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Directory : Briefwechsel II, Die Beichte des Dichters, Betrachtungen über die Heilige Liturgie, Jugendschriften, Fragmente
- The Project Gutenberg EBook of Sämmtliche Werke 8: Briefwechsel II, Hans
- Küchelgarten, by Nikolaj Gogol
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- Title: Sämmtliche Werke 8: Briefwechsel II, Hans Küchelgarten
- Briefwechsel II / Die Beichte des Dichters / Betrachtungen
- über die Heilige Liturgie / Jugendschriften / Fragmente
- / Hans Küchelgarten
- Author: Nikolaj Gogol
- Editor: Otto Buek
- Translator: Ullrich Steindorf
- Release Date: January 31, 2018 [EBook #56475]
- Language: German
- *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 8: ***
- Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
- Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was
- produced from images made available by the HathiTrust
- Digital Library
- Nikolaus Gogol
- Briefwechsel II
- Nikolaus Gogol
- Sämmtliche Werke
- In 8 Bänden
- Herausgegeben
- von
- Otto Buek
- Band 8
- München und Leipzig
- bei Georg Müller
- 1914
- Nikolaus Gogol
- Aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden
- Zweiter Teil
- Hans Küchelgarten
- Deutsch von Ulrich Steindorff
- München und Leipzig
- bei Georg Müller
- 1914
- An Arkadius Ossipowitsch Rosetti
- Neapel, im Jahre 1847.
- Ich weiß nicht, wie ich Ihnen für Ihren Brief und die zahlreichen
- Mitteilungen danken soll, die er enthält, liebster, bester Arkadij
- Ossipowitsch. Wenn ich häufiger das Glück hätte, solche Briefe zu
- erhalten, selbst wenn sie nicht von solch herzlicher Teilnahme und Liebe
- zu mir erfüllt wären, müßte ich schon längst viel klüger sein, als ich
- es jetzt bin. Aber was soll ich tun, wenn es mir durchaus nicht gelingen
- will, jemand in irgendeiner Weise davon zu überzeugen, daß ich wissen
- muß, was man über mich spricht, daß das die einzige Gelegenheit für mich
- ist, etwas zu lernen, kurz, daß es einen Menschen gibt, dem man die
- Wahrheit sagen muß, so hart und bitter sie auch sein mag, und für den
- selbst die harten und rohen Worte, wie sie nur dem Haß und der
- Lieblosigkeit entspringen, ein Bedürfnis sind? So war denn auch einer
- der Gründe, der mich dazu bestimmte, meine Briefe herauszugeben -- das
- Bedürfnis, zu lernen, und nicht etwa das -- andere zu belehren. Da man
- jedoch einen Russen nicht anders zum Reden veranlassen kann, als
- dadurch, daß man ihn erzürnt und ungeduldig macht, so habe ich beinahe
- mit Vorbedacht eine Reihe von Stellen in den Briefwechsel aufgenommen,
- die die Menschen durch ihren arroganten Ton verletzen und an ihrer
- empfindlichsten Stelle treffen mußten.
- Ich kann Ihnen allen Ernstes versichern: ich leide außerordentlich
- darunter, daß ich sehr viele Dinge nicht kenne, die ich unter allen
- Umständen kennen müßte; ich leide darunter, daß ich eigentlich gar nicht
- weiß, was heutzutage die Menschen aller Berufsarten, Ämter und aller
- Bildungsstufen in Rußland darstellen. Alles, was ich hierüber bisher
- unter einem ungeheuren Aufwand von Mühe ermitteln konnte, ist nicht
- ausreichend, wenn meine »Toten Seelen« das werden sollen, was sie
- eigentlich sein sollten. Das ist der Grund, weswegen ich so sehr danach
- dürste, zu erfahren, was die Menschen aller Klassen mit Einschluß der
- Bedienten und Lakaien über mein gegenwärtiges Buch sagen -- nicht
- eigentlich im Interesse meines Buches selbst, sondern weil sich der
- Beurteiler mit seinem Urteil über das Werk am besten charakterisiert.
- Aus einem solchen Urteil kann ich sofort entnehmen, was er selbst für
- ein Mensch ist, auf welchem Niveau geistiger Bildung er steht, wie es in
- seiner Seele aussieht, ob er von Natur ein schlichter und gütiger Mensch
- oder unwissend und korrumpiert ist. Mein Buch kann mir in gewisser
- Beziehung als Probierstein dienen, und glauben Sie mir, daß Sie es sich
- heutzutage an keinem anderen Buche so deutlich zum Bewußtsein bringen
- können, wie an diesem, was der Russe von heute für ein Mensch ist. Ich
- kann es nicht leugnen, ich hoffte auf einzelne Leute, die an gewissen
- Gebrechen leiden, einen wohltätigen Einfluß auszuüben, ich hatte
- erwartet, daß sich mehr Stimmen zu meinen Gunsten äußern würden, als das
- wirklich der Fall war, und es war bitter, ja sogar sehr bitter für mich,
- vieles mitanhören zu müssen. Aber wie danke ich Gott heute dafür, daß es
- gerade so und nicht anders gekommen ist! Ich sehe mich jetzt
- unwillkürlich genötigt, viel strenger gegen mich zu sein, ich habe jetzt
- die Möglichkeit, auch die Menschen weit besser und genauer kennen zu
- lernen, und bin endlich in der Lage, mir eine richtigere Ansicht von
- ihnen zu bilden. Was aber den Umstand betrifft, daß meine Persönlichkeit
- hierbei Schaden gelitten hat (ich muß es Ihnen gestehen; ich brenne noch
- heute vor Scham, wenn ich daran denke, wie anmaßend ich mich an vielen
- Stellen ausgedrückt habe: fast à la Chlestakow), so muß man doch immer
- Opfer bringen. Ich brauchte eine solche öffentliche Ohrfeige, ja ich
- hatte sie vielleicht nötiger als irgendein anderer. Aber es kommt darauf
- an, die Gelegenheit zu ergreifen und aus den Umständen Nutzen zu ziehen:
- Gott hat plötzlich einen ganzen Haufen von Schätzen vor mir
- ausgeschüttet, so daß ich mit beiden Händen danach greifen muß, wenn ich
- sie bergen will. Wenn Sie mir etwas wahrhaft Gutes tun wollen, etwas,
- dessen nur ein Christ fähig ist, dann lesen Sie diese Kostbarkeiten für
- mich auf, wo Sie sie immer finden mögen. Es wäre Ihnen ein leichtes,
- sich täglich etwa in Form eines Tagebuches ein paar Aufzeichnungen zu
- machen wie z. B. die folgenden: »Heute habe ich den und den, die und die
- Meinung äußern hören; über das Leben dieses Menschen ist folgendes
- bekannt, er hat einen solchen Charakter« (kurz, Sie könnten mir in
- flüchtigen Zügen ein Bild von ihm entwerfen). Ist dagegen nichts über
- ihn bekannt, so schreiben Sie: über sein Leben kann ich nichts in
- Erfahrung bringen, ich glaube aber, daß er das und das ist; äußerlich
- macht er einen guten und anständigen (oder unanständigen) Eindruck; er
- hält seine Hände so; schneuzt sich folgendermaßen; er schnupft Tabak und
- zwar in folgender Weise; kurz, Sie dürfen keinen Zug vergessen, der
- Ihnen ins Auge fällt, vielmehr sollen Sie jeden wichtigen ebenso wie
- jeden geringfügigen Umstand sorgfältig buchen.
- Glauben Sie mir, das ist keineswegs langweilig. Hierzu bedarf es weder
- eines bestimmten Planes, noch braucht es in einer bestimmten Ordnung und
- Reihenfolge zu geschehen: man wirft bloß zwei, drei Zeilen aufs Papier,
- ehe man daran geht, sich zu waschen. Ich bin sogar überzeugt, daß dies
- eine angenehme Beschäftigung für Sie sein wird, weil Sie stets das
- schöne Bewußtsein haben werden, daß Sie das für einen Menschen tun, der
- Sie inniglich liebt, und dem Sie damit eine Freude bereiten; eine so
- große Freude, wie sie ein Kind empfindet, das an einem Festtag sein
- Lieblingsspielzeug zum Geschenk erhält. Was soll ich machen, wenn dies
- Spielzeug -- das wenigstens von anderen Leuten nur für ein Spielzeug
- gehalten wird -- in meinen Augen nichts weniger als ein Spielzeug ist;
- es ist sogar so wenig ein Spielzeug, daß, wenn ich nicht genug von
- diesen Spielzeugen geschenkt bekomme, aus meinen »Toten Seelen«
- plötzlich statt lebendiger Menschen meine eigene Nase herausgucken kann
- und lauter Dinge zum Vorschein kommen können, wie Sie sie in meinem
- Buche gefunden und die Ihnen so mißfallen haben. Glauben Sie mir: wenn
- dies Buch nicht erschienen wäre, hätte ich nie jene kunstlose
- Einfachheit erreicht, die unbedingt in allen weiteren Teilen der »Toten
- Seelen« herrschen muß, wenn sie jedermann für einen treuen Spiegel des
- Lebens und nicht für eine Karikatur halten soll. Sie wissen nicht, welch
- großen Umweg man machen muß, um sich diese Einfachheit anzueignen. Sie
- wissen nicht, wie hoch diese schlichte Einfachheit steht. Man tut
- besser, hierüber gar nicht erst zu reden, helfen Sie mir -- das ist
- alles, was ich zu sagen vermag.
- Was nun die Veröffentlichung meiner Briefe anbetrifft, so habe ich
- folgendes beschlossen. Wegen der inhibierten Briefe einen neuen Band
- herauszugeben -- ist mir unmöglich. Ich habe noch andere Arbeiten vor,
- die nicht vergessen werden dürfen, und über meine ganze Zeit habe ich
- schon disponiert; zudem würde ein ganz ähnliches Werk nicht einmal
- Aufsehen erregen. Ich möchte nur, daß Wjasemski seine Bemerkungen dazu
- macht und gewisse Korrekturen vornimmt. Dann will ich die Briefe noch
- einmal durchsehen und verbessern, so daß selbst der schlichteste Zensor,
- auch ohne daß sie vor eine höhere Instanz zu gelangen brauchten, die
- Herausgabe gestattet. Glauben Sie mir, man kann alles sagen, wenn man es
- nur verständig auszudrücken versteht. Der Mißerfolg der besten und
- hochherzigsten Unternehmungen rührt meist von unserer Ungeschicklichkeit
- her -- da wir gewöhnlich vergessen, an die kluge Redensart zu denken:
- »Man muß Wasser in seinen Wein gießen« (Nimm dieselbe Kohlsuppe, aber
- verdünne sie erst ein wenig). Wenn wir -- statt mit großer Sicherheit
- und hochmütiger Miene Ratschläge zu erteilen, die wir in dem Tone eines
- Menschen vorbringen, dem es nie in den Sinn kommt, daß er sich irren
- könnte -- schlicht und bescheiden unsere Meinung vortragen, können wir
- sicher sein, daß unsere Gedanken von vielen Lesern beifällig aufgenommen
- und weiterverbreitet werden. Kurz, was nicht hineingehört, mag
- fortfallen, das Kluge und Gescheite wird einen anderen Ausdruck finden;
- wo sich meine eigene Person in aufdringlicher Weise vordrängt, da soll
- sie nicht nur eins auf die Nase bekommen, sondern da lasse ich auch noch
- eine solche Stelle einschieben, durch die die vorhergehenden schon
- gedruckten Sätze einen maßvolleren Ton erhalten. Jedenfalls aber sollen
- diese Briefe mit in das Buch aufgenommen und nicht besonders
- veröffentlicht werden. Sie werden dem Buche trotzdem eine höhere
- Bedeutung verleihen und die Menschen in Rußland an _Rußland_ erinnern
- und nicht an mich. Dieses Buch darf nicht zum alten Eisen geworfen
- werden. Obwohl es große Mängel hat, -- es ist nicht auf kurze flüchtige
- Eindrücke berechnet. Man muß es mehrmals lesen, und das gilt nicht nur
- für die, die es überhaupt nicht verstanden, sondern auch für die, die es
- besser verstanden haben als die anderen. In diesem Buche liegen noch
- Geheimnisse der Seele verborgen, die nicht sofort ergründet werden
- können. Vieles wird selbst von sehr klugen Leuten gar nicht in dem Sinne
- genommen, den ich zum Ausdruck bringen wollte. Es wäre sehr schön, wenn
- die vollständige Ausgabe im September erscheinen könnte. Das Buch wird
- gekauft werden, man kann nämlich noch einiges hinzufügen, was dazu
- beitragen könnte, den Leuten (bis zu einem gewissen Grade) eine richtige
- Ansicht davon beizubringen. Geben Sie diesen Brief auch Pletnew zu
- lesen. Sie danken mir dafür, daß ich Ihnen (durch die Bemühungen um mein
- Buch) Gelegenheit gegeben habe, Pletnews herrliche Seele näher kennen zu
- lernen. Und ich danke Ihnen gleichfalls dafür, daß Sie mir einige
- Mitteilungen über ihn zukommen ließen, um derentwillen ich ihn heute
- noch weit mehr liebe und seine Freundschaft noch weit höher schätze als
- je zuvor. Diese Freundschaft hat mir Gott geschenkt, gleich einem
- schönen milden Trost, dessen ich in diesen Zeiten so sehr bedarf. Ich
- kann nicht sagen, mit welcher Freude ich ihn jetzt umarmen, was ich
- dafür geben würde, wenn ich ihn jetzt sehen, persönlich mit ihm sprechen
- und ihn an meine Brust drücken könnte. Doch nun umarme ich ihn und Sie
- aufs herzlichste, mein unschätzbarer Arkadij Ossipowitsch; und indem ich
- Ihnen vielmals für Ihre lieben Zeilen danke, bleibe ich Ihr
- Gogol.
- _P. S._ Ich begreife nicht, warum bisher noch keines von den Büchern
- eingetroffen ist, die, wie Sie sagen, an mich abgesandt worden sind.
- Alle andern erhalten durch den Kurier die schönsten Sachen zugestellt;
- sogar Buchweizengrütze, Wjisiga[1] und Kaviar zu Fischpasteten; nur ich
- erhalte nichts, nicht einmal ein Zeitungsblättchen.
- Vergessen Sie nicht, mir den Empfang dieses Briefes zu bestätigen.
- Senden Sie bitte von nun ab alles nach Frankfurt an Schukowski und zwar
- senden Sie es durch unsere Botschaft an ihn.
- [Fußnote 1: Getrocknete Rückensehne vom Stör, die in Rußland zur Füllung
- von Backwerk verwendet wird. Anm. d. Hersg.]
- Über den »Zeitgenossen«
- (Sowremennik)
- Ein Brief an P. A. Pletnew
- Den 4. Dez. 1846.
- Endlich komme ich dazu, mit dir über den »Zeitgenossen« zu sprechen.
- »Der Zeitgenosse« war eine schlechte Zeitschrift trotz des
- vortrefflichen Ziels, das du mit ihm im Auge hattest. Selbst dieses
- schöne Ziel, um dessentwillen du ihn gegründet hast, war aus der
- Zeitschrift für niemand klar und deutlich zu erkennen; im Gegenteil,
- alle Leute fragten betroffen: »Erklären Sie mir bitte, warum und zu
- welchem Zwecke gibt Pletnew seine Zeitschrift heraus? Was will er damit
- sagen? Was wollen diese Gemeinplätze in seinem Programm bedeuten, diese
- vielen Wiederholungen über Unparteilichkeit, seine uneigennützige Liebe
- zur Kunst, sein Streben nach Wahrheit usw., diese Versprechungen, die
- jeder Journalist macht und doch keiner hält?« Der magere Inhalt dieser
- dünnen Büchlein, der leblose, gleichgültige, matte, verwaschene Stil, in
- dem seine Urteile über alles Moderne gehalten sind, gibt allen ein
- Rätsel auf: warum heißt die Zeitschrift »Der Zeitgenosse«? Wir wollen
- ganz offen miteinander sein. Dir fehlt die journalistische Begabung:
- weder besitzt du genug lebendige jugendliche Begeisterung für alle
- modernen Bewegungen, noch jene gespannte Neugierde für alle Fragen, die
- die große Masse unserer Gesellschaft beschäftigen, noch endlich jenen
- enzyklopädischen Wissensdrang, jenes Streben, alles mit dem gleichen
- Interesse zu umfassen, was sich auf den Fortschritt des menschlichen
- Wissens auf allen Gebieten bezieht. Deiner anthologischen Seele ward nur
- eine hohe Gabe zuteil -- sich an dem Wohlgeruch der herrlichen Blüten,
- die im Garten der Poesie wachsen, zu ergötzen und die höchsten Regungen
- der Menschenseele zu verstehen. Der Sänger des »Münnich« und einiger
- anderer schöner Elegien, die von der Reinheit des Geschmacks und der
- stillen bescheidenen Seele des Dichters zeugen, hätte die polemische
- Arena meiden sollen. »Der Zeitgenosse« war selbst unter Puschkin nicht
- das, was eine rechte Zeitschrift sein soll, obwohl sich Puschkin ein
- viel positiveres und leichter zu verwirklichendes Ziel gesteckt hatte.
- Er wollte eine Vierteljahrsschrift nach Art der englischen Zeitschriften
- schaffen, in der durchdachtere und gründlichere Abhandlungen zum Abdruck
- kommen sollten als in den Wochen- und Monatsschriften, wo die
- Mitarbeiter zur Eile gedrängt werden und nicht einmal soviel Zeit haben,
- das, was sie selbst geschrieben haben, noch einmal durchzusehen.
- Übrigens war sein Wunsch, eine solche Zeitschrift herauszugeben, nicht
- allzu lebhaft, und er selbst versprach sich nicht viel Nutzen davon. Als
- er die Erlaubnis zur Herausgabe der Zeitschrift erhielt, wollte er
- zuerst sogar zurücktreten. Die ganze Schuld fällt auf mich: ich flehte
- ihn an, seinen Plan doch auszuführen. Ich versprach ihm meine dauernde
- Mitarbeit. In meinen Aufsätzen fand er vieles, was einer periodischen
- Zeitschrift einen lebendigen journalistischen Charakter verleihen
- konnte, woran es ihm selbst seiner Meinung nach mangelte. Er hatte zu
- jener Zeit tatsächlich eine solche Reife erlangt und stand schon zu
- hoch, als daß er noch ein solch jugendliches Gefühl in sich hätte bergen
- können: meine Seele aber war damals noch jung; ich konnte mir damals
- noch vieles stark zu Herzen nehmen, was ihn kalt ließ. Mein hartnäckiges
- Zureden und mein Versprechen, tätig mitzuwirken, überzeugte ihn; aber
- ich hätte mein Wort doch nicht halten können, selbst wenn er am Leben
- geblieben wäre. Ich wußte noch nicht, welche Wege mich die Vorsehung
- führen würde, ich wußte nicht, daß ich einmal alle Kräfte und
- Fähigkeiten für jede lebendige literarische Betätigung verlieren und
- lange Zeit für alles absterben würde, was den Menschen von heute bewegt.
- Nach Puschkins Tode widmetest du dich, aufs tiefste erschüttert durch
- diesen für alle so schmerzlichen Verlust, der für dich noch weit
- schmerzlicher war als für alle anderen, mit Eifer der Herausgabe der
- Zeitschrift. Die Erkenntnis, daß die moderne Gesellschaft verwaist und
- des Lichts der Poesie beraubt zurückgeblieben und dazu verurteilt sein
- sollte, nichts wie törichte und unfruchtbare Diskussionen und
- Streitereien über die Kunst anzuhören, statt sich an den Werken der
- Kunst _selbst_ zu erfreuen, machte einen starken Eindruck auf dich; und
- tief betrübt über diese Vereinsamung und Leere, die sich übrigens schon
- zu Puschkins Zeiten der Gesellschaft bemächtigt hatte, übernahmst du die
- Redaktion und nun wolltest du mit Gewalt jenes poetische Hellas
- errichten, das zu Beginn der Puschkinschen Ära ganz von selbst
- emporgeblüht war. Im Eifer deiner hochherzigen Begeisterung vergaßt du
- sogar, daß nicht wir die Dinge und die Ereignisse lenken, sondern daß
- eine höhere Macht jedem Ding seinen Platz anweist. Du merktest nicht
- einmal, daß du ein Ziel im Auge hattest, das sich durch die Herausgabe
- periodisch erscheinender Monatsschriften nie und auf keine Weise
- erreichen ließ. »Der Zeitgenosse« hätte als Zeitschrift nicht einmal
- dann einen Erfolg gehabt, wenn du alle Eigenschaften eines guten
- Journalisten in dir vereinigt hättest. Ich muß gestehen, ich kann es mir
- nicht einmal vorstellen, was das Erscheinen einer neuen Zeitschrift zu
- einer Notwendigkeit für unsere Epoche machen sollte. Eine solche
- enzyklopädische Heranbildung und Erziehung des Publikums mit Hilfe einer
- Zeitschrift ist heute bei weitem kein so dringendes Bedürfnis mehr wie
- früher. Das Publikum ist schon weit besser vorbereitet. Heute drängt uns
- alles zu einem konzentrierten Studium; nicht nur die Bedeutsamkeit der
- modernen Probleme, nein selbst die Hohlheit der modernen Gesellschaft
- und die oberflächliche Leichtfertigkeit, mit der sie ihre
- Angelegenheiten behandelt, scheinen den Menschen von heute dazu
- aufzufordern, strenge Einkehr in sich selbst zu halten, seine Kräfte und
- seine Fähigkeiten genauer zu prüfen und sich eine Aufgabe, ein Ziel zu
- wählen, und zwar kein flüchtiges Augenblicksziel, sondern eine
- lebensvolle, reiche und große Aufgabe, die allein den Fähigkeiten
- entspricht, die jedem von uns je nach seiner Wesensart schon bei seiner
- Geburt geschenkt wurden. Keine einzige Zeitschrift vermag heute dem
- Publikum eine wirklich nahrhafte und substantielle Kost vorzusetzen.
- »Der Zeitgenosse« sollte gänzlich auf den Namen einer Zeitschrift
- verzichten; statt in Heftform sollte er wie ehedem in gedrängter
- Buchform erscheinen und noch mehr als zu Puschkins Zeiten den Charakter
- eines Almanachs annehmen; er sollte eher etwas Ähnliches darstellen wie
- die »Blumen des Nordens« des Barons _Delwig_, dem du durch dein
- Verständnis für den Wohllaut der Poesie und deine Fähigkeit, dich an ihr
- zu erfreuen und sie intensiv zu genießen, so sehr gleichst. Es ist weit
- besser, er erscheint bloß dreimal im Jahr zu ganz bestimmten Terminen:
- das erstemal zu Ostern, als eine heitere Festgabe, das zweitemal zum
- ersten Oktober, d. h. zu einer Zeit, wo bei uns alles vom Lande und aus
- der Sommerfrische in den Städten zusammenströmt, und das drittemal zu
- Neujahr; kurz -- er sollte stets gerade zu solchen Zeiten erscheinen, wo
- sich alles mit dem größten Heißhunger auf ein neues Buch stürzt. Alles,
- was im eigentlichen Sinne dieses Worts den Charakter der Journallektüre
- trägt, muß wegbleiben: alle Berichte über Tagesneuigkeiten, jegliche
- politischen Nachrichten oder Anzeigen sämtlicher neuen Bücher; höchstens
- darf der Band einen ernsten kritischen Bericht über die bedeutsamsten
- Werke enthalten, die während eines Jahrdrittels erschienen sind, und
- zwar nur einen solchen Bericht, der selbst einen bedeutsamen
- literarischen Aufsatz darstellt. Der Leser darf nie daran erinnert
- werden, daß es irgendwelche Streitigkeiten und Parteiungen in der
- Literatur und daß es etwas wie eine Zeitschriftenpolemik gibt. Nur ganz
- konzentrierte Artikel, die eine Frage allseitig behandeln und keinerlei
- Ähnlichkeit mit den übereilten hastigen und fragmentarischen Produkten
- unserer Zeitschriftenliteratur haben, dürfen aufgenommen werden. Nur die
- schönsten Blüten unserer modernen literarischen Produktion dürfen hier
- vereinigt sein. Das aber läßt sich nur in einer Zeitschrift erreichen,
- die nicht mehr als dreimal jährlich zur Ausgabe gelangt: denn in drei
- Monaten kann man ganz gut ein Buch zusammenstellen.
- Unserer Zeit mangelt es Gott sei Dank nicht an Talenten. Der prosaische
- Teil des Jahrbuchs kann heute viel bedeutsamer und reichhaltiger
- gestaltet werden als früher. Ich will hier ausdrücklich _die_ modernen
- Schriftsteller anführen, deren Aufsätze unserm »Zeitgenossen« zur Zierde
- gereichen würden. Vor allem müssen wir da den Grafen _Sollogub_ nennen,
- der heute ohne allen Zweifel unser bester Erzähler ist. Niemand darf
- sich heute einer solchen korrekten, gewandten und eleganten Sprache
- rühmen wie er. Sein Stil ist treffend, jeder seiner Ausdrücke und jede
- seiner Wendungen ist prägnant und von einem feinen Anstandsgefühl
- erfüllt. Er hat einen großen Scharfsinn, Beobachtungsgabe und ist über
- alles unterrichtet, was heute unsere höheren Gesellschaftskreise
- beschäftigt. Nur eins mangelt ihm: die Seele dieses Dichters hat sich
- noch nicht mit einem strengeren ernsteren Inhalt erfüllt, und er ist
- durch seine inneren Erlebnisse noch nicht darauf hingeführt worden, sich
- eine ernstere und klarere Ansicht vom Leben zu erwerben. Käme noch solch
- ein innerliches Erlebnis bei ihm hinzu, dann könnte er ein treuer
- Schilderer unserer besten Gesellschaftskreise werden; seine Werke würden
- um mehr als hundert Prozent an Bedeutsamkeit gewinnen. --
- Gleich nach ihm müssen wir einen anderen Schriftsteller nennen, der sich
- unter dem fingierten Namen: _Kosak Luganski_ verbirgt. Er ist kein Poet,
- ihm fehlt die Erfindungsgabe, ja er hat nicht einmal den Wunsch,
- wahrhaft produktive Schöpfungen hervorzubringen: er sieht stets nur die
- Sache und betrachtet jedes Ding rein sachlich. Ein starker, durchaus
- solider Verstand spricht aus jedem seiner Worte, und eine scharfe
- Beobachtungsgabe und ein angeborener Scharfsinn verleihen seinem Stil
- eine große Lebendigkeit. Bei ihm ist alles wahr und unmittelbar aus der
- Natur geschöpft. Er braucht keinen Knoten zu schürzen und ihn dann
- wieder zu lösen, worüber sich die Romanschreiber so sehr die Köpfe
- zerbrechen, er braucht nur irgendeine Begebenheit herauszugreifen, die
- sich in russischen Landen ereignet hat, einen beliebigen Vorgang, den er
- miterlebt hat und dessen Augenzeuge er war, um daraus eine äußerst
- interessante Erzählung zu gestalten. Meiner Ansicht nach ist er weit
- bedeutender als sämtliche Erzähler von großer Erfindungsgabe. Vielleicht
- bin ich parteiisch in meinem Urteil, weil dieser Schriftsteller mehr als
- irgendein anderer meinem persönlichen Geschmack und den eigentümlichen
- persönlichen Forderungen, die ich an einen Erzähler stelle,
- entgegenkommt; aus jeder Zeile von ihm schöpfe ich Belehrung und neue
- Kenntnisse, da sie mich das russische Leben und das Wesen unseres Volkes
- besser kennen lehren; jedoch was mir wohl jeder zugeben wird, ist dies,
- daß ein solcher Schriftsteller uns allen gerade jetzt sehr nützlich sein
- kann, ja daß er eine Notwendigkeit für uns ist. Seine Werke sind ein
- lebendiger und getreuer statistischer Bericht über Rußland. Alles, was
- er aus seinem umfassenden Gedächtnis schöpft und was er uns in seiner
- wahrheitsgetreuen Sprache erzählt, wird ein wertvoller Beitrag für
- deinen Almanach sein.
- Ich weiß nicht, warum _N. Pawlow_ so gänzlich verstummt ist, ein
- Schriftsteller, der sich durch seine drei ersten Erzählungen sofort ein
- Anrecht auf einen Ehrenplatz unter unseren Prosaschriftstellern erworben
- und sich bloß dadurch geschadet bat, daß er es vorzog, nicht mehr _er
- selbst_ zu sein, sondern auf den Einfall kam, (in seinen drei neuen
- Erzählungen) jene neuen Novellisten nachzuahmen, die doch so viel tiefer
- stehen als er. Er brauchte nur, ohne zu irgendwelchen gewaltsamen
- poetischen Einfällen oder zu künstlichen mosaikartigen Ausschmückungen
- des Stils, die seine klare edle Sprache so verunstalten, seine Zuflucht
- zu nehmen, er brauchte statt dessen nur aufs Geratewohl ein beliebiges
- psychologisches Phänomen unserer Gesellschaft herauszugreifen und es in
- seiner treffenden und gescheiten Art wiederzuerzählen, um eine Novelle
- mit allen Eigenschaften jener strengen klassischen Schöpfungen zu
- schaffen, die zu den ewigen Vorbildern der Literatur gehören.
- Mancherlei Vorzüge hat meiner Ansicht nach auch ein Schriftsteller,
- dessen Werke unter dem Namen _Kulisch_ erscheinen. Sein blühender Stil
- und seine große Kenntnis der Sitten und Bräuche Kleinrußlands sprechen
- dafür, daß er ganz vorzüglich dafür geeignet wäre, eine Geschichte
- dieses Landes abzufassen. Auch hätte er sicherlich in noch höherem Grade
- die Befähigung, frische und lebensvolle Aufsätze für den Almanach zu
- schreiben und uns schlicht und einfach von den Sitten und Bräuchen der
- alten Zeiten zu erzählen, ohne diese Schilderungen in den Rahmen einer
- Novelle oder einer dramatischen Erzählung hineinzustellen, ganz ähnlich
- wie uns einstmals _Kornilowitsch_ von dem Zeitalter Peters und von der
- vorhergehenden Epoche erzählt hat. Sein Roman hat recht interessante
- Partien, als Ganzes ist er jedoch matt und langweilig; die kostbaren
- Perlen: sein großes historisches Wissen, die gediegenen Kenntnisse, die
- über alle Seiten des Werkes verstreut sind, gehen gänzlich verloren,
- ohne irgendeinen Nutzen zu bringen.
- Man hat mir gesagt, daß die _Novelle_ bei uns in der letzten Zeit im
- allgemeinen einen großen Erfolg habe und daß einige junge Schriftsteller
- eine besondere Neigung zur Beobachtung des wirklichen realen Lebens an
- den Tag legten. In den Werken, die ich zu lesen Gelegenheit hatte,
- konnte ich in der Tat eine ähnliche Tendenz konstatieren, obwohl der
- Aufbau dieser Novellen mir außerordentlich primitiv und ungeschickt
- vorkam; die Form der Erzählung erschien mir übertrieben und allzu
- wortreich, und dem Stil mangelte es an der rechten Einfachheit. Aber ich
- bin überzeugt: wenn in jedem dieser Schriftsteller erst einmal der
- Mensch, die Persönlichkeit -- und zwar noch vor dem Schriftsteller --
- zum Durchbruch gekommen ist -- daß sich dann alles andere ganz von
- selbst ergeben, daß jeder von ihnen eine starke schriftstellerische
- Eigenart bekunden, und daß keiner dieser Fehler mehr an ihnen zu
- bemerken sein wird. Ich muß hier noch _des_ Schriftstellers gedenken,
- der seine literarische Wirksamkeit mit dem Drama »_Der Tod Ljapunows_«
- begonnen hat. Diesem Drama fehlt es im Aufbau des Ganzen zwar noch an
- der vollen szenentechnischen und dramatischen Reife, über die nur ein
- erfahrener Bühnenschriftsteller verfügt, allein es besitzt viele
- Vorzüge, die in seinem Schöpfer einen Schriftsteller von hervorragender
- Bedeutung ahnen lassen. Das Vergangene so lebendig miterleben und in
- einer so lebensvollen Sprache von ihr künden zu können -- das ist eine
- große Gabe! An seiner Stelle würde ich mich förmlich in die alten
- Chroniken vergraben, mich ganz an ihnen festsaugen und diese Lektüre
- keinen Augenblick im Stiche lassen. Ihnen könnte er viele herrliche
- Stoffe entnehmen. Wer weiß, vielleicht würde ihn eine solche Lektüre auf
- den vortrefflichen Gedanken bringen, eine wahrheitsgetreue Geschichte
- der Zeit zu schreiben, die sein Interesse am meisten fesseln würde. Ein
- echt historisches Werk, aus der Feder eines Schriftstellers, der sich so
- stark in die historischen Charaktere einzufühlen vermag, ein Werk, das
- so lebendig und farbig geschrieben ist, ist weit wertvoller als alle
- historischen Dramen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch etwas von
- den jungen Schriftstellern sagen, die ihre Laufbahn erst beginnen. Ich
- wünschte, du suchtest _Prokopowitsch_ auf und könntest ihn dazu
- veranlassen, doch zur Feder zu greifen und sich im erzählenden Genre zu
- versuchen. Von allen denen, die mit mir zusammen die Schule besucht
- haben und zu gleicher Zeit mit mir zu schreiben begannen, zeigte er weit
- früher als alle anderen ein großes Talent für eine anschauliche
- Darstellungsweise, getreue Lebensschilderung und eine starke
- Beobachtungsgabe. Seine Prosa hatte etwas Munteres und Freies; alles kam
- bei ihm ungezwungen heraus und strömte ihm in reicher Fülle zu; alles
- gelang ihm ohne große Anstrengung, aus allem schien hervorzugehen, daß
- er einmal ein äußerst fruchtbarer Romanschriftsteller werden würde. Ich
- weiß wohl, er ist heute verstummt, er hat den Drang nach einer
- ausgebreiteten freien Tätigkeit in sich einschlafen lassen, sein
- Wirkungskreis hat sich verengt, und es liegt kaum noch ein weites Feld
- für die Beobachtung des Lebens vor ihm. Aber das Leben bleibt überall
- das gleiche Leben, und je geringer der Raum, je enger der Kreis ist, in
- dem es sich ausbreiten kann, um so gründlicher und tiefer können wir
- gerade dies Stück Leben erforschen und durchdringen. Sogar die
- Geschichte unserer Seele, die unser Erwachen aus einer totenähnlichen
- Erstarrung zum Gegenstand hat, ein Erwachen, angesichts dessen der
- Mensch mit Entsetzen auf sein in so tierischer Weise vergeudetes Leben
- zurückblickt, kann einen herrlichen Stoff für einen Roman abgeben ...
- Was für ein Festtag wäre das für meine Seele, wenn ich einmal im
- »Zeitgenossen« eine Novelle fände, unter der sein Name stünde! Was
- endlich mich selbst angeht, so kann ich nach wie vor kein fleißiger und
- eifriger Mitarbeiter an deinem »Zeitgenossen« sein. Du hast schon selbst
- bemerkt, daß man mich nicht einen Schriftsteller im strengen klassischen
- Sinne nennen kann. Von all den jungen Leuten, die zugleich mit mir und
- noch während unserer Schulzeit zu schriftstellern begannen, zeigte ich
- in weit geringerem Grade als alle anderen jene Fähigkeiten, die die
- notwendigen Vorbedingungen jedes literarischen Schaffens sind. Ich will
- dir gestehen, daß selbst in meinen frühsten Projekten und in meinen
- Träumen von einer künftigen Tätigkeit nie der Gedanke an die
- Schriftstellerlaufbahn auftauchte. Ich wurde fast wie durch einen Zufall
- darauf gestoßen. Ich hatte einige Beobachtungen über einzelne Seiten des
- Lebens gemacht, deren ich für meine inneren geistigen Angelegenheiten
- bedurfte, die mich von jeher aufs lebhafteste beschäftigten, und _sie_
- gaben den Anlaß dazu, daß ich zur Feder griff und beschloß, dem Leser
- voreilig alles das mitzuteilen, was ich ihm erst später, d. h. nach
- Vollendung meiner eigenen Erziehung hätte mitteilen sollen. Ich mußte
- mir alles unter großen Mühen erringen, was einem geborenen
- Schriftsteller mühelos zuteil wird. Bis auf den heutigen Tag will es mir
- nicht gelingen, auch wenn ich mich noch so sehr anstrenge, die rechte
- Form für meine Sprache und meinen Stil, diese beiden wichtigsten
- Werkzeuge jedes Schriftstellers, zu finden: bis auf den heutigen Tag
- sind beide noch so ganz roh und formlos, wie bei keinem Schriftsteller,
- nicht einmal bei einem von den schlechten, so daß selbst ein Anfänger,
- ein Schuljunge das Recht hat, sich über mich lustig zu machen. Alles,
- was ich geschrieben habe, ist nur von psychologischer Bedeutung, kann
- aber nie als Muster schöner Literatur in Betracht kommen, und ein Lehrer
- würde sehr unvorsichtig handeln, wenn er seinen Schülern den Rat geben
- wollte, bei mir zu lernen, wie man schreiben oder wie man die Natur
- schildern muß: er würde sie dazu anhalten, Karikaturen zu zeichnen. Den
- Beweis dafür kannst du bei einzelnen jungen und unerfahrenen Nachahmern
- meiner Manier finden, die gerade durch die Nachahmung weit unter das
- Niveau ihres eigenen Könnens herabgesunken sind und ihre Selbständigkeit
- und Eigenart verloren haben. Ich habe nie den Wunsch gehabt, ein Spiegel
- der Dinge zu sein und die uns umgebende Wirklichkeit, ganz so wie sie
- ist, in mir widerzuspiegeln -- ein Streben, von dem ein Dichter während
- seines ganzen Lebens gespornt wird und das nur mit seinem eigenen Tode
- zur Ruhe kommt. Ich kann auch heute nur von solchen Dingen reden, die in
- einer nahen Beziehung zu meiner Seele stehen. Wenn ich also einmal das
- Gefühl habe, daß jemand meiner offenherzigen aufrichtigen Meinung bedarf
- und daß meine Worte einer Menschenseele den inneren Frieden zu geben
- vermögen, dann sollst du einen Aufsatz von mir für deinen »Zeitgenossen«
- erhalten; wenn nicht -- so wirst du keinen bekommen, und deswegen darfst
- du mir nicht zürnen.
- Ich habe hier auch keinen von unseren heutigen Prosaschriftstellern
- erwähnt, die teils selbst mit der Herausgabe von Zeitschriften
- beschäftigt sind, teils an Schöpfungen abstrakteren Charakters arbeiten,
- die ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, Schriftsteller, die
- weder die Möglichkeit noch Muße genug haben, an deinem »Zeitgenossen«
- mitzuarbeiten. -- Diese sollst du gar nicht erst bemühen. Bei dieser
- Gelegenheit muß ich dich ein wenig ausschelten. Du bist im Unrecht, wenn
- du vielen Literaten Verständnislosigkeit und mangelnde Teilnahme für
- deine Zeitschrift vorgeworfen und dies auf ihre Gleichgültigkeit gegen
- die gemeinsame Sache, ihre mangelnde Liebe zur Kunst, ihre Geldgier usw.
- zurückgeführt hast. Ein jeder Mensch ist mit irgendeiner eigenen inneren
- Angelegenheit beschäftigt; in der Seele eines jeden geht etwas vor, gibt
- es Erlebnisse, die ihn von der Mitarbeit an der allgemeinen, gemeinsamen
- Sache abziehen; und man kann absolut nicht verlangen, daß ein anderer
- sein eigenes Interesse einem Lieblingsgedanken von uns und unseren
- Zielen zum Opfer bringen soll, denen wir nachzustreben entschlossen
- sind. Gott weist jeglichem seinen Weg an, der immer ein ganz anderer ist
- wie der, den ein anderer Mensch zurücklegen muß, und man darf nicht alle
- Menschen mit derselben Elle messen. Daher mußt du selbst die ablehnende
- Antwort und die Weigerung eines Menschen respektieren, auch dann noch,
- wenn er den Grund nicht angeben will, weshalb er keinen Beitrag für den
- »Zeitgenossen« zu liefern vermag. Sei zufrieden mit dem, was man dir
- gibt. Wenn bloß die von mir namhaft gemachten Autoren dir Beiträge
- liefern werden, so würde dies allein schon vollauf genügen. Aber ich
- weiß, daß auch noch andere, die ich nicht genannt habe, dir welche zur
- Verfügung stellen werden. Im Gegensatz zu den Menschen, die heute über
- einen Mangel an talentvollen Schriftstellern klagen, finde ich, daß es
- gegenwärtig weit mehr Talente gibt als je zuvor. Sie haben nur ihren Weg
- noch nicht gefunden. Keiner von ihnen hat es bisher verstanden, _er
- selbst_ zu sein, und das ist der Grund, warum man sie nicht bemerkt;
- indessen viele von ihnen werden schon von diesem Wunsch gequält, obwohl
- sie noch nicht wissen, wie sie ihn befriedigen sollen. Das Streben,
- seine eigene Bestimmung kennen zu lernen, ist heutzutage der wunde
- Punkt, an dem viele begabte Leute kranken. Das ist der wahre eigentliche
- Grund der Trägheit und Tatenlosigkeit auf literarischem Gebiet.
- Der poetische Teil des »Zeitgenossen« kann gleichfalls sehr reichhaltig
- gestaltet werden, trotzdem im heutigen Publikum der Geschmack an der
- Poesie erloschen zu sein scheint; Gott sei Dank lebt der Patriarch
- unserer Poesie noch, -- noch hat uns der Himmel ja _Schukowski_
- erhalten. Zum Dank für sein reines, makelloses Leben darf _er_ sich
- allein unter uns allen noch im Greisenalter einer wahren Jugendfrische
- erfreuen und jugendliche Kraft zu neuen poetischen Taten in sich fühlen.
- Seine jetzigen Arbeiten sind weit ernster und bedeutsamer als seine
- früheren. Man darf ihn nicht nach jenen Verserzählungen und Märchen
- beurteilen, die in der letzten Zeit im »Zeitgenossen« zum Abdruck
- gekommen sind. Sie konnten und sollten auch keinen Eindruck auf das
- Publikum machen, und es ist kein Wunder, daß das Publikum, das jedes
- neue Werk an seinen eigenen geistigen Bedürfnissen mißt und in ihm eine
- Antwort auf sein unruhiges Fragen und Sehnen sucht, diese Gedichte für
- eine »_Kinderei_« von Schukowski erklärt hat. Sie waren tatsächlich für
- kleine Kinder geschrieben. Diese Märchen und Erzählungen hätten in Form
- eines besonderen Buches unter dem Titel _»Eine Gabe für die Kinder« von
- Schukowski_, erscheinen sollen. Es war ein Fehler von ihm, sie einer
- Zeitschrift einzusenden. Ich habe ihm dies schon damals gesagt und ihm
- geraten, entweder gar nichts oder doch nur etwas einzusenden, was dem
- Empfinden eines erwachsenen Menschen entspricht. Jetzt aber weiß ich,
- daß er dir für den Almanach einige von den Perlen überlassen wird, die
- tief im Inneren seiner Seele gereift sind, in der sich während der
- letzten Zeit soviel Herrliches ereignet hat. Noch leben Gott sei Dank
- zwei andere von unseren erstklassigen Dichtern: Fürst Wjasemski und
- Jasykow. Sie können den »Zeitgenossen« mit neuen Tönen bereichern, wie
- man sie von ihnen noch nicht vernommen hat -- mit Tönen, die aus einem
- gequälten, gepreßten Herzen hervorströmen, mit Liedern, die aus der
- Seele selbst kommen, einer Seele, die sich bereits mit dem strengen
- Gehalt der Poesie erfüllt hat.
- Die jüngeren von unseren Dichtern, die erst in jüngster Zeit aufgetreten
- sind und die ich hier nicht mit Namen nenne, haben zwar bisher nur eine
- gewisse Begabung für eine wohllautende, leichte und elegante Verskunst
- an den Tag gelegt, aber noch nicht gezeigt, daß sie echte und wahre
- Gefühle besitzen, allein auch sie können poetische Saiten anschlagen,
- die unserem Empfinden näher liegen. Die Poesie ist die reine
- Manifestation, die Offenbarung der Seele und nicht ein künstliches
- Erzeugnis oder Produkt des menschlichen Wollens; die Poesie ist die
- Wahrheit der Seele und kann daher allen in gleicher Weise zugänglich und
- verständlich sein. Die Schöpferkraft, die Dichtergabe ist eine sehr hohe
- Gabe und wird nur den universellen Genies verliehen, die nur ganz selten
- auf der Erde erscheinen; für einen anderen ist es gefährlich, diesen Weg
- zu betreten. Selbst von den erstklassigen Talenten sanken viele unter
- ihr eigenes Niveau herab, wenn sie sich in die Sphäre der reinen
- Erdichtung wagten, während sogar geringe Talente sich hoch über sich
- selbst erhoben, wenn sie durch ihre eigenen seelischen Erlebnisse dazu
- veranlaßt wurden, lediglich die reine nackte Wahrheit ihres geistigen
- Erlebens darzustellen. Die Zeit rückt immer näher, wo der Drang nach
- einer inneren Seelenbeichte immer lebhafter und lebhafter werden wird.
