
- erste Entwurf aus dem Jahre 1839; vollendet wurde sie 1841, und 1842 für
- die erste Ausgabe der gesammelten Werke neu bearbeitet, wo diese
- Erzählung zum ersten Male abgedruckt ist.
- * * * * *
- _Die Nase._ Diese Novelle wurde 1832 begonnen und in ihrer ersten
- Fassung die für den Moskowski Nabljudatel (Moskauer Beobachter) bestimmt
- war, Anfang März 1835 vollendet. 1836 wurde sie noch einmal für den
- Puschkinschen »Sowremennik« (»Der Zeitgenosse«) umgearbeitet, wo sie im
- dritten Bande erschienen ist. Die Freigabe durch die Zensur erfolgte
- 1836. Auf Verlangen des Zensors mußte folgende Stelle des Manuskripts
- vor der Drucklegung im »Zeitgenossen« umgearbeitet werden:
- »Er eilte in die Kirche und drängte sich durch eine Reihe alter
- Bettlerinnen hindurch, deren Köpfe so tief in allerhand Tüchern und
- Lappen steckten, daß man von ihren Gesichtern nichts sah, als die beiden
- Augen. Wie herzlich hatte er oft über sie gelacht, heute aber schritt er
- an ihnen vorbei und betrat die Halle. Die Kirche war nur schwach
- besucht, die Mehrzahl der Beter stand vorne am Eingange in der Türe.
- Kowaljew war so erregt und verstimmt, daß er es nicht über sich gewann,
- zu beten. Er suchte »die Nase«, suchte sie in allen Winkeln und sah den
- Herrn endlich etwas abseits in einer Ecke stehen. Die Nase hatte ihr
- Gesicht ganz in einem hohen Stehkragen versteckt und betete mit dem
- Ausdruck tiefster Andacht. »Unter welchem Vorwande soll ich mich ihm
- bloß nähern?« dachte Kowalew. »Er ist gekleidet, wie ein vornehmer Herr,
- und noch dazu Staatsrat.« Er stellte sich neben ihn und hustete ein
- paarmal laut, aber die Nase verharrte in ihrer andächtigen Stellung und
- beugte sich immerfort tief bis zur Erde. »Geehrter Herr!« sagte Kowalew,
- indem er sich selbst Mut zuzusprechen suchte: »Geehrter Herr!« »Was ist
- Ihnen gefällig?« entgegnete jener, indem er sich umdrehte. -- »Ich finde
- es sehr seltsam, mein Herr, ... Mir scheint, Sie sollten wissen, wo Ihr
- Platz ist ... und plötzlich finde ich Sie ... hier ... in der Kirche.
- Sie müssen selbst zugeben, daß ...«
- »Ich verstehe nicht, was Sie sagen wollen. Bitte erklären Sie sich
- deutlicher.« »Wie soll ich es ihm nur klar machen?« dachte Kowalew,
- faßte jedoch wieder Mut und begann: »Ich will natürlich ... Übrigens bin
- ich ... Ohne Nase herumzulaufen ... Sie müssen doch zugeben, in meiner
- Lage ist das höchst peinlich. Ich bin doch kein Hökerweib, das an der
- Woskressenskibrücke sitzt und geschälte Apfelsinen feilbietet ... _Die_
- braucht freilich keine Nase ... Aber ein Mann, der Ansprüche auf einen
- Gouverneursposten hat ... und sie ganz ohne Zweifel erfüllt sehen wird
- ... Ich weiß wirklich nicht, mein Herr.« -- Hierbei zuckte der Major mit
- den Achseln. »Verzeihen Sie. Wenn man diese Sache vom Standpunkt des
- Ehr- und Pflichtbewußtseins betrachtet, dann müssen Sie doch selbst
- einsehen ...« »Ich verstehe kein Wort,« versetzte die Nase, »bitte
- drücken Sie sich etwas deutlicher aus.«
- »Mein Herr,« sagte Kowalew ernst und würdig. »Ich weiß nicht, wie ich
- Ihre Worte auffassen soll ... Die Sache liegt doch wohl _sehr_ klar ...
- oder Sie wollen bloß nicht ... _Sie sind doch meine Nase_, meine
- _eigene_ Nase!« Die Nase sah den Major an und runzelte die Stirn.
- »Sie befinden sich in einem Irrtum, mein Herr! Ich stehe völlig
- selbständig da. Nebenbei bemerkt kann es zwischen uns keine näheren
- Beziehungen geben. Nach den Knöpfen Ihrer Interimsuniform zu urteilen,
- dienen Sie im Senat oder doch im Justizministerium, während ich in der
- wissenschaftlichen Branche tätig bin.« Kowalew befand sich in der
- größten Verlegenheit und war ganz verwirrt. »Was soll ich machen?«
- dachte er. Doch in diesem Augenblick vernahm er in der Nähe das
- angenehme Rauschen einer Damenrobe. Eine ältere, ziemlich umfangreiche
- Dame, die in einem üppigen Spitzenkleide steckte, welches einige
- Ähnlichkeit mit einem gothischen Bau hatte, betrat die Kirche. Sie wurde
- begleitet von einer jüngeren und schlankeren Dame in einem Kleide, das
- sich in schönen Falten um ihre schlanke Gestalt legte, und mit einem
- Strohhut, der so leicht und zart war, wie eine Meringentorte. Hinter
- beiden stand ein großer Herr mit einem mächtigen Backenbart und einem
- ganzen Dutzend Kragen; er war eben im Begriff seine Tabaksdose zu öffnen
- und wollte gerade eine Prise nehmen. Kowalew näherte sich der Gruppe,
- ordnete den Batistkragen seines Vorhemdes, sowie die Berlocken an seiner
- Uhrkette und wendete mit einem lächelnden Seitenblick seine
- Aufmerksamkeit der duftigen Dame zu, die sich gleich einer
- Frühlingsblume leicht vornüberbeugte und ihr Händchen mit den weißen
- durchsichtigen Fingern an die Stirne führte. Das Lächeln, welches auf
- Kowalews Lippen schwebte, wurde immer breiter und intensiver, als ihm
- unter dem Hut ein Teil ihres Kinns und ihrer Wange entgegenleuchtete.