- Selbst die, die nicht einmal daran denken, daß sie Dichter sein könnten,
- werden Töne wahrer Poesie erklingen lassen; viele herrliche Blumen,
- viele kostbare Schätze werden dir von allen Seiten für deinen
- »Zeitgenossen« zufließen. Du selbst, der du die Leier schon längst
- beiseitegelegt und vergessen, der du es schon lange nicht mehr versucht
- hast, ihr einen Ton zu entlocken, du selbst wirst von neuem zu ihr
- greifen. Du hast doch sicherlich in dieser Zeit auch nicht wenig
- schmerzliche Augenblicke und manchen Kummer erlebt, von dem niemand
- etwas erfahren hat; auch _deine_ Seele wurde sicherlich von dem
- Verlangen verzehrt, sich jemand mitzuteilen und sich auszusprechen, sie
- hat sicherlich nach einem Freunde gesucht, der Verständnis für all ihre
- Bitternisse hätte; da sie ihn nicht finden konnte, hat sie sich
- sicherlich an jenes uns allen verwandte und vertraute Wesen gewandt, das
- es allein versteht, den Trauernden und Bekümmerten liebevoll an seinen
- Busen zu ziehen, jenes Wesen, an das sich schließlich alles wendet, was
- da lebt. Nun denn, so denke an alle diese Augenblicke, sowohl an die des
- Kummers, wie an die der höheren Tröstung, die auf dich herabgesandt
- wurde; nun denn, so finde einen Ausdruck für sie, stelle sie recht und
- wahrhaft dar, wie du sie erlebt hast. Die Tränen der Rührung und die
- innigsten Gefühle eines dankbaren Herzens werden dir dabei zu Hilfe
- kommen und es dir ermöglichen, sie mit solcher Kraft zum Ausdruck zu
- bringen, wie dies selbst ein großer, alle Zauberkünste der Dichtung
- beherrschender Poet, der jedoch den wahren Schmerz noch nicht kennen
- gelernt hat, nie vermöchte. Dann wird der »Zeitgenosse« seinen Namen
- rechtfertigen, aber freilich in einem anderen -- höheren Sinne: er wird
- allen höchsten Augenblicken, allen höchsten Empfindungen der russischen
- Schriftsteller und Menschen Genüge tun. Dann wird er sich auch dem
- eigentlichen Ziele weit mehr nähern, das deinem Geiste unklar und
- entfernt vorschwebte; er wird alle Schriftsteller zu einem ästhetischen
- Bund voll herrlicher brüderlicher Liebe vereinen. In ganz Rußland
- vermagst nur du so ein Wagnis zu unternehmen und eine solche Zeitschrift
- zu schaffen, weil du allein den Gedanken an sie fortwährend in dir
- genährt hast; nur du hast keine pekuniären Interessen im Auge gehabt und
- an keinen Lohn für deine Arbeit gedacht; nur du hast ganz unbewußt eine
- reine, kindliche Liebe zur Kunst in dir gehegt, die dich unseren besten
- Dichtern entfremdete und die die Kunst zu deiner eigensten,
- vertrautesten Herzens- und Familienangelegenheit machte. Folglich kann
- auch nur dir eine solche Zeitschrift anvertraut werden. Sie muß glänzend
- ausgestattet sein; sie muß eine in jeder Beziehung kostbare und
- wertvolle Gabe darstellen: der Druck muß so schön und vornehm wie nur
- möglich, die Bücher müssen mit den schönsten Stichen und Vignetten, die
- bei uns in Rußland hergestellt werden können, geschmückt sein (damit
- mußt du russische Graveure beauftragen und keine Ausländer heranziehen).
- Das Format der Bände mußt du nicht zu groß wählen, es sollte nur ein
- wenig größer sein als das der »Blüten des Nordens«, kurz, das Werk muß
- seinem inneren Wert und seiner äußeren Ausstattung nach den Eindruck
- eines kostbaren Gegenstandes machen. Das alles aber vermagst nur du zu
- bewerkstelligen; denn da du nicht die Absicht hast, die Einkünfte davon
- für deine eigenen Bedürfnisse und deinen Unterhalt zu verbrauchen,
- kannst du alles darauf verwenden, das Werk möglichst schön auszustatten
- und hierdurch unseren armen Künstlern, die häufig bitteres Elend leiden
- müssen, Gelegenheit geben, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
- Und nun gehe, wenn alles, was ich dir hier gesagt habe, deinen Beifall
- hat, in Gottes Namen an die Arbeit, stelle zunächst einmal das erste
- Buch des »Zeitgenossen« zusammen und sorge dafür, daß es am kommenden
- Osterfeste des Jahres 1847 erscheinen kann; meinen Brief kannst du als
- ersten Aufsatz, als Programm oder als Einleitung zu dem Bande abdrucken.
- Vorher aber gib ihn allen denen zu lesen, von denen du einen Aufsatz
- haben möchtest. So matt und flüchtig er auch geschrieben sein mag, ich
- bin trotzdem davon überzeugt, daß ein jeder, der ihn lesen wird, mit dir
- und mir darin übereinstimmen wird, daß ein solches Werk eine
- Notwendigkeit für Rußland ist, und er wird dir sicherlich die beste
- seiner Arbeiten zur Verfügung stellen. In den Zeitungen brauchst du es
- nur mit wenigen Worten anzukündigen und zwar brauchst du nur zu
- erwähnen, -- daß vom »Zeitgenossen« dreimal im Jahre, zu den oben
- angeführten Terminen, je ein Band erscheinen werde; füge nur noch die
- Namen der Autoren hinzu, deren Aufsätze zum Abdruck kommen sollen -- das
- wird vollständig genügen. Alles übrige -- der Gehalt und die Bedeutung
- der Aufsätze sowie die Pracht und Schönheit der Ausstattung -- mag für
- jeden Leser eine angenehme Überraschung sein.
- Die Beichte des Dichters
- Alle sind sich darüber einig, daß noch nie ein Buch soviel Aufsehen
- gemacht und zu so verschiedenen Meinungen und Deutungen Anlaß gegeben
- hat, wie die »Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden«. Und was
- das merkwürdigste ist, was bisher vielleicht in der Literatur noch
- niemals passiert ist, der Gegenstand dieses Geredes und dieser Kritiken
- war nicht das Buch selbst, sondern sein Autor. Jedes Wort wurde mit
- Mißtrauen und Argwohn analysiert, und alle Leute wetteiferten
- miteinander, die wahre Quelle aufzudecken, aus der es herstammte. An dem
- lebenden Körper eines noch lebenden Menschen wurde jene furchtbare
- anatomische Sektion vollzogen, bei der selbst ein Mensch von starker
- Konstitution in kalten Schweiß ausbricht. So erschütternd und kränkend
- jedoch für einen vornehm denkenden und anständigen Menschen viele von
- diesen Schlüssen und Folgerungen auch sein mochten, ich nahm dennoch
- alle die schwachen Kräfte, über die ich verfügte, zusammen, ich
- beschloß, alles zu ertragen, mir dies Erlebnis wie einen Wink von oben
- zunutze zu machen -- und strenge Einkehr in mich selbst zu halten. Auch
- hierüber habe ich nie eine Meinung, einen Rat, einen Tadel oder einen
- Vorwurf geringgeachtet und verschmäht, denn ich überzeugte mich mit der
- Zeit immer mehr, daß, wenn der Mensch einmal alle jene empfindlichen
- Saiten in sich vernichtet hat, die ihn zum Zorn und Ärger geneigt
- machen, und wenn er sich erst einmal die Fähigkeit erworben hat, alles
- ruhig anzuhören, er dann jene Stimme der rechten Mitte vernehmen muß,
- die sich als Resultat ergibt, wenn man alle einzelnen Stimmen
- zusammenfügt und die Extreme auf beiden Seiten in Erwägung zieht, kurz,
- ich meine jene Stimme der rechten Mitte, von der es heißt: »Volkes
- Stimme -- Gottes Stimme« und nach der alle suchen. Aber obwohl viele
- Vorwürfe, die gegen mich gerichtet wurden, meiner Seele wirklich heilsam
- waren, diese Stimme der Mitte konnte ich diesmal nicht vernehmen, und
- ich vermag nicht zu sagen, welche Wendung die Sache genommen und welches
- Urteil man über mein Buch zu fällen beschlossen hat. Wenn ich die Summe
- von alledem ziehe, so sind im ganzen drei verschiedene Meinungen laut
- geworden: nach der _ersten_ Ansicht ist mein Buch das Produkt eines
- unerhörten Hochmuts, das Werk eines Menschen, der sich eingebildet hat,
- er stünde hoch über allen seinen Lesern, habe ein Anrecht, von ganz
- Rußland gehört und beachtet zu werden, und verfüge über die Kraft und
- die Fähigkeit, die ganze Gesellschaft zu reformieren; nach der _zweiten_
- Ansicht ist dies Buch zwar das Werk eines guten, aber betörten Menschen,
- der auf Abwege geraten ist und dem das Lob und der Beifall zu Kopfe
- gestiegen sind; der Autor habe sich gar zu sehr an seinen Vorzügen
- berauscht, seine Begriffe haben sich verwirrt, und so sei er vom rechten
- Wege abgekommen; nach der Ansicht der _dritten_ endlich ist dies Buch
- das Werk eines Christen, der die Dinge im rechten Lichte sieht und jeder
- Sache ihren richtigen Platz anweist. Unter jeder Partei, die eine dieser
- Ansichten vertritt, befinden sich gleichermaßen gescheite und
- aufgeklärte Leute, wie auch gläubige Christen. Folglich kann keine der
- Ansichten, die sicherlich alle einen Teil der Wahrheit enthalten, --
- _völlig_ wahr sein. Am richtigsten wäre es noch, dies Buch einen treuen
- Spiegel des Menschen zu nennen. Dieses Buch hat das zum Inhalt, was in
- jedem Menschen verborgen liegt: vor allem das Streben nach dem Guten,
- dem das Buch selbst entsprungen, und das in jedem Menschen lebendig ist,
- wenn er erst einmal erfahren hat, was das Gute ist; ferner eine
- aufrichtige Erkenntnis seiner Fehler und daneben eine hohe Einschätzung
- seiner Vorzüge; ein ehrliches Verlangen, von andern Menschen zu lernen,
- und daneben die feste Überzeugung, daß auch die anderen viel von ihm
- lernen können; Demut und Bescheidenheit, daneben aber auch Stolz, ja
- vielleicht sogar ein gewisser Demutsstolz; Vorwürfe wider andere Leute
- wegen solcher Dinge, an denen man selbst zu Fall gekommen ist und für
- die man noch weit heftigere Vorwürfe verdiente -- kurz alles, was man in
- der Seele jedes Menschen finden kann, nur mit dem Unterschiede, daß hier
- alle Formen und Konventionen abgestreift sind, und daß alles, was der
- Mensch in seinem Inneren verschließt, nach außen gekommen ist, sowie
- ferner mit dem Unterschied, daß sich dies alles in weit wilderer und
- lauterer Weise äußert und förmlich zum Himmel schreit, eben wie in einem
- Schriftsteller, in dem sich alles, was seine Seele erfüllt, nach außen
- und ans Licht drängt; es tritt allen Leuten viel klarer und deutlicher
- vor Augen, eben wie bei einem Menschen, dem größere Gaben und
- Fähigkeiten verliehen sind als anderen Leuten. Kurz, dies Buch ist nur
- ein Beweis für die ewige Wahrheit der Worte des Apostels Paulus, der da
- gesagt hat: der ganze Mensch ist eine einzige Lüge.
- Zu diesem Schluß jedoch, der sich vielleicht der Wahrheit am meisten
- nähert, ist niemand gekommen, weil der feierliche Ton des Buches und
- seine ungewohnte Sprache alle mehr oder weniger verwirrt hat und niemand
- das richtige Verhältnis zu ihm finden ließ. Als ich dies Buch schrieb,
- stand ich unablässig unter dem Druck einer Todesfurcht, die mich während
- der ganzen Zeit meines Krankseins verfolgte, selbst dann noch, als ich
- mich außer jeder Gefahr befand. So kam es, daß ich ganz unmerklich in
- einen mir sonst ganz fremden Ton verfiel, der einem noch lebenden
- Menschen durchaus nicht ansteht. In meiner Angst, ich könnte vielleicht
- das Werk nicht mehr vollenden, das während zehn Jahren alle meine
- Gedanken beschäftigte, beging ich die Unvorsichtigkeit, schon im voraus
- von solchen Dingen zu reden, die ich durch das Leben der Helden eines
- epischen, erzählenden Kunstwerks hätte beweisen sollen. So verwandelten
- sich meine Gedanken in eine recht unpassende Predigt, die sich im Munde
- eines Autors sehr seltsam ausnimmt, in eine Anzahl mystischer,
- unverständlicher Stücke, die keinen Zusammenhang mit den anderen Briefen
- hatten. Dazu kam schließlich noch der völlig verschiedene Ton dieser
- Briefe, die an Menschen von ganz verschiedenem Wesen und Charakter
- gerichtet und zu verschiedenen Zeiten und in ganz entgegengesetzten
- geistigen und seelischen Stimmungen geschrieben waren. Die einen von
- ihnen waren in einer Zeit verfaßt, als ich selbst zu meiner Erziehung
- des Tadels und der Rüge bedurfte, mir solche Rügen von anderen erbat und
- forderte und sie daher auch anderen erteilte; andere Briefe wieder waren
- zu einer Zeit geschrieben, als ich die Empfindung hatte, daß ich die
- Vorwürfe für mich selbst aufsparen und in meinen an andere Leute
- gerichteten Reden nur die brüderliche Liebe zum Worte kommen lassen
- sollte: so geschah es, daß häufig Milde und Schärfe fast dicht
- nebeneinander standen. Ferner sind viele Aufsätze, die für das Buch
- bestimmt waren, die einen Zusammenhang zwischen einzelnen Stücken
- herstellen und vieles näher erklären sollten, nicht aufgenommen worden.
- Dazu kommt schließlich noch meine dunkle Sprache und Unfähigkeit, mich
- auszudrücken, -- zwei Eigentümlichkeiten eines noch nicht ganz
- ausgereiften und fertigen Schriftstellers --; das alles trug dazu bei,
- mehr als einen Leser zu verwirren und zu zahllosen falschen Schlüssen
- und Folgerungen Anlaß zu geben. Meinen Hochmut glaubte man gerade in
- solchen Sätzen zu entdecken, die vielleicht ganz anderen Motiven
- entsprungen waren; wo aber wirklicher Hochmut aus meinen Worten sprach,
- da bemerkte man ihn nicht; man nannte _das_ Selbstverkleinerung, was
- nichts weniger als Selbstverkleinerung war. Aber was die Hauptsache ist,
- es gab keine zwei Menschen, die innerlich übereinstimmten, sowie sie an
- die Analyse der einzelnen Teile dieses Buches herangingen, was einzelne
- zu der sehr richtigen Bemerkung veranlaßte, daß ein jeder in der
- Beurteilung meines Buches mehr seine eigene Denkungsart, als die meine,
- als den Charakter meines Buches zum Ausdruck brachte. Es versteht sich
- von selbst, daß die Schuld ganz -- auf meiner Seite ist. So kränkend
- daher auch all diese Angriffe und Verdächtigungen seiner persönlichen
- moralischen Qualitäten für einen Menschen sein mögen, in dem noch nicht
- jedes Ehrgefühl erstorben ist, -- ich habe kein Recht, jemand deswegen
- anzuklagen.
- Ich muß hier noch ein paar flüchtige Bemerkungen über eine Frage machen,
- die nicht mit meinen moralischen Qualitäten zusammenhängt. Ich war
- äußerst erstaunt, wenn gescheite und kluge Leute Anstoß an Worten
- nahmen, die doch völlig klar waren, wenn sie sich an zwei, drei Stellen
- klammerten und Schlüsse aus ihnen zogen, die in absolutem Gegensatz zu
- dem Geist des ganzen Werkes standen. Aus zwei, drei Worten, die an einen
- Gutsbesitzer gerichtet waren, dessen sämtliche Bauern Landwirte und von
- schweren Sorgen und Arbeiten in Anspruch genommen sind, den Schluß zu
- ziehen, daß ich gegen die Volksbildung zu Felde ziehe -- das erschien
- mir äußerst sonderbar, um so mehr als ich mich ein halbes Leben lang mit
- dem Gedanken getragen habe, ein wahrhaft nützliches Buch für das
- einfache Volk zu schreiben, und nur deswegen davon abstand, weil ich das
- Gefühl hatte, man müsse sehr klug sein, um zu wissen, was man dem Volk
- in erster Linie vorsetzen müsse. Solange es jedoch noch keine so
- gescheiten Bücher gibt, wollte es mir so erscheinen, als ob das
- lebendige Wort der Diener der Kirche mehr Nutzen bringen könne und ein
- stärkeres Bedürfnis für die Bauern darstelle, als alles, was ihnen
- unsereiner, d. h. ein Schriftsteller, zu sagen vermag. Soweit meine
- Erinnerung reicht, bin ich stets für die Volksbildung eingetreten; aber
- es schien mir so, als ob es besser wäre, ehe man für die Bildung des
- Volkes sorgt, erst einmal für die Bildung der Menschen zu sorgen, die in
- engstem Verkehr mit dem Volke stehen, worunter das Volk oftmals zu
- leiden hat. Und endlich kam es mir so vor, als ob jener niedere wenig
- zahlreiche, heute jedoch an Zahl immer zunehmende Stand von Leuten, die
- aus dem Bauernstande hervorgehen, die allerhand kleine Stellen besetzen,
- denen es trotz ihrer allerdings geringen Bildung an der rechten
- moralischen Grundlage fehlt, und die daher überall nur Schaden stiften,
- weil sie bestrebt sind, auf Kosten der armen Leute zu leben, -- es kam
- mir so vor, als ob dieser Stand weit mehr Anspruch auf unsere Beachtung
- hätte als der Bauernstand.
- Dieser Stand schien mir weit mehr der Bücher zu bedürfen, die der Feder
- kluger Schriftsteller entstammten, d. h. solcher Schriftsteller, die
- Verständnis für ihre Pflichten haben und daher imstande sind, sie auch
- jenen Leuten klarzumachen. Unser mit Ackerbau beschäftigter Bauer
- dagegen schien mir stets weit sittlicher zu sein als die anderen Leute
- und weniger als andere der Belehrung durch die Schriftsteller zu
- bedürfen. Nicht weniger erstaunt war ich, als man aus einer Stelle
- meines Buches, wo ich sage, daß die gegen mich gerichteten Kritiken viel
- Wahres enthalten, den Schluß zog, ich spräche meinen Werken jegliche
- Vorzüge ab und stimmte nicht mit den Kritikern überein, die sich zu
- meinen Gunsten geäußert haben[2]. Ich erinnere mich sehr gut und habe es
- keineswegs vergessen, daß meine geringen Vorzüge und Verdienste Anlaß zu
- sehr bedeutsamen Kritiken gegeben haben, die ewige Denkmäler der
- Kunstliebe bleiben werden und die dazu beigetragen haben, in den Augen
- des Publikums den Wert und die Bedeutung dichterischer Werke zu erhöhen.
- Aber es hätte sich doch nicht geschickt, wenn ich selbst von meinen
- Vorzügen gesprochen hätte; ja und warum hätte ich das auch tun sollen?
- Ich habe von den Fehlern gesprochen, die mir als Literaten anhaften,
- weil eine psychologische Frage, die das Hauptthema meines Buches bildet,
- Anlaß dazu bot. Wie kann man nur so etwas nicht verstehen! Nicht weniger
- seltsam berührte es mich -- daß man daraus, daß ich die
- Grundeigenschaften unseres russischen Wesens so stark betont und
- hervorgehoben habe, den Schluß zog, ich leugnete die Notwendigkeit der
- europäischen Bildung und hielt es für überflüssig, daß sich ein Russe
- über den ganzen schweren Weg, auf dem die Menschheit sich zur
- Vollkommenheit emporarbeitet, unterrichte. Früher sowohl als auch jetzt
- war ich immer der Meinung, ein russischer Bürger müsse über die
- europäischen Angelegenheiten unterrichtet sein. Aber ich war auch immer
- überzeugt, daß, wenn man über diesem sehr löblichen glühenden Interesse
- für die Fragen des Auslandes seine eigenen Grundlagen vergißt, eine
- solche Kenntnis der ausländischen Dinge nicht zu unserem Wohl
- ausschlagen, unsere Gedanken nur zerstreuen und verwirren, ihnen eine
- falsche Richtung geben könne, statt sie in sich zu sammeln und zu
- konzentrieren. Ich war von jeher davon überzeugt und bin es noch heute,
- daß wir unser russisches Wesen sehr gut und sehr gründlich kennen lernen
- müssen, und daß wir nur durch eine solche Kenntnis ein Gefühl dafür
- bekommen können, was wir aus Europa entlehnen und uns aneignen sollen,
- denn Europa selbst kann uns das nicht sagen. Mir ist es stets
- vorgekommen, als ob wir, noch ehe wir etwas Neues bei uns einführen, das
- Alte -- nicht nur oberflächlich sondern gründlich und in seiner Wurzel
- -- kennen lernen müßten; denn sonst kann selbst die wohltätigste
- Entdeckung der Wissenschaft nicht mit Erfolg angewendet werden. In
- dieser Absicht habe ich in erster Linie von dem Alten gesprochen.
- [Fußnote 2: Auf mein Testament hätte man sich nicht berufen dürfen: in
- einem solchen beurteilt man sich sehr streng, weil man sich rüstet, vor
- das Angesicht _Des_ Richters zu treten, vor Dem kein Mensch bestehen
- kann.]
- Kurz, alle diese einseitigen Folgerungen gescheiter Leute, die ich
- überdies gar nicht für einseitig gehalten hatte, dieses Deuteln und am
- Worte Hängenbleiben, statt sich an den Sinn und Geist des Buches zu
- halten, beweisen mir nur, daß niemand sich bei der Lektüre meines Buches
- in einer ruhigen Gemütsstimmung befand; daß sich schon ein bestimmtes
- Vorurteil herausgebildet hatte, noch ehe das Buch erschienen war, und
- daß jedermann es bereits von einem festen vorher eingenommenen
- Standpunkt betrachtete; so kam es, daß alle nur das bemerkten, was sie
- in ihrem Vorurteil bestärkte und reizte, und an allem vorübergingen, was
- geeignet war, dies Vorurteil zu zerstören und den Leser zu beruhigen.
- Diese seltsame Gereiztheit hatte einen so hohen Grad erreicht, daß sie
- sogar alle Gesetze des Anstandes außer acht ließ, die man bisher einem
- Schriftsteller gegenüber noch zu beobachten pflegte. Man sagte es dem
- Verfasser beinahe ins Gesicht, daß er verrückt geworden sei, und man
- empfahl ihm allerlei Rezepte gegen seine geistige Zerrüttung. Ich kann
- nicht leugnen, daß es mich noch mehr betrübt hat, wenn ebenfalls
- gescheite und nicht einmal sehr erregte und gereizte Leute öffentlich in
- der Presse erklären, mein Buch enthalte nichts Neues, und wenn es etwas
- Neues darin gäbe, so sei es nicht wahr, sondern unrichtig und unwahr.
- Das erschien mir sehr hart. Wie es sich auch immer damit verhalten möge,
- das Buch enthielt meine Seelenbeichte, es war der Erguß meines Herzens
- und meines Inneren. Noch bin ich nicht öffentlich für einen ehrlosen
- Menschen erklärt worden, dem man kein Vertrauen schenken darf. Ich kann
- Fehler machen, ich kann mich irren wie jeder Mensch, ich kann eine
- Unwahrheit sagen, wie ja der ganze Mensch -- eine einzige Lüge ist; aber
- alles, was meinem Herzen und meiner Seele entströmt ist, eine Lüge zu
- nennen -- das ist zu hart. Das ist ebenso ungerecht wie die Behauptung,
- daß mein Buch nichts Neues enthalte. Die Bekenntnisse eines Menschen,
- der mehrere Jahre ganz für sein inneres Ich gelebt hat, nur mit sich
- selbst beschäftigt war, der sich selbst zu erziehen versucht hat wie
- einen Schüler, um sich einen wenn auch späten Ersatz für die in seiner
- Jugend verlorene Zeit zu schaffen, der überdies den andern Menschen
- nicht völlig gleicht, sondern gewisse Eigenschaften besitzt, die ihm
- allein angehören -- die Bekenntnisse eines solchen Menschen können
- unmöglich so gar nichts Neues enthalten. Wie dem aber auch sei, in einer
- Angelegenheit, an der die Seele beteiligt ist, darf man kein so
- entscheidendes Urteil fällen. Einem solchen Fall gegenüber wird selbst
- der tiefste Seelenkenner nachdenklich werden müssen. In Angelegenheiten,
- die die Seele betreffen, ist es sogar schwierig, über einen gewöhnlichen
- Menschen zu richten. Es gibt Dinge, die sich der kühlen Erwägung, dem
- Räsonnement eines Menschen entziehen, selbst wenn dieser noch so klug
- sein sollte, und die man nur in solchen Augenblicken und in einer
- solchen Seelenstimmung versteht, wo unsere eigene Seele das Bedürfnis zu
- einer Aussprache, zu einer Beichte hat, wo sie Verlangen trägt, in sich
- zu gehen und nicht über andere, sondern über sich selbst Gericht zu
- halten. Kurz, die große Sicherheit, mit der diese Urteile gefällt
- wurden, schien mir von dem großen Selbstvertrauen des Urteilenden zu
- zeugen -- von seinem stolzen Vertrauen auf seine Vernunft und die
- Überlegenheit seiner Ansicht. Ich sage das hier nicht deswegen, um
- jemand zu tadeln, sondern nur, um darauf hinzuweisen, wie wir bei jedem
- Schritt Gefahr laufen, in denselben Fehler zu verfallen, den wir soeben
- erst bei einem unserer Brüder gerügt haben; wie wir, indem wir einem
- anderen sein hochmütiges Selbstvertrauen zum Vorwurf machen, zugleich
- durch unsere eigenen Worte einen Beweis für unseren eigenen Hochmut und
- unser Selbstvertrauen liefern; wie wir, während wir einem anderen
- Intoleranz vorwerfen, zugleich selbst unduldsam und kleinlich werden.
- Jedenfalls zeugt es von einer vornehmen Gesinnung, wenn jemand den Mut
- hat, dies einzugestehen, und sich nicht schämt, öffentlich und vor allen
- Leuten zu erklären, er habe sich geirrt. Aber genug davon. Nicht um
- meine moralischen Qualitäten zu verteidigen, erhebe ich hier meine
- Stimme. Nein, ich halte es lediglich für meine Pflicht, auf eine Frage
- zu antworten, die fast einstimmig von seiten sämtlicher Leser aller
- meiner früheren Werke an mich gerichtet worden ist -- auf die Frage
- nämlich: warum ich jene literarische Gattung und jene Sphäre aufgegeben
- habe, die ich einmal in Besitz genommen hatte und die ich beherrschte,
- über die ich fast Herr war, und warum ich mich einem neuen, mir fremden
- Genre zuwandte.
- Um auf diese Frage zu antworten, habe ich mich entschlossen, offenherzig
- und in möglichster Kürze die ganze Geschichte meiner literarischen
- Tätigkeit zu erzählen, um einem jeden Gelegenheit zu geben, mich
- gerechter zu beurteilen. Der Leser soll sehen können, ob ich die Sphäre
- meines Schaffens wirklich gewechselt und ob ich auf eigene Verantwortung
- zu grübeln und klügeln begonnen habe, in der Absicht, meinem Schaffen
- eine andere Richtung zu geben; man wird anerkennen müssen, daß sich an
- meinem Schicksal wie an allen anderen Dingen der Eingriff Dessen
- offenbart, Der über die Welt gebietet, und zwar nicht immer so, wie
- _wir_ dies wünschen, und gegen Den der Mensch nicht anzukämpfen vermag.
- Vielleicht wird meine treuherzige Geschichte wenigstens etwas davon
- erklären, was vielen in meinem vor kurzem veröffentlichten Buche als ein
- so unlösliches Rätsel erscheint. Wenn dies der Fall sein sollte, so
- würde mich das aufrichtig freuen, weil diese ganze merkwürdige
- Angelegenheit mich sehr mürbe und müde gemacht hat, und weil es mir nach
- diesem Wirbelsturm von Mißverständnissen sehr schwer ums Herz ist.
- Ich kann nicht mit voller Bestimmtheit sagen, ob der Schriftstellerberuf
- mein eigentlicher Beruf ist. Ich weiß nur das eine: daß in den Jahren,
- als ich über meine Zukunft nachzudenken begann (und ich begann schon
- sehr früh über meine Zukunft nachzudenken, d. h. zu einer Zeit, als alle
- meine Altersgenossen nur ans Spielen dachten), daß mir damals der
- Gedanke, ich könnte Schriftsteller werden, nie in den Sinn kam, obwohl
- es mir immer so schien, daß ich noch einmal ein berühmter Mann werden
- könnte, daß mir ein großes weites Wirkungsfeld offen stände und daß ich
- einmal etwas für das allgemeine Wohl leisten würde. Ich dachte einfach,
- ich würde mich empordienen und dies alles würde mir durch den
- Staatsdienst gelingen. Daher hatte ich in meiner Jugend eine sehr starke
- Neigung für den Staatsdienst. Mein Kopf war beständig davon erfüllt, und
- alles, was ich tat und womit ich mich beschäftigte, tat ich im Hinblick
- darauf. Meine ersten Versuche, meine ersten dichterischen Experimente,
- in denen ich es während der letzten Schuljahre zu einer gewissen
- Fertigkeit brachte, hatten fast alle einen ernsten und lyrischen
- Charakter. Weder ich selbst, noch meine Schulkameraden, die sich mit mir
- in der Schriftstellerei versuchten, dachten je daran, daß ich einmal ein
- komischer und satirischer Autor werden könnte, obwohl ich trotz meiner
- melancholischen Naturanlage oft zum Scherzen aufgelegt war und sogar
- andere Leute mit meinen Späßen belästigte, und obgleich sich schon in
- meinen frühesten Urteilen über die Menschen eine gewisse Fähigkeit,
- bestimmte charakteristische Eigenheiten sowie gröbere und feinere und
- komische Charakterzüge, die von anderen nicht bemerkt werden, zu
- entdecken, bemerkbar machte. Man sagte, ich verstünde es, -- ich möchte
- nicht sagen, die Menschen _nachzuäffen_ oder zu parodieren, -- sondern
- sie zu _erraten_, d. h. zu erraten, was ein Mensch in dieser oder jener
- Situation sagen würde, unter völliger Wahrung seiner Anschauungsweise,
- seiner Denkart sowie seiner Art, sich auszudrücken. Aber ich brachte
- dies alles nicht zu Papier, ja ich dachte gar nicht einmal daran, daß
- ich diese Fähigkeit noch einmal verwerten würde.
- Die heitere fröhliche Stimmung, die sich in den ersten Schriften, die
- von mir im Druck erschienen, bemerkbar machte, hatte ihren Grund in
- einem gewissen seelischen Bedürfnis. Ich hatte oft unter Anfällen einer
- mir selbst völlig unerklärlichen Melancholie zu leiden, die vielleicht
- eine Folge meines krankhaften Zustandes war. Um mich zu zerstreuen,
- dachte ich mir die komischsten Dinge aus, die sich nur ersinnen lassen.
- Ich stellte mir komische Personen und Charaktere vor, die ich völlig aus
- dem Kopfe erfand, und versetzte sie in Gedanken in die komischsten
- Situationen, ohne mir viele Sorgen zu machen, wozu das gut sei und was
- für einen Nutzen das haben könne. Es war die Jugend in mir, die mich
- dazu veranlaßte, die Jugend, der ja noch keinerlei Fragen durch den Kopf
- gehen. Das ist der Ursprung meiner ersten Werke, die die einen
- ebensosehr zu einem sorglosen naiven Lachen reizten, wie mich selbst,
- während sich andere erstaunt fragten, wie einem vernünftigen Menschen
- nur solche Torheiten einfallen konnten. Vielleicht hätte diese
- Lustigkeit allmählich und zugleich mit dem Bedürfnis nach Zerstreuung
- aufgehört, ebenso wie meine schriftstellerische Tätigkeit. Allein
- Puschkin veranlaßte mich, diese Sache ernster anzusehen. Er hatte mich
- schon längst dazu zu überreden gesucht, ich sollte ein großes Werk in
- Angriff nehmen, und als ich ihm einmal den kurzen Entwurf einer kleinen
- Szene vorlas, der jedoch einen weit stärkeren Eindruck auf ihn machte,
- als alles, was ich ihm bis dahin vorgelesen hatte, sagte er zu mir: »Wie
- ist es nur möglich, daß Sie bei dieser Fähigkeit, den Charakter eines
- Menschen zu erraten und durch wenige Züge ganz vor einem erstehen zu
- lassen, wie er leibt und lebt, -- wie ist es nur möglich, daß Sie sich
- bei dieser Fähigkeit nicht entschließen, ein großes Werk zu schreiben!
- Das ist einfach eine Sünde!« Hierauf hielt er mir meine schwächliche
- Konstitution und meine körperlichen Gebrechen vor, die meinem Leben früh
- ein Ziel setzen könnten; er führte das Beispiel des Cervantes an, der
- zwar bereits früher ein paar ausgezeichnete, vortreffliche Erzählungen
- verfaßt hatte, jedoch niemals _die_ Stelle unter den Schriftstellern
- einnehmen würde, die er heute inne hat, wenn er sich nicht entschlossen
- hätte, den Don Quijote zu schreiben, und schließlich trat er mir sein
- eigenes Sujet ab, aus dem er eine Art Poem hatte machen wollen und das
- er, wie er mir sagte, keinem anderen außer mir überlassen hätte. Dieser
- Stoff waren »Die toten Seelen«. (Die Idee zum »Revisor« stammt
- gleichfalls von ihm.) Diesmal wurde auch ich ernstlich nachdenklich --
- um so mehr, als ich bereits in die Jahre zu kommen begann, wo man sich
- bei jeder Tat, die man vollbringen will, ganz von selbst die Frage
- vorlegt: warum und zu welchem Zweck willst du dies tun? Ich erkannte,
- daß ich in meinen Werken sinnlose Scherze trieb und spottete, ohne
- eigentlich zu wissen, wozu ich das tat. Wenn man schon spottet, so ist
- es doch besser, man lacht und spottet kraftvoll und über Dinge, die
- wirklich den allgemeinen Spott verdienen. Im »Revisor« wollte ich alles
- Schlechte und Häßliche, das es in Rußland gibt, soweit es mir damals
- bekannt war, zusammentragen und anhäufen, alle Mißbräuche, die an allen
- den Stellen und in allen den Fällen vorkommen, wo gerade Gerechtigkeit
- und Redlichkeit vom Menschen verlangt werden, und dies alles auf einmal
- verspotten. Die Wirkung war bekanntlich eine furchtbare, erschütternde.
- Durch das Gelächter hindurch, das sich mir noch nie mit einer solchen
- Gewalt entrungen hatte, vernahm der Leser etwas wie Kummer und Schmerz.
- Ich selbst fühlte, daß mein Lachen nicht mehr das Lachen von ehedem war,
- daß ich in meinen Werken nicht mehr derselbe sein konnte, der ich früher
- war, und daß das Bedürfnis, mich durch harmlose heitere Szenen zu
- zerstreuen, zugleich mit meinen jungen Jahren verschwunden war. Nach dem
- Revisor empfand ich mehr denn je das Bedürfnis, ein umfassendes Werk zu
- schreiben, das mehr enthielt als lediglich Dinge, über die man lachen
- mußte. Puschkin fand, daß der Stoff der »Toten Seelen« sich gerade darum
- so gut für mich eignete, weil er eine vortreffliche Gelegenheit bot,
- ganz Rußland in Gesellschaft des Helden nach allen Richtungen zu
- durchqueren und eine ganze Reihe völlig verschiedener Charaktere an uns
- vorüberziehen zu lassen. Ich ging ans Werk und fing an zu schreiben,
- ohne mir einen detaillierten Plan ausgearbeitet und ohne mir darüber
- Rechenschaft gegeben zu haben, was für ein Mensch mein Held eigentlich
- sein mußte. Ich dachte mir einfach, daß der komische Plan, mit dessen
- Durchführung Tschitschikow beschäftigt war, mir schon von selbst die
- Idee zu allerhand verschiedenen Personen und Charakteren eingeben und
- daß die Spott- und Lachlust, die sich in mir regte, schon von selbst
- eine Reihe von komischen Momenten und Phänomenen erzeugen würde, die ich
- mit rührenden Elementen mischen wollte. Aber bei jedem Schritt, den ich
- tat, mußte ich mir die Frage vorlegen: welchen Sinn? welchen Zweck hat
- das? was soll dieser Charakter zum Ausdruck bringen? was hat diese
- Erscheinung zu bedeuten? Es fragt sich nun: was soll man tun, wenn sich
- einem derartige Fragen aufdrängen? Soll man sie verscheuchen? Ich
- versuchte es damit; allein da erstanden Fragen vor mir, denen ich mich
- nicht zu entziehen vermochte. Da ich nichts von einer Nötigung empfand,
- meinen Helden gerade zu solch einem Menschen und zu keinem anderen zu
- machen, konnte ich auch keine Liebe für die Aufgabe empfinden, ihn
- darzustellen. Im Gegenteil, ich empfand etwas wie Ekel davor: alles kam
- gewaltsam und gezwungen heraus, und sogar das, worüber ich lachte,
- wirkte traurig und deprimierend.
- Ich sah mit voller Klarheit ein, daß ich nicht mehr ohne einen ganz
- bestimmten und klaren Plan zu schreiben vermochte, daß ich mir erst
- selbst den Zweck meines Werks völlig deutlich machen, mir über seinen
- wirklichen Nutzen und seine Notwendigkeit klar werden müßte, was erst
- den Dichter mit einer starken und wahren Liebe für sein Werk erfüllt,
- die alles belebt und ohne die die Arbeit nicht vorwärtsschreitet --
- kurz, daß der Autor das Gefühl und die Überzeugung haben muß: indem er
- an seinem Werk arbeite, erfülle er gerade _die_ Pflicht, die seine
- irdische Bestimmung ausmache, und für die ihm alle seine Gaben und
- Fähigkeiten verliehen seien, und indem er diese Pflicht erfülle, diene
- er zugleich seinem Staate, wie wenn er tatsächlich im Staatsdienst
- stünde. Der Gedanke an den Staatsdienst verließ mich nie. Ehe ich den
- Schriftstellerberuf wählte, wechselte ich mehrmals meine Tätigkeit und
- meine Stellung, um zu erfahren, für welchen Beruf ich mich am besten
- eignete, aber ich war weder mit dem Dienst noch mit mir selbst, noch mit
- denen zufrieden, die meine Vorgesetzten waren. Ich wußte damals noch
- nicht, wie viel mir dazu fehlte, um dem Staate so dienen zu können, wie
- ich ihm dienen wollte. Ich wußte damals nicht, daß man dazu jede
- persönliche Empfindlichkeit, Eitelkeit und Selbstüberhebung in sich
- besiegen müsse und keinen Augenblick vergessen dürfe, daß man seine
- Stellung nicht um seines persönlichen Glückes, sondern um des Wohles
- vieler solcher willen innehat, die da unglücklich werden würden, wenn
- ein edler Mann seinen Posten im Stiche läßt, und daß man allen
- persönlichen Kummer und alle Kränkungen vergessen müsse. Ich wußte
- damals noch nicht, daß der, der Rußland wahrhaft und ehrlich dienen
- will, sehr viel Liebe für sein Vaterland besitzen muß, eine Liebe, die
- alle anderen Gefühle in sich aufgesogen hat, daß man sehr viel Liebe für
- den Menschen im allgemeinen besitzen und ein wahrhafter Christ im vollen
- Sinn dieses Wortes sein muß. Daher ist es auch kein Wunder, wenn ich,
- der ich diese Eigenschaften nicht besaß, auch meinen Dienst nicht so
- ausüben konnte, wie ich es wollte, obwohl ich tatsächlich förmlich
- darauf brannte, meinem Lande ehrlich zu dienen. Sowie ich jedoch fühlte,
- daß ich dem Staate auch als Schriftsteller zu dienen vermag, gab ich
- alles andere auf: meine früheren Stellen, Petersburg, die Gesellschaft,
- die meinem Herzen nahestehenden Freunde, ja sogar Rußland, um in der
- Fremde und in der Einsamkeit fern von allen Menschen zu erwägen, wie ich
- es durchführen, wie ich mein Werk so gestalten, wie ich mit ihm den
- Beweis liefern könnte, daß ich gleichfalls ein Bürger meines Vaterlandes
- gewesen bin, und daß ich ihm hatte dienen wollen. Je mehr ich über mein
- Werk nachdachte, um so mehr fühlte ich, daß ich die Charaktere nicht auf
- gut Glück wählen durfte, wie sie sich mir gerade darboten, sondern nur
- solche Menschen darstellen mußte, an denen sich unsere wahren
- wesenhaften russischen Charakterzüge am stärksten und deutlichsten
- offenbarten. Ich wollte in meinem Werk vor allem jene höheren Züge der
- russischen Natur darstellen, die noch nicht von allen richtig
- eingeschätzt werden, sowie ferner und in erster Linie jene gemeinen und
- niedrigen Charaktereigenschaften, die von allen noch nicht genügend
- verlacht und gegeißelt werden. Ich wollte nur die hervorstechendsten
- charakteristischen psychologischen Phänomene zusammentragen und meine
- Beobachtungen über die Menschen zusammenfassen, die ich seit langen
- Jahren insgeheim gemacht hatte und die ich nur noch nicht dem Papier
- hatte anvertrauen wollen, da ich mir bewußt war, noch nicht die rechte
- Reife erworben zu haben; denn diese Beobachtungen konnten, richtig
- dargestellt, viel zur Enträtselung mancher Seiten unseres Lebens
- beitragen, kurz -- ich wollte, daß dem Leser bei der Lektüre meines
- Buches der russische Mensch, mit all seinen reichen mannigfaltigen Gaben
- und Fähigkeiten, die _ihm_ allein im Unterschiede von den anderen
- Völkern verliehen waren, aber auch mit der ganzen großen Menge von
- Fehlern, die ihm gleichfalls im Unterschied von den anderen Völkern
- eigen sind, vor Augen treten sollte. Ich glaubte, die lyrische Kraft,
- von der ich einen genügenden Vorrat besaß, würde mir helfen, diese
- Vorzüge so darzustellen, daß der Russe von einer heißen Liebe zu ihnen
- entbrennen würde, und die Gewalt des Lachens, von der ich gleichfalls
- einen genügenden Vorrat mein eigen nannte, würde es mir ermöglichen,
- seine Fehler und Mängel in so leuchtenden Farben zu schildern, daß den
- Leser ein tiefer Haß gegen sie erfassen würde, selbst wenn er sie in
- sich selbst entdecken sollte. Aber ich fühlte zugleich, daß ich dies
- alles nur dann vollbringen könnte, wenn ich mir selbst völlig darüber
- klar geworden war, was nun die wirklichen Vorzüge unseres Wesens und
- welches seine wahren Mängel und Fehler sind. Man muß sich beides genau
- überlegen und es gegeneinander abschätzen, man muß es sich ganz
- klarmachen, um nicht eine unserer Schwächen in eine Tugend zu verwandeln
- und nicht zugleich mit unseren Fehlern auch unsere Vorzüge dem Gelächter
- preiszugeben. Ich wollte meine Kraft nicht unnütz vergeuden. Seitdem man
- mir vorwarf, ich spottete nicht nur über die Fehler, sondern über die
- Menschen, die gewisse Schwächen haben, im allgemeinen, und nicht nur
- über den _ganzen_ Menschen, sondern auch über seine Stellung und das
- Amt, das er innehat (was mir nie auch nur in Gedanken eingefallen ist),
- da sah ich ein, daß man sehr vorsichtig mit dem Spott umgehen müsse --
- um so mehr, da er ansteckend wirkt; ein witziger Mensch braucht nur
- irgendeine Seite einer Sache ins Lächerliche zu ziehen, damit die
- Dümmsten und Stumpfsinnigsten sofort über deren sämtliche Seiten lachen.
- Kurz, es wurde mir so klar wie der Satz: zwei mal zwei ist vier, daß ich
- nicht eher an die Arbeit gehen durfte, als bis ich mir ganz genau
- darüber klar geworden war, worin das Hohe und das Gemeine, worin die
- Vorzüge und die Mängel unseres russischen Wesens bestehen; um sich
- jedoch über das russische Wesen klar zu werden, muß man zunächst die
- menschliche Natur und die Seele des Menschen im allgemeinen kennen
- lernen: ohne dies wird man nie den richtigen Standpunkt finden, von dem
- aus einem die Vorzüge und Mängel eines jeden Volkes deutlich sichtbar
- werden.
- Seit dieser Zeit wurden der Mensch und die Seele des Menschen mehr denn
- je Gegenstand meines Studiums. Ich wandte mich für eine Zeitlang
- gänzlich von der Gegenwart ab: ich hatte vor allem das Interesse, jene
- ewigen Gesetze kennen zu lernen, die den Menschen und die Menschheit im
- allgemeinen beherrschen. Die Werke der Gesetzgeber, der Seelenforscher
- und Erforscher der menschlichen Natur wurden von nun ab meine Lektüre.