- Aber plötzlich sprang er zurück, wie wenn er sich an einem glühenden
- Eisen verbrannt hätte; er erinnerte sich, daß er in seinem Gesicht
- anstelle der Nase nur eine glatte Fläche hatte, und Tränen entströmten
- seinem Auge. Er drehte sich um um dem Herrn offen zu erklären, er trage
- bloß die Maske eines Staatsrats, während er in Wahrheit ein Betrüger und
- ein Lump sei; tatsächlich sei er nichts _andres_ als seine _eigene_
- Nase. Aber die Nase war bereits verschwunden, sie hatte wahrscheinlich
- schon einen bedeutenden Vorsprung gewonnen und stattete wieder irgend
- jemandem einen Besuch ab. Kowalew verließ die Kirche. Das Wetter war
- wundervoll, heiter und sonnig; auf dem Newski-Prospekt wimmelte es nur
- so von Menschen. Ein wahrer Sturzbach von Damen flutete durch die
- Straße. Dort kam ihm schon ein guter Bekannter entgegen, der Hofrat ...«
- Eine bedeutende Umarbeitung erfuhr auch die folgende Stelle der
- ursprünglichen Fassung: »Der ehrenwerte Beamte hörte ihn mit
- vielsagender Miene an und fuhr fort, das vor ihm liegende Geld zu
- zählen, von dem er 2 Rubel 33 Kopeken, die er für das Inserat erhalten
- hatte, beiseite legte. Zu beiden Seiten standen allerhand alte Weiber,
- Kommis, Hausburschen und Kutscher, jeder mit Zetteln in der Hand. In dem
- einen Zettel wurde angekündigt, es sei ein tüchtiger nüchterner Kutscher
- von guter Führung abzugeben; in dem andern wurde eine noch wenig
- gebrauchte Equipage feilgeboten, die aus der Zeit Peters des Großen
- stammte und keine heile Schraube mehr hatte. Der eine hatte ein gesundes
- Mädchen von neunzehn Jahren abzugeben, die als Wäscherin gedient hatte,
- aber auch bei andern häuslichen Arbeiten zu verwenden war, der jedoch
- schon mehrere Zähne fehlten; ein anderer suchte eine solide Droschke zu
- verkaufen, der nur eine Feder mangelte, oder einen jungen wilden
- Apfelschimmel von 17 Jahren; dort wurden ein Posten frisch aus London
- eingetroffener Rüben und Radieschensamen, und dort wieder sogenannte
- indische Radieschen ausgeboten, eine schöne Villa mit allen
- Bequemlichkeiten, zwei Pferdeställen und einem Platz, wo man sehr gut
- einen Garten anlegen konnte. Ferner wurde der Verlust eines Geldbeutels
- bekannt gegeben und dem ehrlichen Finder eine anständige Belohnung in
- Aussicht gestellt, oder es wurden Käufer für alte Sohlen gesucht, wobei
- die Reflektanten aufgefordert wurden, sich zu einer bestimmten Stunde
- zur Versteigerung einzufinden. Das Zimmer, in dem sich alle diese Leute
- aufhielten, war klein, vollgeraucht und die Luft in ihm war so dumpf und
- dick, daß man sie mit dem Messer schneiden konnte, denn die russischen
- Bauern haben die merkwürdige Eigentümlichkeit, die Luft bedeutend zu
- verdichten, und wo einmal vier Hausknechte in roten Hemden und ein
- Kutscher zusammenkommen, da kann man ruhig eine Axt in der Luft
- aufhängen. Zum Glück konnte der Kollegien-Assessor nichts davon riechen,
- er hielt sich ja ein Taschentuch vors Gesicht und dann befand sich ja
- auch seine Nase Gott weiß wo.« --
- Das von den Worten »Gleich, gleich« bis zum Schluß des zweiten Kapitels
- reichende Stück ist eine spätere Bearbeitung des ursprünglichen weit
- einfacheren Textes. In dem ersten Manuskript lautete diese Stelle
- folgendermaßen:
- »Gleich, gleich! -- Zwei Rubel dreiundvierzig Kopeken ... einen Rubel
- sechzig Kopeken!« sagte der grauhaarige Herr, während er den alten
- Weibern und den Hausburschen ihre Zettel ins Gesicht warf. »Und was
- wünschen Sie?« fragte er endlich, indem er sich an Kowalew wandte.
- »Ich möchte ganz besonders darum bitten ...,« sagte Kowalew: »es ist
- eine unerhörte Gaunerei oder Betrügerei passiert -- ich kann der Sache
- noch immer nicht auf den Grund kommen. Ich bitte Sie nur, in die Zeitung
- einrücken zu lassen, daß derjenige, der diesen Schurken dingfest macht,
- eine ausreichende Belohnung erhalten soll.«
- »Hm, darf ich Sie um Ihren Familiennamen bitten?«
- »Kowalew, -- Kollegien-Assessor Kowalew, Sie brauchen übrigens bloß zu
- schreiben: ein Mann vom Range eines Majors ...«
- »Ja und wer ist denn eigentlich der Flüchtling? Ist er einer Ihrer
- Leibeigenen?«
- »O nein, keineswegs ein Leibeigener! Das wäre noch keine so große
- Gemeinheit. Nein es ist eine ... Nase.«
- »Hm, was für ein merkwürdiger Name! Und hat Sie denn dieser Herr Nase um
- eine große Summe bestohlen?«
- »Eine _Nase_ ... das heißt, Sie verstehen mich falsch. Meine -- meine
- eigene Nase ist ganz spurlos verschwunden. Der Teufel selbst hat sich
- einen Scherz mit mir erlaubt. -- Und nun fährt diese Nase als Herr
- verkleidet durch die Stadt und hält alle Leute zum Narren ... Ich möchte
- Sie nun bitten, eine Annonce in die Zeitung einrücken zu lassen, daß
- jeder, der den Kerl abfassen sollte, ihn mir persönlich vorführen möge
- -- diesen Gauner, diesen Hundesohn ... Entschuldigen Sie bitte, ich muß
- husten, mein Hals ist ganz trocken. Ich bringe kaum noch ein Wort
- heraus.«
- Der Beamte wurde nachdenklich, was man aus seinen fest
- zusammengekniffenen Lippen schließen konnte.
- »Nein, eine solche Annonce kann ich nicht aufnehmen,« sagte er
- schließlich nach längerem Stillschweigen.
- »Wie? Warum nicht?«
- »So. Die Zeitung würde ihren Ruf aufs Spiel setzen. Da könnte jeder
- kommen und anzeigen, daß ihm seine Nase oder seine Lippen ausgerückt
- seien ... Man spricht schon ohnedies, daß soviel falsche Gerüchte
- verbreitet und soviel Torheiten gedruckt werden.«
- »Ja, wenn mir aber doch meine Nase wirklich abhanden gekommen ist!«
- »Wenn sie Ihnen abhanden gekommen ist, so ist das Sache des Arztes. Man
- sagt, es gibt Menschen, die Ihnen Nasen von beliebiger Form ansetzen
- können. Übrigens scheinen Sie mir ein Schalk zu sein, Sie machen wohl
- gern einen Scherz.«
- »Ich schwöre Ihnen bei allem was mir heilig ist. Bei Gott ich lüge
- nicht! Soll ich es Ihnen zeigen?«
- »Aber ich bitte Sie, warum wollen Sie sich unnütz bemühen,« fuhr der
- Beamte fort, indem er eine Prise nahm. Ȇbrigens, wenn es Ihnen nicht zu
- viel Umstände macht, so würde ich mir die Sache doch ganz gern ansehen,«
- fügte er mit einem neugierigen Blick hinzu.
- Der Kollegien-Assessor zog das Taschentuch weg.
- »In der Tat, das ist sehr merkwürdig,« sagte der Beamte, »das sieht
- genau so aus, wie ein frisch gebackener Eierkuchen. Die Fläche ist ja
- geradezu unglaublich glatt und eben.«
- »Nun, was sagen Sie jetzt! Also bitte lassen Sie die Annonce sofort
- einrücken.«
- »Ich könnte sie schließlich einrücken lassen. Das wäre ja eine
- Kleinigkeit, nur kann ich nicht sehen, daß Ihnen ein großer Vorteil
- daraus erwachsen würde. Wenn Sie es durchaus wünschen, daß die Sache
- bekannt wird, so teilen Sie die Geschichte doch einem Schriftsteller
- mit, einem Mann, der eine gewandte Feder führt, der könnte den Fall als
- ein interessantes Naturspiel beschreiben und den Artikel in der »Biene
- des Nordens« veröffentlichen, (hier nahm er wieder eine Prise) zum
- Nutzen und zur Belehrung aller jungen Leute, die sich mit den
- Wissenschaften beschäftigen (hierbei wischte er sich die Nase ab), oder
- überhaupt zur Unterhaltung und zur allgemeinen Erbauung.«
- Der Kollegien-Assessor war völlig verzweifelt und niedergeschlagen. Er
- warf einen Blick auf ein vor ihm liegendes Zeitungsblatt und den
- Vergnügungsanzeiger; schon wollte ein Lächeln sein Gesicht verklären,
- als er den Namen einer hübschen Schauspielerin las, und seine Hand griff
- mechanisch nach der Tasche -- sie suchte nach einem blauen Schein, denn
- nach Kowalews Ansicht mußten Personen vom Range eines Stabsoffiziers
- mindestens im Parkett sitzen. Aber der Gedanke an seine Nase schnitt wie
- ein scharfes Messer in sein Herz. Der arme Kowalew machte sich also auf
- und begab sich von einem unerträglichen Schmerz gequält zum
- Polizeikommissar, der ein großer Freund von Süßigkeiten war; sein ganzer
- Flur und sein ganzes Eßzimmer war mit Zuckerhüten vollgestellt, die ihm
- die Kaufleute aus einer besonderen Freundschaft für ihn verehrt hatten.
- Die Köchin zog dem Polizeibeamten gerade seine großen Stulpenstiefel
- aus, sein Degen und seine ganze Kriegsrüstung hingen schon friedlich in
- der Ecke; sein dreijähriges Söhnchen machte sich bereits mit dem
- mächtigen Dreimaster zu schaffen, und der Kommissar war eben im Begriff,
- sich nach den Strapazen des kriegerischen Lebens den Genüssen des
- Friedens hinzugeben. Da trat Kowalew bei ihm ein, gerad als jener sich
- bequem auf dem Sofa ausstrecken wollte, seinen Mund zu einem kräftigen
- Gähnen verzog und sagte: »So, nun leg' ich mich auf zwei Stunden hin;
- ich werde ein feines Schläfchen tun.« Daher kann man sich vorstellen,
- wie ungelegen ihm der Besuch des Kollegien-Assessors kam, und ich weiß
- nicht, ob er, auch wenn er ihm einige Pfund Tee oder ein paar Meter Tuch
- mitgebracht hätte, viel freundlicher empfangen worden wäre.
- Der Kommissar war ein großer Freund der Künste und aller
- Manufakturgegenstände überhaupt, trotzdem er oft behauptete, es gäbe
- nichts Angenehmeres als eine Staatsbanknote: »Sie braucht nur wenig
- Platz, läßt sich bequem in die Tasche stecken, und wenn man sie fallen
- läßt, geht sie nicht entzwei.«
- Der Polizeikommissar empfing Kowalew ziemlich kühl und trocken. Er
- erklärte, daß die Zeit nach dem Essen nicht der geeignete Moment für
- amtliche Nachforschungen sei; die Natur selbst weise darauf hin, daß der
- Mensch, wenn er sich satt gegessen habe, der Ruhe pflegen müsse, (woraus
- deutlich hervorgeht, daß der Polizeikommissar ein Philosoph war); einem
- anständigen Menschen könne es nie passieren, daß ihm die Nase abgerissen
- werde, und es laufen in der Welt genug Majore herum, die nicht einmal
- ihre Unterhosen sauber zu halten wissen, und sich in allerhand
- unanständigen Lokalen herumtreiben.