- Mich begann alles zu interessieren, worin sich eine gewisse
- Menschenkenntnis und eine Kenntnis der Menschenseele offenbarte, von dem
- Wissen eines Weltmannes bis zu dem eines Anachoreten und Einsiedlers,
- und auf diesem Wege sah ich mich ganz unmerklich und beinahe ohne daß
- ich selbst wußte, wie dies geschah, zu Christus geführt, denn ich sah,
- daß er der Schlüssel zur Seele des Menschen war, und daß noch kein
- Seelenkenner sich je auf jene Höhe der Seelenkenntnis erhoben hatte, die
- er erreicht hat. Ich prüfte alles mit dem Verstande nach und überzeugte
- mich so davon, was anderen durch den Glauben völlig klar ist und was ich
- bisher nur dunkel und unbestimmt geahnt hatte. Und zu demselben Ergebnis
- brachte mich die Analyse meiner eigenen Seele: ich sah mit
- mathematischer Klarheit ein, daß man auf Grund von Vorstellungen unserer
- Einbildungskraft nicht über die höheren Regungen und Gefühle des
- Menschen reden und schreiben könne; man muß wenigstens etwas davon in
- sich selbst tragen -- kurz, man muß zuvor selbst besser werden. Das mag
- sehr sonderbar erscheinen, besonders denen, die in ihrer Jugend eine
- gründliche und umfassende Bildung genossen haben. Ich muß jedoch sagen,
- daß ich in der Schule eine recht schlechte Erziehung erhalten hatte, und
- daher ist es kein Wunder, daß der Gedanke, ich müßte noch etwas lernen,
- sich mir erst in reiferem Alter aufdrängte. Ich begann mein Studium mit
- so elementaren Büchern, daß ich mich geradezu schämte, anderen Menschen
- zu verraten, womit ich mich beschäftigte, ja, ich suchte es vor ihnen zu
- verheimlichen. Ich begann nunmehr nicht so sehr beim Studium von Büchern
- -- als vielmehr bei meinen einfachen sittlichen Übungen auf mich zu
- achten, wie ein Lehrer auf seinen Schüler, und ich betrachtete mich
- selbst als Lehrling. Ich habe auch etwas von diesen Experimenten, die
- ich an mir selbst vollzog, in das Buch meiner Briefe aufgenommen, nicht
- etwa, um damit zu prahlen (ich wüßte auch nicht, womit man hier prahlen
- könnte!), sondern in der allerbesten Absicht: vielleicht konnte jemand
- Nutzen daraus ziehen. Ich war fest davon überzeugt, daß viele gleich mir
- eine schlechte Schulbildung genossen haben, plötzlich zur Besinnung
- kommen und den ehrlichen Wunsch fassen konnten, das Verlorene
- nachzuholen und wieder gutzumachen. Ich hatte oft gehört, daß viele sich
- darüber beklagten, sie könnten sich nicht mehr von ihren schlechten
- Gewohnheiten befreien, trotz des heißesten Wunsches, sie loszuwerden.
- Ich nahm dies also in mein Buch auf, nachdem ich es, so gut es ging, dem
- übrigen angepaßt hatte, aber ich nahm es erst auf, nachdem ich mich
- durch die Erfahrung davon überzeugt hatte, daß sich manches davon
- verschiedenen Personen, die ich kannte, heilsam erwiesen hatte. Denen
- jedoch, die es mir zum Vorwurf machen, daß ich mein ganzes Innere zur
- Schau gestellt habe, kann ich erwidern, daß ich immerhin noch kein
- Mönch, sondern ein Schriftsteller bin. Ich habe in diesem Falle so
- gehandelt, wie alle Schriftsteller, die ausgesprochen haben, was ihre
- Seele bedrückte. Wenn Karamsin während seiner schriftstellerischen
- Tätigkeit ein ähnliches Erlebnis gehabt hätte, er hätte es sicherlich in
- derselben Weise zum Ausdruck gebracht. Aber Karamsin hatte in der Jugend
- eine gute Erziehung genossen. Er eignete sich erst die Bildung an, die
- dazu gehört, um ein Mensch und ein Bürger zu sein, ehe er als
- Schriftsteller auftrat. Mir ging es anders. Ich konnte mir nicht denken,
- daß jemand daran Anstoß nehmen könnte, wenn ich öffentlich erklärte, ich
- strebte danach, besser zu sein als ich bin. Ich finde nichts Anstößiges
- dabei, daß ein Mensch sich qualvoll danach sehnt und im Angesichte aller
- Menschen von dem Verlangen, vollkommen zu sein, verzehrt wird, wenn doch
- selbst Gottes Sohn vom Himmel zu uns herabgestiegen ist, um uns zu
- sagen: »Seid vollkommen wie unser Vater im Himmel!«
- Was endlich den Vorwurf anbelangt, daß ich in meinem Buch, nur um mit
- meiner Demut und Bescheidenheit zu prahlen, eine Selbstverkleinerung an
- den Tag gelegt hätte, die schlimmer sei als jeder Stolz und Hochmut, so
- muß ich darauf erwidern, daß bei mir weder von Selbstverkleinerung noch
- Demut die Rede ist. Wer solches aus meinem Buche herausgelesen hat, hat
- sich durch die Ähnlichkeit gewisser Kennzeichen und Merkmale täuschen
- lassen. Ich kam mir in der Tat widerwärtig vor, aber nicht etwa aus
- Demut, sondern weil sich in meinem Geiste mit der Zeit immer deutlicher
- das Ideal des schönen Menschen herausarbeitete, jenes herrliche Vorbild
- des Menschen, wie er sich hier auf Erden darstellen sollte, und wenn ich
- daran dachte, so ergriff mich jedesmal ein Ekel vor mir selbst. Das aber
- ist nicht Demut, sondern eher ein Gefühl, das ein neidischer Mensch hat,
- wenn er sieht, daß ein anderer einen besseren und schöneren Gegenstand
- in Händen hält, als er selbst, den seinen wegwirft und nichts mehr von
- ihm wissen will. Dazu hatte ich das Glück gehabt, während meines Lebens,
- besonders aber während der letzten Zeit, einige Menschen kennen zu
- lernen, deren geistige und seelische Qualitäten mir so groß erschienen,
- daß meine eigenen daneben verblaßten, und ich zürnte mir immerfort, weil
- ich das nicht besaß, was andere besaßen. Man hätte also höchstens das
- Recht, meinen mißgünstigen und neidischen Charakter im allgemeinen
- verantwortlich zu machen und anzuklagen.
- Aber ich will zu meiner Lebensgeschichte zurückkehren. Eine Zeitlang
- waren also der Gegenstand meiner Studien nicht Rußland und die Menschen
- in Rußland, sondern der Mensch und die menschliche Seele im allgemeinen.
- Alles führte mich in dieser Zeit auf die Erforschung der Gesetze unserer
- Seele hin: mein eigener Seelenzustand und endlich auch die äußeren
- Verhältnisse, über die wir keine Macht haben und die mich jedesmal gegen
- meinen Willen veranlaßten, mich wieder meinem Gegenstand zuzuwenden,
- sowie ich ihn einmal verlassen hatte. Mehrmals griff ich zur Feder, weil
- man mir den Vorwurf machte, ich täte nichts; ich wollte mich gewaltsam
- dazu zwingen, etwas zu schreiben, sei es nun eine kleine Erzählung oder
- irgendeinen literarischen Essay, aber ich vermochte durchaus nichts zu
- produzieren. Alle meine Anstrengungen endigten meist mit Unwohlsein,
- schweren Leiden und schließlich sogar mit solchen Anfällen, die mich
- dazu nötigten, jede Beschäftigung für lange Zeit gänzlich aufzugeben.
- Was sollte ich tun? War ich etwa schuld daran, daß ich nicht imstande
- war, nochmals zu wiederholen, was ich schon einmal in jüngeren Jahren
- gesagt und geschrieben hatte? Als ob es im Menschenleben einen doppelten
- Frühling gibt! Und wenn jeder Mensch beim Übergang aus einem Lebensalter
- in das andere unvermeidlich eine solche Verwandlung durchmachen muß,
- warum soll allein der Schriftsteller eine Ausnahme davon machen? Ist
- denn der Schriftsteller nicht auch nur ein Mensch? Ich wich nicht von
- meinem Wege ab. Ich verfolgte meinen Pfad immer weiter. Ich behielt
- immer denselben Gegenstand im Auge: das Objekt meines Studiums war --
- das Leben, und nichts anderes. Ich suchte das Leben, so wie es in
- Wirklichkeit ist, und nicht etwa so, wie es sich in den Träumen unserer
- Phantasie darstellt, und so fand ich schließlich Den, Der die Quelle des
- Lebens ist. Seit meiner frühsten Jugend hatte ich eine leidenschaftliche
- Vorliebe dafür, den Menschen zu beobachten, seine Seele aus seinen
- feinsten Zügen und Regungen, die die Menschen nicht beachten, abzulesen,
- -- und so wurde ich zu Ihm geführt, Der allein die Seele ganz
- durchschaut und mit Dessen Hilfe allein ich zu einer vollständigen
- Kenntnis der Seele gelangen konnte. Ich beruhigte mich nicht eher, als
- bis ich die Lösung einiger eigener Fragen, die sich auf mich selbst
- bezogen, gefunden hatte; und erst, als ich mir über einige Hauptfragen
- im klaren war, konnte ich wieder an mein Werk gehen, dessen erstes Buch
- bis heute noch ein Rätsel darstellt; denn es spiegelt zum Teil noch
- jenen Übergangszustand, in dem sich meine Seele befand, als sie noch
- nicht alles von sich abgestoßen hatte, was sich einmal von mir ablösen
- sollte.
- Sowie dieser Zustand in mir überwunden und mein Verlangen nach
- Erkenntnis des Menschen im allgemeinen befriedigt war, begann sich in
- mir der lebhafte Wunsch zu regen, Rußland näher kennen zu lernen. Ich
- knüpfte Bekanntschaften mit Menschen an, von denen ich etwas lernen und
- von denen ich erfahren konnte, was in Rußland vorgeht; ich suchte
- erfahrene Männer der Praxis aus allen Ständen kennen zu lernen, die alle
- Mißbräuche und Machenschaften in Rußland kannten. Ich wollte
- Bekanntschaft mit Menschen aus allen Ständen machen und von jedem etwas
- erfahren. Jeder Beamte, jeder Mensch, der irgendeine Beschäftigung
- hatte, erschien mir interessant. Vor allem aber wollte ich mir einen
- genauen Begriff von jedem Beruf, jedem Stand, jeder Stellung und jedem
- Amt im Staate bilden. Mir erschien das als eine Notwendigkeit für jeden
- Schriftsteller, der Menschen aus allen Berufen schildert. Wenn man nicht
- einen Begriff von der ganzen Pflicht und allen Aufgaben des Menschen,
- den man schildern will, in seinem Kopfe hat, wird es einem nie gelingen,
- den Menschen wahrheitsgetreu, richtig und so darzustellen, daß sich die
- Lebenden daraus eine Lehre ziehen, daß sie daraus etwas lernen können.
- Deshalb knüpfte ich einen Briefwechsel mit solchen Leuten an, die mir
- irgendwelche Tatsachen mitteilen konnten. Die übrigen bat ich, flüchtige
- Porträts und Charakterskizzen von Leuten für mich herzustellen, und zwar
- von den ersten besten, denen sie auf ihrem Wege begegneten. Das alles
- brauchte ich nicht deshalb, weil ich keine genügende Anzahl von
- Charakteren oder keinen Helden im Kopfe gehabt hätte; daran hatte ich
- keinen Mangel; diese Figuren entsprangen mir in meiner Phantasie aus
- einer weit vollständigeren und umfassenderen Erkenntnis der menschlichen
- Natur, als ich sie jemals gehabt hatte; ich brauchte diese Tatsachen
- ganz einfach, so wie ein Künstler, der ein großes Gemälde, eine eigene
- Komposition malt, nach der Natur gemalte Skizzen braucht. Er überträgt
- diese Skizzen nicht auf sein Bild, sondern hängt sie ringsum an den
- Wänden auf, um sie beständig vor Augen zu haben, und um nie einen
- Verstoß gegen die Natur, gegen die Zeit oder Epoche zu begehen, die er
- sich für die Darstellung ausersehen hat. Ich habe nie etwas rein aus der
- Phantasie geschöpft und erzeugt, ich besaß nie diese Fähigkeit. Mir
- glückte immer nur das, was ich aus dem wirklichen Leben und aus
- Tatsachen schöpfte, die mir bekannt waren. Einen Menschen erraten konnte
- ich nur dann, wenn ich mir seine äußere Gestalt bis auf die feinsten
- Einzelheiten vorstellen konnte. Ich habe nie ein Porträt im Sinne einer
- bloßen Kopie entworfen. Ich habe ein solches Porträt stets erschaffen,
- ich erschuf es durch Nachdenken, mit Überlegung und nicht in der reinen
- Phantasie. Je mehr Dinge ich in Erwägung zog, um so wahrer und treuer
- ward das, was ich schuf. Ich mußte weit mehr wissen als jeder andere
- Schriftsteller, denn ich brauchte nur ein paar Einzelheiten zu übersehen
- oder nicht zu berücksichtigen -- damit das Unwahre und Unrechte der
- Darstellung weit deutlicher in die Augen sprang als bei einem anderen.
- Dies vermochte ich niemand klarzumachen, und daher erhielt ich fast
- niemals solche Briefe, wie ich sie brauchte. Alle wunderten sich und
- konnten es nicht begreifen, daß ich all diese Kleinigkeiten und
- Torheiten wissen wollte, während ich doch eine Phantasie besaß, die
- selbst schaffen und produzieren konnte. Allein meine Phantasie hat mich
- bisher noch mit keinem einzigen hervorragenden Charakter beschenkt und
- kein einziges Ding produziert, das mein Auge nicht irgendwo in der Natur
- entdeckt hätte.
- Ich habe ein paar Briefe an einige Gutsbesitzer und an verschiedene
- Beamte in den Briefwechsel mit meinen Freunden aufgenommen (von diesen
- Briefen ist die große Mehrzahl nicht zum Abdruck gekommen); das habe ich
- jedoch nicht etwa deswegen getan, damit alle mir zustimmen, sondern
- gerade deswegen, damit man mich durch Anführung einzelner anekdotischer
- Züge widerlegen sollte. Derartige Einwände von praktischen und
- erfahrenen Leuten sind für mich deswegen so wichtig, weil sie mir die
- Sache selbst näher bringen und mir einen tieferen Einblick in das innere
- Wesen Rußlands gewähren. Aber man hatte kein Interesse an den Dingen,
- die jeden Russen etwas angehen, so wenig wie für die Fragen unseres
- inneren Lebens, statt dessen beschäftigte man sich mit meiner
- Persönlichkeit und schrieb ganze Bogen darüber voll, ob ich ein Recht
- habe, mich in solche Angelegenheiten hineinzumengen. Ich richtete um
- dieselbe Zeit einen Aufruf an alle Leser der »Toten Seelen« -- der nicht
- sehr taktvoll und recht ungeschickt war. Ich wußte sehr gut, daß viele
- sich über ihn lustig machen würden, aber ich war fest entschlossen,
- jeden Spott zu ertragen, wenn ich bloß mein Ziel erreichte. Ich glaubte,
- daß vielleicht fünf oder sechs Leser meine Bitte _so_ erfüllen würden,
- wie ich es wünschte. Ich verlangte gar nicht, daß man die Fehler der
- »Toten Seelen« verbessern sollte: ich hoffte mich unter diesem Vorwande
- bloß in den Besitz von einigen privaten Aufzeichnungen oder Erinnerungen
- an einzelne Charaktere und Personen, mit denen der eine oder der andere
- während seines Lebens zusammengetroffen war, sowie von Berichten über
- solche Vorfälle zu setzen, von denen ein Hauch ausgeht, der uns an
- Rußland gemahnt. Ich weiß, daß wir uns alle schwer aufraffen können und
- daß wir träge sind und nicht recht arbeiten wollen, daher wird es fast
- jedem von uns schwer, aus seiner Erinnerung zu schöpfen; ich dachte
- jedoch, die Lektüre der »Toten Seelen« würde die Menschen aufrütteln,
- besonders wenn sie dabei immer Papier und Bleistift bei der Hand hätten.
- Ich gab meine Adresse an und bat darum, daß nur die mir in ihren Briefen
- solche Fälle mitteilen möchten, die sie selbst nicht in der Presse
- veröffentlichen wollten, im allgemeinen aber hielt ich es für weit
- nützlicher, sie überall bekanntzumachen. Es kam mir sogar so vor, als ob
- eine solche Verbreitung von Kenntnissen über Rußland in Form von
- lebendigen Tatsachen gerade gegenwärtig eine dringende Notwendigkeit
- sei, denn in unserer Zeit, die man nicht ohne Grund eine Übergangszeit
- nennt, macht sich bei allen Menschen und auf allen Gebieten ein Streben
- bemerkbar, überall zu verbessern, zu reformieren, alles umzugestalten,
- ja dem Übel mit allen Mitteln energisch zu Leibe zu gehen. Ich glaubte,
- daß wir heute mehr denn je bemüht sein müssen, alles herauszustellen und
- ans Licht zu bringen, was im Inneren Rußlands vorgeht, damit wir ein
- Gefühl dafür bekommen, aus was für einer Menge verschiedener Elemente
- der Grund und Boden besteht, auf dem wir alle unsere Saat ausstreuen
- wollen; da aber wäre es wirklich besser, wenn wir uns erst einmal
- ordentlich umsähen und uns die Sache überlegten, bevor wir so über die
- Dinge aburteilen, wie dies heute alle Leute tun. Ich hegte die geheime
- Hoffnung, daß die Lektüre der »Toten Seelen« viele auf die Idee bringen
- würde, Aufzeichnungen über sich selbst zu machen, und daß viele dazu
- veranlaßt werden könnten, in sich zu gehen, weil auch im Autor während
- der Zeit, als er die »Toten Seelen« schrieb, eine solche Wendung nach
- Innen stattgefunden hatte. Ich glaubte, es könnte einem Menschen, der
- bereits den Gipfel seines Lebens erstiegen hat, von dem der Weg nur noch
- abwärts gehen kann, und der von dem Gedanken beunruhigt wird, sein Leben
- sei nutzlos verstrichen und er habe nur wenig für das allgemeine Wohl
- und sein Land geleistet, lebhafter zum Bewußtsein kommen, daß er durch
- eine getreue und lebendige Darstellung der Menschen, Charaktere und
- Ereignisse seiner Zeit die jungen Leute, die erst im Beginn ihrer
- Wirksamkeit stehen, mit Rußland bekannt machen und sie damit in schöner
- Weise für seine Untätigkeit entschädigen, ja mehr als entschädigen kann.
- Ein junger Mann aber, der seine Laufbahn erst eben beginnt, dessen
- Anteilnahme für alle Dinge noch nicht erkaltet ist, der daher noch einen
- frischen lebendigen Blick besitzt und der alles mit starkem Interesse
- verfolgt, könnte die heutige Zeit so darstellen, wie sie dem Auge des
- Jünglings erscheint. Kurz, ich dachte wie ein Kind; ich täuschte mich in
- manchen Leuten: ich glaubte, daß in einem Teil meiner Leser noch ein
- Funke von Liebe lebte. Ich wußte damals noch nicht, daß mein Name nur
- deshalb so populär ist, weil er einzelnen Leuten die Möglichkeit und das
- Recht zu geben schien, anderen etwas vorzuwerfen und sich gegenseitig
- übereinander lustig zu machen. Ich glaubte, daß viele durch mein
- Gelächter hindurch das Gute in meiner Natur, in meinem Ich erkennen, das
- ja gar nicht aus böser Absicht lachte oder spottete. Aber ich erhielt
- keine Aufzeichnungen zugeschickt, trotz meiner Aufforderung, und in den
- Zeitschriften erwiderte man mir nur mit Hohn und Spott. Ich führe dies
- alles nur deswegen an, um zu beweisen, daß ich alle meine Kräfte
- angespannt habe, um meinem Berufe treu zu bleiben, daß ich über alle nur
- möglichen Mittel nachgesonnen habe, die meine Arbeit fördern könnten,
- ich ließ es mir keinen Augenblick auch nur einfallen, meinen
- Schriftstellerberuf aufzugeben. Bei dieser Gelegenheit muß ich übrigens
- erwähnen, daß viele ihr Erstaunen darüber geäußert haben, daß ich ein
- solches Bedürfnis nach Daten über Rußland habe und dabei selbst fern von
- Rußland im Auslande bleibe, diese Leute haben es sich nicht überlegt,
- daß ich, ganz abgesehen von meinem leidenden Zustand, der für mich einen
- Aufenthalt in einem warmen Klima nötig machte, gerade eine solche
- Entfernung von Rußland brauchte, um mit meinen Gedanken um so intensiver
- in Rußland verweilen zu können. Für die, die mir das nicht nachzufühlen
- vermögen, will ich mich hier näher erklären, obwohl es mir etwas schwer
- wird, hier alles darzulegen, was die Eigenheit meines Wesens ausmacht.
- Fast alle Schriftsteller, denen es nicht an jeglicher _schöpferischen_
- Begabung fehlt, besitzen eine Fähigkeit, die ich die Einbildungskraft
- nennen will -- eine Fähigkeit, die darin besteht, sich Gegenstände, die
- einem nicht gegenwärtig sind, so lebhaft vorzustellen, wie wenn sie uns
- unmittelbar vor Augen stünden. Diese Fähigkeit ist nur dann in uns
- wirksam, wenn wir uns von den Gegenständen entfernen, die wir
- beschreiben wollen. Das ist der Grund, weswegen die Dichter sich
- gewöhnlich solche Epochen zum Gegenstand wählen, die bereits hinter uns
- liegen, und sich in die Vergangenheit versenken. Indem die Vergangenheit
- uns von allem, was um uns ist, loslöst, versetzt sie unsere Seele in
- eine stille ruhige Stimmung, wie sie zur Arbeit erforderlich ist. Ich
- hatte keine Vorliebe für die Vergangenheit. Mein Gegenstand war die
- Gegenwart und das Leben in unserer heutigen Welt, vielleicht deswegen,
- weil mein Geist stets eine Vorliebe für das Wesentliche und Faßliche und
- für einen greifbaren Nutzen hatte. Mit den Jahren wurde mein Wunsch, ein
- moderner Schriftsteller zu werden, immer lebhafter. Aber ich sah
- zugleich ein, daß man, wenn man das gegenwärtige Leben schildern will,
- nicht beständig in jener erhabenen und ruhigen Stimmung verharren
- konnte, deren man bedarf, um ein großes und formvollendetes Werk
- hervorzubringen. Das Gegenwärtige ist viel zu lebendig, es bewegt einen
- und regt einen zu sehr auf; die Feder des Schriftstellers wird ganz
- unmerklich und ohne daß man es fühlt, von einer satirischen Anwandlung
- erfaßt. Dazu sieht man, wenn man selbst mitten unter den Leuten weilt
- und mehr oder weniger mit ihnen zusammenarbeitet, nur _die_ Menschen vor
- sich, die sich in unserer Nähe befinden: die ganze Masse, die Menge
- sieht man nicht, denn man kann nicht alles übersehen. Ich fing also an,
- darüber nachzugrübeln, wie ich mich den anderen Leuten entziehen und
- einen solchen Standpunkt einnehmen konnte, von dem ich die ganze Masse
- und nicht nur _die_ Menschen zu sehen vermochte, die neben mir standen
- -- wie ich mich so vom Gegenwärtigen entfernen konnte, daß es sich für
- mich gewissermaßen in Vergangenheit verwandelte. Meine erschütterte
- Gesundheit und einige kleine Unannehmlichkeiten, die noch dazu kamen und
- die ich heute mit Leichtigkeit ertragen hätte, mit denen ich dagegen
- damals noch nicht fertig zu werden vermochte, veranlaßten mich dazu, das
- Ausland aufzusuchen. Ich habe mich nie nach fremden Ländern hingezogen
- gefühlt, ich habe nie eine leidenschaftliche Vorliebe für sie gehabt.
- Auch besaß ich nichts von jener dunklen Neugierde, wie sie Menschen
- verzehrt, die nach starken Eindrücken dürsten. Aber seltsam! schon
- während meiner Kinderjahre, selbst während meiner Schulzeit und damals,
- als ich immer nur an den Staatsdienst und keinen Augenblick daran
- dachte, daß ich Schriftsteller werden könnte, kam es mir immer so vor,
- als ob ich dazu bestimmt sei, in meinem Leben noch einmal irgendein
- großes Opfer zu bringen, und daß ich gerade, um meinem Vaterlande zu
- dienen, gezwungen sein würde, mich in der Ferne darauf vorzubereiten und
- zu erziehen. Ich wußte nicht, _wie_ das geschehen würde, noch wozu das
- nötig sei; ich dachte auch gar nicht darüber nach, ich sah mich jedoch
- so lebendig vor mir, sah, wie ich mich in einem fremden Lande in
- Sehnsucht nach meinem Vaterlande verzehre, ja dies Bild verfolgte mich
- so häufig, daß es mich ganz traurig machte. Vielleicht war das nur jene
- unbegreifliche poetische Sehnsucht, die auch Puschkin manchmal
- beunruhigte und ihn veranlaßte, fremde Länder aufzusuchen, lediglich um,
- wie er sich ausdrückt,
- Mich unterm Himmel Afrikas
- Nach Rußlands trüben Gaun zu sehnen.
- Wie dem auch sein mag, dieser unwillkürliche Drang in mir war so stark,
- daß noch keine fünf Monate seit meiner Ankunft in Petersburg vergangen
- waren, als ich bereits ein Schiff bestieg, da ich nicht die Kraft hatte,
- diesem mir selbst so unbegreiflichen Gefühl zu widerstehen. Der Plan und
- der Zweck meiner Reise waren sehr verschwommen. Ich wußte nur das eine,
- daß ich sicherlich nicht _deswegen_ auf Reisen ging, um mich an fremden
- Ländern zu erfreuen, sondern um schwere Leiden durchzukosten, ganz als
- ob ich ahnte, daß ich erst jenseits von Rußland den wahren Wert meines
- Vaterlandes erkennen und mich fern von ihm mit Liebe zu ihm erfüllen
- würde. Kaum befand ich mich auf See, auf einem fremden Schiffe und unter
- fremden Leuten (das Schiff war ein englischer Dampfer, auf dem sich
- keine Menschenseele aus Rußland befand), so wurde mir traurig zumute;
- ich sehnte mich so sehr nach meinen Freunden und den Kameraden meiner
- Kindheit, die ich verlassen und die ich stets innig geliebt hatte, daß
- ich, noch ehe ich das feste Land betreten hatte, schon an die Rückreise
- dachte. Ich blieb nicht länger als drei Tage im Auslande, und obwohl
- mich die Neuheit der Gegenstände reizte, beeilte ich mich, auf demselben
- Dampfer nach Hause zurückzukehren, aus Furcht, daß es mir später
- vielleicht nicht mehr gelingen könnte, den Weg nach Hause
- zurückzufinden. Von da ab gab ich mir das Wort, überhaupt nicht mehr an
- fremde Länder zu denken -- und während der ganzen Zeit meines
- Petersburger Aufenthaltes, d. h. während voller sieben Jahre kam mir
- nicht der Gedanke an eine Reise in ein fremdes Land, bis der Zustand
- meiner Gesundheit, einige schmerzliche Erlebnisse und endlich mein
- Bedürfnis nach Einsamkeit mich dazu nötigten, Rußland zu verlassen.
- Zweimal bin ich nachher wieder nach Rußland zurückgekehrt, einmal sogar,
- um für immer dort zu bleiben. Ich glaubte, jetzt, wo mich ein solches
- Verlangen erfaßt hatte, mir über alles klar zu werden, würde es mir
- bestimmt gelingen, vieles in Erfahrung zu bringen. Aber, ist es nicht
- merkwürdig? Mitten im Herzen Rußlands, sah ich beinahe nichts von
- Rußland selbst. Alle Menschen, denen ich begegnete, sprachen mit großer
- Vorliebe davon, was in Europa vorgeht, und dagegen redeten sie nie
- davon, was in Rußland passiert. Ich erfuhr nur, was man im englischen
- Klub treibt, und noch einiges andere, was ich schon von selbst wußte. Es
- ist bekannt, daß jeder von uns seinen eigenen Kreis von nahen Bekannten
- hat, und daher ist es sehr schwer für ihn, andere Leute, die nicht dazu
- gehören, kennen zu lernen, erstlich schon deswegen, weil er sich
- verpflichtet fühlt, möglichst häufig mit den ihm nahestehenden Menschen
- zusammen zu sein, und ferner, weil ein Kreis von Freunden schon an und
- für sich so viel Angenehmes hat, daß man sehr viel Selbstaufopferung
- besitzen muß, um sich ihm zu entziehen. Alle Menschen, die ich kennen
- lernte, teilten mir immer nur fertige Schlüsse und Folgerungen und nicht
- bloß schlichte Tatsachen mit, auf die es mir gerade ankam. Überhaupt
- bemerkte ich, daß eine gewisse Veränderung in den Köpfen und in den
- Gedanken der Leute vorgegangen war. Jedermann betrachtete die Sache mit
- einem weit philosophischeren Blick, als man dies jemals früher zu tun
- pflegte; man wollte stets den geheimsten Sinn und die tiefste Bedeutung
- einer jeden Sache ergründen: ein Motiv, eine Regung, die darauf
- hindeutete, daß die Gesellschaft einen mächtigen Schritt vorwärts
- gemacht hatte. Andererseits entsprang hieraus eine gewisse Übereilung,
- mit der man sogleich die Schlüsse und Konsequenzen zog und nach zwei bis
- drei Tatsachen über das Ganze urteilte; man übersah völlig, daß damit
- noch nicht alle Dinge und nicht alle Seiten einer Sache in Betracht und
- in Erwägung gezogen waren. Ich bemerkte, daß sich beinahe jeder in
- seinem Kopfe seine eigene Vorstellung über Rußland gebildet hatte, und
- das war der Anlaß zu fortwährenden Streitigkeiten. Ich aber brauchte
- etwas ganz anderes: ich brauchte jene einfachen Unterhaltungen, wie sie
- noch früher in den alten Zeiten üblich waren, wo jeder bloß das
- erzählte, was er in seinem Leben gesehen und gehört hatte, und wo ein
- Gespräch mehr einer Anekdotensammlung als einer Diskussion glich. Das
- brauchte ich gerade deswegen, weil ich unwillkürlich selbst von dieser
- hastigen Sucht, sofort übereilte Schlüsse und Folgerungen aus allem zu
- ziehen -- dieser allgemeinen Tendenz unserer Zeit --, angesteckt war.
- Noch mehr aber mußte ich mich über unsere Provinz wundern. Dort hörte
- man nicht einmal den Namen »Rußland« aussprechen. Wie mir schien, waren
- nur solche Dinge in aller Munde und sprach man nur über solche
- Gegenstände, die man in den neuesten aus dem Französischen übersetzten
- Romanen gelesen hatte. Kurz -- während meines ganzen Aufenthalts in
- Rußland zerfiel und zerstob Rußland förmlich in meinem Kopfe. Ich konnte
- mir durchaus kein Ganzes daraus gestalten, mein Mut sank, und sogar mein
- Verlangen, es kennen zu lernen, wurde schwächer. Sowie ich es jedoch
- verließ, formte es sich mir in Gedanken sogleich wieder zu einem Ganzen,
- der Wunsch, das Land kennen zu lernen, erwachte aufs neue, und die Lust,
- jeden frischen Menschen, der frisch aus Rußland eingetroffen war, kennen
- zu lernen, wurde wieder stark und mächtig in mir. Es bildete sich sogar
- die Fähigkeit in mir heraus, die Leute auszufragen, und oft erfuhr ich
- in einem Gespräch von der Dauer einer Stunde, was ich während meines
- Aufenthaltes in Rußland nicht einmal im Laufe einer Woche in Erfahrung
- zu bringen vermochte. Jedermann weiß, daß man im Ausland viel leichter
- Bekanntschaft macht, daß sich in den Bädern Deutschlands und in den
- Winterstationen Italiens Menschen begegnen, die in ihrem eigenen Lande
- vielleicht nie miteinander zusammengetroffen wären und die sich ihr
- ganzes Leben lang nicht kennen gelernt hätten. Das war es, was mich
- veranlaßte, einem Aufenthalt außerhalb Rußlands den Vorzug zu geben,
- schon im Hinblick darauf, daß ich auf diese Weise mehr von Rußland
- erfahren konnte. Ich dachte sehr lange darüber nach, wie ich mich in
- Rußland selbst über vieles unterrichten könnte, was dort vorgeht. Durch
- Reisen im Lande selbst erreicht man nicht viel: das einzige, was man
- davon im Kopfe behält, sind die Stationen und die Kneipen. In den
- Städten und Dörfern Bekanntschaften anzuknüpfen, ist für einen Mann, der
- nicht gerade im Auftrage der Regierung reist, auch nicht einfach, man
- wird leicht für einen Spitzel gehalten, und das einzige Ergebnis ist
- höchstens ein Sujet für eine Komödie, die man: _Der Wirrwarr_ betiteln
- könnte. Wenn man jedoch erfährt, daß der Reisende noch dazu ein
- Schriftsteller ist, so wird die Situation noch weit komischer: die
- Hälfte aller russischen Leser ist fest davon überzeugt, daß ich nur
- einen einzigen Lebenszweck habe, nämlich diesen, alles am Menschen vom
- Kopf bis zu den Füßen zu verspotten. Und doch habe ich bisher noch nie
- ein so lebhaftes Bedürfnis empfunden, die gegenwärtige Lebenslage des
- Russen von heute kennen zu lernen -- um so mehr, als gerade heute die
- Gegensätze in der Denkweise so groß geworden sind und alle Welt von
- einem wahren Wirbel von Mißverständnissen erfaßt ist, so daß kein Mensch
- mehr imstande ist, seine Nebenmenschen richtig zu beurteilen, und daß
- man genötigt ist, jedes Ding mit seinen eigenen Händen zu betasten, da
- man niemand mehr trauen kann. Ich konnte diese Daten nicht entbehren.
- Die Charaktere und Personen, die ich mir jetzt für mein Werk ausersehen
- habe, sind viel bedeutender als die, die ich mir früher zum Vorwurf
- genommen hatte. Je größer die Vorzüge einer bestimmten Persönlichkeit
- sind, um so greifbarer und plastischer muß man sie vor dem Leser
- erstehen lassen. Dazu bedarf man all der unendlichen Kleinigkeiten und
- Details, die dafür sprechen, daß diese bestimmte Person auch wirklich
- gelebt hat; sonst wird sie zu einem idealen Gebilde, sonst wird sie matt
- und blaß und trotz aller Tugenden, mit denen man sie ausstatten mag,
- armselig und nichtssagend ausfallen. Der Russe muß wirklich das Gefühl
- haben, daß die dargestellte Persönlichkeit aus demselben Leibe
- herausgeschnitten ist, dem er selbst als ein Bestandteil angehört, daß
- sie etwas Lebendiges, daß sie Fleisch von seinem Fleisch und Blut von
- seinem Blute ist. Nur dann wird er mit seinem Helden in eins
- zusammenfließen und unmerklich jene suggestiven Wirkungen, die von ihm
- ausgehen, an sich erfahren, die durch kein Räsonnement und keine Predigt
- hervorgebracht werden können. Eine solche volle Verkörperung, diese
- letzte in sich geschlossene Vollendung eines Charakters vollzieht sich
- nur dann in mir, wenn ich meinen Geist mit all diesen prosaischen realen
- Kleinigkeiten und Nichtigkeiten des Lebens erfülle, wenn ich alle großen
- Charakterzüge jener Menschen im Kopfe habe, zugleich jedoch auch all die
- Lumpen und Fetzen bis zur kleinsten Stecknadel, die den Menschen täglich
- umgeben, zusammentrage und um ihn herum aufstaple, kurz, wenn ich alles,
- das Große wie das Kleine, berücksichtige und nichts außer acht lasse. In
- dieser Beziehung habe ich genau so einen Verstand, wie man ihn beim
- größten Teil aller Russen findet, d. h. ich habe mehr die Fähigkeit,
- Schlüsse und Folgerungen zu ziehen, als etwas zu erfinden und zu
- erdichten. Ich mußte immer erst eine große Menge von Menschen anhören,
- wenn ich mir eine eigene Meinung bilden sollte, und dann erst fanden die
- Leute meine Meinung gesund und vernünftig. Hörte ich dagegen nicht alle
- an und zog ich einen übereilten Schluß, so waren meine Ansichten bloß
- schroff und ungewöhnlich. Selbst in meinem letzten Buch, in meinem
- »_Briefwechsel mit meinen Freunden_«, kommt vieles vor, das Ähnlichkeit
- mit einer bloßen Präsumtion oder einer Vermutung hat und doch gar keine
- Voraussetzung ist. Es enthält nichts als Folgerungen, aber die einen
- Schlüsse und Folgerungen sind unter Berücksichtigung sämtlicher Seiten
- einer Sache gezogen und sind daher allen klar, während andere nur
- Folgerungen aus einigen Tatsachen darstellen, die nicht allen bekannt
- sind; und daher sind sie auch so oder erscheinen sogar vielen einfach
- als Torheit. Das ist auch der Grund, weswegen es kaum ein Werk von mir
- gibt, in dem nicht neben reifen Gedanken auch ganz unreife stehen und in
- dem nicht der Mann und das Kind, der Lehrer und der Schüler gleichzeitig
- zu Worte kommen.
- Es war mir also nicht möglich, mir all das zu verschaffen, was ich
- brauchte. Und da ich es mir nicht zu verschaffen vermochte -- ist es da
- wohl ein Wunder, daß ich nicht arbeiten konnte? Wie kann man mit sich
- selbst kämpfen, wenn man solche Ansprüche an sich selbst zu stellen
- gelernt hat? Wie soll die Einbildungskraft sich da zum Fluge erheben --
- selbst wenn sie vorhanden ist --, wo der Verstand bei jedem Schritt die
- Frage nach dem »Warum« stellt? Warum mußten eine Reihe von Umständen
- eintreten, die ich nicht herbeigerufen habe? Warum konnte ich mir erst
- durch eine strenge Erforschung und Analyse meiner eigenen Seele die
- Kenntnis der Menschenseele erwerben? Warum wurde ich erst da von dem
- Verlangen erfaßt, den russischen Menschen darzustellen, als ich das
- allgemeine Gesetz der menschlichen Handlungen kennen gelernt hatte, und
- warum lernte ich es erst kennen, nachdem ich den Weg zu Ihm gefunden
- hatte, Der allein alles menschliche Tun und jedes geringste Geheimnis
- unserer Seele durchschaut? -- Warum wurde ich so von dem Verlangen
- gequält, die Seele des Menschen kennen zu lernen? Warum traten endlich
- solche Umstände ein, von denen ich nicht einmal sprechen kann, die mich
- jedoch nötigten, gegen meinen Willen tiefer in die Menschenseele
- hinabzutauchen? Warum blieb für mich die Fähigkeit, mich überall an der
- Schönheit der Menschenseele zu erfreuen, wo sie mir immer entgegentreten
- mochte, stets der Gipfel, die Krone aller ästhetischen Genüsse? Warum
- wurde ich seit den Tagen meiner Kindheit unaufhörlich von dem Verlangen
- gequält, die menschliche Seele zu ergründen? Erklärt mir vor allem,
- warum dies so kommen mußte, und dann fragt mich: warum ich nicht mehr so
- schreiben kann, wie ich früher geschrieben habe. Ich wollte den
- Umständen und dieser Ordnung, die ja nicht ich eingesetzt hatte,
- Widerstand leisten. Ich versuchte es mehrmals, so zu schreiben, wie ich
- es früher getan, wie ich in meiner Jugend geschrieben hatte, das heißt,
- wie sich's traf, wie es meiner Feder beliebte, aber es wollte mir nichts
- mehr aus der Feder fließen. Voller Freude, daß ich durch meine an meine
- Freunde und Bekannten gerichteten Briefe wieder einigermaßen ins
- Schreiben hineingekommen war, wollte ich sofort Nutzen daraus ziehen,
- und sowie ich mich von meiner schweren Krankheit erholt hatte, machte
- ich gleich ein Buch daraus, wobei ich bestrebt war, den Stoff nach
- Möglichkeit zu ordnen und dem Ganzen einen gewissen Zusammenhang zu
- geben, damit das Buch den Charakter eines vernünftigen Werkes erhielte;
- ich bedachte nicht, daß das Publikum vieles davon, was an einzelne
- Personen gerichtet war, auf sich beziehen würde, besonders nach meinem
- Testament, das sich an alle meine Landsleute richtete. Ich fürchtete
- mich davor, die Fehler und Mängel des Buches selbst nachzuprüfen, und
- verschloß meine Augen, denn ich wußte, daß ich mein Buch, wenn ich es
- einer strengeren Prüfung unterziehen würde, vielleicht ebenso vernichten
- könnte, wie ich die »Toten Seelen« und alles, was ich in der letzten
- Zeit geschrieben hatte, vernichtet habe. Ich glaubte, dies Buch könnte
- die Leser wenigstens in geringem Maße für mein langes Schweigen
- entschädigen, ich glaubte, ich könnte darin meine schwierige Lage
- schildern und darlegen, die mir in der letzten Zeit das Schreiben
- unmöglich gemacht hatte, und ich würde die Aufmerksamkeit auf die
- praktischen Fragen und die Fragen des Lebens lenken. Ich beabsichtigte
- ferner, solche Dinge zu berühren, die mir einen tieferen Einblick in
- Rußland verschaffen, mich erfrischen und beleben und zwingen würden, zur
- Feder zu greifen. Aber es geschah nichts von alledem: alle Welt
- überhäufte mich mit Vorwürfen. Ich bekam nur Worte und Reden über Dinge
- zu hören, die nicht durch Worte und Reden entschieden werden können. Ich
- ließ die Hände sinken. Der Trieb, der sich scheinbar schon in mir zu
- regen begonnen hatte, erlosch, und ich fühlte mich ganz von selbst und
- ohne daß ich es merkte, vor die Frage gestellt, die mir noch nie in den
- Sinn gekommen war: soll ich überhaupt noch etwas schreiben? Soll ich
- noch weiter in diesem Berufe tätig sein, von dem mich in der letzten
- Zeit alles so offenkundig abzuziehen schien? Angenommen, daß es mir
- selbst gelingen sollte, mich zu überwinden, angenommen selbst, daß mein
- Kiel wieder die nötige Leichtigkeit und Beständigkeit erlangen würde,
- und daß mir eine Seite nach der anderen ganz zwanglos aus der Feder
- fließen würde -- war meine seelische Verfassung wirklich derartig, daß
- meine Werke der Gesellschaft von heute tatsächlich von Nutzen sein
- konnten und heute eine Notwendigkeit für sie darstellten? Werfen wir
- dazu einmal einen Blick auf den Zustand der Gesellschaft unserer Zeit:
- begünstigt die Gegenwart den Schriftsteller im allgemeinen? und ferner:
- ist sie einem Schriftsteller, wie ich einer bin, günstig?
- Alle sind sich mehr oder weniger darüber einig, daß unsere heutige Zeit
- eine Übergangszeit genannt werden kann. Alle fühlen heute mehr denn je,
- daß sich die Welt auf dem Marsche und nicht im Hafen befindet, das ist
- nicht einmal eine Station, auf der man vorübergehend haltmacht, kein
- Nachtquartier und kein Rasten während der Reise. Alles sucht etwas, aber
- es sucht es nicht draußen, sondern in dem eigenen Inneren. Die
- moralischen Fragen haben ein starkes Übergewicht über die politischen,
- die Probleme der gelehrten Wissenschaft sowie alle anderen Probleme
- erlangt. Kein Schwert und kein Kanonendonner vermögen das Interesse der
- Welt mehr zu fesseln. Überall kommt mehr oder weniger deutlich der
- Gedanke eines inneren Aufbaus, einer inneren Organisation zum
- Durchbruch: alles wartet auf das Eintreten einer strengeren
- harmonischeren Lebensordnung. Der Gedanke der Organisation, des Aufbaus
- sowohl des eigenen Ichs wie des der anderen wird immer mehr
- Allgemeingut. Alle bedeutenden Menschen, die an der Spitze marschieren,
- erleben Krisen und Umwälzungen in ihrem Inneren, manche sogar in den
- Jahren, wo in der Seele des Menschen bisher noch nie ein innerer
- Umschwung oder eine innere Besserung und Erhebung möglich zu sein
- schienen. Ein jeder fühlt mehr oder weniger, daß er sich nicht in der
- richtigen Verfassung befindet, in der er sich eigentlich befinden
- sollte, wenn er auch nicht weiß, worin dieser ersehnte Zustand nun
- eigentlich besteht. Dennoch aber sucht und strebt alles nach diesem
- ersehnten Zustande; alle Ohren lauschen gespannt und richten sich
- dorthin, woher sie etwas über die Fragen, die heute alle beschäftigen,
- zu vernehmen hoffen. Kein Mensch will ein Buch lesen, das nicht
- wenigstens eine Spur von all jenen Fragen enthält. Bedarf man also wohl
- in solch einer Zeit der Werke eines Schriftstellers, der über ein
- gewisses schöpferisches Talent verfügt, der lebendige Bilder von
- Menschen zu erschaffen vermag, und der die Gabe hat, das Leben
- eindringlich und plastisch darzustellen, so wie es ihm erscheint, -- der
- von dem Verlangen verzehrt wird, es kennen zu lernen? Machen wir uns
- zunächst einmal klar, was das für ein Schriftsteller ist, dessen
- Hauptbegabung sein schöpferisches Talent ist.