- Diese Worte trafen unseren Helden mitten ins Herz! Man muß nämlich
- wissen, daß Kowalew eine äußerst empfindliche Natur war. Er konnte alles
- verzeihen, was man über ihn sagte, nur keinen Verstoß gegen die seiner
- amtlichen Würde gebührende Achtung. Er war der Ansicht, daß man auch in
- den Theaterstücken wohl eine Bemerkung über die höheren Offiziere
- durchlassen könne, aber niemals ein Wort, das sich gegen die
- _Stabs_offiziere richtet. Der Empfang des Polizeikommissars brachte ihn
- derartig aus der Fassung, daß er empört den Kopf schüttelte, die Hände
- weit ausstreckte und würdevoll ausrief: »Ich muß gestehen, daß ich auf
- solche beleidigende Äußerungen nichts zu erwidern habe ...« Und damit
- ging er hinaus.
- Der Major kehrte mehr tot als lebendig nach Hause zurück; nach all
- diesen seelischen Erschütterungen wußte er kaum noch, ob er auf seinen
- Füßen stehe oder nicht. Er warf sich müde in einen Lehnstuhl und brach,
- nachdem er sich ein wenig ausgeruht hatte, in bittere Klagen aus: »Mein
- Gott, mein Gott! Womit habe ich bloß ein solches Unglück verdient? Hätte
- ich noch eine Hand oder einen Fuß verloren, wären mir meine beiden Ohren
- abhanden gekommen -- es wäre noch immer leichter zu ertragen, aber ein
- Mensch ohne Nase -- das ist ein Ding, das man nehmen und zum Fenster
- hinauswerfen möchte. Hätte man sie mir noch abgeschnitten, oder wäre ich
- selbst schuld daran -- aber so ganz ohne Grund zu verschwinden! Weiß
- Gott, das ist doch zu unwahrscheinlich! Vielleicht schlafe ich bloß, und
- ich habe dies alles nur geträumt.« -- Und der Kollegien-Assessor kniff
- sich mit dem Finger ins Fleisch, sodaß er vor Schmerz beinahe laut
- aufgeschrieen hätte. »Nein, hol's der Teufel, ich schlafe nicht!« Er
- stand ganz leise auf, näherte sich vorsichtig dem Spiegel, kniff die
- Augen erst ein wenig zu und blickte dann plötzlich hinein: »Wer weiß,
- vielleicht hatte er doch noch eine Nase!« aber er sprang sogleich wieder
- vom Spiegel zurück und murmelte: »Weiß der Teufel! Die reinste
- Karikatur!«
- Und in der Tat, der Fall war wirklich ganz unmöglich und völlig
- unwahrscheinlich; man hätte ihn wirklich für einen Traum halten müssen,
- wenn er nicht tatsächlich passiert wäre und sich nicht eine ganze Menge
- von völlig einwandfreien Beweisen dafür gefunden hätte. Der Major
- überlegte lange Zeit, wer wohl hier der Schuldige sein möchte; und kam
- schließlich zum Resultat, daß noch am ehesten eine Witwe, die Gattin
- eines verstorbenen Stabsoffiziers, die Schuld an seinem Unglück treffe.
- Diese wünschte nämlich, daß der Major ihre Tochter heiraten solle, und
- er hatte ihr auch in der Tat die Cour geschnitten, war aber zugleich
- einer deutlichen Erklärung stets aus dem Wege gegangen. Als ihm jedoch
- die Witwe offen mitteilte, daß sie ihm gern ihre Tochter zur Frau geben
- würde, da trat er den Rückzug an und sagte, er sei noch zu jung und
- müsse noch gegen fünf Jahre dienen, um die runde Zahl von zweiundvierzig
- Jahren zu erreichen. Sicherlich hatte sich die Witwe an ihm rächen
- wollen, sich daher entschlossen, ihn zu verstümmeln, und ein paar alte
- Hexen gegen ihn aufgehetzt, wahrscheinlich aber hatte auch sie selbst
- mit dabei geholfen.
- Während er noch über diese Dinge nachgrübelte, hörte er plötzlich im
- Vorzimmer eine fremde Stimme: »Wohnt hier der Kollegienassessor
- Kowalew?«
- »Bitte treten Sie ein. Der Kollegienassessor ist zu Hause!« sagte er,
- indem er vom Stuhl aufsprang und die Türe öffnete. Es war der
- Polizeikommissar, der am Ende der Isaksbrücke gestanden hatte, ein Mann
- von sehr würdigem Äußeren.
- »Ich glaube, Sie beliebten, Ihre Nase zu verlieren.«
- »In der Tat!«
- »Sie ist soeben angehalten worden.«
- »Was sagen Sie« rief der Major hocherfreut aus. »Auf welche Weise ist
- das geschehen?«
- »Durch einen sehr merkwürdigen Zufall. Man hat sie fast im Moment ihrer
- Abreise angehalten. Sie hatte schon ihren Platz im Postwagen
- eingenommen, um nach Riga zu fahren. Der Paß war schon längst
- ausgestellt und lautete auf einen Schuldirektor in Tambow. Das
- Merkwürdigste jedoch ist, daß ich sie selber für einen Herrn gehalten
- habe, aber ich hatte zum Glück meine Brille mitgenommen; so setzte ich
- sie denn auf und erkannte sogleich, daß es nur eine Nase war. Ich bin
- nämlich kurzsichtig, und wie Sie jetzt vor mir stehen, unterscheide ich
- weder Nase noch Bart oder sonst etwas. Meine Schwiegermutter, die Mutter
- meiner Frau, sieht auch fast gar nichts.«
- Kowalew war außer sich vor Freude: »Wo ist sie, wo? Ich laufe sofort
- hin!«
- »Seien Sie ganz ruhig, ich weiß, daß Sie sie brauchen, ich habe sie
- deshalb gleich mitgebracht. Das Seltsamste ist, daß der Hauptschuldige
- an der ganzen Sache ein Lump von Barbier aus der Wosnessenski-Straße
- ist, der zurzeit schon in Polizeigewahrsam sitzt. Ich habe ihn schon
- lange in Verdacht, daß er ein Dieb und ein Trunkenbold ist; erst vor
- drei Tagen hat er im Gostinny Dwor ein halbes Dutzend Knöpfe gestohlen.