- Alle Welt stimmt mehr oder weniger darin überein, daß ein produktiver
- Schriftsteller seine Werke schreibt, um die Menschen zu belehren. Die
- Ansprüche, die an ihn gestellt werden, sind gewaltig -- und mit Recht:
- um nichts als eine gute Kopie dessen, was man vor Augen sieht,
- herzustellen, dazu gibt es auch andere Schriftsteller, die häufig ein
- außergewöhnliches Talent für das beschreibende, malende Genre besitzen,
- denen jedoch die _schöpferische_ Gabe völlig mangelt. Wer dagegen
- _schafft_, wer viel Zeit und Mühe darauf verwendet, dem sein Werk teuer
- zu stehen kommt, der darf seine Mühe und Arbeit nicht umsonst
- verschwenden. Die Schöpfungen seiner Kunst müssen für unser Leben einen
- Fortschritt bedeuten, er muß, wenn er seine Zeit verstanden hat, wenn er
- auf der Höhe jener Epoche steht, dieser Epoche seine Schuld für die
- Belehrung, die er aus ihr geschöpft hat, abtragen können, indem er auch
- sie seinerseits wieder belehrt. So wenigstens bestimmen die Ästhetiker
- unserer Zeit ebenso wie die früherer Zeiten das Wesen des Dichters oder
- ganz allgemein das Wesen eines Schriftstellers von schöpferischer
- Begabung. Die Menschen ganz so zu reproduzieren, wie man sie in sich
- aufgenommen hat, ist für einen schöpferischen Schriftsteller sogar
- unmöglich, das wird ein Schriftsteller weit besser machen, der über
- einen flinken Pinsel verfügt, sofort und jederzeit nachzuahmen vermag,
- was an seinem Blick vorüberzieht, und der von keinen inneren Skrupeln
- gequält und beunruhigt wird.
- Folglich kann in unserer heutigen Zeit, wo alle Menschen so sehr mit den
- Fragen des Lebens beschäftigt sind, ein solcher Schriftsteller mehr als
- jemand anderes das lösende Wort in den Fragen der Gegenwart sprechen;
- aber wann und in welchem Falle? Nur dann und in dem Falle, wenn er sich
- schon selbst alle Fragen, die ihn beunruhigen, beantwortet hat. Wenn er
- sich bei allen seinen großen Gaben zu einer plastischen Anschaulichkeit
- des Stils, zu der Adlerkraft und -schärfe des Blicks, zu dem
- fortreißenden lyrischen Schwung und der zermalmenden Wucht seines
- Sarkasmus noch eine umfassende Kenntnis seines Landes und seines Volkes
- bis hinab in seine Wurzeln und Auszweigungen erworben, wenn er sich zum
- Bürger seines Landes und zum Bürger der ganzen Menschheit herangebildet
- hat und überall da, wo dem Menschen geboten ward, hart zu sein wie ein
- Fels, unerschütterlich dasteht wie ein Stein, dann mag er seine Laufbahn
- antreten. Wenn er wirklich über solche Mittel und Werkzeuge verfügt,
- dann wird er dem Publikum solche Menschen vorführen, wie er sie
- gegenwärtig und in unserem heutigen Zeitalter braucht, und er wird sie
- mit jener porträthaften Anschaulichkeit ausstatten, die da macht, daß
- das Bild eines Menschen uns überallhin verfolgt, so daß wir es nicht
- wieder loswerden können. Bei solchen Mitteln wird es ihm natürlich nicht
- schwer werden, alle jene Heldengestalten, mit denen die modernen
- Schriftsteller unsere Köpfe vollgestopft haben, wieder auszutreiben. Man
- muß nur einmal statt durch heftige leidenschaftliche Reden durch solche
- lebendige Bilder, die wie die rechtmäßigen Herren in der Seele der
- Menschen ein und aus gehen, zum Publikum sprechen, -- so werden sich
- einem die Tore der Herzen von selbst öffnen, um sie aufzunehmen, wenn
- man nur das Gefühl hat und nur das Geringste davon spürt, daß diese
- Gestalten und Bilder aus unserem eigenen Wesen geschöpft sind, daß sie
- unserem eigenen Körper entstammen. Wer könnte in solch einem Falle noch
- daran zweifeln, daß heutzutage niemand eine so starke Wirkung auszuüben
- vermöchte, wie solch ein Schriftsteller, und daß niemand unserer Zeit
- und unserer heutigen Epoche notwendiger ist als er. Wenn er jedoch
- tatsächlich über einige von diesen Mitteln und Werkzeugen verfügt, sich
- aber noch nicht zu einem Bürger seines Landes und der Menschheit
- herangebildet hat, wenn er, dem allgemeinen Zuge der Zeit folgend,
- selbst noch im Werden und in der Entwicklung begriffen ist, dann wäre es
- für ihn sogar gefährlich, sich in die Öffentlichkeit hinauszuwagen; dann
- kann seine Wirkung eher schädlich als nützlich sein. Diese Arbeit an
- sich selbst wird in allem zum Ausdruck kommen, was seiner Feder
- entstammt. Je weniger Ähnlichkeit er mit anderen Leuten hat, je
- ungewöhnlicher er uns erscheint, je mehr er sich von anderen Menschen
- unterscheidet, je eigenartiger er ist, zu um so mehr Irrtümern und
- Mißverständnissen kann er überall Anlaß geben. Das, was in ihm lediglich
- eine natürliche Äußerung, eine normale Funktion seines außergewöhnlichen
- Organismus, ein vorübergehender Zustand, eine Stimmung seines Geistes
- ist, kann anderen Menschen als ein Höhepunkt, als Zielpunkt erscheinen,
- den alle erreichen müssen. Je liebevoller er sich für seine Helden und
- Charaktere einsetzt, je gründlicher er sie ausführt, und je lebendiger
- seine Darstellung ist, um so größer wird der Schaden sein. Wir alle
- haben den Beweis dafür vor Augen. Eine bekannte französische
- Schriftstellerin, die alle anderen an Begabung überragt, hat in wenigen
- Jahren eine gewaltigere Umwälzung in den Sitten hervorgerufen als
- sämtliche Schriftsteller, die sich bemühten, die Menschen zu
- korrumpieren. Sie hat vielleicht gar nicht einmal daran gedacht, die
- Unsittlichkeit zu predigen, ihre Schriften waren möglicherweise nur der
- Ausdruck einer vorübergehenden Verirrung, der sie in einer späteren
- Epoche ihrer geistigen Entwicklung vielleicht wieder entsagt, von der
- sie sich wieder losgesagt hat, allein das Wort war bereits gefallen:
- »_Ein Wort ist wie ein Spatz_,« sagt ein russisches Sprichwort, »_läßt
- du es aus der Hand, so fängst du es nie mehr ein_.«
- Ich selbst bin ein Schriftsteller, dem es nicht ganz an schöpferischer
- Begabung fehlt; ich besitze auch einige von den Gaben und Fähigkeiten,
- in denen eine suggestiv fortreißende Kraft liegt. Der allgemeinen
- Zeitströmung folgend, die nicht von uns gemacht wird, sondern dem Willen
- des Höchsten entspringt, ... strebe auch ich nach Bildung und
- Organisierung meines Ichs, wie dies auch andere tun, und ich fühle, daß
- ich noch sehr weit von dem Ziele entfernt bin, dem ich zustrebe, und daß
- ich daher nicht öffentlich hervortreten sollte. Auch das unlängst
- veröffentlichte Buch »Briefwechsel mit meinen Freunden« ist ein Beweis
- dafür. Wenn schon dies Buch, das nicht mehr als eine Abhandlung ist, wie
- man sagt, durch seine Unbestimmtheit zu Irrtümern Anlaß gibt und sogar
- zur Verbreitung verkehrter Gedanken beiträgt, wenn schon von diesen
- Briefen, wie man sagt, einem ganze Sätze und Seiten wie lebendige Bilder
- im Kopf haften bleiben, was wäre erst dann geschehen, wenn ich, statt
- mit diesen Briefen, mit einem erzählenden Werk voll lebendiger
- Anschauungen hervorgetreten wäre? Ich fühle selbst, daß hierin weit mehr
- meine Stärke liegt als in theoretischen Erörterungen. Jetzt kann die
- Kritik mich noch angreifen, dann jedoch wäre kaum jemand imstande
- gewesen, mich zu widerlegen. Meine Bilder hätten etwas Suggestives
- gehabt und hätten sich so in den Köpfen festgesetzt, daß kein Kritiker
- sie von dort hätte wieder austreiben können. Man darf nicht außer acht
- lassen, daß alle dargestellten Personen und Charaktere die Wahrheit
- meiner eigenen Überzeugungen hätten beweisen müssen und meine
- Überzeugungen ... Wenn ich dieses Buch mit den von mir vernichteten
- »Toten Seelen« vergleiche, so kann ich nicht dankbar genug sein für den
- mir zuteil gewordenen Impuls, sie zu vernichten. Trotzdem aber stehe ich
- in meinem Briefwerk auf einem höheren Standpunkt als in den vernichteten
- »Toten Seelen«. Die Dunkelheit des Ausdrucks verwirrt an vielen Stellen
- den Leser; wenn ich denselben Gedanken etwas deutlicher und klarer
- ausgedrückt hätte, so hätten viele Leute unterlassen, mir Einwände zu
- machen. In den von mir vernichteten »Toten Seelen« ist weit mehr von dem
- Übergangszustand, von dem inneren Umschwung in mir zum Ausdruck
- gekommen, es steckt noch eine weit größere Unbestimmtheit in den
- grundlegenden Prinzipien darin, die Gedanken haben mehr bewegende,
- treibende Kraft, einzelne Teile enthalten schon sehr viel
- Eindrucksvolles, mit sich Fortreißendes, und die Helden haben etwas
- Suggestives. Kurz -- als ein ehrlicher Schriftsteller hätte ich die
- Feder niederlegen müssen, selbst dann, wenn ich wirklich den Drang
- gefühlt hätte, sie zu ergreifen. Aber so etwas muß mit Besonnenheit
- betrachtet werden. Alle die, die leichtfertig von mir verlangen, daß ich
- in meiner schriftstellerischen Arbeit fortfahren soll, und doch zugleich
- mein letztes [Buch] schlecht machen, sollten sich doch zum mindesten die
- ganze Sache etwas genauer überlegen und alle Umstände in Betracht
- ziehen, die kein Richter außer acht läßt, wenn er über jemand zu Gericht
- sitzt. Ich habe den Eindruck, daß heute nicht nur ein Mensch, der
- schriftstellerisch tätig ist, sondern jeder Kopf überhaupt sich der
- Tätigkeit enthalten sollte, wenn er die Neigung hat, Schlüsse und
- Folgerungen zu ziehen und selbst noch ... Von den klugen Leuten sollten
- nur solche sich öffentlich betätigen, deren Erziehung vollendet ist und
- die fertige Bürger ihres Landes sind, und von den Schriftstellern nur
- solche, die Rußland ebenso glühend lieben wie der, der sich Kosak
- Luganski nennt, und die es gleich ihm verstehen, die Natur so zu
- schildern, wie sie wirklich ist, ohne uns das Gute und Böse an der
- russischen Natur zu unterschlagen, das sollten nur Schriftsteller tun,
- die sich einzig und allein von dem Wunsche leiten lassen, alle Welt über
- den wirklichen Zustand aufzuklären, in dem sich heute die Menschen in
- Rußland befinden.
- Es wird _mir_ sicherlich viel schwerer als irgend jemand sonst, die
- schriftstellerische Tätigkeit aufzugeben, wo sie doch der Inhalt aller
- meiner Gedanken und Wünsche war, wo ich doch allem anderen, allen
- Lockungen des Lebens entsagt und wie ein Mönch alle Bande, die mich an
- alles das, was dem Menschen hier auf Erden teuer ist, zerrissen habe, um
- an nichts mehr zu denken als an meine Arbeit. Es wird mir nicht leicht,
- der schriftstellerischen Tätigkeit zu entsagen: gehörten doch gerade die
- Augenblicke zu den schönsten meines Lebens, wo ich das, was ich lange in
- Gedanken ausgebrütet hatte, zu Papier bringen durfte; bin ich doch auch
- jetzt noch immer überzeugt, daß es kaum einen höheren Genuß gibt als den
- des _Schaffens_. Aber -- ich wiederhole dies nochmals -- als ehrlicher
- Mensch müßte ich meine Feder selbst dann noch niederlegen, wenn ich den
- inneren Drang fühlte, sie zu ergreifen.
- Ich weiß nicht, ob ich ehrlich genug gewesen wäre, so zu handeln, wenn
- ich nicht die Fähigkeit zum Schreiben verloren hätte; denn -- um ganz
- aufrichtig zu sein -- das Leben hätte dann plötzlich allen Wert für mich
- eingebüßt; nicht mehr schreiben, nicht schaffen, das hätte für mich
- ebensoviel bedeutet, wie nicht leben. Aber es gibt keinen Verlust, für
- den uns nicht ein Ersatz geschaffen wird, was ein Beweis dafür ist, daß
- der Schöpfer den Menschen keinen Augenblick verläßt. Das Herz bleibt
- keinen Moment ganz leer und kann nicht ganz ohne Wunsch sein. Wie die
- Erde, die eine Weile vom Pflug unberührt bleibt, andere und neue Kräuter
- und Gräser wachsen läßt, bis sie sich in ein neues von ihnen
- befruchtetes und gedüngtes Ackerfeld verwandelt, so kehrten auch in mir,
- als ich die Fähigkeit, zu schaffen verloren hatte, meine Gedanken aufs
- neue zu dem Gegenstand zurück, von dem ich in meiner Kindheit geträumt
- hatte. Ich wollte wieder dienen; jede, selbst die kleinste und
- unscheinbarste Stellung hätte mir genügt, wenn ich nur meinem Vaterlande
- so hätte dienen können, wie ich ihm einstmals hatte dienen wollen, ja
- ich hätte ihm jetzt noch weit treuer und besser dienen mögen, als ich
- dies jemals gewünscht hatte. Der Gedanke an einen solchen Dienst hat
- mich niemals verlassen. Ich söhnte mich auch erst mit meiner
- schriftstellerischen Tätigkeit aus, als ich mich innerlich überzeugte,
- daß man auch auf diesem Gebiete seinem Vaterlande dienen könne. Aber
- auch damals dachte ich noch daran, wenn ich einmal ein großes Werk
- vollendet haben würde, ganz so wie die anderen Menschen in den
- Staatsdienst einzutreten und mir eine Stellung zu suchen. Meine Pläne
- und Absichten hatten bloß etwas Anmaßendes und entsprangen einer
- hochmütigen Gesinnung. Ich glaubte, wenn ich den Beweis dafür ablegen
- würde, daß ich den Russen wirklich von Grund aus, in seiner Wurzel und
- seinen fundamentalsten Zügen kenne, d. h. wenn ich ihn sowohl in den
- Zügen, die allen erkennbar, als auch in denen, die bisher noch verborgen
- sind, verstehe, ich glaubte, wenn ich den Beweis liefern würde, daß ich
- die Seele des Menschen nicht aus Büchern und Erzählungen, sondern aus
- Erfahrung kenne, da ich schon von frühester Jugend auf von dem Wunsche
- beseelt war, den Menschen begreifen zu lernen, so würde man mir eine
- Stellung anweisen, die es mir erlauben würde, mit Menschen aller Stände
- und mit vielen Leuten in persönliche Berührung zu kommen, nicht erst
- durch Vermittlung von Akten und Kanzleien: eine Stellung, in der ich
- meine Menschenkenntnis mit wirklichem Nutzen verwerten, mich vielen
- Leuten nützlich erweisen und mir selbst noch eine größere
- Menschenkenntnis erwerben würde. Es schien mir so, als ob Rußland am
- meisten unter den gegenseitigen Mißverständnissen leidet, und daß wir
- vor allem solche Menschen brauchen, die bei einiger Kenntnis der Seele
- und des Herzens und ganz allgemein bei einigem Wissen von dem innigen
- Wunsche nach Frieden beseelt wären. Ich hatte gesehen und bereits die
- Erfahrung gemacht, daß man durch persönliche Unterhandlungen und
- Aufklärungen viele Streitigkeiten beilegen konnte, die niemals auf dem
- Aktenwege zu erledigen sind. Ich dachte mir, wenn es auch heute keine
- solche Stellungen gebe, so würde ich doch, wenn mein Werk ganz fertig
- und bereits erschienen sei, einen solchen Posten erhalten, und ich
- entwarf in Gedanken bereits einen Plan, ein Projekt, in dem ich darlegen
- wollte, wie ich mich Rußland durch die Fähigkeiten, die ich besaß,
- nützlich und notwendig erweisen könnte. Ich schmiedete die kühnsten
- Pläne, da sie sich jedoch lediglich auf den Erfolg meines Werkes
- gründeten, zerfielen sie sogleich in sich, als mir die Fähigkeit,
- dichterische Werke zu schaffen, verloren gegangen war. Jetzt sind in
- meinen Augen alle Ämter und Stellungen gleichwertig, jeder Posten -- der
- kleinste wie der größte -- hat die gleiche Bedeutung, wenn man ihn nur
- mit dem gebührenden Ernst ansieht, und es will mir so scheinen, daß man,
- wenn man den Menschen nur ein wenig zu schätzen weiß und einen Begriff
- von seiner Würde hat, die ihm selbst dann noch erhalten bleibt, wenn der
- Mensch viele Fehler und Mängel hat, daß man, sofern man nur etwas
- wahrhaft christliche Liebe für ihn hat und endlich von wirklicher Liebe
- zu Rußland erfüllt ist, wie ich glaube, in jeder Stellung sehr viel
- Gutes wirken kann. Die Kraft des sittlichen Einflusses übertrifft alles
- andere. Ein Amt und eine Stellung wären für mich dasselbe wie ein Hafen
- und das Festland für einen Seefahrer. Ich bin überzeugt, daß heutzutage
- ein jeder, der von dem heißen Wunsch nach dem Guten verzehrt wird, der
- ein Russe ist und dem Rußlands Ehre am Herzen liegt ... sich ebenso und
- mit demselben Eifer zu vielen Ämtern und Stellungen im Staate drängen
- sollte, wie einstmals jeder von uns in die Reihen trat, um das Vaterland
- gegen den Feind zu verteidigen; denn das Unrecht und die Zahl der Übel
- sind groß, und sie haben schon viel Schmach über uns gebracht.
- Andererseits aber bin ich auch überzeugt, daß wir schon um unserer
- selbst willen ein Amt und eine Stellung brauchen, um ... So stürmisch
- und aufgeregt die heutige Zeit ist, so erregt und bewegt auch die
- Geister um uns herum sind, so sehr uns unser eigener Verstand empört,
- man kann bei alledem doch ruhig bleiben, wenn man nur zu dem Zweck eine
- Stellung annimmt, um seine Pflicht so zu erfüllen, daß man dem Himmel
- Rechenschaft dafür abzulegen vermag und sich dessen nicht zu schämen
- braucht. Wie dem auch sein mag, das Leben ist für uns kein Rätsel mehr.
- Es war einmal ein Rätsel, als die klügsten unter den Menschen, die
- Denker und Dichter, über es nachsannen und zur Überzeugung kamen, daß
- sie nicht wissen, was das Leben ist. Aber nachdem einmal einer -- der
- der klügste von ihnen allen war -- es mit voller Sicherheit und ohne zu
- schwanken oder zu zweifeln ausgesprochen hat, _Er_ wisse, was das Leben
- sei; seitdem dieser _Eine_ von allen anerkanntermaßen für den größten
- aller Menschen, die bisher gelebt haben, selbst von denen, die nicht
- zugeben wollen, daß Er Gott sei, gehalten wird, muß man Ihm aufs Wort
- glauben, selbst wenn Er nur ein einfacher Mensch gewesen sein sollte.
- Folglich ist die Frage: Was ist das Leben? gelöst.
- Das aber genügt noch nicht. Uns ward ein vollständiges und umfassendes
- Gesetz für alle unsere Handlungen gegeben -- ein Gesetz, das keine
- Gewalt in seiner Wirkung zu hemmen oder zu beschränken vermag, das man
- selbst bis in die Mauern des Gefängnisses tragen, das man jedoch nicht
- erfüllen kann, wenn man in der Luft schwebt; dazu muß man zum mindesten
- ein festes irdisches Fundament unter den Füßen haben. Wenn man ein Amt
- und eine Stellung innehat, befindet man sich doch immer auf einem
- bestimmten Wege; besitzt man dagegen keine bestimmte Stellung und kein
- Amt, so geht man aufs Geratewohl durch Gestrüpp und Schluchten, wenn man
- auch das gleiche Ziel im Auge behält. Auf einem Wege geht sich's
- leichter als dort, wo es keine Wege gibt. Wenn man Amt und Stellung als
- Mittel zu einem Ziel betrachtet, das nicht auf der Erde liegt, sondern
- als einen Weg zum himmlischen Ziel -- zur Rettung unserer Seele --
- ansieht, so erkennt man, daß das Gesetz, das uns Christus gegeben hat,
- nur für uns selbst gegeben ward, daß er sich gleichsam an uns selbst
- wendet, um uns klar und deutlich zu zeigen, wie wir uns an der Stelle,
- an der wir stehen, und in dem Berufe, den wir uns erwählt haben,
- verhalten sollen. Es ward dem Christen mit aller Bestimmtheit und
- Deutlichkeit gesagt, wie er sich gegen Höhergestellte benehmen soll, und
- wenn er nur einen Teil davon erfüllt, so werden ihn alle, die über ihm
- stehen, liebgewinnen. Es ward dem Christen in aller Bestimmtheit und
- Deutlichkeit gesagt, wie er sich gegen die verhalten soll, die unter ihm
- stehen, und wenn er nur einen Teil hiervon erfüllt, so werden ihm alle
- unter ihm Stehenden von Herzen ergeben sein. Diese ganze Universalität
- des menschenfreundlichen Gesetzes Christi, dieses Verhältnis der
- Menschen untereinander kann von jedem von uns auf seine begrenzte Sphäre
- angewandt und übertragen werden. Wir brauchen bloß alle Menschen, mit
- denen wir so häufig in unangenehmster und peinlichster Art
- zusammenstoßen, zu unseren Nächsten und unseren Brüdern zu machen, zu
- jenen Nächsten, denen uns Christus am meisten zu vergeben und die Er uns
- am meisten zu lieben geboten hat. Man braucht bloß nicht darauf zu
- achten, wie die anderen sich gegen uns verhalten, und nur daran zu
- denken, wie man selbst gegen andere Leute handelt. Man braucht bloß
- nicht daran zu denken, wie die anderen uns lieben, sondern bloß darauf
- zu achten, ob man sie auch _selbst_ liebt. Man braucht nur, ohne sich
- durch irgend etwas gekränkt zu fühlen, dem ersten, dem man begegnet, die
- Hand zur Versöhnung entgegenzustrecken. Man braucht bloß eine kurze Zeit
- lang so zu handeln und man wird bald inne werden, daß der Umgang mit
- anderen Leuten uns selbst und daß ihnen der Umgang mit uns viel leichter
- wird; dann wird man wirklich die Kraft in sich fühlen, auch an einer
- unscheinbaren Stelle manch nützliche Tat zu vollbringen. Am schwersten
- hat es der in der Welt, der noch nicht irgendwo festen Fuß gefaßt hat,
- der sich's nicht klarmacht, worin sein Beruf besteht: ihm ist es am
- schwersten, das Gesetz Christi auf sich anzuwenden, das doch dazu da
- ist, um auf der Erde und nicht in der Luft verwirklicht zu werden; daher
- muß auch das Leben ein ewiges Rätsel für ihn sein. Ihm gegenüber ist
- sogar der Gefangene, der im Kerker schmachtet, noch im Vorteil: er weiß,
- daß er ein Gefangener ist, und er weiß daher auch, was von dem Gesetz er
- für sich auswählen muß. Ihm gegenüber ist noch der Bettler im Vorteil,
- er hat auch ein Amt: er ist ein Bettler und weiß daher, was er für sich
- aus dem Gesetz Christi schöpfen soll. Ein Mensch jedoch, der nicht weiß,
- was sein Beruf, wo sein Platz ist, der sich nichts klar, der bei nichts
- haltmacht und nirgends festen Fuß gefaßt hat, der hat weder in der Welt
- noch außer der Welt ein Heim; er weiß nicht, wer sein Nächster ist, wer
- seine Brüder sind, wen er lieben und wem er verzeihen soll (man kann
- nicht die ganze Welt lieben, wenn man nicht erst einmal die lieben
- lernt, die einem am nächsten stehen und die Gelegenheit haben, uns
- Kummer zu bereiten): sein Gemütszustand hat die meiste Ähnlichkeit mit
- einer trockenen mattherzigen Seelenverfassung.
- So war ich denn nach vielen Jahren langer Mühe und mancherlei Versuchen
- und häufigem Nachdenken, auf meinem Wege sichtlich vorwärtsschreitend,
- endlich zu dem Ergebnis gelangt, von dem ich schon während meiner
- Kindheit geträumt hatte, daß das Dienen die Bestimmung des Menschen und
- daß unser ganzes Leben ein einziger Dienst ist. Man darf nur nicht
- vergessen, daß man ein Amt im irdischen Staate übernimmt, um dadurch dem
- himmlischen König zu dienen, und daher Sein Gesetz stets im Auge
- behalten muß. Nur wenn man seinen Dienst in dieser Weise auffaßt, kann
- man es allen recht machen: dem König, dem Volk und seinem Vaterland.
- Als ich diese Überzeugung gewonnen hatte, war ich schon bereit, mich
- voller Eifer jedem Amte zu widmen, obwohl ich natürlich bemüht war, mir
- mit Rücksicht auf meine Fähigkeiten einen solchen Beruf zu wählen, der
- mich auch weiter in den Stand setzen würde, die Menschen in Rußland auch
- in der Praxis kennen zu lernen; damit ich, wenn sich bei mir die
- Fähigkeit zum dichterischen Schaffen wieder einstellen sollte, über ein
- ausreichendes Material verfügte. Und so war auch einer der Gründe meiner
- Reise ins Heilige Land der ehrliche Wunsch, an jener Stelle zu Gott zu
- beten und mir von Ihm, Der uns in jenen Gegenden, die einst Sein Fuß
- durchschritten, das Geheimnis des Lebens offenbart hat, den Segen für
- eine rechtschaffene Erfüllung meiner Pflicht und für meinen Eintritt ins
- Leben zu erflehen; ich wollte Ihm für alles danken, was sich in meinem
- Leben ereignet hatte, mir von Ihm eine Tätigkeit erbitten und Ihn um
- Belebung und Erfrischung für den weiteren Weg und das Werk, für das ich
- mich herangebildet und vorbereitet hatte, anflehen. Und darin finde ich
- nichts Merkwürdiges, da doch auch der Schüler nach Beendigung seines
- Lehrganges sich beeilt, dem Lehrer ein Wort des Dankes zu sagen. Wenn
- doch auch der Sohn zum Grabe des Vaters eilt, bevor er seine Tätigkeit
- beginnt, warum sollte _ich_ nicht jenem Grabe Ehre und Anbetung
- erweisen, das alle verehren, an dem allen Trost und Kräftigung zuteil
- wird und vor dem alle Menschen -- auch solche, die keine Dichter sind --
- von Begeisterung ergriffen werden. Es ist vielleicht recht sonderbar,
- daß ich in einem gedruckten Buche hierüber geredet habe; aber ich hatte
- mich damals gerade von einer schweren Krankheit erholt. Ich war noch
- recht schwach und glaubte gar nicht, daß ich imstande sein würde, diese
- Reise zu vollenden. Ich wollte, daß _die_ für mich beten sollten, deren
- ganzes Leben ein einziges Gebet geworden war, wußte nicht, wie ich es
- anstellen sollte, daß meine Stimme bis in die Tiefe der Klosterzellen
- und in die Mauern der Einsiedler dränge, und ich dachte, daß vielleicht
- einer von denen, die mein Buch lesen würden, mein Wort bis an das Ohr
- jener tragen möchte. Ich bat auch die anderen, für mich zu beten, weil
- ich nicht wußte, wessen Gebet Ihm wohlgefälliger ist, zu Dem wir alle
- beten. Ich weiß nur das eine, daß der Geringste und Schlechteste unter
- uns schon morgen ein besserer Mensch werden kann als wir alle und daß
- sein Gebet eher bis an Gottes Ohr dringen kann als jedes andere Gebet.
- Dafür hätte man mich nicht so strenge verurteilen sollen; man hätte
- lieber an die Worte »_Bittet, so wird euch gegeben_« denken und dies
- Gebot erfüllen sollen.
- Wie es geschehen konnte, daß ich nun genötigt bin, dem Leser über dies
- alles Auskunft zu geben, das kann ich selbst nicht begreifen. Ich weiß
- nur das eine: daß ich nie den Wunsch hatte, mich über meine geheimsten
- und innersten Seelenregungen zu äußern -- nicht einmal meinen
- aufrichtigsten Freunden gegenüber. Ich war fest entschlossen, nichts von
- meinen Seelenerlebnissen zu verraten und alle Urteile, die über mich
- gefällt wurden, ruhig über mich ergehen zu lassen, da ich fest davon
- überzeugt war, daß, wenn erst der zweite und dritte Band der »Toten
- Seelen« erscheinen würden, sich alles aufklären und niemand mehr die
- Frage stellen würde: was ist der Autor selbst für ein Mensch? trotzdem
- der Autor gänzlich hinter seinen Helden verschwinden sollte. Nachdem ich
- mich jedoch einmal darauf eingelassen hatte, gewisse Erklärungen über
- meine Werke abzugeben, war es ganz unvermeidlich, daß ich auch von mir
- selbst reden mußte, weil meine Werke auf das engste mit meinen geistigen
- und seelischen Angelegenheiten in Zusammenhang stehen. Gott weiß,
- vielleicht geschah auch dies ohne den Willen Dessen, ohne Den in der
- Welt nichts geschieht; ja, vielleicht mußte dies gerade deswegen
- geschehen, damit ich einen Einblick in mein eigenes Innere gewinnen
- konnte. Die Versuchung, hochmütig zu werden, lag mir sehr nahe,
- besonders nachdem es mir gelungen war, mich tatsächlich von einigen
- Fehlern und Mängeln zu befreien. Dieser Hochmut nistete beständig in
- meiner Seele und niemand hat mich darauf aufmerksam gemacht. Bekanntlich
- genügt es schon, sich eine gewisse Glätte, ein gewisses Gleichmaß und
- eine gewisse Nachsicht und Toleranz im Umgang mit den Menschen
- anzueignen, damit sie unsere Fehler übersehen und nicht beachten. Wenn
- man sich dagegen vor unbekannten Leuten und vor der ganzen Welt zur
- Schau stellt, und wenn jede unserer Handlungen und Taten bis ins
- einzelne zerfasert wird, wenn Menschen der verschiedensten Denkungsart,
- der verschiedensten Anschauungen und mit den verschiedensten Vorurteilen
- sich jeder nach seiner Weise ein Bild von uns machen, wenn dann von
- allen Seiten berechtigte und unberechtigte Vorwürfe auf einen
- niederhageln und mit Vorbedacht oder auch ohne böse Absicht an die
- empfindlichsten Seiten unseres Wesens rühren, dann fängt man an -- ob
- man nun will oder nicht -- sich von solch einer Seite zu sehen, von der
- man sich noch nie gesehen hat, und man beginnt Fehler und Mängel in sich
- zu suchen, die man sonst nie in sich gesucht hätte. Das ist eine
- furchtbare Schule, die einen entweder um den Verstand bringt oder klüger
- und vernünftiger macht, als man jemals war. Nicht ohne Scham und ohne
- Erröten lese ich vieles in meinem Buche, trotzdem aber danke ich Gott,
- daß Er mir die Kraft gegeben hatte, es herauszugeben. Ich brauchte einen
- Spiegel, in dem ich mich erblicken und besser erkennen konnte, ohne dies
- Buch aber wäre ich schwerlich in den Besitz eines solchen Spiegels
- gekommen. Und so hat denn mein Buch, das aus der ehrlichen Absicht
- entsprungen war, anderen zu nützen, vor allem mir selbst am meisten
- genützt.
- Es sei mir erlaubt, an dieser Stelle auch einige Worte über den Nutzen
- zu sagen, den mein Buch anderen Leuten bringen kann. Ist mein Buch
- wirklich so ganz wertlos für andere Menschen, besonders aber für die
- Gesellschaft, wie sie heute ist? Mir scheint, alle, die über dies Buch
- geurteilt haben, haben es mit zu weit aufgerissenen Augen und gar zu
- hitzig und heftig betrachtet. Man hätte es weit kaltblütiger beurteilen
- sollen. Statt als Vorkämpfer der ganzen Gesellschaft aufzutreten und
- mich im Angesicht des ganzen russischen Vaterlandes vor Gericht zu
- laden, hätte man die Sache viel einfacher ansehen sollen. Man hätte das
- Buch analysieren, man hätte feststellen sollen, was es seinem innersten
- Wesen nach ist, und man hätte nicht eher auf die Einzelheiten und die
- Teile eingehen dürfen, als bis man sich den inneren Sinn des Ganzen
- völlig klargemacht hatte. Nun aber hatte das allerhand törichte
- Wortstreitigkeiten zur Folge, ja vielem wurde ein solcher Sinn
- untergelegt, von dem ich mir nie hatte etwas träumen lassen.
- Zunächst hätte ich jederzeit das Recht gehabt, davon zu reden, wovon ich
- in meinem Buche gesprochen habe, wenn ich mich nur einfacher und
- schicklicher ausgedrückt hätte. Es ist mir nie eingefallen, die Menschen
- in der Weise belehren zu wollen, wie mir das einige imputieren wollten.
- Das _Lehren_ verstand ich in dem einfachen Sinne, den die Kirche im Auge
- hat, wenn sie gebietet, einander unaufhörlich zu belehren, wobei man es
- verstehen muß, mit derselben Freude Ratschläge von anderen
- entgegenzunehmen, mit der man selbst anderen welche erteilt. Ich aber
- war damals wirklich bereit, Ratschläge von anderen Menschen
- entgegenzunehmen. Ich stellte mir die Gesellschaft keineswegs als eine
- Schule vor, die mit Schülern von mir angefüllt ist, deren Lehrer ich
- bin. Ich bestieg mit meinem Buch kein Katheder und verlangte nicht, daß
- alle aus diesem Buche lernen sollten. Ich kam zu meinen Mitbrüdern und
- Mitschülern wie ein ihnen gleichgestellter Schulkamerad; ich brachte
- einige Hefte mit, in denen ich die Worte des Lehrers nachgeschrieben
- hatte, von Dem wir alle lernen; ich brachte vielerlei mit; mochte sich
- jeder das davon wählen, was er brauchen konnte. Es waren Briefe
- darunter, die an Personen von verschiedenem Charakter und verschiedenen
- Anlagen und Neigungen gerichtet waren. Viele von diesen Personen standen
- auf ganz verschiedenen Stufen der geistigen Entwicklung; daher konnten
- sich diese Briefe unmöglich in gleicher Weise auf alle Menschen beziehen
- und auf sie alle passen. Ich dachte mir, jeder würde sich nur das davon
- aneignen, was er brauchte, und das andere nicht beachten. Ich hatte
- nicht geglaubt, daß so mancher gerade danach greifen würde, dessen ein
- anderer bedurfte, ausrufen würde: »Das kann ich nicht brauchen!« und mir
- dann noch zürnen würde. Ich wollte auch keine neue Lehre verkünden. Als
- ein Schüler, der in einigen Fächern etwas weiter fortgeschritten ist als
- ein anderer Mitschüler, wollte ich es den übrigen Kameraden bloß
- klarmachen, wie man die Lektion, die uns von dem besten aller Lehrer
- aufgegeben wird, am schnellsten und leichtesten lernt. Ich hatte
- geglaubt, wenn man mein Buch gelesen haben würde, würde man zu mir
- sagen: »Ich danke dir, Mitbruder!« und nicht: »Ich danke dir, mein
- Lehrer!« Wenn nur nicht mein »Testament« gewesen wäre, das ich
- unvorsichtigerweise mitaufgenommen habe und in dem ich auf die Belehrung
- anspielte, die jeder Autor seinen Mitmenschen mit seinen poetischen
- Werken erteilen sollte, so wäre es niemand eingefallen, mir solche
- apostolische Absichten zuzuschreiben, trotz meines ziemlich
- entschiedenen Tons, ja sogar trotz der lyrischen Feierlichkeit meiner
- Rede. Dagegen wird ein jeder, der bereits in seine eigene Seele zu
- blicken vermag, meinem Buche mancherlei entnehmen können, was ihm von
- Nutzen sein dürfte.
- Was ferner die Meinung anbetrifft, daß mein Buch schädlich wirken müsse,
- so kann ich dies unter keinen Umständen zugeben. In dem Buche kommt
- trotz all seiner Mängel die gute Absicht und die Liebe zum Guten viel zu
- deutlich zum Ausdruck. Trotz vieler unbestimmter und dunkler Stellen
- leuchtet der Grundgedanke ganz klar aus ihm hervor; und wenn man das
- Werk gelesen hat, kommt man zu der gleichen Überzeugung: nämlich daß die
- höchste Instanz in allen Fragen die Kirche und daß _sie_ der Schlüssel
- zu allen Fragen des Lebens ist. Folglich wird sich der Leser nach der
- Lektüre meines Buches auf jeden Fall an die Kirche wenden, _in_ der
- Kirche aber wird er wiederum nur die Lehrer der Kirche finden, die ihn
- darüber belehren werden, was er sich aus meinem Buche für seine Zwecke
- aneignen soll; vielleicht aber werden sie ihm auch andere bedeutsamere
- Bücher statt des meinen geben, um derentwillen er _mein_ Buch
- beiseitelegen wird, so wie ein Schüler das Buchstabieren aufgibt, wenn
- er frei lesen gelernt hat.
- Zum Schluß muß ich noch folgendes bemerken: die Urteile, die über mein
- Buch gefällt wurden, waren wirklich gar zu apodiktisch und scharf, und
- keiner, der mir Mangel an echter Bescheidenheit vorgeworfen hat, hat mir
- gegenüber die rechte Bescheidenheit an den Tag gelegt. Angenommen
- selbst, ich hätte mir in meinem Hochmut, der aus dem Glauben an meine
- Vorzüge entsprang, die mir von allen Leuten zugeschrieben wurden,
- einbilden können, daß ich höher stehe als alle anderen Menschen und daß
- ich das Recht habe, über andere Leute zu richten, worauf aber könnte
- sich der stützen, der mit solcher Sicherheit über mich zu Gericht sitzt
- und nicht einmal das Gefühl hat, daß er höher steht als ich? Wie dem
- auch sein mag, um ein allseitiges Urteil über einen Menschen zu fällen,
- dazu muß man höher stehen als der, über den man richtet. Man kann wohl
- gewisse Bemerkungen über diese oder jene Einzelheit machen, man kann
- Meinungen äußern und Ratschläge erteilen, allein über den ganzen
- Menschen aburteilen, indem man sich auf diese Ratschläge stützt, ihn für
- völlig verrückt erklären, behaupten, er habe seinen Verstand verloren,
- er sei ein Lügner und Betrüger, der die Maske der Frömmigkeit angelegt
- habe, ihm gemeine und niederträchtige Absichten unterlegen -- nein, das
- sind Beschuldigungen, wie ich sie niemals, nicht einmal gegen einen
- offenkundigen Schurken, der das Schandmal der öffentlichen Verachtung
- trägt, vorzubringen imstande wäre. Mir scheint, ehe man solche
- Beschuldigungen ausspricht, müßte man innerlich erschrecken und erbeben,
- man sollte erst ein wenig darüber nachdenken, wie uns selbst wohl dabei
- zumute wäre, wenn öffentlich und vor aller Welt solche Anschuldigungen
- gegen uns erhoben würden! Es wäre wirklich gut, wenn man sich's erst ein
- wenig überlegte, ehe man eine solche Beschuldigung erhebt: »Irre ich
- mich auch selbst nicht? Ich bin doch auch ein Mensch! Es handelt sich
- hier um die Seele. Die Seele des Menschen ist ein Brunnen, zu dem es
- nicht für alle einen Zugang gibt, und man darf sich nicht auf die äußere
- scheinbare Ähnlichkeit gewisser Merkmale verlassen. Oft haben schon die
- geschicktesten Ärzte eine Krankheit für eine andere gehalten und ihren
- Fehler erst dann erkannt, als sie bereits den Leichnam des Toten
- secierten.« Nein, das Buch »Briefwechsel mit meinen Freunden« enthält,
- so große Mängel es in jeder Hinsicht haben mag, doch auch viel
- Derartiges, was nicht allen sofort verständlich sein kann. Es nützt
- nichts, sich darauf zu berufen, daß man das Buch zwei- oder dreimal
- gelesen hat: manch einer kann es zehnmal lesen, und es wird doch nichts
- dabei herauskommen. Um dieses Buch nur im mindesten nachzuerleben, muß
- man entweder eine sehr einfache und gütige Seele haben oder ein sehr
- vielseitiger Mensch sein, der außer einem Verstande, der die Dinge von
- allen Seiten zu umfassen vermag, auch noch über ein hohes poetisches
- Talent und eine Seele verfügt, die einer vollen, großen und tiefen Liebe
- fähig ist.
- Ich kann nicht leugnen, daß diese ganzen Wirrnisse und diese
- Mißverständnisse sehr bitter für mich waren -- um so mehr, als ich
- geglaubt hatte, daß mein Buch eher den Keim zur Versöhnung als zu Streit
- und Zwietracht enthalte. Meine Seele wäre unter all den Vorwürfen
- zusammengebrochen; manche darunter waren so fürchterlich, daß Gott jeden
- vor solchen Anklagen bewahren möge! Andererseits aber fühle ich mich
- verpflichtet, denen meinen Dank auszusprechen, die mich auch wegen
- vieler Verfehlungen hätten mit Vorwürfen überschütten können, die mich
- aber in dem Gefühl, daß sie bereits das Maß dessen überstiegen, was die
- schwache Natur des Menschen zu ertragen vermag, mit der Hand eines
- mitleidigen Bruders erhoben und mir Mut zugesprochen haben. Gott möge es
- ihnen vergelten! Ich kenne keine größere Tat, als einem Menschen, der
- den Mut verliert, hilfreich die Hand zu reichen.
- 1847.
- An W. A. Schukowski
- Neapel, den 10. Januar 1848./29. Dezember 1847.
- Ich bin in deiner Schuld, lieber Freund! Jeden Tag nehme ich mir vor, zu
- schreiben -- aber eine unbegreifliche _Unlust_ hindert mich immer wieder
- daran. Wieder liegen Neapel, der Vesuv und das Meer vor mir! Die Tage
- fliehen in steter Beschäftigung dahin, die Zeit vergeht so schnell, daß
- man nicht weiß, wie man eine Stunde erübrigen soll. Ich lerne wie ein
- Schuljunge und hole alles nach, was ich in der Schule zu lernen
- unterlassen habe. Aber wozu soll ich davon erzählen! Ich möchte davon
- sprechen, wovon ich mit dir allein sprechen kann: nämlich von unserer
- lieben _Kunst_, für die ich lebe und um derentwillen ich jetzt arbeite
- und lerne wie ein Schulknabe. Da ich jetzt vor einer Reise nach
- Jerusalem stehe, möchte ich dir mein Herz ausschütten; wem gegenüber
- könnte ich das auch tun, wenn nicht dir gegenüber? Die Literatur hat ja
- doch fast mein ganzes Leben ausgefüllt, und hier liegen meine
- Hauptsünden.
- Nun sind es bald zwanzig Jahre, daß ich, ein Jüngling, der kaum ins
- Leben getreten war, zum erstenmal zu _dir_ kam, der bereits den halben
- Weg auf diesem Felde zurückgelegt hatte. Das war im Schlosse von
- Schepelejow. Das Zimmer, wo diese Begegnung stattfand, existiert bereits
- nicht mehr; aber ich sehe es noch deutlich und in allen Einzelheiten --
- bis auf das kleinste Möbelstück und die geringsten Sachen, die darin
- standen, vor mir, wie wenn es heute wäre. Du reichtest mir die Hand und
- warst ganz erfüllt vom Verlangen, dem künftigen Mitkämpfer zu helfen.
- Wie wohlwollend und liebevoll war dein Blick! ... Was war es, das uns,
- zwei Menschen von so verschiedenem Alter, zusammenführte? Es war die
- Kunst! Wir fühlten, daß zwischen uns eine Verwandtschaft bestand, die
- stärker war als die gewöhnliche Blutsverwandtschaft. Und woher kam das?
- Weil wir beide etwas von der Heiligkeit der Kunst verspürt hatten.
- Es ist nicht meine Sache, zu entscheiden, in welchem Maße ich Dichter
- bin; ich weiß nur das eine, daß ich, noch ehe ich die Bedeutung und das
- Ziel der Kunst verstehen lernte, schon wie durch einen geheimen Instinkt
- meiner ganzen Seele empfand, daß sie was Heiliges sein müsse. Und so
- wurde sie denn, wohl von dieser unserer ersten Begegnung ab, das
- _Erste_, die _wichtigste Angelegenheit_ meines Lebens, während alles
- andere an die zweite Stelle rückte. Es schien mir so, als ob ich mich
- von nun ab durch keine anderen Bande mehr an die Erde fesseln lassen
- dürfte, weder durch die Familie, noch durch das amtliche Leben des
- Bürgers, und daß die literarische Laufbahn auch eine Art Dienst sei.
- Noch gab ich mir keine Rechenschaft (konnte ich sie mir denn damals auch
- geben?), was der Gegenstand meiner literarischen Tätigkeit sein müsse,
- aber schon regte sich die schöpferische Kraft in mir und ich wurde durch
- die näheren Lebensumstände selbst auf bestimmte Gegenstände hingewiesen.
- Dies alles spielte sich gleichsam unabhängig von meiner eigenen (freien)
- Willkür ab. So dachte ich zum Beispiel niemals daran, daß ich einmal ein
- satirischer Schriftsteller werden und meine Leser zum Lachen reizen
- würde. Allerdings hatte ich schon in der Schule bisweilen eine gewisse
- Neigung zur Lustigkeit und ich plagte meine Mitschüler mit unpassenden
- Scherzen. Aber das waren vorübergehende Anwandlungen; im allgemeinen
- hatte ich eher einen melancholischen Charakter und ein zum Nachdenken
- neigendes Wesen. Später kamen noch Krankheit und Hypochondrie dazu, und
- diese Krankheit und Hypochondrie waren die Ursache jener ausgelassenen
- Lustigkeit, die sich in meinen ersten Werken bemerkbar macht. Um mich
- selbst zu zerstreuen, pflegte ich mir ohne jede weitere Absicht und ganz
- planlos gewisse Charaktere auszudenken, die ich dann in komische
- Situationen versetzte -- und das war der Ursprung meiner Erzählungen!
- Meine Leidenschaft für die Menschenbeobachtung, die mich schon seit den
- frühesten Tagen meiner Kindheit erfüllte, verlieh meinen Gestalten etwas
- Natürliches; man sagte sogar von ihnen, es seien getreue Porträts nach
- der Natur. Dazu kommt noch ein anderer Umstand: mein Lachen hatte
- anfänglich etwas Gutmütiges, ich dachte gar nicht daran, irgendein Ding
- in einer ganz bestimmten Absicht zu verspotten, und ich war aufs höchste
- erstaunt, wenn ich hörte, es fühle sich jemand gekränkt oder ganze
- Gesellschaftsklassen und -stände zürnten mir darob, so daß ich
- schließlich nachdenklich wurde. »Wenn die Macht des Gelächters so groß
- ist, daß man es fürchtet, so darf man es nicht mißbrauchen.« Ich
- entschloß mich also, alles Schlechte, das mir bekannt war, zu sammeln,
- in einem Ganzen zusammenzufassen und dann dieses Ganze dem Gelächter
- preiszugeben -- so entstand der »Revisor«. Das war mein erstes Werk, das
- aus der Absicht entsprang, einen heilsamen Einfluß auf die Gesellschaft
- auszuüben, was mir übrigens nicht gelungen ist: man hat aus der Komödie
- die Absicht herauserkennen wollen, die gesetzliche Ordnung und unsere
- Regierungsform zu verspotten, während ich nur die eigenmächtige
- Übertretung dieser rechtmäßigen und gesetzmäßig sanktionierten Ordnung
- durch einzelne Personen verspotten wollte. Ich zürnte sowohl meinen
- Zuschauern, die mich nicht verstanden hatten, als auch mir selbst, der
- die Schuld daran trug, daß ich nicht verstanden worden war. Ich wollte
- entfliehen und alles im Stiche lassen. Meine Seele dürstete nach der
- Einsamkeit, ich hatte das Bedürfnis, aufs ernsthafteste über meinen
- Beruf und meine Tätigkeit nachzudenken. Schon lange trug ich mich mit
- dem Gedanken an ein _großes Werk_, in dem alles Gute und Böse, das es im
- russischen Menschen gibt, dargestellt und in dem die _Eigenart_ unseres
- russischen Wesens möglichst klar und deutlich sichtbar gemacht werden
- sollte. Ich sah und konnte wohl viele von den Teilen einzeln erfassen,
- aber der Plan des Ganzen wollte sich mir nicht zu voller Klarheit
- gestalten und so bestimmte Formen annehmen, daß ich ans Werk gehen und
- mit der Niederschrift beginnen konnte. Bei jedem Schritt fühlte ich, daß
- mir noch vieles fehlte, daß ich es noch nicht verstand, den Knoten der
- Vorgänge und Begebenheiten zu schürzen und ihn wieder zu lösen, und daß
- ich erst bei den großen Meistern in die Schule gehen und von ihnen
- lernen mußte, wie man ein großes Werk aufbauen und komponieren muß. Ich
- begann also die großen Meister zu studieren und machte zunächst den
- Anfang mit unserem lieben Homer. Schon kam es mir so vor, als ob ich
- etwas zu verstehen begann und sogar anfing, mir ihre Methoden und sogar
- ihre Kunstgriffe zu eigen zu machen, -- allein die schöpferische
- Fähigkeit wollte sich noch immer nicht einstellen. Mein Kopf tat mir weh
- von all der Anstrengung. Nur unter Aufwendung großer Mühen gelang es
- mir, wenigstens den ersten Teil der »Toten Seelen« herauszugeben,
- gleichsam um hierbei zu erkennen, wie weit ich noch von dem Ziele
- entfernt war, nach dem ich strebte. Danach aber wurde ich wieder von
- einer unfruchtbaren Stimmung erfaßt. Ich kaute an meiner Feder, meine
- Nerven und alle meine Kräfte waren in einem Zustande der Erregung -- und
- es kam nichts zustande, ich glaubte schon, ich hätte die Fähigkeit zum
- literarischen Schaffen völlig verloren. Da ließen mich plötzlich
- Krankheit und schwere seelische Zustände dies alles, ja sogar jeden
- Gedanken an die Kunst vergessen und lenkten mich wieder auf das hin,
- wozu ich schon früher, noch ehe ich Schriftsteller geworden war, immer
- Lust verspürt hatte -- nämlich auf die Beobachtung des inneren Menschen
- und der _Menschenseele_. Oh, um wieviel tiefer ist die Erkenntnis, die
- einem aufgeht, wenn man mit seiner eigenen Seele beginnt! Auf diesem
- Wege trifft man auch ganz unwillkürlich _näher_ mit _Ihm_ zusammen, Der
- allein unter allen Menschen, die bisher auf Erden wandelten, in Seiner
- Person eine volle Erkenntnis der Menschenseele an den Tag gelegt hat;
- selbst wenn die Welt Seine Göttlichkeit leugnen wollte, diese
- Eigenschaft könnte sie Ihm niemals abstreiten, es sei denn, daß sie
- nicht bloß _blind_, sondern ganz einfach _dumm_ geworden wäre. Durch
- diese schroffe Wendung, die nicht mit meinem Willen geschah, wurde ich
- dazu veranlaßt, überhaupt tiefer in die Seele hinabzublicken, um zu
- erfahren, daß es höhere Grade und höhere Erscheinungsformen des
- Seelischen gibt. Von da ab begann die schöpferische Fähigkeit wieder in
- mir zu erwachen: wieder beginnen lebendige Gestalten in voller Klarheit
- vor mir aus dem Nebel emporzutauchen, ich fühle, daß die Arbeit mir
- glücken, ja, daß selbst meine Sprache korrekt und klangvoll werden und
- daß mein Stil erstarken wird. Vielleicht wird noch einmal ein künftiger
- Kreisschullehrer unmittelbar nach einer Seite aus einem Werke von dir
- seinen Schülern eine Seite aus meiner künftigen Prosa vorlesen und
- erklärend hinzufügen: »Beide Schriftsteller haben richtig geschrieben,
- obwohl sie einander nicht gleichen.« Die Herausgabe meines Buches
- »Briefwechsel mit meinen Freunden«, mit der ich mich (aus lauter Freude,
- daß meine Feder wieder einmal in Schwung gekommen war) so beeilt habe,
- ohne zu überlegen, daß ich, bevor ich mit diesem Buche jemand zu nützen
- vermochte, mit ihm vielen Leuten den Kopf verwirren konnte, hat mir
- selbst manchen Vorteil gebracht. An diesem Buche ist es mir klar
- geworden, wo und in welchem Punkte ich ein Opfer jener Maßlosigkeit und
- des Überschwangs geworden bin, dem in dem Übergangszustande, in dem sich
- die Gesellschaft gegenwärtig befindet, fast jeder vorwärtsschreitende
- Mensch verfällt. Trotz der Parteilichkeit, mit der dieses Buch beurteilt
- wurde, und trotz der Widersprüche in der Beurteilung, kam doch
- schließlich die allgemeine Stimme zur Geltung, die mir meinen Platz
- anwies und mich auf die Grenzen aufmerksam machte, die ich als
- Schriftsteller nicht überschreiten durfte. In der Tat, es ist nicht
- meine Aufgabe, durch Predigen zu belehren. Die Kunst ist auch ohnedies
- schon eine Lehrmeisterin. Meine Aufgabe ist es, durch _lebendige Bilder_
- und nicht in der Form der Beweisführung zu den Menschen zu sprechen. Ich
- muß das _Leben_ selbst und _als solches_ darstellen und nicht
- Betrachtungen _über_ das Leben anstellen. Das ist eine völlig evidente
- Wahrheit. Aber es ist die Frage: hätte ich auch ohne diesen großen Umweg
- ein würdiger Vertreter der Kunst und ein schöpferischer Künstler werden
- können? hätte ich das Leben so in seinen Tiefen darstellen können, daß
- es den Menschen wirklich zur Belehrung dienen konnte? Wie vermöchte man
- Menschen darzustellen, wenn man nicht vorher erkannt hat, was die _Seele
- des Menschen_ ist? Ein Schriftsteller muß, wenn er bloß die
- schöpferische Gabe besitzt, eigene Gestalten und Bilder zu produzieren,
- erst einen Menschen und Bürger seines Landes aus sich machen; erst dann
- darf er zur Feder greifen! Sonst wird ihm alles mißlingen. Was hilft's,
- die Verächtlichen und Lasterhaften zu treffen, indem man sie vor allen
- Menschen an den Pranger stellt, wenn das Ideal ihres Widerparts, das
- Ideal des schönen Menschen in uns selbst noch nicht zur Klarheit und
- Deutlichkeit gediehen ist? Wie soll man die Fehler und das Unwürdige im
- Menschen darstellen, wenn man sich selbst noch nicht die Frage vorgelegt
- hat: worin besteht denn eigentlich die Menschenwürde? und so lange man
- noch keine einigermaßen befriedigende Antwort auf diese Frage gefunden
- hat? Wie soll man die Ausnahmen verspotten, wenn man sich noch nicht
- ganz über die Regeln klar ist, deren Ausnahmen die dargestellten Objekte
- bilden? Das hieße doch das alte Haus einreißen, ehe man die Möglichkeit
- hat, ein neues an seiner Stelle zu erbauen. Aber Kunst hat nichts gemein
- mit Zerstörung. In der Kunst liegt ein Keim des Schöpferischen, ein
- aufbauendes Element und nicht ein Element der Zerstörung. Das hat man
- stets empfunden, selbst in Zeiten der allgemeinen Finsternis und
- Unwissenheit. Bei den Klängen der orphischen Leier wurden Städte erbaut.
- Trotz des noch ungeklärten und ungeläuterten Begriffs, den unsere
- Gesellschaft von der Kunst hat, hört man doch schon allgemein sagen:
- »Die Kunst versöhnt mit dem Leben.« Das ist wirklich wahr. Ein echtes
- Kunstwerk enthält etwas Beruhigendes, Versöhnendes in sich. Während wir
- es lesen, erfüllt sich unsere Seele mit einer ebenmäßigen Harmonie, und
- wenn man es zu Ende gelesen hat, fühlt sie sich befriedigt: man wünscht
- nichts mehr, man verlangt nach nichts, es regt sich kein Zorn und keine
- Entrüstung wider unseren Bruder in unseren Herzen, eher noch ergießt
- sich in ihm der Balsam einer alles vergebenden Liebe zu unseren Brüdern;
- überhaupt regt sich kein _Tadel_ gegen die Handlungsweise der anderen in
- uns, sondern alles fordert uns zur _Betrachtung_ unseres eigenen Ichs
- auf. Wenn vom Werk des Künstlers keine solche Wirkung ausgeht, so ist es
- nichts als die edle Regung einer glühenden Seele, die Frucht einer
- vorübergehenden Stimmung des Autors. Es wird wohl weiterleben, wie eine
- beachtenswerte Erscheinung, aber sich nicht den Namen eines Kunstwerks
- verdienen. Und das mit Recht. Die Kunst ist eine Macht, die mit dem
- Leben versöhnt.
- Die Kunst soll unsere Seele mit Harmonie und Ordnung erfüllen und nicht
- Verwirrung und Verstimmung in sie hineintragen. Die Kunst soll uns die
- Menschen unserer Erde so darstellen, daß ein jeder das Gefühl hat: das
- sind _lebendige_ Menschen, die demselben Leibe entstammen und aus
- demselben Stoffe geschaffen sind wie wir. Die Kunst soll uns alle edlen
- Züge und Eigenschaften unseres _Volks_charakters vor Augen führen,
- selbst die nicht ausgenommen, denen es an einem Spielraum für ihre freie
- Entfaltung fehlte und die daher noch nicht von allen beachtet und in dem
- Maße gewürdigt sind, daß jeder sie in sich selbst entdeckt und von dem
- glühenden Wunsche ergriffen wird, das bisher von ihm Vernachlässigte und
- längst Vergessene zu pflegen und zur Entwicklung zu bringen.
- Die Kunst muß uns auch alle schlechten Züge und Eigenschaften unseres
- Volkscharakters so vor Augen führen, daß jeder von uns ihre Keime vor
- allem in sich selbst wiederfindet und veranlaßt wird, darüber
- nachzudenken, wie er zunächst einmal in sich selbst alles, was die hohe
- Würde unseres Wesens verdunkelt, ausrotten könne. Erst dann und erst auf
- diese Weise wird die Kunst ihre Bestimmung erfüllen und Ordnung und
- Harmonie in die menschliche Gesellschaft hineintragen.
- So laß uns denn, nachdem wir zu Gott gebetet und seinen Segen auf uns
- herabgefleht haben, kraftvoller als je wieder an unsere liebe Kunst
- gehen. Was mich anbetrifft, so will ich alles andere auf eine künftige
- Zeit verschieben (wenn ich je durch Gottes Gnade dessen im geringsten
- würdig werden sollte) und mich in intensivster Weise den »Toten Seelen«
- widmen. Ich will nach Jerusalem reisen (dies muß ich um jeden Preis tun,
- denn ich müßte mich schämen, wenn ich es nicht täte). Ich will dort, so
- gut ich kann, Gott meinen Dank für alles Vergangene aussprechen; ich
- will dort beten, daß meine Seele gekräftigt werde und meine Fähigkeiten
- und Geisteskräfte sich sammeln und konzentrieren mögen, und dann mit
- Gott an die Arbeit gehen. Wie lebhaft und innig wünschte ich, daß Gott
- uns wieder einmal zusammenführen möge, und daß wir wieder einmal eine
- Zeitlang in Moskau nahe beieinander leben könnten. Jetzt wäre es noch
- notwendiger, uns das von uns Geschriebene noch einmal vorzulesen und
- übereinander zu Gericht zu sitzen. Sodann gratuliere ich dir zum neuen
- Jahr. Gebe Gott, daß es für uns beide ein recht fruchtbares Jahr werde,
- weit fruchtbarer als die verflossenen Jahre. Und nun leb' wohl, mein
- Lieber! Ich küsse dich und umarme dich innig. Schreibe mir. Dein Brief
- wird mich noch in Neapel erreichen. Vor dem Februar gedenke ich nicht
- aufzubrechen.
- Ich umarme deine ganze liebe Familie sowie die Reuterns.
- Dein G.
- Wenn du findest, daß dieser Brief einigen Wert hat, so hebe ihn auf. Man
- könnte ihn in der zweiten Auflage des »Briefwechsels« an die Spitze des
- Buches, d. h. an die Stelle des »Testaments« stellen, das fortgelassen
- werden soll, und ihm den Titel geben: »_Die Kunst ist die Macht, die uns
- mit dem Leben versöhnt._«
- Ich will dich immer noch etwas fragen und vergesse es jedesmal: besitzt
- du nicht die lateinische Übersetzung der Odyssee mit untergelegtem Text,
- die neulich in Paris erschienen ist. Es ist eine sehr schöne Ausgabe.
- Der ganze Homer in einem Bande Groß-Oktav _editore Ambrosio Firmin Didot
- Parisiis 1846_. Ich hatte den Eindruck, daß die Übersetzung recht
- anständig sei, und sie könnte dir weit mehr nützen als alle anderen.
- Meine Adresse lautet: Neapel, _poste restante_, oder noch besser, _Hôtel
- de Rome_; damit jedoch der Brief nicht nach der _Stadt_ Rom gesandt
- wird, muß das Wort Neapel recht deutlich und in die Augen fallend
- geschrieben werden.
- Betrachtungen
- über die
- Heilige Liturgie
- 1845-1852.
- Vom Moskauer Geistlichen Zensur-Komitee zum Druck
- genehmigt.
- Moskau, den 9. Februar 1889.
- Der Zensor: Priester Grigori Djatschenko.
- Vorrede
- Der Zweck dieses Buches ist, jungen Leuten und Anfängern, die noch
- keinen rechten Begriff von der Bedeutung unserer Liturgie haben, zu
- zeigen, in welcher Vollständigkeit sie bei uns zelebriert wird und welch
- tiefer Zusammenhang in ihr herrscht. Aus allen den zahlreichen
- Erklärungen, die von den Kirchenvätern und -lehrern herrühren, sind hier
- nur die ausgewählt, die wegen ihrer Einfachheit und Verständlichkeit von
- jedermann begriffen werden können und die in erster Linie dazu dienen,
- die notwendige und richtige Ordnung, gemäß der eine Handlung aus der
- anderen hervorgeht, begreiflich zu machen[3]. Der Zweck, den der Autor
- mit der Herausgabe dieses Buches verfolgte, war der: dazu beizutragen,
- daß sich der Leser eine Vorstellung von der Ordnung und Reihenfolge des
- Ganzen bilde. Er ist überzeugt, daß sich jedem, der der Liturgie mit
- Aufmerksamkeit folgt und jedes Wort bei sich wiederholt, ihre tiefe
- innere Bedeutung von selbst erschließen wird.
- [Fußnote 3: Alle anderen Leser, die den Wunsch hegen, auch die
- geheimnisvolleren und tieferen Erklärungen kennen zu lernen, können
- solche in den Werken der Patriarchen: Hermann, Jeremias, Nikolaus
- Kawassil, Simeon von Saloniki, in der Alten und Neuen Tafel, in den
- Kommentaren Dimitrijews und endlich in einzelnen ... finden.]
- Einleitung
- Die Göttliche Liturgie ist die ewige Wiederholung des großen
- Liebeswerkes, das für uns geschehen ist. Tief bekümmert über ihre
- Gebrechen und Unvollkommenheiten hatten die Menschen überall und an
- allen Enden der Welt ihren Schöpfer um Hilfe angefleht -- sowohl die,
- die in der Finsternis des Heidentums verharrten, als auch die, die keine
- Gotteserkenntnis besaßen --, fühlten sie doch, daß hier auf Erden
- Ordnung und Harmonie nur durch Den hergestellt werden könnten, Der die
- von Ihm selbst erschaffenen Welten geheißen hatte, sich in streng
- geregelten Bahnen zu bewegen. Überall rief die schmerzbewegte Kreatur
- ihren Schöpfer herbei. Alles schrie qualvoll zum Urheber seines Daseins
- empor, und diese Klagen tönten am lautesten und deutlichsten aus dem
- Munde der Auserwählten und der Propheten. Man hatte ein dunkles
- Vorgefühl, ja man wußte, daß der Schöpfer, Der sich hinter Seinen Werken
- versteckt hatte, noch einmal persönlich vor die Menschen treten -- daß
- Er in Gestalt keines Geringeren als jenes von Ihm selbst nach Seinem
- Bilde erschaffenen Wesens vor ihnen erscheinen würde. Sowie sich die
- Begriffe, die man sich von der Gottheit machte, zu reinigen begannen,
- tauchte überall der Gedanke einer irdischen Menschwerdung Gottes auf.
- Nirgends aber wurde mit solcher Klarheit und Deutlichkeit davon
- gesprochen, wie bei den Propheten des von Gott auserwählten Volkes.
- Seine reine Fleischwerdung durch die reine Jungfrau wurde selbst von den
- Heiden vorausgeahnt, nirgends jedoch in jener leuchtenden greifbaren
- Klarheit wie bei den Propheten.
- Diese Klagen fanden Erhörung: Er kam in die Welt, durch Den die Welt
- erschaffen ward. Er erschien unter uns in Menschengestalt, wie es die
- Menschen -- selbst in der finstersten Finsternis des Heidentums
- vorausgeahnt und dunkel gefühlt hatten -- nur nicht in _der_ Weise, wie
- man es sich zufolge der noch ungeläuterten Begriffe vorgestellt hatte --
- nicht in stolzer Pracht und Majestät, nicht als Richter, der da kommt,
- um die Verbrecher zu strafen, die einen zu vernichten und die anderen zu
- belohnen. O nein! Man vernahm nichts als einen sanften Bruderkuß. Er
- erschien in _der_ Gestalt, wie sie nur Gott allein eigentümlich ist, und
- wie sie die göttlichen Propheten, an die Gottes Gebot ergangen war,
- vorgebildet hatten.
- Das Offertorium
- (_Proscomidia_)
- Der Priester, der die Liturgie zelebrieren soll, muß schon am Vorabend
- auf körperliche und geistige Nüchternheit Wert legen und Enthaltsamkeit
- üben, er muß sich mit allen Menschen ausgesöhnt haben und sich davor
- hüten, noch etwas wie Ärger oder Zorn gegen irgend jemand zu hegen. Wenn
- dann die Stunde gekommen ist, betritt er die Kirche. Der Diakon und er
- beugen sich anbetend vor der Königspforte, küssen das Bild des Heilands,
- das Bild der Mutter Gottes, verbeugen sich vor allen Heiligen, verneigen
- sich nach rechts und links vor allen Anwesenden, indem sie hierdurch
- alle um Vergebung bitten, und betreten den Altarraum, wobei sie still
- für sich die Worte des Psalms sprechen. »Ich aber will in Dein Haus
- gehen und anbeten gegen Deinen heiligen Tempel in Deiner Furcht.« Sodann
- treten sie vor den Hochaltar, fallen [mit dem Gesicht gen Osten gewandt]
- dreimal vor ihm nieder und küssen das auf ihm liegende Evangelium, als
- wäre der auf dem Hochaltar Thronende Gott selbst, sie küssen auch den
- heiligen Abendmahlstisch und gehen sodann hin, sich in die heiligen
- Gewänder zu hüllen, um sich hierdurch nicht nur von den anderen Menschen
- zu unterscheiden, sondern auch um sich von sich selbst zu befreien,
- damit nichts an ihnen an einen Menschen erinnere, der noch seinen
- alltäglichen irdischen Geschäften nachgeht. Mit den Worten »Gott!
- reinige mich armen Sünder und erbarme Dich meiner!« erfassen Priester
- [und Diakon] die Gewänder. Zuerst zieht sich der Diakon an; er bittet
- den Priester um seinen Segen und legt das Chorhemd (Sticharion) und ein
- Untergewand von glänzender, leuchtender Farbe an, das gleichsam zum
- Symbol des lichten Engelskleides dient und die makellose Herzensreinheit
- andeuten soll, die unzertrennlich mit dem Priesteramt verbunden sein
- muß. Daher spricht er auch, während er sich den Rock anzieht, die Worte:
- »Ich freue mich im Herrn, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott:
- denn Er hat mich angezogen mit Kleidern des Heils und mit dem Rock der
- Gerechtigkeit gekleidet, wie einen Bräutigam mit priesterlichem Schmuck
- gezieret und wie eine Braut in ihrem Geschmeide.«
- Hierauf nimmt er die Stola und küßt sie; dies ist ein langes schmales
- Band, das Kennzeichen des Diakonenamts, mit dem er zu Beginn jeder
- kirchlichen Handlung das Zeichen gibt, die Gemeinde zum Gebet, die
- Sänger zum Singen, den Priester zur Verrichtung der heiligen Handlungen
- und sich selbst zu engelhafter Geschwindigkeit und Bereitschaft zum
- heiligen Dienste aufruft. Denn der Beruf des Diakons gleicht dem der
- Engel im Himmel, und durch dies schmale Band, das er an sich trägt, und
- das gleich einem ätherischen Flügel in der Luft flattert, sowie durch
- sein schnelles Durcheilen der Kirche stellt er nach dem Wort des
- Johannes Chrysostomus den Flug der Engel dar.
- Nachdem er das Band geküßt hat, befestigt er es an der Schulter. Sodann
- legt er die Armbänder oder Überärmel an, die dicht über dem Handgelenk
- zusammengebunden werden, um den Händen eine größere Freiheit und
- Leichtigkeit bei der Verrichtung der bevorstehenden heiligen Handlung zu
- verleihen. Während er sie anzieht, denkt er über die unablässig alles
- erschaffende, überall wirksame Kraft Gottes nach, und indem er den
- rechten Überärmel anzieht, spricht er: »Herr, Deine rechte Hand tut
- große Wunder. Herr, Deine rechte Hand hat die Feinde zerschlagen, und
- mit Deiner großen Herrlichkeit hast Du Deine Widerwärtigen gestürzt.«
- Dann zieht er den linken Überärmel an und denkt dabei an sich selbst,
- daß er ein Werk von Gottes Hand sei, und er betet zu Ihm, Der ihn
- erschaffen hat, Er möge ihn lenken und leiten und ihm Seine höchste
- himmlische Führung zuteil werden lassen, und er spricht: »Deine Hand hat
- mich gemacht und bereitet. Unterweise mich, daß ich Deine Gebote lerne.«
- In derselben Weise kleidet sich auch der Priester an. Zuerst segnet er
- den Priesterrock, den er dann anzieht, indem er diesen Akt mit denselben
- Worten begleitet wie der Diakon; nach dem Priesterrock aber legt er sich
- die Stola an, jedoch nicht die einfache, sondern eine solche, die beide
- Schultern bedeckt, den Hals umschließt und deren beide Enden sich wieder
- auf der Brust vereinigen und so in eins verbunden bis an den unteren
- Saum seines Kleides hinabreichen; hiermit soll angedeutet werden, daß
- sich in seinem Amte zwei Ämter vereinigen -- das des Priesters und das
- des Diakons. Auch heißt das Kleidungsstück nicht mehr Orarion, sondern
- Epitrachil, und es symbolisiert, indem es angelegt wird, die Ausgießung
- der himmlischen Gnade über die Priester; daher wird dieser Akt auch von
- den erhabenen Worten der Heiligen Schrift begleitet: »Gelobt sei Gott,
- Der Seine Gnade ausgießet über seine Priester wie das Salböl, das von
- dem Haupte Aarons herabfließet auf seinen Bart und auf den Saum seines
- Kleides.« Sodann zieht der Priester beide Überärmel an, indem er diese
- Handlung mit denselben Worten begleitet wie der Diakon, und umgürtet
- sich mit einem Gürtel, der Chorrock und Stola umschließt, damit das
- weite bauschige Gewand ihn nicht bei der Verrichtung der heiligen
- Handlung behindere und um durch diese Umgürtung seine Dienstbereitschaft
- anzudeuten, denn der Mensch pflegt den Gürtel anzulegen, wenn er sich
- reisefertig macht, wenn er ein Werk in Angriff nimmt oder zur Tat
- schreitet; so legt auch der Priester den Gürtel an, indem er seinen Weg
- antritt und sich zum himmlischen Dienste vorbereitet. Er betrachtet
- seinen Gürtel wie eine Feste der göttlichen Macht, die ihn stärkt und
- kräftigt, und er spricht: »Gelobt sei Gott, Der mich mit Kraft umgürtet
- und meinen Weg untrüglich macht, meine Füße geschwinder denn die des
- Hirsches und stellt mich auf die Höhe,« d. h. in das Haus des Herrn.
- Wenn er jedoch eine höhere priesterliche Würde innehat, so hängt er ein
- viereckiges Stück Tuch an einer seiner Ecken an seine Lende; es
- symbolisiert das geistige Schwert, die alles überwindende Kraft des
- göttlichen Wortes und ist ein Zeichen des ewigen Krieges, der dem
- Menschen auf Erden bevorsteht -- und kennzeichnet den Sieg über den Tod,
- den Christus vor aller Welt errungen hat, auf daß der unsterbliche Geist
- des Menschen mutig den Kampf aufnehme wider die Verwesung. Daher gleicht
- dies Stück Tuch auch einer starken Streitwaffe, und es wird am Gürtel an
- der Lende aufgehängt, in der die Kraft des Menschen liegt, und dieser
- Akt wird von einem Anruf des Herrn selbst begleitet: »Gürte dein Schwert
- an deiner Seite, du Held, und schmücke dich schön. Es müsse dir gelingen
- in deinem Schmuck, ziehe einher der Wahrheit zugute, und die Elenden bei
- Recht zu behalten; so wird deine rechte Hand Wunder beweisen.« Endlich
- legt der Priester noch das Psalonion, ein Gewand zum Symbol der höchsten
- alles umfassenden Gerechtigkeit Gottes an, und er begleitet diese
- Handlung mit den Worten: »Deine Priester laß sich kleiden mit
- Gerechtigkeit und Deine Heiligen sich freuen.«
- Also ausgerüstet mit der göttlichen Rüstung steht der Priester nunmehr
- als ein anderer Mensch da: was er auch selbst und an sich für ein
- Mensch, so unwürdig er seines Amtes sein mag, alle, die im Tempel
- weilen, blicken auf ihn [als auf] ein Werkzeug Gottes, das vom Heiligen
- Geist erfüllt ist. Der Priester und der Diakon waschen sich sodann beide
- die Hände, indem sie die Worte des Psalms sprechen: »Ich wasche meine
- Hände in Unschuld und halte mich zu Deinem Altar.« Dann verbeugen sie
- sich dreimal, indem sie sprechen: »Gott, reinige mich Armen von meinen
- Sünden und erbarme Dich meiner!« und erheben sich gereinigt und
- erleuchtet, gleich ihrer leuchtenden Kleidung, in nichts mehr an andere
- Menschen erinnernd und eher einer strahlenden Vision als einem Menschen
- gleichend.
- Der Diakon kündigt den Beginn der heiligen Handlung an, indem er
- spricht: »Segne uns, o Herr!«, der Priester eröffnet die Feier mit den
- Worten: »Gelobt sei Gott, jetzt und immerdar, hinfort und in alle
- Ewigkeit!« und tritt dann an den Seitenaltar. Dieser ganze Teil des
- Gottesdienstes besteht in der Zubereitung alles dessen, was zu einer
- heiligen Handlung erforderlich ist: während dieses Teils des
- Gottesdienstes werden die Stücke Brot von den Prosphoren oder Opfergaben
- abgesondert, die zu Anfang den Leib Christi repräsentieren und sich
- sodann in ihn verwandeln sollen.
- Da das ganze Offertorium nichts anderes ist als eine bloße Vorbereitung
- auf die Liturgie, hat die Kirche die Erinnerung an die ersten
- Lebensjahre Christi an sie geknüpft, waren doch diese auch eine
- Vorbereitung auf seine großen Werke, die er später auf Erden
- vollbrachte. Das Offertorium spielt sich ganz im Innern des Altarraumes
- bei geschlossenen Türen und zugezogenem Vorhang ab, ohne daß die
- Gemeinde etwas davon sieht, wie ja auch Christus seine ersten
- Lebensjahre ganz im Verborgenen verbrachte, ohne daß das Volk etwas von
- Ihm erfuhr. Für die andächtige Gemeinde aber werden während dieser Zeit
- die »Horen«[4] gelesen -- eine Sammlung von Psalmen und Gebeten, die die
- Christen an den vier wichtigsten Tageszeiten zu lesen pflegten, um die
- erste Stunde, wenn für die Christen [der Morgen] begann, um die dritte,
- d. h. um die Stunde, als sich der Heilige Geist herabsenkte, um die
- sechste, d. h. also um die Stunde, als der Erlöser der Welt ans Kreuz
- geschlagen wurde, und um die neunte Stunde, als Er Seinen Geist aufgab.
- Da der Christ von heute aus Mangel an Zeit und wegen der unablässigen
- Zerstreuungen nicht in der Lage ist, diese Gebete zu den angegebenen
- Stunden zu verrichten, werden sie allesamt bei dieser Gelegenheit
- verlesen.
- [Fußnote 4: Tschassy.]
- Der Priester tritt nun vor den Seitenaltar oder die Prothesis hin, die
- sich in einer Wandnische befindet und die alte seitliche Vorratskammer
- des Tempels symbolisieren soll, und nimmt eines der Weihbrote heraus, um
- aus ihm den Teil zu gewinnen, der sich später in den Leib Christi
- verwandeln soll: es ist dies das mit einem Siegel versehene Mittelstück,
- das den Namen Jesu Christi trägt. Durch die Absonderung eines Teils vom
- ganzen Brote deutet er auf den Akt der Trennung des Fleisches Christi
- vom Fleisch der Jungfrau -- deutet er auf die Geburt des Immateriellen
- aus dem Fleische hin. Und indem er sich vorstellt, daß Er geboren wird,
- Der Sich für die ganze Welt zum Opfer brachte, verbindet sich für ihn
- damit erneut und unfehlbar der Gedanke an das Opfer und an die Opfertat
- selbst, und er erkennt im Brote das Lamm, das geopfert ward, und im
- Messer, mit dem er das Brot zerteilt, das Opfermesser, das das Aussehen
- einer Lanze hat, zur Erinnerung an die Lanze, mit der der Leib des
- Heilands am Kreuze durchstochen ward. Nun aber begleitet er seine
- Handlung nicht mit den Worten des Heilands, noch mit den Worten derer,
- die Zeugen der damaligen Vorgänge waren, er versetzt sich nicht in die
- Vergangenheit, d. h. in die Zeit, da diese Opfertat vollbracht wurde:
- dies geschieht später im letzten Teile der Liturgie; er erschaut dieses
- kommende Ereignis von ferne mit ahnender Seele, daher begleitet er auch
- die ganze heilige Handlung mit den Worten des Jesaias, der aus der
- fernen Zeit und durch die Finsternis der Jahrhunderte hindurch die
- künftige wundersame Geburt, die Selbstaufopferung und den Tod des
- Heilands vorausahnte und dies mit einer schier unbegreiflichen Klarheit
- vorausverkündigte. Indem der Priester die Lanze in den rechten Teil des
- Siegels stößt, spricht er die Worte des Propheten Jesaias: »Wie ein Lamm
- wird Er zur Schlachtbank geführt,« dann stößt er die Lanze in den Teil,
- der zur Linken liegt, und spricht: »Und wie ein unschuldiges Lamm sich
- stumm scheren läßt, so öffnet er seinen Mund nicht,« dann versenkt er
- die Lanze in den oberen Teil des Siegels und spricht: »Um Seiner Demut
- willen ward Er verdammt,« stößt ihn dann in den unteren Teil, indem er
- die Worte des Propheten wiederholt, der über die wunderbare Herkunft des
- Opferlammes nachsinnt: »Wer vermag zu sagen, aus welchem Geschlechte Er
- stammt?«
- Endlich hebt er das herausgeschnittene Mittelstück des Brotes auf der
- Lanze empor und spricht: »Denn Sein Leib ward von der Erde
- hinweggenommen,« und schneidet hierauf kreuzweise -- den Kreuzestod des
- Heilands symbolisierend -- das Opferzeichen hinein, gemäß dem es während
- der kommenden heiligen Handlung gebrochen wird. Dazu spricht er:
- »Geopfert wird das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, zum Leben und
- zum Heil der Welt.« Nachdem er sodann das Brot so hingelegt hat, daß das
- Siegel unten, der herausgeschnittene Teil oben liegt und das geopferte
- Lamm versinnbildlicht, stößt er die Lanze in die rechte Seite -- wodurch
- die Hinschlachtung des Opfers symbolisiert, zugleich aber auch darauf
- hingedeutet werden soll, daß die Seite des Heilands von einem am Kreuze
- stehenden Krieger mit der Lanze durchstochen ward. Hierbei spricht er:
- »Der Kriegsknechte einer öffnete Seine Seite mit einem Speer, und
- alsbald ging Blut und Wasser heraus. Und der das gesehen hat, der hat es
- bezeuget, und sein Zeugnis ist wahr.«
- Diese Worte dienen dem Diakon zugleich zum Zeichen, daß nun die Zeit
- gekommen ist, Wasser und Wein in den heiligen Kelch zu gießen. Der
- Diakon, der bisher alles, was der Priester getan, ehrfürchtig und
- andachtsvoll verfolgt hat, indem er ihn bald zum Beginn des heiligen
- Dienstes aufforderte, bald wieder bei jeder Handlung die Worte: »Lasset
- uns beten zu dem Herrn!« vor sich hinmurmelte, gießt nun Wein und Wasser
- in den Kelch, nachdem er beide gemischt und sich den Segen des Priesters
- dazu erbeten hat. So sind nun Wein und Brot vorbereitet, um sich während
- der bevorstehenden heiligen Handlung zu transsubstantiieren.
- Um einen Brauch der alten christlichen Kirche und der heiligen ersten
- Christen zu erfüllen, die sich, wenn sie an Christus dachten, stets auch
- an die Menschen erinnerten, die durch strenge Einhaltung Seiner Gebote
- und durch Heiligkeit ihres Lebenswandels Seinem Herzen am nächsten
- standen, schreitet der Priester zu den anderen Weihbroten, schneidet ein
- Stück zum Andenken an jene heraus und legt die Stücke auf dieselbe
- Patene[5] neben das heilige Brot, das den Herrn selbst darstellt, da ja
- auch jene von dem glühenden Wunsche verzehrt wurden, stets an der Seite
- des Herrn zu weilen. Indem er sodann das zweite Brot ergreift, schneidet
- er ein Stück zum Gedächtnis an die heilige Mutter Gottes heraus und legt
- es zur Rechten des heiligen Brotes hin, indem er die Worte aus dem Psalm
- Davids spricht: »Die Königin trat Dir zur Rechten, in ein goldenes
- Gewand gehüllt und reichlich geschmückt.« Dann nimmt er das dritte Brot,
- das der Erinnerung der Heiligen geweiht ist, und schneidet mit demselben
- Speer neun Stücke aus ihm heraus, die er in drei Reihen zu je drei
- Stücken anordnet. Er schneidet ein Stück zu Ehren Johannes des Täufers,
- ein zweites zu Ehren der Propheten und ein drittes zu Ehren der Apostel
- heraus, und damit hat die erste Reihe und die erste Klasse der Heiligen
- ihren Abschluß erreicht. Sodann schneidet er zu Ehren der heiligen
- Kirchenväter ein viertes Stück, ein fünftes zu Ehren der Märtyrer und
- ein sechstes zu Ehren der heiligen gotterleuchteten Väter und Mütter
- heraus, und damit ist die zweite Reihe und die zweite Klasse der
- Heiligen vollendet. Und endlich schneidet er noch ein siebentes Stück zu
- Ehren der Wundertäter und Uneigennützigen, ein achtes zu Ehren der
- göttlichen Eltern Joachim und Anna und des Heiligen des Tages sowie ein
- neuntes zu Ehren des Johannes Chrysostomus oder Basilius des Großen
- heraus, je nachdem, wem zu Ehren an jenem Tage die Messe gelesen wird.
- Damit ist auch die dritte Reihe und die letzte Klasse der Heiligen
- vollendet, und der Priester legt nun alle neun Brotstücke, die er
- herausgeschnitten hat, auf die heilige Patene zur Linken neben das
- heilige Brot hin. So erscheint Christus inmitten derer, die Ihm am
- nächsten stehen, Er, der in der Heiligkeit Wohnende, wird sichtbar im
- Kreise Seiner Heiligen erblickt, als Gott unter Göttern und Mensch unter
- Menschen.
- [Fußnote 5: Diskos.]
- Hierauf ergreift der Priester das vierte Weihbrot, das der Erinnerung an
- alle Lebendigen geweiht ist, und schneidet aus ihm ein Stück zu Ehren
- des Kaisers, ein zweites zu Ehren der Synode und der Patriarchen und
- ferner noch einige weitere zu Ehren aller rechtgläubigen Christen
- heraus, wo auf Erden sie auch wohnen mögen, und endlich schneidet er
- auch noch für jeden einzelnen von ihnen, dessen er gedenken will und
- dessen zu gedenken man ihn gebeten hat, ein Stück heraus. Dann nimmt der
- Priester das letzte Weihbrot und schneidet Stücke zur Erinnerung an alle
- Verstorbenen aus ihm heraus, indem er für sie betet und Vergebung der
- Sünden für sie erfleht; er betet für die Patriarchen, für die Zaren, die
- Stifter des Tempels, den Erzpriester, der ihm die Priesterweihe erteilt
- hat, wenn dieser bereits verstorben ist, kurz, er schneidet für alle --
- bis auf den letzten Christen -- für den man sich bei ihm verwendet hat
- oder dem zu Ehren er es selbst tun will, ein Stück heraus. Zum Schluß
- fleht er selbst um Vergebung aller seiner Sünden, dann schneidet er ein
- Stück für sich selbst heraus und legt alle Stücke auf die heilige Patene
- unterhalb des heiligen Brotes nieder. So also ist um dies Brot, d. h. um
- das Lamm, das Christus in eigener Person darstellt, Seine ganze Kirche
- versammelt: die triumphierende himmlische, wie die kämpfende irdische.
- Des Menschen Sohn erscheint inmitten der Menschen, um derentwillen er
- Fleisch ward und ein Mensch wurde.
- Sodann nimmt der Priester einen Schwamm und liest alle Krümchen auf der
- Patene zusammen, auf daß nichts von dem heiligen Brote verloren gehe und
- auf daß alles erfüllet werde.
- Dann tritt der Priester vom Altar zurück und fällt vor ihm nieder, als
- beuge er sich vor dem verkörperten Christus selbst; er begrüßt in dieser
- Gestalt das auf der Patene liegende Brot, das Erscheinen des himmlischen
- Brotes auf Erden; er begrüßt es, indem er mit Thymian räuchert, nachdem
- er das Rauchfaß zuvor gesegnet hat und indem er das Gebet spricht: »Wir
- bringen Dir Weihrauch dar, Christus unser Gott, auf daß es dufte von
- geistlichen Wohlgerüchen; nimm ihn an auf Deinen hohen über den Himmeln
- thronenden Altar und sende auf uns herab die Gnade Deines Heiligen
- Geistes.«
- Und der Priester versetzt sich mit allen seinen Gedanken in die Zeit der
- Geburt Christi, indem er Vergangenes in Gegenwärtiges verwandelt, und er
- blickt auf diesen Seitenaltar, als wäre er die geheimnisvolle Krippe,
- darin zu jener Zeit der Himmel zur Erde herabgestiegen war: der Himmel
- war zur Krippe geworden, und die Krippe hatte sich in den Himmel
- verwandelt. Nachdem er den Asteriskos, der aus zwei goldenen Bogen mit
- einem Sterne darüber besteht, umräuchert und auf die Hostienschüssel
- gestellt hat, blickt er ihn an, wie wenn er der Stern wäre, der einst
- über dem Kindlein leuchtete, und er spricht: »Er kam, und der Stern
- stand oben über, da das Kindlein war«: er blickt auf das heilige Brot,
- das für die Opfer bestimmt ist, als wäre es das neugeborene Kindlein,
- als wäre die Patene die Krippe, in der das Kindlein lag, und als wären
- die Decken die Windeln, in die das Kindlein gehüllt war. Nachdem er vor
- der ersten Decke mit Weihrauch geräuchert hat, bedeckt er das heilige
- Brot und die Patene mit ihr und spricht die Worte des Psalms: »Der Herr
- ist König und herrlich geschmückt,« d. h. des Psalms, in dem die
- wunderbare Größe und Herrlichkeit Gottes besungen wird. Hierauf räuchert
- er vor der zweiten Decke mit Weihrauch und bedeckt dann den heiligen
- Kelch mit ihr, indem er spricht: »O Herr Christus, Deine Güte bedeckt
- die Himmel, und die Erde ist Deines Ruhmes voll«. Er nimmt die große
- Decke, die der heilige Aër genannt wird, und bedeckt nun beides: die
- Patene und den Kelch mit ihr, indem er Gott anruft und Ihn bittet, uns
- mit Seinem schützenden Flügel zu bedecken; indem dann beide von dem
- Altar zurücktreten, verbeugen sie sich ehrfürchtig vor dem heiligen
- Brote, ganz so, wie einst die Hirtenkönige das neugeborene Kindlein
- anbeteten; hierauf räuchert der Priester vor der Krippe, zur Erinnerung
- an die wohlriechenden Myrrhen und Weihrauch, die die Weisen dem Kindlein
- zusamt dem kostbaren Golde darbrachten.