- Ihre Nase ist gänzlich unversehrt.« Mit diesen Worten steckte der
- Polizeikommissar seine Hand in die Tasche und holte die Nase heraus, die
- in ein Stück Papier eingewickelt war.
- »Ja, das ist sie!« rief Kowalew ganz selig aus. »Das ist sie wirklich.
- Wollen Sie eine Tasse Tee mit mir trinken?«
- »Mit dem größten Vergnügen, aber es ist mir leider unmöglich. Ich bin
- sehr beschäftigt. Die Lebensmittel sind jetzt so teuer geworden. Meine
- Schwiegermutter, d. h. die Mutter meiner Frau, wohnt auch bei mir im
- Hause. Und dann habe ich noch Kinder. Der Älteste berechtigt zu den
- schönsten Hoffnungen, das ist wirklich ein recht intelligenter Bursche,
- mir fehlen nur leider die Mittel, ihm eine gute Erziehung zu geben.«
- Kowalew begriff die Anspielung, nahm einen roten Zettel vom Tisch und
- drückte ihn dem Polizeikommissar in die Hand, dieser machte einen
- Kratzfuß und ging zur Tür hinaus; fast im selben Augenblick hörte
- Kowalew seine Stimme auf der Straße, wo er einem dummen Bauern, der mit
- seiner Fuhre auf den Boulevard geraten war, eine kräftige Mahnung in
- Form einer Ohrfeige erteilte. Der Kollegienassessor kam endlich wieder
- zu sich, denn die Freude hatte ihm alle Besinnung geraubt ... »Gott sei
- Dank, jetzt habe ich doch wieder eine Nase! Nun will ich sie mir aber
- auch wieder ansetzen.« Mit diesen Worten versuchte er es, sie an ihren
- alten Platz zu bringen, aber zu seinem Erstaunen mußte er bemerken, daß
- die Nase durchaus nicht haften bleiben wollte. »Nun sitz doch fest, du
- Rindvieh!« sagte er zu ihr, aber die Nase war ganz dumm und fiel immer
- wieder auf den Tisch, sowie er sie losließ. Das Gesicht des Majors
- verzerrte sich krampfhaft. »Sollte sie wirklich nicht haften bleiben?«
- sprach er erschrocken. Aber die Nase fiel tatsächlich auf den Tisch.
- »Ach Gott, ach Gott! Ja, wie kann sie denn auch festsitzen? Ich habe ja
- ganz vergessen, daß, wenn sie einmal abgeschnitten ist, man sie doch gar
- nicht wieder ansetzen kann.«
- Unterdessen hatte sich das Gerücht von diesem außerordentlichen Ereignis
- in der ganzen Residenz verbreitet, und natürlich, wie das zu geschehen
- pflegt, nicht ohne viele Zutaten und Ausschmückungen. Um diese Zeit
- standen gerade alle Gemüter unter dem Eindruck übernatürlicher Vorgänge:
- erst kurz vorher hatten Experimente mit dem tierischen Magnetismus das
- ganze Publikum beschäftigt. Dazu war die Geschichte mit den tanzenden
- Stühlen in der Stallhofstraße noch in jedermanns Gedächtnis, und es war
- daher kein Wunder, daß man sich bald darauf zu erzählen begann, die Nase
- des Kollegienassessors Kowalew gehe jeden Tag pünktlich um drei Uhr auf
- dem Newski-Prospekt spazieren. Eine Menge von Neugierigen strömte dort
- jeden Tag zusammen. Dieses Ereignis bildete das besondere Entzücken all
- jener eleganten Müßigänger, die bei keiner Gesellschaft fehlen, und die
- es sich zur Pflicht machen, die Damen zu unterhalten und zum Lachen zu
- bringen. Die Sache kam ihnen sehr gelegen, da ihr Vorrat an Neuigkeiten
- zurzeit völlig erschöpft war. Aber es gab doch auch viele, die sehr
- ungehalten über diese Klatschereien waren, und ein Herr mit einem Stern
- erklärte ganz empört, er begreife nicht, wie in einem aufgeklärten
- Jahrhundert solche falsche und abgeschmackte Gerüchte entstehen könnten;
- ja er wunderte sich, daß die _Regierung_ diesen Vorgängen nicht mehr
- Beachtung schenkte. Dieser Herr gehörte augenscheinlich zu jener
- Menschenklasse, die es für wünschenswert hält, daß die Regierung sich in
- alle Angelegenheiten mische, selbst in die alltäglichen Zwistigkeiten
- der Ehegatten.
- Der arme Kollegienassessor hatte von all diesen Gerüchten Kunde
- bekommen, obwohl ich nicht sagen kann, auf welche Weise, denn er verließ
- fast niemals sein Zimmer. -- Er befahl, niemand vorzulassen, ließ sich
- nirgends sehen, nicht einmal im Theater, und wenn selbst die tollste
- Posse gegeben wurde; er spielte nicht einmal mehr eine Partie Boston,
- mied sogar Herrn Jaryschkin, der sein Busenfreund war, und magerte im
- Laufe eines Monats derartig ab, daß er bald mehr einer Leiche als einem
- lebendigen Menschen glich ...