- Der Diakon steht auch während dieser Zeit beständig dem Priester
- aufmerksam zur Seite, indem er jede Handlung mit den Worten: »Laßt uns
- beten zu dem Herrn« begleitet oder das Zeichen zum Beginn der heiligen
- Handlung gibt. Endlich nimmt er das Räucherfaß aus den Händen des
- Priesters entgegen und fordert ihn zum Gebet auf, das von den für Ihn
- zubereiteten Gaben handelt und das er nun zu Gott emporsenden soll.
- »Laßt uns beten zu dem Herrn für die kostbaren Gaben, die wir ihm
- darbringen.« Nunmehr beginnt der Priester das Gebet. Obwohl diese Gaben
- zunächst bloß für die Opferhandlung vorbereitet sind, dürfen sie von nun
- ab zu nichts anderem mehr verwendet werden. Der Priester spricht bei
- sich selbst ein Gebet, in dem er schon im voraus auf die Annahme der für
- das bevorstehende Opfer bestimmten Gaben vorbereitet. Dies Gebet lautet
- folgendermaßen: »Gott, unser Gott, Der Du uns das himmlische Brot, die
- Nahrung der ganzen Welt, unserm Herrn und Gott, Jesus Christus, unseren
- Heiland, Erlöser und Wohltäter gesandt hast, Der uns gesegnet und
- geheiligt hat, segne Du selbst, was wir Dir darbieten, und nimm es
- entgegen auf Deinem hoch über den Himmeln thronenden Altar: gedenke auch
- derer in Deiner Güte und Menschenliebe, die Dir dies dargebracht haben,
- sie, um derentwillen es dargebracht wurde, und unser selbst, und erhalte
- uns unschuldig in der Verrichtung Deiner göttlichen Sakramente.« Und
- nach diesem Gebet vollzieht er das Offertorium. Der Diakon räuchert
- unterdessen vor den Schaubroten und sodann kreuzweise vor dem heiligen
- Altar. Er gedenkt der irdischen Geburt Dessen, Der geboren ward, ehe
- denn die Zeit war, der allgegenwärtig und der immerdar überall zugegen
- war, und er spricht bei sich selbst: »Du warst leibhaftig im Grabe, mit
- Deinem Geist in der Hölle, als Gott mit dem Übeltäter im Paradiese und
- auf dem Throne mit dem Vater und dem Heiligen Geiste, alles
- vollbringend, o Christus, Du Unbeschreiblicher.«
- Und er tritt mit dem Räucherfaß in der Hand aus dem Altarraum hervor, um
- die ganze Kirche mit Wohlgerüchen zu erfüllen und alle, die sich zum
- heiligen Mahl der Liebe versammelt haben, willkommen zu heißen. Diese
- Räucherung findet stets zu Beginn des Gottesdienstes statt, wie ja auch
- im häuslichen Leben aller alten Völker des Orients jedem Gast bei seinem
- Eintritt eine Schüssel zum Waschen und Wohlgerüche dargebracht wurden.
- Dieser Brauch hat sich auch an dieses himmlische Festmahl geknüpft, an
- das geheimnisvolle Abendmahl, das den Namen der Liturgie trägt, in der
- sich der Gottesdienst und die brüderliche Bewirtung und Speisung aller
- in so wundersamer Weise vereinigt haben, wovon uns der Erlöser selbst,
- Der selbst allen diente und die Füße wusch, ein Beispiel gegeben hat.
- Indem dann der Diakon räuchert und sich in gleicher Weise vor allen
- verbeugt, vor den Reichsten wie vor den Ärmsten, heißt er, der Diener
- Gottes, sie alle herzlich willkommen als die lieben Gäste des
- himmlischen Wirtes; er räuchert und verbeugt sich dabei ehrfurchtsvoll
- vor den Bildern der Heiligen, denn auch sie sind ja Gäste, die zum
- heiligen Abendmahl erschienen sind: in Christo sind alle lebendig und
- untrennbar miteinander verbunden. Nachdem er alles vorbereitet und den
- Tempel mit Wohlgeruch erfüllt hat, kehrt er in den Altarraum zurück, in
- dem er nochmals räuchert; dann stellt er das Räucherfaß endlich
- beiseite, nähert sich dem Priester, und beide treten vor den heiligen
- Hochaltar.
- Beide treten vor den heiligen Hochaltar hin, beide verneigen sich,
- sowohl der Priester wie der Diakon, dreimal bis zur Erde und rufen,
- indem sie sich nun zu der eigentlichen heiligen Handlung der Liturgie
- anschicken, den Heiligen Geist an, denn ihr ganzer Gottesdienst soll ja
- ein geistiger Dienst sein. Der Geist ist der Lehrer, der uns im Gebet
- unterweist. »Wir wissen nicht, um was wir bitten sollen,« sagt der
- Apostel Paulus, »aber der Heilige Geist selbst tritt für uns ein, mit
- unaussprechlichen Seufzern.« Der Priester und der Diakon flehen den
- Heiligen Geist an, in ihnen Wohnung zu nehmen, sie hierdurch zu reinigen
- und für ihren heiligen Dienst vorzubereiten, wobei sie zweimal
- nacheinander das Lied singen, mit dem die Engel die Geburt Jesu Christi
- begrüßten: »Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen
- ein Wohlgefallen.« Nachdem sie ihren Gesang beendigt haben, wird der
- Vorhang der Kirche zurückgezogen; dies geschieht immer nur dann, wenn
- die Gedanken der Betenden auf die höchsten und erhabensten Gegenstände
- hingelenkt werden sollen. In diesem Falle soll die Öffnung des Tores zum
- Allerheiligsten nach dem Gesang der Engel andeuten, daß die Geburt
- Christi ja nicht allen Menschen offenbart ward, daß nur die Engel im
- Himmel, Maria, Joseph und die Magier, die gekommen waren, um das Kind
- anzubeten, Kenntnis von ihr besaßen, und daß nur die Propheten sie von
- ferne geahnt hatten. Der Priester und der Diakon sprechen bei sich: »O
- Herr, öffne meinen Mund, und mein Mund wird Deinen Ruhm verkünden.« Der
- Priester küßt das Evangelium, der Diakon küßt den heiligen Hochaltar,
- senkt das Haupt und gibt das Zeichen für den Beginn der Liturgie, indem
- er mit drei Fingern seiner Hand die Stola emporhebt und spricht: »Es ist
- Zeit, zum Herrn zu beten. Segne mich, o Herr!« und der Priester segnet
- ihn mit den Worten: »Gesegnet sei unser Gott, immerdar, jetzo, hinfort
- und in alle Ewigkeit.« Und indem der Diakon der bevorstehenden heiligen
- Handlung gedenkt, während der er den Flug des Engels vom Altar zur
- Gemeinde und von der Gemeinde zum Altar nachahmen, alle in einem Geist
- und einer Seele vereinigen und gewissermaßen eine heilige, alles
- erweckende Kraft darstellen soll, und im Gefühl, daß er dieser Aufgabe
- nicht würdig ist, fleht er den Priester demütig an: »Bete für mich, o
- Herr!« »Gott lenke deine Schritte!« antwortet ihm der Priester. »Gedenke
- meiner, heiliger Mann!« »Der Herr gedenke deiner in Seinem Reiche
- immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« Der Diakon spricht
- leise, aber mit kräftiger Stimme: »Amen!« und tritt aus der nördlichen
- Tür vor das Volk hinaus. Er betritt die Kanzel, die der Königspforte
- gegenüberliegt, wiederholt nochmals bei sich selbst: »Herr, öffne meinen
- Mund, und mein Mund wird Deinen Ruhm verkünden!« und indem er sich dem
- Altar zuwendet, fleht er den Priester nochmals an: »Segne mich, o Herr!«
- Der Priester ruft ihm aus der Tiefe des Tempels die Antwort entgegen:
- »Gesegnet sei das Reich ...«, und die Liturgie beginnt.
- Die Liturgie der Katechumenen
- Der zweite Teil der Liturgie heißt die Liturgie der Katechumenen. Wie
- der erste Teil, d. h. das Offertorium, den ersten Lebensjahren Christi,
- Seiner Geburt, die nur den Engeln und wenigen Menschen offenbart war,
- Seiner Kindheit und Seinem Aufenthalt in tiefster Zurückgezogenheit und
- Verborgenheit, bis zu Seinem Auftreten in der Welt entspricht, so
- entspricht der zweite Teil Seinem Leben inmitten der Welt und der
- Menschen, denen Er das Wort der Wahrheit verkündigt hat. Dieser Teil
- heißt auch deshalb noch die Liturgie der Katechumenen, weil während der
- ersten christlichen Zeit auch die zu ihr zugelassen wurden, die erst
- Christen werden wollten, die sich erst darauf vorbereiteten, noch nicht
- die heilige Taufe empfangen hatten und zu den Katechumenen gehörten.
- Dazu kommt noch, daß die heilige Handlung, die aus der Verlesung der
- Propheten, der Epistel und des heiligen Evangeliums besteht, in erster
- Linie einen verkündigenden Charakter trägt.
- Der Priester beginnt die Liturgie, indem er aus dem Inneren des
- Altarraumes ruft: »Gelobt sei das Reich des Vaters, des Sohnes und des
- Heiligen Geistes ...« Da durch die Fleischwerdung des Sohnes der Welt
- das Mysterium der Heiligen Dreieinigkeit deutlich geoffenbart ward, geht
- und leuchtet die Verkündigung der Heiligen Dreieinigkeit dem Beginn
- aller heiligen Handlungen voran; der Betende muß daher allem entsagen,
- sich aller anderen Gedanken entledigen und sich gänzlich in das Reich
- der Heiligen Dreieinigkeit versetzen.
- Der Diakon steht auf der Kanzel und hat sein Gesicht der Königspforte
- zugewendet. So stellt er einen Engel und Erwecker dar, der die Menschen
- zum Gebet anfeuert; er hebt mit drei Fingern seiner Hand das schmale
- Band -- das Sinnbild des Engelsflügels -- empor und ruft das ganze
- versammelte Volk auf, die Gebete zu sprechen, die die Kirche seit den
- Zeiten der Apostel unablässig zum Himmel emporsendet, deren erstes die
- Bitte um Frieden ist, ohne die man überhaupt nicht zu beten vermag. Die
- versammelten Andächtigen bekreuzigen sich, suchen ihre Herzen in
- harmonisch abgestimmte Saiten eines Instruments umzuwandeln, die bei
- jedem Wort des Diakons mitschwingen, und rufen im Geiste zugleich mit
- dem Chor der Sänger aus: »Herr, erbarme Dich unser!«
- Der Diakon steht auf der Kanzel, er hält die Gebetstola, die den
- erhobenen Flügel eines Engels darstellt, der die Gemeinde zum Gebet
- anfeuern soll, empor und ruft die Gemeinde zum Gebet auf: er fordert sie
- auf, an die höhere Welt und die Rettung unserer Seelen zu denken und zu
- beten für den Frieden der ganzen Welt, das Wohlergehen der heiligen
- Kirchen und die Vereinigung ihrer aller, für den heiligen Tempel und
- die, die ihn gläubig mit Andacht und Ehrfurcht betreten, für den Kaiser,
- den Synod, die geistliche und weltliche Obrigkeit, den Richterstand und
- den Militärstand, für die Stadt, für das Haus, darin die Liturgie
- zelebriert wird, zu bitten um Reinheit und Gesundheit der Luft, um eine
- reiche Ernte, um friedliche Zeiten, für die Seefahrer und Reisenden, für
- die Kranken und Leidenden, für die Gefangenen und ihre Errettung; er
- fordert die Gemeinde auf, Gott zu bitten, daß Er uns vor jeglichem
- Kummer, Zorn und Not bewahren möge, und indem die Versammlung der
- Andächtigen alles mit dieser allumschließenden Kette von Gebeten, die
- die große Ektenia heißt, umschlingt, erwidert sie jedesmal, wenn sie
- angerufen wird, zusammen mit dem Chor der Sänger: »Herr, erbarme Dich!«
- Im Bewußtsein der Ohnmacht unserer Gebete, denen es an Seelenweisheit
- fehlt und denen kein reiner himmlischer Lebenswandel entspricht, fordert
- der Diakon, derer gedenkend, die da besser zu beten verstanden als wir,
- die Gemeinde auf, sich selbst, einander und das ganze Leben unserem
- Gotte Christus zu weihen. In dem aufrichtigen Wunsch, sich selbst,
- einander und ihr ganzes Leben Christus, unserem Gotte zu weihen, wie
- dies die heilige Mutter Gottes, die Heiligen und die, die besser waren
- als wir, verstanden, ruft die ganze Kirche zusammen mit dem Sängerchor:
- »Dir, o Herr!« Der Diakon beschließt die Kette der Gebete mit einem
- Lobgesang auf die Dreieinigkeit, die sich wie ein alles
- zusammenhaltender Faden durch die ganze Liturgie hindurchzieht und jede
- Handlung einleitet und beschließt. Die Versammlung der Andächtigen
- antwortet mit einem bestätigenden »Amen! Ja, so geschehe es!« Der Diakon
- steigt von der Kanzel herab, und es beginnt der Abgesang der Antiphone.
- Die Antiphone sind Wechselgesänge, d. h. Lieder, die den Psalmen
- entnommen sind und das Erscheinen des göttlichen Sohnes in der Welt
- prophetisch ankündigen; sie werden abwechselnd von einem der beiden
- Sängerchöre, die auf beiden Chören postiert sind, gesungen; sie bilden
- einen Ersatz für die älteren Psalmodien und sind kürzer als diese.
- Während des Abgesangs des ersten Antiphons betet der Priester im Inneren
- des Altarraumes für sich; der Diakon steht unterdessen in betender
- Stellung vor dem Bilde des Heilands, indem er die Stola mit drei Fingern
- seiner Hand emporhält. Wenn der Gesang des ersten Antiphons beendet ist,
- besteigt er aufs neue die Kanzel und wendet sich mit folgenden Worten an
- die versammelten Andächtigen: »Laßt uns abermals und abermals zu Gott
- beten!« Die versammelten Andächtigen rufen: »Herr, erbarme Dich unser!«
- Der Diakon wendet sich nun den Bildern der Heiligen zu und fordert die
- Gemeinde auf, der Mutter Gottes und aller Heiligen zu gedenken und sich
- selbst, einander, sowie das ganze Leben unserem Gotte Christus zu
- weihen. Die Gemeinde ruft aus: »Dir, o Gott!« Der Diakon beschließt
- diesen Teil mit einer Lobpreisung der Heiligen Dreieinigkeit. Die ganze
- Kirche ruft bestätigend Amen, und dann folgt der Abgesang des zweiten
- Antiphons.
- Während des zweiten Antiphons betet der Priester im Altarraum bei sich
- selbst. Der Diakon tritt wieder in betender Stellung vor das
- Heiligenbild des Erlösers, indem er die Gebetstola mit drei Fingern der
- Hand emporhält; nach Beendigung des Gesanges besteigt er abermals die
- Kanzel, blickt auf die Bilder der Heiligen und ruft die Gemeinde wie
- vorhin mit den Worten auf: »Laßt uns in Frieden zu dem Herrn beten!« Die
- Gemeinde erwidert: »Herr Gott, [erbarme Dich.« Der Diakon ruft aus]: »O
- Gott, hilf uns, sei uns gnädig, errette uns, behüte uns durch Deine
- Gnade!« Die Gemeinde erwidert: »Herr Gott, erbarme Dich unser!« Der
- Diakon blickt auf die Bilder der Heiligen [und ruft aus]: »Laßt uns
- unserer heiligen, unbefleckten, hochgelobten, herrlichen Gebieterin, der
- Jungfrau und aller Heiligen gedenken und uns selbst, einander und unser
- ganzes Leben Christus, unserem Gotte weihen!« Die Gemeinde antwortet:
- »Dir, o Herr!« Das Gebet endet mit einer Lobpreisung der Heiligen
- Dreieinigkeit. Die ganze Kirche antwortet bestätigend: »Amen,« und der
- Diakon steigt von der Kanzel herab. Der Priester betet im Inneren des
- Altarraumes bei sich selbst, indem er spricht: »Du, Der Du uns dies
- gemeinsame einträchtige Gebet schenktest, Du, Der Du verhießest, wenn
- zwei oder drei in Deinem Namen versammelt sind, zu gewähren, worum sie
- bitten! erfülle die Bitten Deiner Knechte zu ihrem eigenen Besten;
- schenke uns in diesem Leben die Erkenntnis Deiner Wahrheit und schenke
- uns im künftigen das ewige Leben.«
- Jetzt werden vom Chor so laut, daß alle es hören können, die
- Seligpreisungen verkündet, die uns in diesem Leben die Erkenntnis der
- Wahrheit und im künftigen ein ewiges Leben verheißen. Die andächtige
- Gemeinde spricht die Worte des weiseren Übeltäters, der Christus am
- Kreuze anflehte: »Herr, gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst,«
- und wiederholt nach dem Vorleser die Worte des Heilandes: »_Selig sind,
- die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihrer_« -- d. h.
- die, die sich nicht überheben und sich nicht mit ihrem Verstande
- brüsten.
- »_Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden_« --
- d. h. die, die da noch mehr über ihre eigenen Unvollkommenheiten und
- Verfehlungen, als über die Beleidigungen und Kränkungen trauern, die
- ihnen zugefügt werden.
- »_Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen_«
- -- d. h. die, die wider niemand Zorn in ihrem Herzen hegen, allen
- vergeben und von Liebe erfüllet sind, deren Waffe die alles besiegende
- Güte ist.
- »_Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn
- sie sollen satt werden_« -- d. h. die, die nach der himmlischen
- Gerechtigkeit dürsten und sich vor allem danach sehnen, sie in sich
- selbst herzustellen.
- »_Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen_«
- -- d. h. die, die jeden ihrer Brüder bemitleiden und in jedem, der ihnen
- bittend naht, Christus selbst erkennen, der für ihn bittet.
- »_Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen_« --
- wie sich in dem reinen Spiegel eines ruhigen Gewässers, das weder durch
- Sand noch Schlamm getrübt wird, das reine Himmelsgewölbe spiegelt, so
- gibt es auch in dem Spiegel eines reinen Herzens, das von keinen
- Leidenschaften aufgewühlt wird, kaum noch etwas Menschliches mehr, und
- nur Gottes Bildnis spiegelt sich in ihm.
- »_Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen_«
- -- gleich dem Sohne Gottes selbst, der auf die Erde herabstieg, um
- unseren Seelen Frieden zu bringen, so sind auch die, die da Frieden und
- Versöhnung in unser Heim tragen, wahrhafte Söhne Gottes.
- »_Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das
- Himmelreich ist ihrer_« -- d. h. die, die verfolgt werden, weil sie die
- Gerechtigkeit nicht bloß mit dem Munde, sondern durch die
- Wohlgefälligkeit ihres ganzen Lebens verkündigen.
- »_Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um Meinetwillen schmähen und
- verfolgen, und reden allerlei Übels wider euch, so sie daran lügen. Seid
- fröhlich und getrost, es wird euch im Himmel wohl belohnt werden_«; --
- ihr Verdienst ist ein dreifaches; erstlich sind sie schon an und für
- sich rein und unschuldig, zweitens werden sie geschmäht, obwohl sie rein
- sind, und drittens freuen sie sich, daß sie um Christi willen leiden,
- obwohl sie unschuldig sind.
- Die Gemeinde der Andächtigen spricht dem Vorleser mit vor Tränen
- bebender Stimme diese Worte des Heilandes nach, die da verkündigen, wer
- in der Zukunft auf ein ewiges Leben hoffen und warten darf, welche die
- wahren Könige der Welt, die Erben des Himmels sind und am himmlischen
- Reiche teilhaben.
- Jetzt öffnet sich feierlich die Königspforte, als wäre sie das Tor zum
- himmlischen Königreiche, und dem Auge aller Anwesenden bietet sich der
- schimmernde Hochaltar dar, der den Sitz des göttlichen Ruhms und die
- höchste Lehrstätte darstellt, aus der wir die Erkenntnis der Wahrheit
- schöpfen und die uns das _ewige Leben_ verheißt. Der Priester und der
- Diakon nähern sich dem Altar, nehmen das Evangelium und bringen es dem
- Volke dar; hierbei gehen sie nicht durch die Königspforte, sondern durch
- eine Seitentür, die die Tür der Seitenkammer darstellt, der man in der
- ersten Zeit die Bücher entnahm. Diese wurden dann in die Mitte des
- Tempels getragen, worauf hier aus ihnen vorgelesen wurde.
- Die Gemeinde der Andächtigen richtet ihre Blicke auf das Evangelium, das
- die demütigen Diener der Kirche in den Händen tragen, als wäre es der
- Heiland selbst, der zum erstenmal hervortritt, um Gottes Wort zu
- verkündigen; er schreitet durch die schmale nördliche Tür, gleichsam
- unerkannt, bis in die Mitte der Kirche, um, nachdem er sich allen
- gezeigt hat, durch die Königspforte wieder ins Allerheiligste
- zurückzukehren. Die beiden Diener Gottes bleiben mitten in der Kirche
- stehen; beide beugen ihr Haupt. Der Priester betet bei sich selbst, »Er,
- Der im Himmel die Heerscharen der Engel und die himmlischen Würden
- eingesetzt hat, auf daß sie Seinem Ruhm und Seiner Ehre dieneten, möge
- diesen Engeln und himmlischen Kräften, die Ihm mit uns dienen, gebieten,
- mit uns zusammen das Allerheiligste zu betreten«. Der Diakon weist mit
- der Gebetstola auf die Königspforte und spricht zum Priester: »Segne, o
- Herr den heiligen Eingang!« -- »Gesegnet sei der Eingang Deiner Heiligen
- immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« erwidert der Priester.
- Der Diakon reicht ihm das heilige Evangelium zum Kusse hin und trägt es
- in den Altarraum, bleibt jedoch inmitten der Königspforte stehen, hebt
- es hoch mit den Händen empor und ruft: »Höchste Weisheit!« wodurch er
- ausdrücken will, daß das Wort Gottes, Sein Sohn, Seine ewige höchste
- Weisheit der Welt durch das Evangelium verkündet ward, das er jetzt mit
- seinen Händen emporhebt. Dann ruft er: »Verzeih!« d. h.: »Erwachet,
- rafft euch auf, überwindet eure Trägheit und Lässigkeit!« Die Gemeinde
- der Andächtigen richtet ihren Geist empor und singt zusammen mit dem
- Chor: »Kommt, laßt uns vor Christus niederfallen und Ihn anbeten!
- Errette uns, Du Sohn Gottes, uns, die wir Dir >_Halleluja_< singen!« Das
- hebräische Wort Halleluja bedeutet soviel wie: »Der Herr _kommt
- gegangen_, lobet den Herrn!« da jedoch das Wort kommt gegangen nach dem
- Sinn der heiligen Sprache Gegenwart und Zukunft in einem ausdrückt, d.
- h. es kommt der, der schon gekommen ist und der wiederkommen wird, so
- begleitet dieses Wort _Halleluja_, das das ewige Wandeln Gottes
- ankündigt, jedesmal solche heilige Handlungen, bei denen Gott selbst in
- Gestalt des Evangeliums oder der heiligen Gaben zum Volke hinaustritt.
- Das Evangelium, das die frohe Botschaft vom Worte des Lebens verkündigt,
- wird auf den Hochaltar gestellt. Auf dem Chor ertönen jetzt Gesänge zu
- Ehren des Festtages, oder kurze Lobgesänge und Hymnen zu Ehren des
- Heiligen, dem der Tag geweiht ist und den die Kirche feiert, weil er
- denen gleicht, die Christus in den Seligpreisungen aufgezählt hat, und
- weil Er durch das lebendige Beispiel Seines eigenen Lebens gelehrt hat,
- wie wir Ihm nachfolgen und ins ewige Leben eingehen sollen.
- Nachdem die Lobhymnen beendigt sind, beginnen die Trichagien, d. h. der
- Abgesang des Dreimalheilig. Der Diakon erbittet sich den Segen des
- Priesters, betritt die Königspforte, schwingt die Stola und gibt den
- Sängern das Zeichen. Feierlich und mit Donnerlaut dröhnt der Gesang des
- Dreimalheilig durch die Kirche. Er besteht in folgendem Anrufe Gottes,
- der dreimal wiederholt wird: »Heiliger Gott, heiliger Starker, heiliger
- Unsterblicher, erbarme Dich unser!« Mit dem Ruf: heiliger Gott
- verkündigt das Trichagion Gott den Vater; mit dem Ruf: heiliger Starker
- -- Gott den Sohn, Seine Kraft, Sein schaffendes Wort; und mit dem Ruf:
- heiliger Unsterblicher -- Seinen unsterblichen Gedanken, den ewigen
- lebendigen Willen Gottes, des Heiligen Geistes. Dreimal stimmen die
- Sänger diesen Gesang an, damit es bis ans Ohr aller Menschen dringe, daß
- in dem ewigen Sein Gottes das ewige Sein der Dreieinigkeit mitenthalten
- ist und daß es keine Zeit gab, wo Gottes Wort nicht bei Ihm gewesen wäre
- und wo der Heilige Geist Seinem Worte gemangelt hätte. »Der Himmel ist
- durch das Wort des Herrn gemacht, und all sein Heer durch den Geist
- Seines Mundes,« sagt der Prophet David. Jeder in der Gemeinde ist sich
- dessen bewußt, daß auch in ihm als dem Ebenbilde Gottes jene Dreiheit
- enthalten ist: Er selbst, Sein Wort und Sein Geist oder der Gedanke, der
- das Wort bewegt, daß jedoch sein menschliches Wort ohnmächtig ist,
- vergebens ertönt und nichts schafft, daß sein Geist nicht ihm gehört, da
- er von allen möglichen fremden Eindrücken beeinflußt wird, und daß nur
- durch seine Erhebung zu Gott in ihm das eine wie das andere Kraft
- gewinnt: im Worte spiegelt sich Gottes Wort, im Geiste Gottes Geist; das
- Bild der Dreieinigkeit des Schöpfers drückt sich im Geschöpfe ab, und
- das Geschöpf wird seinem Schöpfer ähnlich -- Indem dies jedem bewußt
- wird, betet er, während er dem Trichagion lauscht, innerlich bei sich
- selbst, daß der heilige, starke, unsterbliche Gott sein ganzes Ich
- reinigen und es zu Seinem Tempel und Wohnhaus machen möge, und dabei
- wiederholt er dreimal bei sich selbst: »Heiliger Gott, heiliger Starker,
- heiliger Unsterblicher, erbarme Dich unser!« Der Priester betet im
- Inneren des Altarraums leise zu Gott, er möge dieses Trichagion gnädig
- aufnehmen, wirft sich dreimal vor dem Altar nieder und wiederholt
- dreimal bei sich selbst: »Heiliger Gott, heiliger Starker, heiliger
- Unsterblicher!« Auch der Diakon wiederholt gleich ihm dreimal das
- Trichagion und wirft sich zusammen mit dem Priester vor dem Altar
- nieder.
- Nachdem der Priester den Kniefall getan hat, besteigt er den erhöhten
- Platz im Allerheiligsten, als dränge er bis in die Tiefe der
- Gotteserkenntnis ein, daher uns das Mysterium der Allerheiligsten
- Dreieinigkeit gekommen ist; dieser Platz symbolisiert jenen höchsten
- erhabensten über allem schwebenden Ort, da der Sohn im Schoße des Vaters
- und in der Einheit mit dem Heiligen Geiste ruht. Durch dieses
- Emporsteigen stellt der Priester das Emporsteigen Christi selbst samt
- dem Fleische in den Schoß des Vaters dar, wodurch der Mensch gleichfalls
- aufgefordert wird, Ihm in den Schoß des Vaters nachzufolgen -- eine
- Wiedergeburt, die schon der Prophet Daniel von ferne vorausgeahnt hat,
- als er in einem erhabenen Gesichte erschaute, wie des Menschen Sohn zu
- dem »Alten der Tage« kam.
- Der Priester schreitet nun unerschütterlichen Schrittes voran und
- spricht: »Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn.« Der Diakon
- fleht ihn an: »Segne, o Herr den erhabenen Hochaltar!« und der Priester
- segnet ihn, indem er spricht: »Gelobet seist Du auf dem Throne des Ruhms
- in der Herrlichkeit Deines Reiches. Du thronest auf Cherubim immerdar,
- jetzo, hinfort und von Ewigkeit zu Ewigkeit.« Dann nimmt er auf dem
- erhöhten Orte Platz, der für den Erzpriester bestimmt ist. Von hier aus
- sucht er wie ein Apostel Gottes und als sein Stellvertreter mit dem
- Gesicht zum Volke gewandt die Aufmerksamkeit der Gemeinde wach zu halten
- und die Gemeinde auf die bevorstehende Vorlesung der Epistel
- vorzubereiten -- er tut dies in sitzender Stellung und deutet hierdurch
- an, daß er selbst den Aposteln gleichgestellt ist.
- Der Vorleser tritt mit den Episteln in der Hand in die Mitte des
- Tempels. Mit dem Ruf: »Laßt uns aufmerken!« fordert der Diakon alle
- Anwesenden zur Aufmerksamkeit auf. Der Priester fleht vom Inneren des
- Altarraumes aus Frieden auf den Vorleser und die Anwesenden herab, und
- die Gemeinde der Andächtigen erwidert diesen Wunsch des Priesters mit
- dem gleichen Wunsche. Da sein Dienst jedoch ein rein geistlicher Dienst
- sein muß, gleich dem der Apostel, deren Worte nicht aus ihnen selbst
- kamen, sondern deren Lippen vom Heiligen Geist bewegt wurden, so sagen
- sie nicht: »Friede sei mit dir!« sondern »mit deinem Geiste«! Der Diakon
- ruft aus: »Höchste Weisheit!« Laut und ausdrucksvoll, so daß jedes Wort
- einem jeden vernehmlich ist, beginnt der Vorleser seine Vorlesung;
- aufmerksam, empfänglichen Herzens, mit suchender Seele und einem
- Verständnis, das den inneren Sinn des Vorgelesenen zu erfassen sucht,
- lauscht die Versammlung, denn die Vorlesung der Epistel ist eine Stufe
- und Leiter zum besseren Verständnis der Evangelien. Wenn der Vorleser
- seine Vorlesung beendigt hat, ruft ihm der Priester aus dem Inneren des
- Altarraumes zu: »Friede sei mit dir!« Der Chor antwortet: »Und mit
- deinem Geiste!« Der Diakon ruft aus: »Höchste Weisheit!« Der Chor singt
- ein donnerndes »Halleluja!«, das das Nahen des Herrn ankündigt, Der
- kommt, um durch den Mund des Evangeliums zum Volke zu sprechen.
- Nunmehr erscheint der Diakon mit dem Räucherfaß in der Hand, um den
- Tempel mit Wohlgerüchen zu erfüllen und für den Empfang des Herrn, der
- da naht, vorzubereiten; dieses Räuchern soll uns an die geistige
- Reinigung unserer Seelen ermahnen, denn wir sollen die wohltönenden
- Worte des Evangeliums reinen Herzens anhören. Der Priester betet im
- Innern des Altarraumes bei sich selbst, er bittet, daß das Licht der
- göttlichen Weisheit in unseren Herzen aufgehen und daß unsere geistigen
- Augen sich öffnen mögen, auf daß wir die Predigt des Evangeliums
- verständnisvoll in uns aufnehmen. Auch die Gemeinde betet leise bei sich
- selbst, sie bittet, daß das gleiche Licht auch in ihrem Herzen aufgehen
- möge, und bereitet sich auf die Vorlesung vor. Der Diakon erbittet sich
- den Segen des Priesters, dieser erwidert ihm mit dem Wunsche: »Gott
- verleihe auf Fürbitte des hochheiligen, hochgelobten Apostels und
- Evangelisten [hier folgt sein Name] deiner Stimme große Kraft, daß du
- die frohe Botschaft machtvoll verkündigest, auf daß erfüllet werde das
- Evangelium Seines innig geliebten Sohnes, unseres Herrn Jesu Christi!«
- Hierauf besteigt der Diakon die Kanzel, wobei ihm eine Leuchte
- vorangetragen wird, die das alles erleuchtende Licht Jesu Christi
- symbolisiert. Der Priester ruft der Gemeinde aus dem Inneren des
- Altarraumes zu: »Höchste Weisheit! Vergib! Laßt uns dem heiligen
- Evangelium lauschen! Friede sei mit euch allen!« Der Chor antwortet:
- »Und mit deinem Geiste!«, worauf der Diakon seine Vorlesung beginnt.
- Alle beugen andächtig ihr Haupt, als lauschten sie den Worten Christi
- selbst, Der von der Kanzel zu ihnen spricht, und als bemühten sie sich,
- die Saat des heiligen Wortes die der himmlische Säemann selbst durch den
- Mund Seines Dieners ausstreut, in sich, in ihr Herz, aufzunehmen; --
- nicht mit einem Herzen, das der Heiland mit der Erde am Wege vergleicht,
- auf die zwar auch einige Samenkörner fallen, um jedoch sofort von den
- Vögeln -- den bösen Gedanken und Absichten -- aufgefressen zu werden; --
- auch nicht mit solch einem Herzen, das Er mit dem steinigen Erdreich
- vergleicht, das nur ganz oberflächlich mit Erde bedeckt ist, sie, die
- das Wort zwar willig aufnehmen, es aber nicht tief Wurzeln schlagen
- lassen, da es ihnen an Herzenstiefe fehlt; -- auch nicht mit solch einem
- Herzen, das Er mit dem verwahrlosten und ungesäuberten Acker vergleicht,
- der von Dornen überwuchert ist, auf dem die Saat zwar aufgeht, dessen
- eben aufsprießende Keime jedoch von den schnell emporwachsenden Dornen
- -- den Dornen zeitlicher Sorgen und Mühen, den Dornen der Versuchungen
- und der zahllosen Lockungen des ertötenden, weltlichen Lebens mit seinen
- trügerischen Reizen und Annehmlichkeiten -- sofort erstickt werden, --
- so daß die Saat keine Frucht trägt; wohl aber mit jenem hingebungsvollen
- Herzen, das Er mit gutem Lande vergleicht, welches Frucht trägt --
- etliches hundertfältig, etliches sechzigfältig, etliches dreißigfältig
- --, das alles, was es in sich aufnimmt, beim Verlassen der Kirche, zu
- Hause, in der Familie, im Dienst, während der Arbeit, während der
- Mußestunden und Vergnügungen, im Gespräche mit anderen Menschen, und,
- wenn es mit sich allein ist, wieder zurückerstattet. Kurz, jeder
- Gläubige bemüht sich, ein Hörer und Täter des Wortes zugleich zu sein,
- den der Heiland mit dem weisen Manne gleichzumachen verspricht, der sein
- Haus nicht auf Sand, sondern auf einem Felsen erbaut, so daß sein
- geistiges Heim, selbst wenn sich, gleich nachdem er die Kirche verlassen
- hat, Regen, Flüsse und Wirbelstürme, alle möglichen Leiden und
- Mißgeschick wider ihn erhöben, unerschütterlich dastehen wird, gleich
- einer auf einem Felsen erbauten Feste.
- Nachdem die Vorlesung beendigt ist, ruft der Priester dem Diakon aus dem
- Inneren des Tempels zu: »Friede sei mit dir, der du frohe Botschaft
- verkündigst!« Alle Anwesenden erheben ihr Haupt und rufen im Gefühl
- ihrer Dankbarkeit zugleich mit dem Chor: »Ehre sei Dir, unserem Gott,
- Ehre sei Dir!« Der in der Königspforte stehende Priester nimmt das
- Evangelium aus den Händen des Diakons entgegen und stellt es auf den
- Altar, als das Wort, das von Gott ausgegangen ist und nun zu Ihm
- zurückkehrt. Der Hochaltar, der die höchsten erhabensten Gefilde
- darstellt, entzieht sich jetzt den Augen der Gemeinde -- die
- Königspforte schließt sich, und die Tür zum Allerheiligsten wird
- verhängt zum Zeichen, daß es keine andere Tür zum Himmelreiche gibt als
- die, die uns Christus geöffnet hat, und daß wir nur mit Ihm durch sie
- eintreten können, denn es heißt: »Ich bin die Tür.«
- Hiernach pflegte während der ersten christlichen Zeit die Predigt
- stattzufinden, worauf die Erklärung und Interpretation der verlesenen
- Evangelientexte folgte. Da jedoch in unserer Zeit meist über andere
- Texte gepredigt wird, und da folglich die Predigt nicht zur Erklärung
- der vorgelesenen Evangelientexte dient, so wird sie, um den Zusammenhang
- und die strenge harmonische Ordnung der heiligen Liturgie nicht zu
- stören, ans Ende gestellt.
- Der Diakon besteigt sodann, den Engel, der die Menschen zum Gebet
- anfeuert, versinnbildlichend, die Kanzel, um die Gemeinde zu noch
- inbrünstigerem Gebet aufzurufen. Er ruft: »Lasset uns beten aus ganzem
- Herzen, ganzer Seele, lasset uns beten aus ganzem Gemüt,« indem er die
- Gebetstola mit drei Fingern in die Höhe hebt; und während alle aus
- tiefster Seele inbrünstige Gebete zum Himmel emporrichten, rufen sie
- aus: »Herr, erbarme Dich!« Der Diakon aber unterstützt und verstärkt
- seinerseits das Gebet noch, indem er dreimal um Erbarmen fleht, und er
- fordert die Gemeinde nochmals auf, für alle Menschen zu beten, welchen
- Rang und welches Amt sie auch immer bekleiden mögen; zunächst und in
- erster Linie für die in den höchsten Ämtern und Stellungen, wo es der
- Mensch am schwersten hat, wo er am leichtesten strauchelt und wo er der
- Hilfe Gottes am meisten bedarf. Jeder von den Versammelten betet, da er
- weiß, in wie hohem Grade die Wohlfahrt vieler Menschen davon abhängt,
- daß die Mächtigen redlich ihre Pflicht erfüllen, inbrünstig und bittet
- Gott, Er möge sie erleuchten und belehren, getreulich ihre Schuldigkeit
- zu tun, und jedem Kraft verleihen, seine irdische Laufbahn in
- ehrenhafter Weise zu vollenden. Darum beten alle inniglich, indem sie
- nun nicht mehr einmal, sondern dreimal nacheinander rufen: »Herr,
- erbarme Dich!« Die ganze Reihe dieser Gebete heißt: doppelte Ektenia
- oder die Ektenia des inbrünstigen Gebets, und der Priester bittet im
- Altar vor dem Gottestisch inniglich um Erhörung dieser allgemeinen
- verstärkten Gebete, und sein Gebet heißt das Gebet der inbrünstigen
- Bitte.
- Wenn an jenem Tage eine Seelenmesse zu Ehren der Toten stattfindet, so
- wird gleich nach der doppelten Ektenia noch eine Ektenia zu Ehren der
- Entschlafenen verkündigt. Der Diakon hält die Stola mit drei Fingern
- seiner Hand empor und fordert die Gemeinde auf, für den Seelenfrieden
- der Knechte Gottes zu beten, die er alle beim Namen nennt, auf daß Gott
- ihnen alle ihre Sünden, ihre bewußten und unbewußten Verfehlungen
- vergeben und ihre Seelen dorthin versetzen möge, wo die Gerechten in
- Frieden weilen. Bei dieser Gelegenheit gedenkt jeder der Anwesenden
- aller Verstorbenen, die seinem Herzen nahestanden, und beantwortet jeden
- Ruf des Diakons mit einem dreimaligen: »Herr, erbarme Dich!« indem er
- inbrünstig für seine Lieben und für alle entschlafenen Christen betet.
- »Wir flehen Dich an, Christus, unser Gott, unsterblicher König, gewähre
- uns Deine göttliche Gnade, das Himmelreich und Vergebung der Sünden!«
- ruft der Diakon aus. Die Gemeinde erwidert zugleich mit dem Sängerchor:
- »Gewähre es uns, o Herr!« Der Priester aber betet im Inneren des
- Altarraums und bittet den Überwinder des Todes, Ihn, der uns das ewige
- Leben schenkte, Er möge die Seelen Seiner entschlafenen Knechte in
- Frieden in die friedlichen grünen Gefilde, die von Krankheiten, Kummer
- und Seufzern gemieden werden, eingehen lassen; er bittet in seinem
- Herzen, Er möge ihnen alle ihre Sünden erlassen und verkündet laut:
- »Christus, unser Gott, da Du bist die Auferstehung, das Leben und der
- Frieden Deiner entschlafenen Knechte, so singen wir Dir Preis und Ruhm
- samt Deinem ewigen Vater und Deinem allerheiligsten, gütigen,
- lebenspendenden Geist, nun, hinfort und in alle Ewigkeit.« Der Chor ruft
- bestätigend: »Amen,« worauf der Diakon die Ektenia für die Katechumenen
- beginnt.
- Obwohl die Zahl der noch nicht Getauften und derer, die noch zu den
- Katechumenen zählen, heute nur noch gering ist, denkt doch jeder
- Anwesende daran, wie weit er durch Glauben und Taten noch hinter den
- Gläubigen zurücksteht, die gewürdigt wurden, an den Liebesmahlen der
- ersten christlichen Zeit teilzunehmen, sieht ein, wie er gleichsam bloß
- bei Christus in die Lehre gegangen ist, jedoch sein Leben noch nicht mit
- Ihm erfüllt hat, wie er erst die Weisheit Seiner Worte versteht, sie
- aber in seinem Leben noch nicht verwirklicht, wie kalt sein Glaube noch
- ist, und wie es ihm noch an dem Feuer einer allesverzeihenden Liebe zu
- seinem Bruder gebricht, einer Liebe, die alle Herzenskälte und Dürre
- verzehrt, und wie er, obwohl er mit dem Wasser auf den Namen Christi
- getauft ward, doch noch der geistigen Wiedergeburt nicht teilhaftig ist,
- ohne die sein Christentum nach den eigenen Worten des Heilandes nichts
- ist, Der da spricht: »Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde,
- kann er das Reich Gottes nicht sehen!« -- Indem also jeder Anwesende
- dessen eingedenk ist, zählt er sich demutsvoll zu den Katechumenen, und
- so antwortet er denn auch auf den Ruf des Diakons: »Lasset uns zu Gott
- beten, Katechumenen!« aus der Tiefe seines Herzens: »Gott, erbarme Dich
- unser!«
- Hierauf ruft der Diakon: »Ihr Gläubigen, lasset uns für die Katechumenen
- beten und Ihn bitten, Er möge ihnen gnädig sein, sie erwecken mit dem
- Worte der Wahrheit, ihnen das Evangelium der Gerechtigkeit offenbaren,
- sie vereinigen in Seiner heiligen allgemeinen apostolischen Kirche, Er
- möge sie erretten, Sich ihrer erbarmen, ihnen beistehen und sie erhalten
- in Seiner Gnade.«
- Und die Gläubigen beten, tief durchdrungen von dem Gefühle, wie wenig
- sie den Namen der Gläubigen verdienen, indem sie für die Katechumenen
- bitten, auch für sich selbst und beantworten jeden Ruf des Diakons in
- ihrem Innern, indem sie mit dem Sängerchor die Worte nachsprechen:
- »Herr, erbarme Dich unser!« Der Diakon ruft: »Katechumenen, beugt euer
- Haupt vor Gott!«, und alle beugen ihr Haupt, indem sie innerlich
- ausrufen: »Vor Dir, o Herr!«
- Der Priester betet leise für die Katechumenen, sowie für die, die sich
- in ihrer Herzensdemut unter die Katechumenen versetzt haben. Sein Gebet
- hat folgenden Wortlaut: »Herr, unser Gott, Der Du in der Höhe wohnst und
- herabsiehst auf die Demütigen, Der Du das Heil herabsandtest dem
- menschlichen Geschlechte in Gestalt Jesu Christi, Deines Sohnes, unseres
- Herrn und Gottes! Blicke nieder auf die Katechumenen, Deine Knechte, die
- ihren Nacken vor Dir beugen! Nimm sie auf in Deine Kirche und in Deine
- auserwählte Herde, auf daß sie mit uns Deinen hehren, herrlichen Namen
- loben und preisen den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, jetzo,
- hinfort und in alle Ewigkeit!« Der Chor fällt mit einem donnernden
- »Amen!« ein. Und in Erinnerung, daß nun der Augenblick gekommen ist, wo
- ehemals die Katechumenen aus der Kirche herausgeführt wurden, ruft der
- Diakon mit lauter Stimme: »Tretet heraus, Katechumenen!« Hierauf erhebt
- er abermals die Stimme und ruft noch einmal: »Tretet heraus,
- Katechumenen!« Und endlich ruft er noch ein drittes Mal aus: »Tretet
- heraus, Katechumenen! Keiner von euch Katechumenen, sondern ihr
- Gläubigen alleine, laßt uns abermals und abermals zu Gott beten!«
- Bei diesen Worten erbeben alle im Bewußtsein ihrer Unwürdigkeit.