- Übrigens war all das, was hier beschrieben ist, nur ein Traum des
- Majors. Als er wieder erwachte, geriet er so außer sich vor Freude, daß
- er wie toll aus seinem Bette sprang, zum Spiegel lief, und als er sich
- überzeugt hatte, daß alles am rechten Flecke saß, im bloßen Hemde durch
- das Zimmer zu hüpfen begann. Er führte sogar einen ganzen Tanz auf, der
- eine Art Mischung aus einer Française und einer polnischen Mazurka
- darstellte. Und als sein Diener Iwan den Kopf durch die Tür steckte, um
- zu sehen, was sein Herr treibe, da rief der Major ihm zu: »Mach, daß du
- hinaus kommst! Worüber wunderst du dich?« Nach einer Minute aber warf er
- sich aufs Bett, richtete sich jedoch gleich wieder auf und schrie: »He,
- Iwan!« -- »Was wünschen der gnädige Herr?« -- »Hat nicht ein Mädel -- so
- ein hübsches, nettes Mädel nach dem Major Kowalew gefragt?« -- »Nein,
- gnädiger Herr!« -- »Hm,« sagte der Major Kowalew und blickte lächelnd in
- den Spiegel.«
- Gogol hat »Die Nase« _noch einmal_ für die _erste_ Gesamtausgabe seiner
- Werke umgearbeitet und ihr dort einen andern _Schluß_ gegeben. Im
- Sowremennik (»Zeitgenossen«) von Puschkin lautet dieser Schluß
- folgendermaßen:
- »Da geschah etwas ganz Merkwürdiges und Unerklärliches. Plötzlich befand
- sich die Nase des Majors wieder an ihrem alten Platze. Dies geschah im
- Anfang Mai, ich kann jedoch nicht genau sagen, ob es am fünften oder
- sechsten Mai war. Als der Major frühmorgens erwachte, nahm er den
- Spiegel zur Hand und bemerkte, daß die Nase sich ganz, wie es sich
- gehörte, zwischen den beiden Wangen des Majors befand. Höchst erstaunt
- ließ er den Spiegel auf den Boden fallen und befühlte die Nase mehrmals
- mit der Hand, denn er war nicht sicher, ob es auch wirklich eine Nase
- sei. Aber da er sich überzeugte, daß es in der Tat nichts anders als
- seine höchsteigene Nase war, sprang er aus dem Bett und absolvierte im
- Zimmer einen Tanz, der eine Mischung aus einer Française und einem
- russischen Trepak darstellte. -- Dann ließ er sich anziehen, wusch sich
- und rasierte sich das Kinn, das bereits eine große Ähnlichkeit mit einer
- Bürste angenommen hatte, mit der man sich bequem die Kleider bürsten
- konnte. -- Und schon nach wenigen Minuten sah man den Kollegienassessor
- auf dem Newski-Prospekt herumspazieren, wo er lustig einherschritt und
- fröhliche Blicke auf alle Passanten warf; viele sahen ihn sogar im
- Gostinny Dwor ein schmales Ordensband kaufen, zu welchem Zwecke dies
- jedoch geschah -- das hätte freilich niemand sagen können, denn er besaß
- gar keinen Orden.
- Eine äußerst merkwürdige Geschichte! Ich kann sie absolut nicht
- verstehen. Und was soll das alles? Was hat es für einen Zweck? Ich bin
- überzeugt, daß weit mehr als die Hälfte davon ganz unwahrscheinlich ist.
- Es kann nicht sein; es ist völlig unmöglich, daß eine Nase ganz allein
- in einer Uniform in der Stadt herumfährt -- und noch dazu als ein Mann
- von dem hohen Range eines Staatsrats! Und konnte denn Kowalew wirklich
- nicht begreifen, daß man nicht durch die Zeitung nach einer Nase suchen
- darf? Ich meine das nicht in dem Sinne, daß eine Annonce eine sehr teure
- Sache ist. Das sind alles Kleinigkeiten. Ich gehöre gar nicht zu den
- geizigen und habgierigen Leuten. Aber das ist unschicklich, das ist ganz
- ungehörig und geht nun einmal nicht. Eine Absurdität und weiter nichts!
- -- Und dann dieser Barbier Iwan Jakowlitsch! Wozu mußte er so plötzlich
- auftauchen und dann wieder verschwinden, ohne daß man weiß, warum und zu
- welchem Zweck. -- Ich gestehe, ich kann es absolut nicht begreifen, wie
- ich selbst so etwas schreiben konnte? Ich begreife überhaupt nicht, wie
- ein Autor sich solch ein Sujet wählen kann! Wozu soll das führen?
- Welchen Zweck kann das haben? Was beweist diese Erzählung? Nein -- ich
- verstehe es nicht, ich verstehe es ganz und gar nicht. -- Freilich ...
- die Phantasie ist keinen Gesetzen unterworfen, und dann passieren doch
- in der Welt auch wirklich viele ganz unerklärliche Dinge: wie aber
- verhält es sich mit diesem Fall? -- Warum mußte die _Nase_ von Kowalew
- ... und warum mußte Kowalew _selbst_ ...? Nein, ich verstehe es nicht,
- ich verstehe es durchaus nicht. Die Sache erscheint mir so unerklärlich,
- daß ich ... Nein, das läßt sich einfach nicht verstehen!«
- _Das Porträt._ Der erste Entwurf dieser Novelle erschien in Gogols
- »Arabesken«, 1841 wurde sie in Rom umgearbeitet. Die neue Fassung ist
- frühestens im März 1837 begonnen. 1842 wurde sie noch einmal
- durchgesehen und korrigiert und am 17. März dieses Jahres Pletnew
- eingesandt, der sie im »Sowremennik« (Der Zeitgenosse) Band XXVI Nr. 3
- abdruckte. Die Freigabe durch die Zensur erfolgte am 30. Juni 1842. 1851
- nahm der Verfasser für die zweite Auflage seiner »Werke« noch einige
- unbedeutende stilistische Veränderungen vor.
- * * * * *
- Druck von Mänicke & Jahn, Rudolstadt.
- Anmerkungen zur Transkription
- Verweise auf Varianten im Text des zweiten Teils der Toten Seelen
- (im Anhang) sind mit Nummern in runden Klammern gekennzeichnet.
- Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten. Auch
- Variationen in der Transliteration der russischen Namen wurden nicht
- verändert.
- Zwei offensichtliche Übertragungsfehler wurden ebenfalls unverändert
- belassen. Auf Seite 71 sagt der General zu Tschitschikow: »Dir die
- toten Seelen abzukaufen?« Im Original heißt es hingegen richtig: »zu
- überlassen«, da ja der General der Besitzer der Bauern ist. Auf Seite
- 171 hat Chlobujew nicht »fünfzigtausend Bauern«, sondern wie im Original
- »fünfzig Bauern« geerbt.
- Offensichtliche Fehler wurden, teilweise unter Zuhilfenahme des
- russischen Originaltextes, korrigiert wie hier aufgeführt
- (vorher/nachher):
- [S. 25]:
- ... Ohren Kopf kratzten. Aber das dauerte nicht lange.(5) Der ...
- ... Ohren am Kopf kratzten. Aber das dauerte nicht lange.(5) Der ...
- [S. 28]:
- ... dann ließ er es fast ganz an der früheren Aufmerkksamkeit ...
- ... dann ließ er es fast ganz an der früheren Aufmerksamkeit ...
- [S. 28]:
- ... auffangen, wenn sie sich allenthaben im Himmel und ...
- ... auffangen, wenn sie sich allenthalben im Himmel und ...
- [S. 46]:
- ... wie jeder Bauer heißt, wer mit diesen und jenem verwandt ...
- ... wie jeder Bauer heißt, wer mit diesem und jenem verwandt ...
- [S. 49]:
- ... und die Lage der Ställe außerordenlich bequem. ...
- ... und die Lage der Ställe außerordentlich bequem. ...
- [S. 60]:
- ... ergreifen wollten, vertbeugte sich mit bewundernswürdiger ...
- ... ergreifen wollten, verbeugte sich mit bewundernswürdiger ...
- [S. 70]:
- ... »Und fährt er noch spazieren? Macht er Besuche. ...
- ... »Und fährt er noch spazieren? Macht er Besuche? ...
- [S. 70]:
- ... Ist er noch gut auf den Beinen!« ...
- ... Ist er noch gut auf den Beinen?« ...
- [S. 79]:
- ... »Sagen Sie, wie steht es mit dem Gute Ihres Vaters!« ...
- ... »Sagen Sie, wie steht es mit dem Gute Ihres Vaters?« ...
- [S. 79]:
- ... »Ich weiß, was Sie jetzt denken?« sagte Petuch. ...
- ... »Ich weiß, was Sie jetzt denken!« sagte Petuch. ...
- [S. 80]:
- ... Alexyascha. ...
- ... Alexascha. ...
- [S. 82]:
- ... sehne? Wenn mich doch jemand ein bischen ärgern ...
- ... sehne? Wenn mich doch jemand ein bißchen ärgern ...
- [S. 89]:
- ... weitere lößten sie ab, und laut schwoll an und ergoß sich ...
- ... weitere lösten sie ab, und laut schwoll an und ergoß sich ...
- [S. 89]:
- ... zu jagen, saßen Nikoloscha und Alexascha stumm da und ...
- ... zu jagen, saßen Nikolascha und Alexascha stumm da und ...
- [S. 92]:
- ... herein!« dachte Tschitschikow. »Da ist der Brantweinpächter ...
- ... herein!« dachte Tschitschikow. »Da ist der Branntweinpächter ...
- [S. 92]:
- ... meiner Schwester und von meinen Schwager verabschieden.« ...
- ... meiner Schwester und von meinem Schwager verabschieden.« ...
- [S. 92]:
- ... erste hier in der Gegend. Er bezieht Einkünft im Werte ...
- ... erste hier in der Gegend. Er bezieht Einkünfte im Werte ...
- [S. 96]:
- ... konnte Tchitschikow nur die Spuren eines echt weiblichen ...
- ... konnte Tschitschikow nur die Spuren eines echt weiblichen ...
- [S. 97]:
- ... in einem Jacke von Kamelhaaren kam auf das Haus
- zugeschritten. ...
- ... in einer Jacke von Kamelhaaren kam auf das Haus
- zugeschritten. ...
- [S. 99]:
- ... »Ich habe dir's schon gesagt, Ich lasse nicht mit mir ...
- ... »Ich habe dir's schon gesagt, ich lasse nicht mit mir ...
- [S. 100]:
- ... kannte auch keine andere Sprache außer der russichen. ...
- ... kannte auch keine andere Sprache außer der russischen. ...
- [S. 103]:
- ... er an davon zu erzählen, wieviel Mühe es ihm gekostet ...
- ... er an davon zu erzählen, wieviel Mühe es ihn gekostet ...
- [S. 103]:
- ... Tschitschikow sah ihn aufmerksam ins Gesicht, hörte ...
- ... Tschitschikow sah ihm aufmerksam ins Gesicht, hörte ...
- [S. 107]:
- ... steht zu ihrer Verfügung. Tuen Sie, als ob Sie zu ...
- ... steht zu Ihrer Verfügung. Tuen Sie, als ob Sie zu ...
- [S. 111]:
- ... daß man sich von den französischer Invasion und dem ...
- ... daß man sich von der französischen Invasion und dem ...
- [S. 124]:
- ... Der andere lächelte, fühlte er doch selbst, daß Tschischitkow ...
- ... Der andere lächelte, fühlte er doch selbst, daß Tschitschikow ...
- [S. 134]:
- ... »Und was wollen Sie dann anfangen!« ...
- ... »Und was wollen Sie dann anfangen?« ...
- [S. 140]:
- ... die einem Geld kosten? -- Aber glauben Sie nur nicht, ...
- ... die einen Geld kosten? -- Aber glauben Sie nur nicht, ...
- [S. 142]:
- ... und töchrichtes Zeug plapperte. Die Damen zogen sich ...
- ... und törichtes Zeug plapperte. Die Damen zogen sich ...
- [S. 153]:
- ... Name war Wassillij. ...
- ... Name war Wassilij. ...
- [S. 162]:
- ... den Fingern, zeigte ihm ein reizendes Karnealsiegel, ...
- ... den Fingern, zeigte ihm ein reizendes Karneolsiegel, ...