- Inbrünstig flehen sie in Gedanken Christus selbst um Gnade an, Der die
- Käufer und die schamlosen Krämer, die Sein Heiligtum zu einer
- Mördergrube gemacht hatten, aus dem Tempel Gottes jagte, und jeder
- Anwesende bemüht sich, den Katechumenen, der noch nicht darauf
- vorbereitet ist, in dem Heiligtume zu weilen, aus dem Tempel seiner
- Seele zu vertreiben, und er betet zu Christus, Er möge selbst den
- Gläubigen, der in die auserwählte Herde aufgenommen wird, in ihm
- erwecken, denn von ihm sagt der Apostel: »Ein heiliges Volk, Menschen
- der Erneuerung sind die Steine, aus denen der Tempel erbaut wird«; Er
- möge ihn erwecken ihn, der zu den wahrhaften Gläubigen gehört, die
- während der Zeit der ersten Christen, deren Gesichter von der
- Ikonostasis auf den Andächtigen herabblicken, an der Liturgie
- teilnahmen. Und indem er sie alle mit seinem Blick umfaßt, fleht er sie
- um Hilfe an, als seine Brüder, die jetzt im Himmel anbeten, denn nunmehr
- steht die allerheiligste Handlung bevor; es beginnt die Liturgie der
- Gläubigen.
- Die Liturgie der Gläubigen
- Im geschlossenen Altarraum breitet der Priester auf dem heiligen
- Hochaltar das Antiminsion oder Corporale aus -- ein Tuch, auf dem der
- Körper des Heilands abgebildet ist --, worauf das von ihm während des
- Offertoriums zubereitete Brot und der mit Wasser und Wein gefüllte Kelch
- gestellt werden, die jetzt im Angesicht aller Gläubigen vom Seitenaltar
- herbeigetragen werden. Das Corporale, das der Priester über den
- Hochaltar breitet, soll an die Zeiten der Christenverfolgungen erinnern,
- als die Kirche noch kein ständiges Heim hatte; man bediente sich damals,
- da der Altar nicht von einem Ort zum anderen getragen werden konnte,
- dieses Tuches sowie einzelner Stücke von Reliquien; dies Corporale ist
- noch heute im Gebrauch, um anzudeuten, daß die Kirche auch heute noch
- nicht an ein einzelnes bestimmtes Haus, an eine Stadt oder an einen Ort
- gebunden ist, sondern wie ein Schiff noch auf den Wellen dieser Welt
- schwebt, ohne irgendwo vor Anker zu gehen, denn ihr Anker ruht im
- Himmel. Nachdem also der Priester das Corporale ausgebreitet hat, tritt
- er vor den Tisch, wie wenn er das erstemal vor ihn hinträte und als ob
- er sich erst jetzt für die eigentliche heilige Handlung vorbereite: in
- der ersten christlichen Zeit wurde nämlich der Altar erst in diesem
- Augenblick geöffnet, bis dahin blieb er geschlossen und verhängt, weil
- ja die Katechumenen noch anwesend waren, und erst jetzt begannen die
- eigentlichen Gebete der Gläubigen. Der Priester fällt in dem noch immer
- geschlossenen Altarraum vor dem Tische nieder und betet zwei Gebete der
- Gläubigen, in denen er Gott bittet, seine Seele zu reinigen, und Ihn
- anfleht, ihn gerecht vor den heiligen Altar treten zu lassen, auf daß er
- würdig werde, das Opfer reinen Gewissens darzubringen. Der Diakon steht
- indessen auf der Kanzel inmitten der Kirche, einen Engel darstellend,
- der die Gemeinde zum Gebet anfeuert; er hält die Gebetstola mit drei
- Fingern empor und ruft alle Gläubigen zu denselben Gebeten auf, mit
- denen die Liturgie der Katechumenen begann.
- Alle Gläubigen sind bemüht, ihre Herzen mit einem einträchtigen,
- friedlichen, versöhnlichen Gefühl zu erfüllen, das jetzt noch
- notwendiger ist, und rufen: »Herr, erbarme Dich!«; sie beten noch
- inbrünstiger und flehen Gott um den höheren Frieden, um Errettung
- unserer Seelen, um den Frieden der Welt, die Wohlfahrt der Kirchen
- Gottes und ihre Einigung an; sie beten für diesen heiligen Tempel und
- für die, die ihn andächtig und gottesfürchtig betreten, und bitten Gott,
- Er möge sie vor Kummer, Zorn und Not bewahren. Und sie rufen noch
- inbrünstiger in ihrem Herzen: »Herr, erbarme Dich!«
- Der Priester ruft aus dem Inneren des Altarraumes: »Höchste Weisheit!«,
- womit er andeutet, daß dieselbe höchste Weisheit, derselbe ewige Sohn,
- Der in Gestalt des Evangeliums ausging, das Wort auszusäen, daraus wir
- Belehrung schöpfen, wie wir leben sollen, Sich jetzt in das heilige Brot
- verwandeln wird, um Sich für die ganze Welt aufzuopfern. Alle Anwesenden
- bereiten sich, aufgerüttelt durch diese Vorstellung, begeistert auf den
- nunmehr bevorstehenden hochheiligen Gottesdienst vor und richten ihre
- Gedanken auf ihn. Der Priester, der die Liturgie zelebriert, betet leise
- bei sich, fällt vor dem Tische nieder und spricht folgendes erhabene
- Gebet: »Keiner, der noch durch fleischliche Lüste und Genüsse gefesselt
- wird, ist würdig, sich Dir zu nahen, vor Dich hinzutreten oder Dir zu
- dienen, Herr der Liebe; denn Dein Dienst ist groß und furchtbar, selbst
- für die himmlischen Mächte. Allein da Du in Deiner unermeßlichen
- Menschenliebe wahrhaftig und ewiglich Mensch, da Du selbst Hoherpriester
- wurdest und selbst das Sakrament dieses Gottesdienstes und dieses
- unblutigen Opfers einsetztest, als Herr unser aller -- denn Du allein, o
- Gott, herrschst über alle himmlischen und irdischen Geschöpfe und
- sitzest auf dem Throne, der von Cherubim getragen wird, Gott der
- Seraphim und König von Israel, Der Du allein heilig bist und in den
- Heiligen wohnest --, so flehe ich Dich an, Dich, den Einen, Guten, sieh
- herab auf mich armen Sünder und Deinen unwürdigen Knecht, reinige meine
- Seele und mein Herz von bösen Gedanken und mache mich würdig, bekleidet
- mit der priesterlichen Gnade, mache mich würdig durch die Macht Deines
- Heiligen Geistes, vor Deinen Tisch zu treten und Deinen heiligen reinen
- Leib und Dein gerechtes Blut zu konsekrieren. Ich trete vor Dich hin,
- beuge meinen Nacken und bete zu Dir: wende Dein Angesicht nicht von mir
- ab und verstoße mich nicht aus der Schar Deiner Knechte, sondern laß es
- geschehen, daß diese Deine Gaben Dir dargebracht werden durch mich
- Unwürdigen. Denn Du bist der Darbringende und Dargebrachte, der
- Empfangende und Der, Der sie austeilt, Christus unser Gott, wir singen
- Dir Ruhm und Preis samt Deinem ewigen Vater und Deinem allerheiligsten,
- gütigen und lebenspendenden Geiste, jetzo, hinfort und in alle
- Ewigkeit.«
- Mitten während des Gebetes öffnet sich die Königspforte, und man sieht
- den Priester mit ausgebreiteten Armen und in betender Stellung knien.
- Der Diakon kommt mit dem Räucherfaß in der Hand gegangen, um dem
- höchsten König den Weg zu bereiten, er räuchert reichlich und läßt
- Wolken von wohlriechendem Weihrauch aufsteigen, inmitten deren Er
- erscheinen wird, getragen von Cherubim. So ermahnt er alle daran, ihr
- Gebet zu reinigen, auf daß es lauter werde wie der Weihrauch vor dem
- Herrn -- und fordert alle auf, die nach dem Wort des Apostels ein
- Wohlgeruch vor Christus sind, dessen eingedenk zu sein, daß sie reine
- Cherubim sein sollen, um den Herrn emportragen zu können. Die Sänger auf
- beiden Chören stimmen im Angesicht der ganzen Kirche folgenden
- Cherubimgesang an: »Die wir in geheimnisvoller Weise Cherubim darstellen
- und das Trichagion zu Ehren der lebenspendenden Dreieinigkeit singen,
- lasset uns nun alles andere vergessen und den höchsten König emporheben,
- Der unsichtbar getragen wird von den Heerscharen der Engel und
- beschattet von Lanzen.«
- Die alten Römer hatten den Brauch, den neugewählten König auf einem
- Schilde, begleitet von seinen Legionen und beschattet von zahllosen
- Lanzen, die über ihn gehalten wurden, vor das Volk hinauszutragen.
- Diesen Gesang hat jener Kaiser selbst gedichtet, der in aller seiner
- irdischen Größe vor der Erhabenheit des höchsten Königs in den Staub
- sank, Der im Schatten der Lanzen von Cherubim und von den Legionen der
- himmlischen Mächte getragen wird; in der ersten Zeit traten die Kaiser
- selbst bescheiden in die Reihe der Diener der Kirche, wenn das heilige
- Brot hinausgetragen wurde.
- Der Gesang dieses Liedes trägt einen angelischen Charakter und soll
- daran erinnern, wie die unsichtbaren Heerscharen im Himmel gesungen
- haben. Der Priester und der Diakon wiederholen diesen Cherubimgesang
- leise bei sich selbst und treten sodann vor den Seitenaltar, vor dem
- sich das Offertorium abspielte. Indem nun der Diakon vor die Gaben
- hintritt, die mit dem Aër bedeckt sind, spricht er: »Nimm hin, o Herr!«
- Der Priester zieht den Aër hinweg und legt ihn dem Diakon auf die linke
- Schulter und spricht: »Erhebet eure Hände zu dem Heiligtume und segnet
- den Herrn!« Sodann nimmt er die Patene samt dem Lamm und stellt sie dem
- Diakon aufs Haupt; er selbst ergreift den heiligen Kelch und geht hinter
- einer vorausgetragenen Leuchte oder Lampe zur Seitentür oder durch das
- nördliche Tor zum Volke hinaus. Wenn jedoch der Gottesdienst im Beisein
- der ganzen Geistlichkeit d. h. vieler Geistlicher und Diakonen
- stattfindet, so trägt ein Priester die Patene, ein anderer den Kelch,
- ein dritter den heiligen Löffel, mit dem der Priester das heilige
- Abendmahl austeilt, ein vierter die Lanze, die in den heiligen Leib
- gestoßen wurde. Alle heiligen Geräte werden hinausgetragen, sogar der
- Schwamm, mit dem die Krümchen des heiligen Brotes auf der
- Hostienschüssel zusammengelesen wurden und der jenen Schwamm darstellt,
- welcher mit Essig und Galle gefüllt wurde und mit dem die Knechte ihren
- Schöpfer tränkten. Diese feierliche Prozession, die der große Ausgang
- genannt wird und die himmlischen Heerscharen versinnbildlicht, kommt
- unter dem Absingen des Cherubimgesanges herangeschritten.
- Bei dem Anblick des höchsten Königs, Der in der bescheidenen Gestalt des
- Lammes vorausgetragen wird, umgeben von den Werkzeugen irdischer Marter
- wie von den Lanzen unzählbarer unsichtbarer Heerscharen und Hierarchien,
- und auf der Patene ruhend wie auf einem Schilde, beugen alle tief ihr
- Haupt und beten mit den Worten des Übeltäters, der den Herrn vom Kreuze
- aus anflehte: »Herr, gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst.«
- Mitten im Tempel macht die Prozession halt. Der Priester benutzt diesen
- großen Augenblick, um in Gegenwart aller derer, die die Gaben tragen,
- und im Angesichte Gottes der Namen aller Christen zu gedenken, wobei er
- mit denen beginnt, denen die schwierigsten und heiligsten Pflichten
- auferlegt sind, von deren Erfüllung die Wohlfahrt aller Menschen und die
- Rettung ihrer eigenen Seele abhängt, und er schließt mit den Worten:
- »Gott der Herr gedenke euer und aller [rechtgläubigen] Christen in
- Seinem Reiche [immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit]!« Die
- Sänger beschließen den Cherubimgesang mit einem dreimaligen
- »Halleluja!«, das das ewige Wandeln des Herrn verkündigt. Der Zug
- betritt nun die Königspforte. Der Diakon nähert sich allen voran dem
- Altar, bleibt zur Rechten vor der Tür stehen und begrüßt den Priester
- mit den Worten: »Gott der Herr gedenke deiner Priesterschaft in Seinem
- Reiche!« Der Priester erwidert: »Gott der Herr gedenke deines heiligen
- Diakonenamtes in Seinem Reiche immerdar, jetzo, hinfort und in alle
- Ewigkeit!« Und er stellt den heiligen Kelch und das Brot, das den Leib
- Christi versinnbildlicht, auf den Tisch, als wäre er ein Sarg. Die
- Königspforte schließt sich, als wäre sie das Tor zum Grabe des Herrn,
- der Vorhang wird zugezogen, womit auf die Wache hingedeutet wird, die
- vor dem Grabe aufgestellt wurde. Der Priester nimmt die heilige Patene
- vom Haupte des Diakons, als nähme er den Leib des Heilands vom Kreuze
- herunter, und stellt sie auf das ausgebreitete Corporale, als wäre es
- das Grabtuch Christi, wozu er die Worte spricht: »Der ehrbare Joseph
- nahm Deinen allerheiligsten Leib vom Kreuze herab, band ihn in ein
- reines Grabtuch mit Spezereien und legte ihn in ein Grab, darinnen
- niemand je gelegen war.« Und indem er der Allgegenwart Dessen gedenkt,
- Der jetzt vor ihm im Grabe liegt, spricht er bei sich selbst: »Im Grabe
- warst Du leibhaftig, in der Hölle mit der Seele und Gott gleich, im
- Paradies mit dem Übeltäter und saßest doch zugleich auf dem Throne mit
- dem Vater und dem Heiligen Geist, o Christe, der Du alles mit Dir
- erfüllst, Unbeschreiblicher!« Und des Ruhms und der Ehre gedenkend, mit
- der dieses Grab bedeckt ward, spricht er: »Als Lebenspender, als
- wahrhaftiglich, herrlicher denn das Paradies und strahlender denn jeder
- Königspalast erschien uns Dein Grab, o Christus, Quell aller
- Auferstehung!« Dann zieht er die Decke von der Patene und vom Kelch
- hinweg, nimmt den Aër von der Schulter des Diakons, der jetzt nicht mehr
- die Linnen, darin das Kind Jesus gewickelt ward, sondern das Kopftuch
- und die Grableinwand darstellt, in die Sein toter Leib gehüllt wurde,
- räuchert mit Thymian und bedeckt hierauf die Patene und den Kelch
- abermals, indem er spricht: »Der ehrbare Joseph nahm Deinen
- allerheiligsten Leib vom Kreuze herab, band ihn in ein reines Grabtuch
- mit Spezereien und legte ihn in ein Grab, darinnen niemand je gelegt
- war.« Dann nimmt er das Räucherfaß aus den Händen des Diakons entgegen,
- räuchert vor den heiligen Gaben mit Weihrauch, indem er sich dreimal vor
- ihnen verneigt, und wiederholt, während er sich zu den bevorstehenden
- Opferhandlungen rüstet, leise bei sich selbst die Worte des Propheten
- David: »Tue wohl an Zion nach Deiner Gnade, baue die Mauern zu
- Jerusalem. Dann werden Dir gefallen die Opfer der Gerechtigkeit, die
- Brandopfer und die ganzen Opfer, dann wird man Farren auf Deinem Altar
- opfern,« denn solange Gott selbst uns nicht erhebt und unsere Seelen
- nicht mit jerusalemischen Mauern wider alle Angriffe des Fleisches
- schützt, sind wir nicht imstande, Ihm Opfer und Brandopfer darzubringen
- und wird nie die Flamme eines geistigen Gebetes emporlodern, denn sie
- wird zerstreut und verweht werden durch fremde nebensächliche Gedanken
- und Rücksichten, durch den Ansturm der Leidenschaften und den Wirbelwind
- eines seelischen Aufruhrs.
- Der Priester bittet Gott, seine Seele für das bevorstehende Opferwerk zu
- reinigen, legt das Räucherfaß wieder in die Hände des Diakons, läßt das
- Ornat herabfallen, beugt sein Haupt und spricht zu ihm: »Gedenke meiner,
- mein Bruder und Amtsgenosse!« »Gott gedenke deiner Priesterschaft in
- Seinem Reiche!« erwidert der Diakon, beugt seinerseits das Haupt, denkt
- an seine Unwürdigkeit und spricht, indem er die Stola emporhält: »Bete
- für mich, heiliger Herr!« Der Priester antwortet: »Der Heilige Geist
- komme über dich, und die Kraft des Höchsten erleuchte dich!« --
- »Derselbige Geist helfe uns alle Tage unseres Lebens.« Und im vollen
- Bewußtsein seiner Unwürdigkeit fügt er [der Diakon] hinzu: »Gedenke
- meiner, o heiliger Herr!« Der Priester erwidert: »Gott gedenke deiner in
- Seinem Reiche immerdar, hinfort und in alle Ewigkeit!« Der Diakon sagt:
- »Amen!« küßt dem Priester die Hand und geht durch die nördliche
- Seitentür hinaus, um alle Anwesenden zum Gebet für die dargebrachten und
- auf dem Hochaltar stehenden heiligen Gaben aufzufordern.
- Er besteigt den Altar und richtet, das Gesicht der Königspforte
- zugewandt und die Stola, gleich dem erhobenen Flügel eines Engels, der
- zum Gebet erweckt und anfeuert, mit drei Fingern emporhebend, eine ganze
- Reihe von Gebeten, die schon keine Ähnlichkeit mit den früheren mehr
- haben, zum Himmel empor. Nachdem er die Gemeinde aufgefordert hat, in
- ihren Gebeten der auf dem Hochaltar stehenden Gaben zu gedenken, geht er
- alsbald zu solchen Gebeten über, die nur die Gläubigen, die in Christo
- leben, an Gott richten.
- »Wir bitten Gott, daß Er diesen Tag zu einem vollkommenen, heiligen,
- friedlichen und sündenlosen mache!« fleht der Diakon.
- Die Gemeinde der Betenden vereinigt ihre Stimme mit dem Chor der Sänger
- und ruft aus tiefstem Herzen zu Gott empor: »Gewähre ihn uns, o Herr!«
- »Wir bitten Gott, daß Er uns einen friedlichen Engel, einen treuen
- Lehrmeister und Beschützer unserer Seelen und unserer Leiber sende!«
- Die Gemeinde: »Gewähre ihn uns, o Herr!«
- »Wir bitten Gott um Vergebung und Erlassung unserer Sünden und
- Verfehlungen!«
- Die Gemeinde: »Gewähre sie uns, o Herr!«
- »Wir bitten Gott um alles Gute und um alles, was unserer Seele nützlich
- ist, und um Frieden auf Erden!«
- Die Gemeinde: »Gewähre es uns, o Herr!«
- »Wir bitten Gott um ein ferneres Leben in Frieden und um ein reumütiges
- Ende!«
- Die Gemeinde: »Gewähre es uns, o Herr!«
- »Wir bitten Gott um ein christliches, schmerzloses, ehrbares und
- friedliches Ende unseres Lebens und darum, daß wir einst gute
- Rechenschaft ablegen am Jüngsten Gerichte Christi!«
- Die Gemeinde: »Gewähre uns das, o Herr!«
- »Wir gedenken unserer hochheiligen, reinen, gesegneten, herrlichen
- Gebärerin, unserer Heiligen Jungfrau, sowie aller Heiligen und weihen
- uns selbst, einander und unser ganzes Leben Christus, unserem Gott.«
- Und in dem innigen Wunsche, sich also selbst und einander Christus,
- ihrem Herrn, zu weihen, rufen alle: »Dir, o Herr!«
- Die Ektenia wird mit folgendem Gebet beschlossen: »Durch die große Gnade
- Deines eingeborenen Sohnes, sei gesegnet mit Ihm samt Deinem
- allerheiligsten, gütigen, lebenspendenden Geist, nun, hinfort und in
- alle Ewigkeit!«
- Der Chor singt ein donnerndes »Amen!«
- Noch immer bleibt der Altar geschlossen. Noch immer beginnt der Priester
- nicht mit dem Opfer; denn noch muß vieles geschehen, ehe das heilige
- Abendmahl stattfinden kann. Aus der Tiefe des Altarraumes ruft der
- Priester der Gemeinde den Gruß des Heilands zu: »Friede sei mit euch
- allen!« Die Gemeinde antwortet: »Und mit deinem Geiste!« Der Diakon
- steht auf der Kanzel und ermahnt, wie dies bei den ersten Christen Sitte
- war, alle, einander zu lieben, indem er spricht: »Laßt uns einander
- lieben und einmütig bekennen ...« Hier fällt der Sängerchor ein, indem
- er die Schlußworte: »Den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, die
- alleinige unteilbare Dreieinigkeit!« mitsingt, wodurch wir daran
- erinnert werden sollen, daß wir, wenn wir einander nicht liebhaben, auch
- Den nicht liebgewinnen können, Der ganz Liebe, Der die ganze vollkommene
- Liebe ist und Der in Seiner Heiligen Dreieinigkeit den Liebenden und den
- Geliebten, sowie die Handlung der Liebe, mit der der Liebende den
- Geliebten liebt, vereinigt: der Liebende ist Gott der Vater, der
- Geliebte Gott der Sohn, und die Liebe selbst, die Sie vereinigt, Gott
- der Heilige Geist. Dreimal verneigt sich der Priester im Inneren des
- Altarraumes, indem er leise bei sich wiederholt: »Ich will Dich lieben,
- o Herr, meine Stärke, mein Fels und mein Hort!« Er küßt die mit dem Tuch
- verdeckte heilige Patene und den heiligen Kelch, küßt den Rand des
- heiligen Hochaltars und alle Priester, die mit ihm am Gottesdienst
- teilnehmen, tuen desgleichen; dann küssen sie sich alle untereinander
- und der Hauptpriester spricht: »Christus ist mitten unter uns!« Man
- antwortet ihm: »Er ist und wird sein!« Auch alle Diakone, die zugegen
- sind, küssen zuerst die Stelle ihrer Stola, auf der das Kreuz abgebildet
- ist, und dann einander, indem sie dieselben Worte sprechen.
- Früher küßten alle, die in der Kirche waren, einander gleichfalls, die
- Männer die Männer, die Frauen die Frauen, indem sie sprachen: »Christus
- ist mitten unter uns!« und gleich darauf die Antwort erhielten: »Er ist
- und wird sein!« daher stellt sich auch heute ein jeder, der in der
- Kirche anwesend ist, in Gedanken vor, daß er alle Christen vor sich hat,
- nicht nur die, die in der Kirche sind, sondern auch die Abwesenden,
- nicht nur die, die seinem Herzen nahestehen, sondern auch die, die ihm
- fernstehen, beeilt sich, sich mit denen von ihnen auszusöhnen, gegen die
- er etwas wie Mißgunst, Haß oder Zorn hegte -- und gibt jedem von ihnen
- in Gedanken einen Kuß, indem er bei sich spricht: »Christus ist mitten
- unter uns!« und in ihrem Namen antwortet: »Er ist und wird sein!« denn
- ohne dies wäre er tot für alle folgenden heiligen Handlungen nach
- Christi eigenem Wort: »So lasse allda vor dem Altar deine Gabe und gehe
- zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder und alsdann komm und
- opfere deine Gabe«; und an einer anderen Stelle heißt es: »Und wer da
- sagt, ich liebe Gott und hasse meinen Bruder, der lügt; denn wenn er
- seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, Den er
- nicht sieht?«
- Der Diakon steht auf der Kanzel, er wendet sein Gesicht den Anwesenden
- zu, hält die Stola mit drei Fingern seiner Hand empor und ruft nach
- altem Brauch: »Die Tore, die Tore!« Ehedem wurde dieser Ruf an die
- Pförtner gerichtet, die am Toreingang standen, damit sich keiner von den
- Heiden, die den christlichen Gottesdienst zu stören pflegten, frech und
- blasphemisch in die Kirche eindrängte; heute wird dieser Ruf an die
- Anwesenden selbst gerichtet, die hierdurch ermahnt werden sollen, die
- Tore ihres Herzens zu behüten, in denen die Liebe bereits Eingang
- gefunden hat, auf daß kein Feind der Liebe sich in die Herzen eindränge,
- und die Tore ihres Mundes und ihrer Ohren weit aufzutun und für die
- Verlesung des Glaubenssymbols offen zu halten; zum Zeichen dafür wird
- der Vorhang vor der Königspforte, oder die »hohe Pforte«, hinweggezogen,
- die sich nur dann öffnet, wenn die Aufmerksamkeit des Geistes auf die
- höchsten Mysterien hingelenkt werden soll. Der Diakon fordert die
- Versammlung mit folgenden Worten zum Zuhören auf: »Laßt uns der höchsten
- Weisheit lauschen!« Die Sänger stimmen einen kraftvollen mannhaften
- Gesang an, der mehr einer Art Sprechgesang gleicht, und rufen laut und
- ausdrucksvoll: »Ich glaube an Gott den Vater, den allmächtigen Schöpfer
- des Himmels und der Erden, alles Sichtbaren und Unsichtbaren.« Dann
- machen sie eine kurze Pause, damit sich alle in Gedanken die erste
- Person der Heiligen Dreieinigkeit -- Gott den Vater klar und deutlich
- vorstellen, und fahren dann fort: »Und an Jesum Christum, Gottes
- eingeborenen Sohn, unseren Herrn, vom Vater in Ewigkeit geboren, Licht
- vom Licht, wahrhaftigen Gott vom wahrhaftigen Gott, geboren, nicht
- erschaffen, einerlei Wesens mit dem Vater, durch welchen alle Dinge
- geworden sind. Um der Menschen und um des Heiles willen vom Himmel
- Fleisch geworden aus dem Heiligen Geist und der Jungfrau Maria und
- Mensch geworden, um unseretwillen gekreuzigt unter Pontius Pilatus,
- gelitten, gestorben und begraben. Am dritten Tage nach der Schrift
- wiederauferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel und sitzend zur
- Rechten des Vaters. Von dannen Er wiederkommen wird in Herrlichkeit, zu
- richten die Lebendigen und die Toten und Dessen Reiches kein Ende sein
- wird. Und an den Heiligen Geist, Der da machet lebendig und gehet aus
- vom Vater, Der da zusammen mit dem Vater und dem Sohne angebetet und
- verehret wird und durch die Propheten geredet hat.« Dann machen sie
- wieder eine kurze Pause, damit sich alle in Gedanken die dritte Person
- der Heiligen Dreieinigkeit -- Gott, den Heiligen Geist klar und deutlich
- vorstellen, und fahren fort: »Und an eine heilige katholische und
- apostolische Kirche. Ich glaube an eine Taufe zur Vergebung der Sünden
- und hoffe auf die Auferstehung der Toten und ein ewiges Leben. Amen!«
- Mannhaft und kraftvoll ist der Gesang der Sänger und er prägt jedes Wort
- des Glaubenssymbols den Herzen tief ein. Mit fester Stimme wiederholt
- hierauf ein jeder die Worte des Symbols. Mutigen Herzens und voll
- starken Geistes wiederholt auch der Priester vor dem heiligen Hochaltar,
- der den heiligen Abendmahlstisch darstellen soll, leise bei sich selbst
- das Glaubensbekenntnis, auch alle Zelebranten, die ihm zur Seite stehen,
- wiederholen es still bei sich selbst, indem sie den heiligen Aër, der
- über den heiligen Gaben ruht, hin und her bewegen.
- Festen Schrittes kommt jetzt der Diakon gegangen und verkündet: »Laßt
- uns fromm, laßt uns ehrfurchtsvoll dastehen und aufmerken und das
- heilige Opfer in Frieden darbringen,« d. h. laßt uns würdig vor Gott
- hintreten, wie es sich für den Menschen geziemt, d. h. mit Zittern und
- Ehrfurcht, zugleich aber auch tapfer und kühnen Mutes, indem wir Gott
- loben, mit friedlichem versöhntem, einträchtigem Herzen, denn ohne dies
- vermag man sich nicht zu Gott zu erheben. Und die ganze Kirche
- wiederholt, diesen Ruf beantwortend, indem sie den Lobgesang, der aus
- ihrem Munde emporsteigt, und die Besänftigung der Herzen als Opfergabe
- darbringt mit dem Sängerchor: »Die Gnade des Friedens, das Opfer des
- Dankes.« In der Urkirche herrschte die Sitte, bei dieser Gelegenheit
- etwas Salböl als Opfergabe darzubringen, welches ein Symbol der
- Besänftigung ist, denn Salböl und Barmherzigkeit bedeuten im
- Griechischen dasselbe.
- Unterdessen zieht der Priester im Altarraum den Aër von den heiligen
- Gaben hinweg, küßt ihn und legt ihn zur Seite, indem er spricht: »Die
- Gnade unseres Herrn ...« Der Diakon aber betritt den Altarraum, nimmt
- den Fächer oder das Rhipidion in die Hand und schwingt ihn andachtsvoll
- über den heiligen Gaben.
- Indem nun der Priester sich anschickt, das heilige Abendmahl zu
- zelebrieren, richtet er aus dem Inneren des Altarraums folgenden frohen
- Ruf an das Volk: »Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi, die Liebe Gottes
- des Vaters und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch
- allen!« worauf ihm alle Anwesenden antworten: »Und mit deinem Geiste!«
- Der Altar, der vorhin die Krippe vorstellte, versinnbildlicht jetzt das
- Zimmer, in dem das Abendmahl zubereitet wurde; und der Hochaltar, der
- das Grab versinnbildlichte, stellt jetzt den Abendmahlstisch und nicht
- mehr das Grab dar. Der Priester gedenkt des Erlösers, Der Seine Augen
- zum Himmel emporrichtete, ehe Er Seinen Jüngern die göttliche Speise
- darreichte, und ruft: »Laßt uns unsere Herzen zum Himmel erheben!« Und
- jeder, der in der Kirche anwesend ist, richtet seine Gedanken auf das,
- was nun geschehen wird -- und er denkt daran, daß in diesem Augenblick
- das göttliche Lamm für ihn geschlachtet wird, daß das göttliche Blut des
- Herrn selbst in den Kelch fließt, um ihn zu entsühnen, und daß alle
- himmlischen Mächte sich mit dem Priester vereinigen, um für ihn zu
- beten; und indem er seine Gedanken [hierauf] richtet und seine Seele von
- der Erde abzieht und zum Himmel und aus der Finsternis zum Lichte
- erhebt, ruft er zugleich mit allen anderen aus: »Wir wollen uns zu Gott
- erheben!«
- Der Priester ruft, des Erlösers gedenkend, Der da dankte, nachdem Er
- Seine Augen gen Himmel erhoben hatte: »Laßt uns unserem Gotte danken!«
- Der Chor erwidert: »Geziemend ist es und fromm, anzubeten den Vater, den
- Sohn und den Heiligen Geist, die Heilige Dreieinigkeit, Die eines Wesens
- und unfehlbar ist.« Der Priester aber betet im stillen bei sich:
- »Geziemend ist es und fromm, Dich zu verherrlichen, zu loben, Dir zu
- danken und Dich anzubeten allerorten in Deinem Reiche, denn Du bist
- Gott, der Unaussprechliche, Unergründliche, Unsichtbare und
- Unbegreifliche, denn Du bist ewig Derselbe samt Deinem eingeborenen Sohn
- und Deinem Heiligen Geist. Du hast uns aus dem Nichtsein zum Sein
- erweckt, hast uns Abtrünnige wieder aufgerichtet und hast uns nicht
- verlassen, sondern uns in den Himmel erhoben und uns Dein künftiges
- Reich geschenkt. Für dieses alles danken wir Dir und Deinem eingeborenen
- Sohn und Deinem Heiligen Geiste, danken Dir alle, für alle die
- Wohltaten, die wir kennen und die wir nicht kennen, die offenkundigen
- und die unbekannten, die Du an uns getan hast. Wir danken Dir auch für
- diesen Gottesdienst und bitten Dich, ihn aus unserer Hand
- entgegenzunehmen, obwohl Dir Tausende von Erzengeln und Legionen von
- Engeln, Cherubim und sechsfach geflügelte Seraphim zur Verfügung stehen,
- vieläugige, gefiederte, gen Himmel strebend, Dir Siegeslieder singen,
- rufen, jauchzen und sprechen: »Heilig, heilig, heilig ist der Gott
- Zebaoth; Himmel und Erde sind Deines Ruhmes voll!«
- Dieses Siegeslied der Seraphim, das die Propheten in ihren heiligen
- Gesichten vernahmen, wird von dem ganzen Sängerchor aufgenommen; es
- trägt die Gedanken der Gläubigen in unsichtbare Himmelsfernen mit sich
- fort, nötigt alle, mit den Seraphim in den Ruf einzustimmen: »Heilig,
- heilig, heilig ist der Herr Zebaoth!« und mit ihnen den Thron des
- göttlichen Ruhmes zu umkreisen. Und da ferner die ganze Kirche in diesem
- Augenblick erwartungsvoll dessen harrt, daß der Herr selbst herabsteigen
- und Sich für alle zum Opfer darbringen wird, so vereinigt sich mit dem
- Gesang der Seraphim, der im Himmel ertönt, noch der Gesang der
- hebräischen Jünglinge, mit dem Ihn diese bei Seinem Einzug in Jerusalem
- begrüßten, Zweige auf den Weg streuend: »Hosianna in der Höhe. Gelobt
- sei, Der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!« Denn der
- Herr bereitet sich, in den Tempel einzuziehen, wie in das mystische
- Jerusalem. Der Diakon fährt fort, mit dem Fächer über die heiligen Gaben
- hinzufächeln, damit kein Insekt auf sie herniederfalle, und symbolisiert
- mit dieser Bewegung des Fächers das Walten der Gnade. Der Priester aber
- betet im stillen weiter: »Mit diesen heiligen Mächten, o Herr, Der Du
- die Menschen liebhast, flehen auch wir zu Dir und sprechen: Heilig und
- hochheilig bist Du und Dein eingeborener Sohn und Dein Heiliger Geist.
- Heilig bist Du und hochheilig, und herrlich ist Dein Ruhm, denn also
- hast Du die Welt geliebt, daß Du Deinen eingeborenen Sohn gabst, auf daß
- alle, die an Ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben
- haben, Der da kam und alles erfüllte, was von uns verkündet ward; in der
- Nacht, da Er verraten ward, oder besser, da Er Sich selbst dahingab für
- das Leben der Welt, nahm Er das Brot in Seine reinen unschuldigen Hände,
- dankte, segnete und heiligte es, brach es und gab es Seinen heiligen
- Jüngern und Aposteln und sprach ...« Und mit lauter Stimme verkündete
- der Priester die Worte des Heilandes: »Nehmet hin und esset, das ist
- mein Leib, der für euch gebrochen wird zur Vergebung der Sünden.« Bei
- diesen Worten fallen die ganze Kirche und der Chor ein und rufen »Amen!«
- Der Diakon aber weist, die Stola in der Hand haltend und sich zum
- Priester hinwendend, auf die heilige Patene hin, auf welcher das Brot
- ruht. Der Priester aber fährt leise fort: »Desselbigengleichen nahm Er
- auch den Kelch nach dem Abendmahl und sprach ...« und er verkündet laut,
- nachdem der Diakon auf den Kelch gedeutet hat: »Trinket alle daraus,
- dies ist Mein Blut des Neuen Testaments, welches vergossen wird für euch
- und für viele zur Vergebung der Sünden.« Und die ganze Kirche antwortet
- ebenso laut wie das erstemal: »Amen!«
- Der Priester fährt fort, leise zu beten: »Und indem wir also gedenken
- dieses erlösenden Gebotes und alles dessen, das für uns getan ward: des
- Kreuzes, des Grabes, der Auferstehung am dritten Tage, der Himmelfahrt,
- des Sitzens zur Rechten Gottes und der zweiten ruhmvollen Wiederkunft«
- -- und nun, nachdem er dies leise vor sich hingesprochen, erhebt er die
- Stimme und spricht: »-- bringen wir Dir dar das Deinige von den Deinigen
- für alle und für alles!« Der Diakon legt nun den Fächer beiseite und
- hebt die heilige Patene und den heiligen Kelch in die Höhe: in diesem
- Augenblick stellt der Altar nicht mehr das Zimmer, in dem das heilige
- Abendmahl stattfand, und der Hochaltar nicht mehr den Abendmahlstisch
- dar; jetzt ist er der Opferaltar, auf dem das furchtbare Opfer für die
- ganze Welt dargebracht wird -- das Golgatha, wo die furchtbare
- Hinschlachtung des göttlichen Opferlamms sich vollzog. Dieser Augenblick
- stellt den Augenblick des Opfers und den Moment dar, da ein jeder an das
- dem Schöpfer dargebrachte Opfer gemahnt wird. Wir beugen uns ja auch vor
- den irdischen Gewalten; wir verehren und achten ja auch die Menschen und
- gehorchen ihnen, aber wir opfern nur dem alleinigen Gott. Und dies Opfer
- hat nie aufgehört seit Erschaffung der Welt, in welcher Form es auch
- immer dargebracht werden mochte, das, worauf es dabei ankam, war nicht
- das Opfer selbst, sondern ein reumütiger Geist, mit dem es dargebracht
- wurde. Daher muß jeder der Anwesenden dessen eingedenk sein, daß der
- Priester in diesem Augenblick alles Gemeine und Diesseitige
- geringschätzen und alle irdischen Begierden und Gedanken vergessen muß
- gleichwie Abraham, der, als er zum Berg emporstieg, um das Opfer
- darzubringen, seine Frau, seinen Knecht und seinen Esel unten ließ und
- nur das Holz des bitteren Bekenntnisses seiner Sünden mit sich nahm, es
- im Feuer seiner inneren Reue zu Asche verbrannte und mit der Flamme und
- dem Schwerte des Geistes in sich jede Begierde nach irdischem Besitz und
- irdischen Gütern tötete. Was aber sind alle unsere Opfer vor dem
- Angesichte Gottes, wenn Er durch den Mund des Propheten zu uns spricht.
- »Wie ein unreines Gewand sind alle unsere Taten.«
- Tief durchdrungen vom Bewußtsein, daß es auf Erden nichts gibt, das da
- wert wäre, Gott zum Opfer gebracht zu werden, richtet jeder der
- Anwesenden seine Gedanken auf den Kelch, den der Diener des Altars im
- Altarraum emporhebt, und ruft im Inneren seines Herzens aus: »Also sei
- Dir dargebracht das Deinige von den Deinigen, für alle und für alles!«
- Der Chor singt: »Dir lobsingen wir, Dich segnen wir, Dir danken wir, o
- Herr, und wir beten zu Dir, unser Gott!«
- Und nun folgt der Höhepunkt der ganzen Liturgie: die
- Transsubstantiation. Im Inneren des Altarraumes wird jetzt der Heilige
- Geist dreimal angerufen und angefleht, Sich auf die heiligen Gaben
- herabzusenken -- derselbe Heilige Geist, durch Den die Fleischwerdung
- Christi, Seine Geburt durch die Jungfrau, Sein Tod und Seine
- Auferstehung vollzogen ward, und ohne Den sich das Brot und der Wein
- nicht in den Leib und das Blut Christi verwandeln können.
- Der Priester fällt vor dem heiligen Hochaltar nieder, und auch der
- Diakon verbeugt sich dreimal bis zur Erde, indem er bei sich selbst
- spricht: »Herr Gott, Der Du in der dritten Stunde Deinen Allerheiligsten
- Geist auf Deine Apostel herabsandtest, nimm Ihn nicht von uns, Du
- Gütiger, sondern laß uns wiedergeboren werden, die wir zu Dir beten.«
- Und nach diesem Anruf des Heiligen Geistes wiederholen alle bei sich den
- Vers: »Gib mir, o Gott, ein reines Herz und erneure in meinem Inneren
- einen gerechten Geist.«
- Noch einmal wird der Anruf wiederholt: »Herr Gott, Der Du in der dritten
- Stunde Deinen Allerheiligsten Geist auf Deine Apostel herabsandtest,
- nimm Ihn nicht von uns, Du Gütiger, sondern laß uns wiedergeboren
- werden, die wir zu Dir beten.« Und die Gemeinde singt den Vers: »Verwirf
- mich nicht von Deinem Angesicht und nimm Deinen Heiligen Geist nicht von
- mir!« Und zum drittenmal erfolgt der Anruf: »Herr Gott, Der Du in der
- dritten Stunde Deinen Allerheiligsten Geist auf Deine Apostel
- herabsandtest, nimm Ihn nicht von uns, Du Gütiger, sondern laß uns
- wiedergeboren werden, die wir zu Dir beten.« Der Diakon weist gesenkten
- Hauptes mit der Stola auf das heilige Brot hin und spricht bei sich
- selbst: »Segne, o Herr, das heilige Brot!« Und der Priester segnet es
- dreimal mit dem Kreuze und spricht: »Und mache dieses Brot zu dem
- heiligen Leibe Deines Christus.« Der Diakon sagt: »Amen!« Und damit ist
- das Brot in den Leib Christi verwandelt. Und abermals weist der Diakon
- mit der Stola stumm auf den heiligen Kelch und spricht bei sich selbst:
- »Segne, o Herr, den heiligen Kelch!« Und der Priester segnet ihn und
- spricht: »Mache, den Inhalt dieses Kelches zum heiligen Blut Deines
- Christus.« Der Diakon sagt: »Amen!« und spricht, indem er auf die beiden
- heiligen Gaben hinweist: »Segne sie beide, o Herr!« Der Priester segnet
- sie und spricht: »Verwandle sie durch Deinen Heiligen Geist!« Der Diakon
- sagt dreimal: »Amen!« Und auf dem Hochaltar ruhen jetzt der Leib und das
- Blut Christi selbst: die Transsubstantiation hat sich vollzogen! Ein
- _Wort_ rief das _ewige Wort_ herbei. Der Priester, dessen Stimme das
- Schwert vertritt, hat das Opfer vollbracht. Wer es auch sein möge -- ob
- er Peter oder Iwan heißt --, in seiner Person hat der ewige Hohepriester
- selbst dies Opfer vollbracht, und Er vollbringt es ewiglich durch die
- Person Seiner Priester, wie auf das Wort: »Es werde Licht!« das Licht
- ewiglich leuchtet und wie auf das Wort: »Es lasse die Erde aufgehen Gras
- und Kraut!« die Erde sie ewiglich aufgehen läßt. Und es ist nicht ein
- Bildnis oder die bloße Erscheinung des Leibes, die sich auf dem
- Hochaltar befindet, sondern der Leib Christi selbst -- derselbe Leib,
- der auf Erden Backenstreiche erhalten, bespien, gekreuzigt, begraben
- ward, auferstand und mit dem Herrn gen Himmel fuhr und nun zur Rechten
- des Vaters sitzt. Er behält nur deshalb auch weiter die Gestalt des
- Brotes, um dem Menschen zur Speise zu dienen, und weil der Herr selbst
- gesagt hat: »Ich bin das Brot.«
- Vom Kirchturm her ertönt jetzt Glockengeläut, um allen den großen
- Augenblick zu verkündigen, auf daß der Mensch -- wo er sich in diesem
- Moment auch befinden mag -- ob er unterwegs, ob er auf Reisen ist oder
- seinen Acker bestellt, ob er zu Hause sitzt oder einer anderen
- Beschäftigung nachgeht, ob er auf dem Krankenbett liegt oder in den
- Mauern eines Gefängnisses schmachtet -- kurz, damit er überall, wo er
- sich auch aufhält, in diesem furchtbaren Augenblick auch für sich beten
- könne. Alles stürzt vor dem Leib und Blut Christi nieder und fleht den
- Herrn mit den Worten des Übeltäters an: »Herr, gedenke an mich, wenn Du
- in Dein Reich kommst.«
- Der Diakon beugt sein Haupt vor dem Priester und spricht: »Gedenke an
- mich, o heiliger Herr!« und der Priester antwortet: »Gott gedenke deiner
- in Seinem Reiche immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« Und nun
- gedenkt der Priester aller vor dem Angesichte Gottes, indem er die ganze
- Kirche, die triumphierende wie die kämpfende, mit in sein Gebet
- einschließt und zwar in derselben Weise und Reihenfolge, wie ihrer aller
- während des Offertoriums gedacht wurde, wobei er mit der heiligen,
- reinen, göttlichen Jungfrau und Mutter Gottes beginnt. Ihr zu Ehren, als
- der Fürsprecherin der ganzen Menschheit und als der einzigen, die für
- ihre hohe Demut und Bescheidenheit würdig erachtet wurde, Gott in ihrem
- Schoße zu tragen, stimmt die ganze Kirche zusamt dem Chor einen
- Lobgesang an, damit ein jeder in diesem Augenblick vernehme, daß die
- Demut die höchste Tugend und daß in dem Herzen des Demütigen Gott
- lebendig sei.