- [S. 162]:
- ... »Das dich doch der Teufel holte, kleiner Satan!« ...
- ... »Daß dich doch der Teufel holte, kleiner Satan!« ...
- [S. 163]:
- ... für ihre Güte auch einen kleinen Dienst zu leisten. Ich ...
- ... für Ihre Güte auch einen kleinen Dienst zu leisten. Ich ...
- [S. 171]:
- ... Betrügereien vorgekommen, Alfanassij Wassiljewitsch! ...
- ... Betrügereien vorgekommen, Afanassij Wassiljewitsch! ...
- [S. 179]:
- ... wurde, ihn davon in Kenntnis setzte, das die Sache ...
- ... wurde, ihn davon in Kenntnis setzte, daß die Sache ...
- [S. 206]:
- ... zu nehmen.« ...
- ... zu nehmen?« ...
- [S. 217]:
- ... »Es versteht sich von selbst, deß der Hauptschuldige ...
- ... »Es versteht sich von selbst, daß der Hauptschuldige ...
- [S. 218]:
- ... gehabt hätten, dann durften sie sich nicht durch den Stolz
- und ...
- ... gehabt hätten, dann durften Sie sich nicht durch den Stolz
- und ...
- [S. 218]:
- ... und ihr eigenes Ich zum Opfer bringen. Ich hätte Ihre ...
- ... und Ihr eigenes Ich zum Opfer bringen. Ich hätte Ihre ...
- [S. 227]:
- ... im Kalender ein anderes Blatt auf und legten den Finger ...
- ... im Kalender ein anderes Blatt auf und legte den Finger ...
- [S. 237]:
- ... Petrowitsch war ein Individium, das schielte, pockennarbig ...
- ... Petrowitsch war ein Individuum, das schielte, pockennarbig ...
- [S. 256]:
- ... so eine Sache machen wollen, dann ist es wirlich so ...
- ... so eine Sache machen wollen, dann ist es wirklich so ...
- [S. 279]:
- ... sein imponierendes Äußere warf: »Welch ein Charakter!« ...
- ... sein imponierendes Äußeres warf: »Welch ein Charakter!« ...
- [S. 290]:
- ... Aber hier hüllt plötzlich ein undurchdringles Dunkel ...
- ... Aber hier hüllt plötzlich ein undurchdringliches Dunkel ...
- [S. 291]:
- ... ebene und glatte Fäche! Voller Schrecken ließ Kowalew ...
- ... ebene und glatte Fläche! Voller Schrecken ließ Kowalew ...
- [S. 298]:
- ... Weise und einen Teil der Wange bemerkte, die in ...
- ... Weiße und einen Teil der Wange bemerkte, die in ...
- [S. 307]:
- ... Der Major lies sich, wie man sieht, sogar zu einer ...
- ... Der Major ließ sich, wie man sieht, sogar zu einer ...
- [S. 315]:
- ... Kowalew begann, das Vorgefallene zu überbedenken, ...
- ... Kowalew begann, das Vorgefallene zu überdenken, ...
- [S. 323]:
- ... und über alle folgenden Ereignisse ist wieder nichs bekannt. ...
- ... und über alle folgenden Ereignisse ist wieder nichts bekannt. ...
- [S. 327]:
- ... Und der Mojor Kowalew zeigte sich, als ob nichts ...
- ... Und der Major Kowalew zeigte sich, als ob nichts ...
- [S. 335]:
- ... an und zeigte ihnen mit einer großen Geste sein Laden. ...
- ... an und zeigte ihnen mit einer großen Geste seinen Laden. ...
- [S. 343]:
- ... für das vollkommenste und vollendeste Kunstwerk ...
- ... für das vollkommenste und vollendetste Kunstwerk ...
- [S. 344]:
- ... mit jenen hohen Genuß zu tun, den die Seele angesichts ...
- ... mit jenem hohen Genuß zu tun, den die Seele angesichts ...
- [S. 344]:
- ... Messer bewaffnet, einen Menschen nahn, in der Erwartung, ...
- ... Messer bewaffnet, einem Menschen nahn, in der Erwartung, ...
- [S. 347]:
- ... begann der Alte, die Rollen zu öffnen, aus denen ihn ...
- ... begann der Alte, die Rollen zu öffnen, aus denen ihm ...
- [S. 348]:
- ... Die Brust war wie eigeschnürt, wie wenn sie den letzten ...
- ... Die Brust war wie eingeschnürt, wie wenn sie den letzten ...
- [S. 364]:
- ... ist, als in denen Tizians. Kennen Sie Monsieur Nohl!« ...
- ... ist, als in denen Tizians. Kennen Sie Monsieur Nohl?« ...
- [S. 385]:
- ... stimmte am besten mit seinen Seelenzustand überein, ...
- ... stimmte am besten mit seinem Seelenzustand überein, ...
- [S. 399]:
- ... eigentümliche arithmetrische Operationen zu ganz ...
- ... eigentümliche arithmetische Operationen zu ganz ...
- [S. 403]:
- ... Vater gestand, niemals in seinen Leben etwas Ähnliches ...
- ... Vater gestand, niemals in seinem Leben etwas Ähnliches ...
- [S. 438]:
- ... »So schwarz ... Exzellenz,« verbesserte ihm Tschitschikow. ...
- ... »So schwarz ... Exzellenz,« verbesserte ihn Tschitschikow. ...
- [S. 458]:
- ... hineinzukommen. Was denken Sie wohl?« ...
- ... hineinzukommen? Was denken Sie wohl?« ...
- [S. 475]:
- ... umgearbeitet worden: ...
- ... umgearbeitet werden: ...
- [S. 476]:
- ... versetzte die Nase, »bitten drücken Sie sich etwas deutlicher ...
- ... versetzte die Nase, »bitte drücken Sie sich etwas deutlicher ...
- [S. 480]:
- ... seinen fest zusammengekniffen Lippen schließen konnte. ...
- ... seinen fest zusammengekniffenen Lippen schließen konnte. ...
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- II / Novellen, by Nikolaj Gogol
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