- Nach der Mutter Gottes wird der Propheten, der Apostel und der
- Kirchenväter gedacht und zwar in derselben Reihenfolge, in der während
- des Offertoriums die Brotstücke für sie herausgeschnitten wurden; sodann
- wird aller Entschlafenen gedacht, deren Namen der Diakon verliest,
- sodann der Lebenden, wobei mit denen begonnen wird, denen die
- wichtigsten und höchsten Pflichten anvertraut sind, -- d. h. mit denen,
- die das Wort der Wahrheit gerecht verwalten, der geistlichen und
- weltlichen Obrigkeit und dem Kaiser; [»Gott helfe ihm und unterstütze
- ihn in seinem schweren Amt bei jedem Werke, das das allgemeine Wohl
- betrifft; möge ihm in seinem edlen Streben das ganze Staatsschiff
- einträchtiglich folgen, zusamt der Regierung und der Militärkammer, auf
- daß sie getreulich ihre Pflicht erfüllen, und auch uns lasset im
- Frieden, der von ihnen ausgeht, ein ruhiges Leben führen in aller
- Frömmigkeit und Reinheit!« Bei dieser Gelegenheit betet der Priester
- auch für alle anwesenden Christen bis auf den letzten, daß der allgütige
- Gott Seine Gnade über sie alle ergießen, ihre Schatzkammern mit Gütern
- füllen, die Eintracht und den Frieden in ihren Ehen walten, ihre Kinder
- groß werden lassen, die Jugend belehren, das Alter stützen und
- kräftigen, die Kleinmütigen trösten, die Zerstreuten sammeln, die
- Verführten zurechtweisen und in Seine heilige allgemeine apostolische
- Kirche aufnehmen möge. Für alle Christen bis auf den allerletzten, wo
- sich ein solcher Christ auch immer aufhalten möge, betet bei dieser
- Gelegenheit der demütige Priester;] ob der Christ unterwegs, auf der
- Wanderschaft, auf der See oder auf Reisen ist, ob er an einer Krankheit
- daniederliegt oder in der Verbannung, in Bergwerken oder unterirdischen
- Schächten schmachtet. Für alle -- bis auf den allerletzten -- betet bei
- dieser Gelegenheit die Kirche, und jeder Anwesende beteiligt sich nicht
- allein an diesem gemeinsamen Gebete für alle Menschen, sondern er betet
- auch für alle die Seinen, die seinem Herzen nahestehen, indem er sie
- insgesamt im Angesichte des Leibes und Blutes Christi beim Namen nennt.
- Dann ruft der Priester laut aus dem Altarraum: »Und laß uns preisen und
- lobsingen wie aus einem Munde und aus einem Herzen Deinen heiligen und
- herrlichen Namen, den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen
- Geistes, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« Die ganze Kirche
- antwortet mit einem bestätigenden »Amen!« Der Priester ruft: »Die Gnade
- des großen Gottes und unseres Heilandes Jesu Christi sei mit euch
- allen!«, und die Gemeinde erwidert: »Und mit deinem Geiste!« Hiermit
- haben die Gebete für alle, die der Kirche Christi angehören, ihr Ende
- erreicht, wie sie im Angesicht des Leibes und des Blutes Christi zu Gott
- emporgerichtet werden.
- Nun besteigt der Diakon die Kanzel, um zum Gebet für die Gaben selbst
- aufzufordern, die Gott dargebracht werden und die bereits verwandelt
- sind, auf daß sie uns nicht zum Gericht und nicht zu einer Strafe für
- uns werden. Er erhebt die Stola mit drei Fingern seiner rechten Hand und
- ermuntert alle zum Gebet, indem er spricht: »Laßt uns aller Heiligen
- gedenken und immer wieder und wieder in Frieden zu Gott beten!« Der Chor
- singt: »Herr, erbarme Dich!« »Laßt uns beten für die dargebrachten und
- geweihten heiligen Gaben!« Der Chor singt: »Herr, erbarme Dich!« »Laßt
- uns beten, daß unser Gott, Der die Menschen liebet, sie aufnehmen möge
- auf Seinem heiligen, über dem Himmel thronenden geistigen Altar, duftend
- von geistigen Wohlgerüchen, und daß Er uns herabsenden möge Seine
- göttliche Gnade und die Gabe des Heiligen Geistes!« Der Chor singt:
- »Herr, erbarme Dich!« »Laßt uns zu Gott beten, daß Er uns bewahren möge
- vor Kummer, Zorn und Not!« Der Chor singt: »Herr, erbarme Dich!« »Hilf,
- rette, erbarme Dich und erhalte uns durch Deine Gnade, o Gott!« Der Chor
- singt: »Herr, erbarme Dich!« »Wir bitten Gott um einen vollkommen
- ungetrübten, vollkommen heiligen, friedlichen und sündlosen Tag!« Der
- Chor singt: »Gewähre ihn uns, o Gott!« »Wir bitten Gott um einen
- Friedensengel, einen treuen Lehrmeister und Beschützer unserer Seelen
- und Leiber!« Der Chor singt: »Gewähre es uns, o Herr!« »Wir bitten Gott
- um Vergebung und Erlassung unserer Sünden und Verfehlungen!« Der Chor
- singt: »Gewähre sie uns, o Gott!« »Wir bitten den Herrn um alles Gute,
- was unserer Seele heilsam ist, und um Frieden auf Erden!« Der Chor
- singt: »Gewähre es uns, o Herr!« »Wir bitten Gott um ein Leben in
- Frieden und um ein reumütiges Ende!« Der Chor singt: »Gewähre es uns, o
- Herr!« »Wir bitten Gott um ein christliches, schmerzloses, ehrbares und
- friedliches Ende und darum, daß es uns beschieden sein möge, in Ehren
- Rechenschaft abzulegen am Jüngsten Tage Christi!« Der Chor singt:
- »Gewähre es uns, o Herr!« Und nun ruft der Diakon nicht mehr die
- Heiligen um Hilfe an, sondern er wendet sich direkt an Gott: »Wir bitten
- Dich um Einheit des Glaubens und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
- und weihen uns, einander und unser ganzes Leben Jesus Christus, unserem
- Gotte!« Und alle singen mit völliger und inniger Hingebung: »Dir, o
- Herr!«
- Nun stimmt der Priester statt eines Trichagions folgenden Gesang an:
- »Würdige uns, o Herr, daß wir Dich, Gott, unseren himmlischen Vater,
- zuversichtlich und als Gerechtfertigte anrufen und lobsingen.« Und alle
- Gläubigen beten nicht mehr wie mit Furcht erfüllte Sklaven, sondern wie
- reine unschuldige Kinder, die sich durch das Gebet, den ganzen
- Gottesdienst und die stetige Ausführung der heiligen Bräuche in jenen
- engelhaften Gemütszustand himmlischer Rührung versetzt fühlen, in dem
- der Mensch unmittelbar mit Gott sprechen kann wie mit seinem Vater, das
- Gebet des Herrn: »Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde
- Dein Name, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch
- auf Erden. Unser täglich Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere
- Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in
- Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel.«
- Dieses Gebet umfaßt alles und schließt alles in sich ein, was wir
- brauchen. Die Bitte: »Geheiligt werde Dein Name!« enthält das Erste,
- worum wir zuerst und vor allem bitten müssen: wo Gottes Name geheiligt
- wird, da ist allen wohl, da sind folglich alle in Liebe miteinander
- verbunden, denn nur durch die Liebe wird Gottes Name geheiligt. Mit den
- Worten: »Dein Reich komme!« flehen wir das Reich der Wahrheit und
- Gerechtigkeit auf die Erde herab; ohne Gottes Herabkunft wird es nie
- eine Gerechtigkeit geben: denn Gott ist die Gerechtigkeit. Bei den
- Worten: »Dein Wille geschehe!« wird der Mensch durch den Glauben wie
- durch die Vernunft geführt: denn wessen Wille kann wohl herrlicher sein,
- als der Wille Gottes? Wer weiß denn besser als der Schöpfer, was Seinen
- Geschöpfen not tut. Wem soll man also vertrauen, wenn nicht Ihm, Der
- durch und durch nichts als die ewiglich nur Gutes zeugende Güte und
- Vollkommenheit ist! Mit dem Worte: »Unser täglich Brot gib uns heute!«
- bitten wir um alles, dessen wir zu unserem täglichen Lebensunterhalt
- bedürfen. Unser Brot aber ist die höchste göttliche Weisheit und
- Christus selbst. Er selbst hat gesagt: »Ich bin das Brot und wer von Mir
- isset, wird nicht sterben.« Mit den Worten: »Vergib uns unsere Schuld!«
- bitten wir, daß alle unsere schweren Sünden, die auf uns lasten, von uns
- genommen werden mögen -- wir bitten, daß uns alles erlassen werden möge,
- dessen wir uns gegenüber dem Schöpfer selbst schuldig gemacht haben,
- indem wir uns an unseren Brüdern vergingen; streckt Er uns doch jeden
- Tag und jede Minute in ihrer Gestalt Seine Hand entgegen, indem Er uns
- mit herzzerreißendem Klagelaut um Mitleid und Erbarmen anfleht. Mit den
- Worten: »Und führe uns nicht in Versuchung!« bitten wir Gott, uns vor
- allem zu behüten, was unser Gemüt verwirrt, uns irre leitet und uns
- unsere Seelenruhe raubt. Mit den Worten: »Sondern erlöse uns von dem
- Übel!« bitten wir um die himmlische Seligkeit; denn sowie der Böse von
- uns weicht, bemächtigt sich sogleich eine hohe Freudigkeit unserer
- Seele, und wir fühlen uns schon auf Erden wie im Himmel.
- So umfaßt und schließt dieses Gebet alles in sich ein, was uns die
- höchste göttliche Weisheit selbst beten gelehrt hat. Und zu wem beten
- wir? Zum Vater der Weisheit, Der Seine ewige Weisheit vor Beginn aller
- Zeiten zeugte. Da alle Anwesenden dieses Gebet bei sich wiederholen
- müssen, nicht mit dem Munde, sondern in der reinsten Unschuld eines
- kindlichen Herzens, so muß auch der Abgesang des Gebets auf den Chören
- einen kindlichen Charakter tragen: nicht in rauhen männlichen Tönen,
- sondern mit kindlicher Stimme, die die Seele selbst zu liebkosen
- scheint, muß dieses Gebet gesungen werden, auf daß man in ihr den
- Frühlingshauch des Himmels zu verspüren meine und daß in ihm etwas
- erklinge, was uns wie die Liebkosungen der Engel selbst berührt, denn in
- diesem Gebet reden wir ja Den, Der uns erschaffen hat, nicht mehr mit
- Gott an, sondern ganz schlicht mit den Worten: »Vater unser!«
- Der Priester begrüßt die Gemeinde aus dem Inneren des Altarraumes mit
- dem Gruße des Heilands: »Friede sei mit euch allen!« Die Gemeinde
- erwidert: »Und mit deinem Geiste!« Jetzt fordert der Diakon alle zu
- einer inneren Herzensbeichte auf, die jeder nunmehr vor sich selbst
- ablegen muß, indem er ruft: »Beugt eure Häupter vor dem Herrn!« Und
- indem nun alle Anwesenden bis auf den letzten ihr Haupt beugen, sprechen
- sie bei sich selbst etwa folgendes Gebet: »Ich beuge mein Haupt vor Dir,
- mein Herr und Gott, ich bekenne meine Sünden aufrichtig und schreie zu
- Dir: ich bin sündig, o Herr, und unwert, Dich um Vergebung zu bitten,
- aber Du bist menschenfreundlich, so erbarme Dich denn meiner, obwohl ich
- es nicht verdient habe, wie der verlorene Sohn, rechtfertige mich wie
- den Zöllner und mache mich würdig, gleich dem Übeltäter in Dein
- himmlisches Reich einzugehen.« Und während so alle gebeugten Hauptes in
- innerer Herzenszerknirschung verharren, betet der Priester am Altare für
- alle mit folgenden Worten bei sich selbst: »Wir danken Dir, unsichtbarer
- König, Der Du in Deiner unermeßlichen Kraft alles erschaffen und durch
- Deine große Gnade alles aus dem Nichtsein ins Dasein gerufen hast;
- blicke selbst vom Himmel auf die herab, o Herr, die ihr Haupt vor Dir
- beugen, denn sie beugen es nicht vor dem Fleische und dem Blute, sondern
- vor Dir, furchtbarer Gott. Wende alles, was uns bevorsteht, zu unserem
- Besten, o Herr, so wie es jedem not tut: Laß den Seefahrer den Hafen und
- den Reisenden sein Ziel erreichen, heile den Kranken, o Arzt der Seele
- und des Leibes!« Dann stimmt der Priester den herrlichen Lobgesang auf
- die Dreieinigkeit an, der sich an die himmlische Güte Gottes wendet:
- »Gesegnet seist Du durch die Gnade, die Milde und die Menschenliebe
- Deines eingeborenen Sohnes samt Ihm, Deinem Sohne und Deinem
- Allerheiligsten, gütigen, lebenspendenden Geiste, jetzo, hinfort und in
- alle Ewigkeit!« Der Chor ruft: »Amen!« Nunmehr rüstet sich der Priester,
- selbst, und in Gemeinschaft mit allen, den Leib und das Blut Christi in
- sich aufzunehmen, indem er leise bei sich folgendes Gebet spricht:
- »Blicke herab, Herr Jesus Christus, unser Gott, aus Deiner heiligen
- Wohnung und vom ruhmvollen Thron Deines Reiches. Komm und heilige uns,
- Der Du hoch oben neben dem Vater sitzest und unsichtbar bei uns weilst,
- und mache uns [Priester] würdig, aus Deiner allmächtigen Hand Deinen
- reinen Leib und Dein gerechtes Blut zu empfangen und es allen den Deinen
- darzureichen.«
- Während der Priester dies Gebet spricht, rüstet sich der Diakon zum
- heiligen Abendmahl: er tritt vor die Königspforte, umgürtet sich mit der
- Stola und kreuzt sie auf seiner Brust, gleich den Engeln, die ihre
- Flügel kreuzweise zusammenlegen und ihr Antlitz mit ihnen verdecken vor
- dem unnahbaren Lichte der Gottheit. Wie der Priester, verbeugt er sich
- dreimal und spricht bei sich selbst: »O Gott, reinige mich Sünder und
- erbarme Dich meiner!« Wenn dann der Priester seine Hand nach der
- heiligen Patene ausstreckt, fordert er alle, die im Tempel anwesend
- sind, durch das anfeuernde Wort: »Laßt uns aufmerken!« auf, alle ihre
- Gedanken auf das, was nun geschieht, hinzulenken. Der Altar entzieht
- sich dem Anblick des Volkes, der Vorhang wird zugezogen, damit zuerst
- der Priester das Abendmahl empfange. Nur die Stimme des Priesters, der
- die Patene in die Höhe hebt und ruft: »Das Heilige den Heiligen!« dringt
- aus dem Altar hervor. Tief erschüttert von dieser Verkündigung, die da
- besagt, daß man selbst heilig sein muß, um das Heilige in sich
- aufzunehmen, erwidert die ganz im Gebet versunkene Gemeinde: »Einer ist
- heilig, der eine Gott, Jesus Christus, zur Ehre Gottes des Vaters!«
- worauf eine Lobhymne auf den Heiligen, dem dieser Tag geweiht ist,
- gesungen wird, um hierdurch anzudeuten, daß auch der Mensch heilig sein
- kann, so wie auch der Heilige, zu dessen Preis die Hymne gesungen wird,
- ein Heiliger werden konnte; auch er ward freilich heilig nicht durch
- seine eigene Heiligkeit, sondern durch die Heiligkeit Christi selbst.
- Durch sein Leben in Christo wird der Mensch geheiligt und in solchen
- Augenblicken der Ruhe in Christo ist er heilig wie Christus selbst,
- gleichwie das Eisen, wenn es im Feuer steckt, selbst zu Feuer wird und
- sofort erlöscht, sowie man es aus dem Feuer herausnimmt, und wieder
- gewöhnliches dunkles Eisen wird.
- Nun bricht der Priester das heilige Brot; zuerst bricht er es gemäß dem
- Zeichen, das während des Offertoriums auf ihm gemacht wurde, in vier
- Teile, indem er spricht: »Das Lamm Gottes wird zerlegt und zerteilt, das
- zerlegt und doch unteilbar ist, das stets gegessen und nie aufgezehrt
- wird, und das da heiligt, die davon essen.« Er legt eins von den Stücken
- des heiligen Leibes noch unvermischt mit dem Blute für sich und den
- Diakon zurück und zerlegt dann das Brot in so viele Teile, als die Zahl
- der Kommunikanten beträgt; aber durch diese Teilung wird doch der Leib
- Christi selbst nicht zerteilt, der Leib, dem kein Bein zerbrochen ward,
- und in dem kleinsten Teil erhält sich der Christus ganz und unversehrt,
- wie in jedem Gliede unseres Körpers dieselbe ganze und unteilbare Seele
- zugegen ist, und wie sich in einem Spiegel, auch wenn er in hundert
- Stücke zerspringt, selbst noch im kleinsten Splitter das Abbild
- derselben Dinge erhält. Wie in einem Ton, der an unser Ohr dringt,
- dieselbe Einheit erhalten bleibt oder wie derselbe ganze Ton sich
- unversehrt erhält, auch wenn tausend Ohren ihn vernehmen. Die Stücke,
- die während des Offertoriums zu Ehren der Heiligen und der Entschlafenen
- und im Namen einzelner von den Lebenden herausgeschnitten wurden, werden
- nicht alle in den Kelch getaucht. Sie bleiben einstweilen noch auf der
- Patene; nur die Teile, die den Leib und das Blut des Herrn darstellen,
- werden der Gemeinde während des heiligen Abendmahls dargereicht. In den
- ersten Zeiten der Kirche wurden sie in getrennter Gestalt dargereicht,
- wie sie auch heute noch von den Priestern genossen werden; ein jeglicher
- nahm den Leib des Herrn in die Hand und trank dann selbst aus dem Kelch.
- Aber da die heiligen Gaben infolge der Zuchtlosigkeit der neubekehrten
- und noch unwissenden Christen, die bloß dem Namen nach Christen geworden
- waren, oftmals von ihnen fortgetragen und mit nach Hause genommen
- wurden, wo man sie zu abergläubischen Zwecken und Zauberkünsten
- verwendete, oder da man in der Kirche in unwürdiger Weise mit ihnen
- umging, sich hierbei stieß, Lärm machte und die heiligen Gaben sogar
- verschüttete, als die Väter vieler Kirchen sich genötigt sahen, dem
- Volke den Kelch völlig vorzuenthalten und ihn durch die Darreichung der
- Oblate, als Symbol des Brotes, zu ersetzen, ein Brauch, den die
- abendländische römisch-katholische Kirche bei sich eingeführt hat, da
- ordnete der heilige Johannes Chrysostomus an, damit in der
- morgenländischen Kirche nicht das gleiche geschähe: daß Leib und Blut
- dem Volke nicht in getrennter und gesonderter, sondern in vereinigter
- Gestalt dargereicht werden und daß ihm beides nicht in die Hand gegeben,
- sondern in einem heiligen Löffel gereicht werden solle, der die Form
- jener Zange haben müsse, mit der der feurige Seraphim die Lippen des
- Propheten Jesaias berührte. Hierdurch sollen alle daran gemahnt werden,
- was das für eine Berührung ist, deren ihr Mund gewürdigt wird, und ein
- jeglicher deutlich erkennen, daß der Priester in diesem heiligen Löffel
- jene glühende Kohle hält, die der Seraphim mit der geheimnisvollen Zange
- vom Altar Gottes nahm, also daß bei der bloßen Berührung der Lippen des
- Propheten alle seine Missetat von ihm genommen wurde. Derselbe Johannes
- Chrysostomus ordnete ferner, um jeden Gedanken daran fernzuhalten, daß
- eine solche Vereinigung von Leib und Blut ein Willkürakt des Priesters
- sein könne, an, daß im Augenblick ihrer Vereinigung warmes Wasser in das
- Gefäß gegossen werde, was die erwärmende Gnade des Heiligen Geistes
- symbolisieren soll, der da ausgegossen wird, um diese Vereinigung zu
- heiligen, woher auch der Diakon dabei die Worte spricht: »Die Wärme des
- Glaubens, erfüllet vom Heiligen Geiste!« Beim Einschütten des warmen
- Wassers wird die Gnade des Heiligen Geistes herabgefleht, damit nichts
- ohne den Segen des Herrn dabei geschehe und auf daß die Wärme zugleich
- zum Sinnbild der Blutwärme diene und, indem sie sich jedem fühlbar
- macht, ihm zum Bewußtsein bringe, daß sie nicht aus einem toten Leib,
- dem ja kein warmes Blut entfließt, sondern aus dem lebendigen,
- lebenspendenden und lebenzeugenden Leibe des Herrn in ihn einströmt;
- denn er soll auch hierbei daran erinnert werden, daß auch der tote Leib
- des Herrn nicht von Seiner göttlichen Seele verlassen, daß er voll der
- Wirkung des Heiligen Geistes ist, und daß die Gottheit Sich nicht von
- ihm getrennt hat.
- Nachdem der Priester zuerst selbst das Abendmahl genommen und es dann
- dem Diakon gereicht hat, steht der Diener Christi als ein neuer, durch
- das Sakrament der Kommunion von allen seinen Sünden gereinigter Mensch
- da; in diesem Augenblick ist er im wahren Sinn des Wortes ein Heiliger
- und würdig, anderen das Abendmahl zu reichen.
- Die Königspforte tut sich auf, und der Diakon erhebt feierlich seine
- Stimme: »Tretet heran mit Gottesfurcht und Glauben!« Nun erscheint der
- verwandelte Seraphim -- d. h. der in der Königspforte stehende Priester
- mit dem Kelch in der Hand -- vor der ganzen Gemeinde.
- Verzehrt von der Sehnsucht nach ihrem Gotte und von der heißen Flamme
- der Liebe zu Ihm, treten alle Kommunikanten, einer nach dem anderen, die
- Hände auf der Brust gekreuzt, vor den Priester und sprechen gebeugten
- Hauptes leise bei sich selbst folgendes Gebet, in dem sie ihren Glauben
- zu dem Gekreuzigten bekennen: »Ich glaube, o Herr, und bekenne, daß Du
- in Wahrheit bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, der in die
- Welt gekommen ist, die Sünder zu erlösen, deren vornehmster ich selbst
- bin. Ich glaube auch, daß dies Dein heiliger Leib und daß dies Dein
- gerechtes Blut ist; daher bete ich zu Dir: erbarme Dich meiner und
- vergib mir meine Sünden, die freiwilligen wie die unfreiwilligen, deren
- ich mich in Worten oder Taten, wissentlich oder unwissentlich schuldig
- gemacht habe, und gib, daß ich nicht als Verworfener teilhaftig werde
- Deines heiligen Sakramentes zur Vergebung der Sünden und zum ewigen
- Leben.« Hier hält der Andächtige einen Augenblick inne, um die Bedeutung
- dessen, wozu er sich anschickt, in Gedanken zu erfassen, und fährt
- sodann aus innerstem Herzen fort, indem er folgende Worte spricht:
- »Laß mich heute Deines heiligen Abendmahls teilhaftig werden, o Sohn
- Gottes, denn nicht als Dein Feind will ich Dein Geheimnis verraten, noch
- Dich küssen mit dem Kusse des Judas, sondern ich will Dich bekennen
- gleich dem Übeltäter, indem ich spreche: »Herr, gedenke an mich, wenn Du
- in Dein Reich kommst.« Und indem der Betende in seinem Inneren einen
- Augenblick andächtig innehält, fährt er fort: »Gib, o Herr, daß ich mir
- aus Deinem heiligen Abendmahl nicht das Gericht und die Verdammnis esse
- und trinke, sondern daß es mir zum Heil meiner Seele und meines Körpers
- gereiche.«
- Nachdem nun ein jeglicher dieses Bekenntnis abgelegt hat, naht er sich
- dem Geistlichen nicht wie einem gewöhnlichen Priester, sondern wie dem
- feurigen Seraphim selbst, indem er sich bereit hält, mit offenem Munde
- die glühende Kohle des heiligen göttlichen Leibes und Blutes, die ihm im
- Löffel gereicht wird, in sich aufzunehmen, sie, die den ganzen häßlichen
- Schmutz und Unrat seiner Sünden zu Asche verbrennen soll, wie trockenes
- Reisig, die ewige Nacht aus seiner Seele verscheuchen und ihn selbst in
- einen strahlenden Seraph verwandeln soll. Und wenn dann der Priester den
- heiligen Löffel an seine Lippen führt, den Kommunikanten beim Namen
- nennt und spricht: »Der Knecht Gottes empfängt das gerechte und heilige
- Blut des Herrn und Gottes, unseres Heilandes Jesu Christi, zur Vergebung
- der Sünden und zum ewigen Leben,« nimmt er den Leib und das Blut des
- Herrn in sich auf; so steht er in seinem Inneren einen Augenblick seinem
- Gott gegenüber, indem er Ihm selbst vor das Angesicht tritt. Dieser
- Augenblick ist unzeitlich und er unterscheidet sich durch nichts von der
- Ewigkeit, denn er ist erfüllt von Dem, Der da der Grund aller Ewigkeit
- ist.
- Indem der Mensch durch den Genuß des Leibes und des Blutes dieses großen
- Augenblicks teilhaftig geworden ist, steht er von heiliger Ehrfurcht
- erfüllt da; nun wird sein Mund mit dem heiligen Aër abgetrocknet, und
- diese Handlung wird mit den Worten des Seraphs begleitet, die dieser an
- den Propheten Jesaias richtete: »Siehe, hiermit sind deine Lippen
- gerühret, daß deine Missetat von dir genommen werde und deine Sünde
- versöhnet sei.« Nunmehr tritt er selbst als ein Heiliger von dem
- heiligen Kelche zurück, indem er sich vor den Heiligen verbeugt, sie
- grüßt und sich vor den Anwesenden verneigt, die seinem Herzen jetzt
- soviel näher stehen als bis dahin und die nun durch das Band einer
- heiligen himmlischen Blutsverwandtschaft mit ihm verbunden sind; dann
- geht er wieder an seinen Platz zurück, ganz erfüllt von dem Gedanken,
- daß er Christus selbst in sich aufgenommen hat, daß Christus in ihm
- weilt und in fleischlicher Gestalt in seinen Leib hinabgestiegen ist,
- wie in ein Grab, um bis in die geheimste Kammer seines Herzens
- einzudringen und aufzuerstehen in seinem Geiste, denn in ihm selbst
- vollzieht Er Sein Begräbnis und Seine Auferstehung. Und die ganze Kirche
- leuchtet auf im Lichte dieser geistigen Auferstehung und jauchzend
- stimmt der Sängerchor einen Jubelgesang an:
- »Wir haben gesehen Christi Auferstehung, so lasset uns anbeten den
- heiligen Herrn Jesum, Ihn, den Einzigen, Sündlosen. Wir beten Dein Kreuz
- an, o Christus, und lobsingen und preisen Deine heilige Auferstehung,
- denn Du bist unser Gott, wir kennen keinen, außer Dir, und preisen
- Deinen Namen. Kommet her, alle ihr Gläubigen, lasset uns anbeten die
- heilige Auferstehung Christi, denn durch das Kreuz ward der ganzen Welt
- große Freude zuteil. Wir segnen den Herrn ewiglich und preisen Seine
- Auferstehung: denn Er erlitt und erduldete den Kreuzestod, und indem er
- starb, hat Er den Tod überwunden.« Und hierauf singt der Chor gleich den
- Engeln, die sich zu dieser Zeit versammeln:
- »Strahle auf und leuchte, neues Jerusalem, denn Gottes Ruhm ist über dir
- aufgegangen. Jubele und freue dich nun, o Zion. Und du, reine Jungfrau
- und Mutter Gottes schmücke dich, denn Er, Den du geboren hast, ist
- auferstanden. O großes, heiligstes Passahfest Christi! O Weisheit, du
- Wort und Kraft Gottes! laß uns deiner noch in vollkommener Weise
- teilhaftig werden an dem nie endenden Tage deines Reiches!«
- Während die frohlockende Kirche also widerhallt von den
- Auferstehungsliedern, stellt der Priester, im geschlossenen Altarraum,
- den heiligen Kelch auf den heiligen Hochaltar, der gleich der Patene
- wieder mit einer Decke zugedeckt wird, und richtet ein Dankgebet an den
- Herrn und Wohltäter unserer Seelen dafür, daß Er alle durch Seine Gnade
- teilnehmen ließ an Seinem himmlischen ewigen Sakramente, und er schließt
- mit der Bitte, Gott möge uns auf den rechten Weg führen, uns alle in der
- heiligen Ehrfurcht zu Ihm befestigen, unser Leben behüten und unseren
- Schritten Kraft und Festigkeit verleihen.
- Und nun öffnet sich die Königspforte zum letztenmal, denn dieses offene
- Tor soll die offenen Pforten des Himmelreiches versinnbildlichen, das
- Christus allen zuteil werden ließ, indem Er Sich selbst der ganzen Welt
- zur Speise darbrachte. Das Hinaustragen des heiligen Kelches, wobei der
- Diakon die Worte spricht: »Tretet heran mit Gottesfurcht und Glauben,«
- sowie das Zurücktragen des Kelches soll versinnbildlichen, daß Christus
- zum Volke hinausgeht, um alle Menschen mit Sich in das Haus Seines
- Vaters zurückzuführen. Vom Chor ertönt ein donnernder feierlicher
- Jubelgesang zur Antwort: »Gesegnet sei Der da kommt im Namen des Herrn;
- unser Herr und Gott erscheine, Der uns erscheint.« Und die ganze
- Gemeinde vereinigt sich mit dem Chor und stimmt einen donnernden
- geistlichen Lobgesang an, der aus der Tiefe des gewaltig erstarkten und
- erhobenen Geistes kommt. Der Priester segnet die Anwesenden mit den
- Worten: »Errette, o Herr, Deine Menschen und segne Dein Eigentum,« denn
- er nimmt an, daß in diesem Augenblick alle durch ihre Reinheit zu Gottes
- eigenstem Eigentum geworden sind -- dann schwingt er sich in Gedanken
- empor und gedenkt der Himmelfahrt Christi, die den Abschluß Seines
- Erdenwandels bildete: er tritt zusammen mit dem Diakon vor den heiligen
- Hochaltar, verneigt sich und räuchert zum letztenmal, indem er spricht:
- »Aufgefahren zum Himmel bist Du, o Herr, die ganze Erde ist Deines
- Ruhmes voll,« inzwischen aber begeistert der Chor durch jauchzende
- Jubelgesänge und Töne, die von strahlender geistiger Freude erfüllt
- sind, die verklärten Gemüter der Anwesenden zu folgenden Worten, dem
- höchsten Ausdruck geistiger Freude: »Wir haben das wahre Licht geschaut,
- wir haben den himmlischen Geist empfangen, wir haben uns mit dem
- wahrhaften Glauben erfüllt und beten an die Heilige unteilbare
- Dreieinigkeit, denn Sie hat uns erlöst.«
- Der Diakon erscheint mit der heiligen Patene auf dem Haupte im heiligen
- Tor, er spricht kein Wort, blickt stumm auf die ganze Versammlung und
- entfernt sich hierauf wieder, womit er andeuten will, daß Christus uns
- verlassen hat und gen Himmel gefahren ist. Nach dem Diakon erscheint der
- Priester mit dem heiligen Kelch im heiligen Tore und verkündigt, daß der
- Herr, Der gen Himmel gefahren ist, alle Tage bis zum Ende der Welt bei
- uns weilet, indem er spricht: »Immerdar, jetzo, hinfort und in alle
- Ewigkeit,« worauf der Kelch und die Patene zurückgetragen und auf den
- Seitenaltar gestellt werden, auf dem das Offertorium stattfand und der
- jetzt nicht mehr die Krippe, die eine Zeugin der Geburt Christi war,
- sondern jenen höchsten Ort des Ruhmes darstellt, auf dem sich die
- Himmelfahrt Christi in den Schoß des Vaters vollzog.
- Hier vereinigt sich die ganze Kirche unter Führung des Sängerchors zu
- einem feierlichen Dankgesang der Seelen, und dies sind die Worte des
- Lobgesangs: »Laß unseren Mund sich erfüllen mit Deinem Lobe, o Herr, daß
- wir Deinen Ruhm singen, Der Du uns würdigest, an Deinem heiligen,
- göttlichen, unvergänglichen, lebenspendenden Sakramente teilzunehmen;
- behüte uns in Deinem Heiligtume, auf daß wir den ganzen Tag Belehrung
- schöpfen aus Deiner Weisheit!« Hierauf singt der Sängerchor dreimal ein
- begeistertes: »Halleluja!«, das allen das ewige Wandeln und die
- Allgegenwart Gottes in Erinnerung ruft. Der Diakon besteigt die Kanzel,
- um die Anwesenden zum letztenmal zu Dankgebeten aufzufordern. Er hebt
- die Stola mit drei Fingern seiner Hand empor und spricht: »Vergib!
- lasset uns, nachdem wir empfangen haben das göttliche, heilige, reine,
- unvergängliche, himmlische, lebenspendende und furchtbare Sakrament
- Christi, würdig danken dem Herrn.« Und alle Anwesenden singen leise und
- mit dankbarem Herzen: »Herr, erbarme Dich!« »Hilf, rette, erbarme Dich
- und erhalte uns durch Deine Gnade, o Gott!« ruft der Diakon zum
- letztenmal. Und alle singen den Gesang: »Herr, erbarme Dich! Wir beten,
- daß dieser ganze Tag heilig, friedlich und sündlos zu Ende gehe und
- weihen uns, einander und unser ganzes Leben Christus, unserem Gotte!«
- Und mit der sanften Fügsamkeit eines Kindes und dem himmlischen
- Vertrauen auf Gott rufen alle aus: »Dir, o Herr!« Der Priester hat
- währenddessen das Corporale zusammengelegt und verkündigt nun mit dem
- Evangelium in der Hand ... und stimmt einen Lobgesang auf die
- Dreieinigkeit an, der bisher gleich einem alles erhellenden Leuchtturm
- den ganzen Gang des Gottesdienstes erleuchtete und jetzt mit noch
- hellerem Lichte in den verklärten Seelen aufstrahlt; diesmal aber lautet
- der Lobgesang auf die Dreieinigkeit folgendermaßen: »Da Du bist unsere
- Heiligung, so singen wir Dir Ruhm und Preis: dem Vater, dem Sohne und
- dem Heiligen Geiste, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit.«
- Dann tritt der Priester vor den Seitenaltar, auf dem der Kelch und die
- Patene stehen. Alle die Stücke, die bisher auf der Patene lagen und die
- während des Offertoriums zum Gedächtnis der Heiligen, zu Ehren der
- Entschlafenen und für das geistige Wohlergehen der Lebenden
- herausgeschnitten wurden, werden jetzt in den heiligen Kelch getaucht,
- und durch diesen Akt des Eintauchens nimmt die ganze Kirche am Leibe und
- Blute Christi teil -- sowohl die, die noch auf Erden umherirrt und
- kämpft, als auch die, die bereits triumphieret im Himmel: die Mutter
- Gottes, die Propheten, die Apostel, die Kirchenväter, die Priester, die
- Einsiedler, die Märtyrer, alle Sünder, für die ein Stück aus dem Brote
- herausgeschnitten wurde, sowohl die, die auf Erden leben, als auch die,
- die schon dahingegangen sind, nehmen in diesem Augenblick am Leibe und
- Blute Christi teil. Und der Priester, der in diesem Augenblick als der
- Vertreter der ganzen Kirche vor Gottes Angesichte steht, trinkt aus dem
- Kelche diese Kommunion aller und betet, nachdem er die Kommunion in sich
- aufgenommen hat, für alle, auf daß ihre Sünden weggewaschen werden, denn
- um der Erlösung aller willen ward dieses Opfer von Christus dargebracht,
- sowohl für die, die vor Seinem Kommen gelebt haben, als auch für die,
- die nach seinem Erscheinen leben. Und so sündhaft sein Gebet auch sein
- mag, der Priester richtet es für alle zu Gott empor, selbst für die
- heiligsten unter den Menschen, denn Johannes Chrysostomus hat gesagt:
- »Die ganze Welt muß gereiniget werden.«
- Die Kirche ordnet ein allgemeines Gebet für alle an, und die hohe
- Bedeutung eines solchen Gebets und seine strenge Notwendigkeit sind
- nicht von den Philosophen und nicht von Gelehrten und Weltweisen des
- Zeitalters, sondern von den erhabensten Menschen erkannt worden, die
- durch ihre hohe geistige Vollkommenheit und durch ihr himmlisches
- engelhaftes Leben bis zur Erkenntnis der tiefsten geistigen Geheimnisse
- durchdrangen und klar einsahen, daß es keine Trennung unter denen, so in
- Gott leben, gibt, daß ihr Verkehr infolge der momentanen Verweslichkeit
- unseres Leibes nicht aufhört, daß die Liebe, die hier erblühte und uns
- verband auf der Erde, im Himmel als in ihrer Heimat noch viel mächtiger
- wird, und daß ein Bruder, der uns verlassen hat, uns durch die Macht der
- Liebe noch weit näher gerückt wird. Und alles, was aus Christus
- hervorgeht, ist ewig, wie die Quelle selbst ewig ist, aus der es
- entspringt. Sie haben ja auch durch ihre höheren Sinnesorgane erfahren,
- daß sogar die triumphierende Kirche im Himmel beten muß, und daß sie in
- der Tat für ihre auf Erden herumirrenden Brüder betet; sie haben auch
- erkannt, daß Gott uns im Gebet die höchste Seligkeit beschieden hat,
- denn Gott tut nichts und erweist niemand eine Wohltat, ohne Sein
- Geschöpf an Seinem Werke mitwirken zu lassen, auf daß es die hohe Wonne
- des Wohltuns mitgenieße; der Engel, der der Überbringer Seines Befehls
- ist, versinkt förmlich in Seligkeit, bloß weil er Seine Befehle
- überbringen darf. Der Heilige betet im Himmel für seine Mitbrüder, die
- hier auf Erden weilen, und versinkt in lauter Seligkeit, weil er beten
- darf. Und alles nimmt mit Gott an allen Seinen höchsten Wonnen und an
- Seiner Seligkeit teil: Millionen der vollkommensten Geschöpfe gehen aus
- Gottes Hand hervor, um an der höchsten und erhabensten Seligkeit
- teilzunehmen, und dies nimmt kein Ende, wie Gottes Seligkeit kein Ende
- nimmt.
- Nachdem der Priester die Kommunion aller mit Gott aus dem Kelche
- getrunken hat, verteilt er die Weihbrote, denen die Stücke entnommen und
- aus denen sie herausgeschnitten wurden, an das Volk und übt damit den
- alten hohen Brauch des Liebesmahls aus, der bei den ersten Christen
- herrschte. Obwohl heute zu diesem Zweck kein Tisch mehr gedeckt wird,
- weil die ungebildeten und noch rohen Christen durch törichte
- Kundgebungen einer ungestümen Freude und durch Worte des Streits statt
- durch Worte der Liebe die Heiligkeit dieses rührenden himmlischen Mahles
- im Hause Gottes entweiht hatten, eines Mahles, bei dem alle Teilnehmer
- Heilige waren, bei dem alle Teile in eins zusammenflossen und
- währenddessen sie miteinander sprachen und sich unterhielten wie reine,
- unschuldige Kindlein, als wenn sie bei Gott im Himmel weilten; obwohl
- die Kirchen selbst einsahen, daß es unbedingt notwendig sei, diesen
- Brauch aufzuheben und selbst die Erinnerung an dieses Festmahl in vielen
- Kirchen zu tilgen, konnte die morgenländische Kirche sich
- nichtsdestoweniger nicht entschließen, diese Sitte gänzlich
- abzuschaffen, und so feiert sie auch heute noch in der Verteilung des
- heiligen Brotes an das gesamte in der Kirche versammelte Volk das alte
- Liebesmahl. Daher nimmt ein jeder, der das Weihbrot empfängt, dieses
- statt des Brotes entgegen, das von jenem Mahle herstammt, bei dem der
- Herr der Welt selbst Sich mit Seinen Jüngern unterredet hat, daher muß
- er es voller Ehrfurcht genießen und sich vorstellen, er sei von allen
- Menschen wie von lieben Brüdern umgeben, daher genießt er es denn auch,
- wie das in der Urkirche Sitte war, vor jeder anderen Speise, nimmt es
- mit sich nach Hause, oder er bringt es den Kranken, den Armen und
- solchen, die an jenem Tage aus irgendeinem Grunde nicht in der Kirche
- sein konnten.
- Nachdem der Priester die heiligen Brote verteilt hat, schließt er die
- Liturgie mit einem Gebet und segnet sodann das ganze Volk mit den
- Worten: »Christus, unser wahrhaftiger Gott, erbarme Sich unser auf die
- Fürbitte Seiner reinen Mutter, auf Fürbitte unseres Erzbischofs Johannes
- Chrysostomus (wenn an diesem ebenso wie am vergangenen Tage die Liturgie
- des Chrysostomus stattfindet), auf Fürbitte des Heiligen (hier nennt er
- den Heiligen, dem dieser Tag geweiht ist) sowie aller Heiligen; und
- errette uns, denn Er ist gütig und menschenfreundlich.« Die Gemeinde
- bekreuzigt sich, fällt auf die Knie und geht auseinander, während der
- Chor einen lauten Gesang anstimmt und Gebete für das Leben des Kaisers
- emporrichtet.
- Nunmehr legt der Priester im Inneren des Altarraumes seine Gewänder ab,
- indem er spricht: »Nun entläßt Du Deinen Knecht!« und er begleitet diese
- Handlung mit Lobgesängen und Hymnen zu Ehren des Vaters und Bischofs der
- Kirche, dem zu Ehren die Liturgie zelebriert wurde, sowie zu Ehren der
- heiligen reinen Jungfrau, in der sich die Menschenwerdung Dessen
- vollzog, Dem die ganze Liturgie geweiht ist. Der Diakon verzehrt
- unterdessen alles, was noch im Kelche enthalten ist, gießt noch etwas
- Wein und Wasser hinein, spült die inneren Wände des Kelches ab, trinkt
- sodann den Inhalt des Kelches aus und trocknet ihn sorgfältig mit dem
- Schwamm ab, damit nichts mehr darin bleibe, dann räumt er die heiligen
- Gefäße zusammen, bedeckt sie mit Decken, bindet sie zusammen und spricht
- ebenso wie der Priester: »Nun entläßt Du Deinen Knecht!« worauf er
- dieselben Gesänge und Gebete wiederholt. Und beide verlassen die Kirche
- mit frischen, strahlenden Gesichtern, mit einem von jauchzender
- Freudigkeit erfüllten Geist und Worten des Dankes für den Herrn auf den
- Lippen.
- Schluß
- Die Wirkung, die die heilige Liturgie auf den Geist ausübt, ist
- gewaltig: sie vollzieht sich sichtbar und vor den Augen der ganzen Welt
- und bleibt doch verborgen. Und wenn der Kirchenbesucher nur jeder
- Handlung andächtig und aufmerksam und den Ermahnungen des Diakons
- gehorsam gefolgt ist, -- so wird seine Seele von einer gehobenen
- Stimmung ergriffen, Christi Gebote werden für ihn erfüllbar, das Joch
- Christi wird sanft, und Seine Last wird leicht. Wenn er dann den Tempel
- verlassen hat, woselbst er an dem göttlichen Liebesmahl teilgenommen
- hat, sieht er alle Menschen als seine Brüder an. Was er auch tut, ob er
- wieder an seine gewohnten Geschäfte geht, sich seinem Dienst oder seiner
- Familie widmet, wo und in welchem -- -- -- es auch sei, stets schwebt
- ihm ganz unwillkürlich das hohe Ziel eines liebevollen Verhaltens gegen
- seine Mitmenschen vor der Seele, wie es uns der Gottmensch vom Himmel
- mitgebracht hat; ohne daß er es selbst merkt, wird er freundlicher und
- gütiger gegen seine Untergebenen. Wenn er selbst einen Vorgesetzten über
- sich hat, so ordnet er sich ihm liebevoller unter, als wäre es der
- Heiland selbst, dem er gehorcht. Wenn er einen Menschen sieht, der um
- Hilfe bittet, ist sein Herz mehr denn sonst zur Hilfe geneigt, er findet
- mehr [Freude] daran und schenkt dem Armen aus liebendem Herzen ein
- Almosen. Ist er dagegen selbst arm, so nimmt er jede kleine Gabe voller
- Dankbarkeit entgegen; sein Herz ist von Rührung ergriffen und will vor
- Dank vergehen, und niemals betet er so dankerfüllt für seinen Wohltäter.
- Und alle, die der göttlichen Liturgie aufmerksam gefolgt sind, verlassen
- die Kirche sanftmütiger, sind gütiger im Umgang mit dem Menschen und
- freundlicher und milder in allem, was sie tun.
- Daher muß ein jeder, der innerlich fortschreiten und besser werden will,
- die göttliche Liturgie, so oft als nur möglich, besuchen und ihr
- aufmerksam folgen: sie stimmt den Menschen ganz unmerklich und richtet
- seine Seele empor. Und wenn sich unsere Gesellschaft noch nicht
- vollständig aufgelöst hat, wenn die Menschen noch nicht von einem tiefen
- unversöhnlichen Haß widereinander erfüllt sind, so liegt der letzte
- tiefste Grund in der göttlichen Liturgie, die den Menschen an das
- heilige himmlische Gebot der Liebe zu seinen Brüdern mahnt. Wer sich
- daher in der Liebe stärken will, der sollte dem heiligen Liebesmahl so
- oft als möglich, voller Furcht, voller Glauben und Liebe beiwohnen. Und
- wenn er das Gefühl hat, daß er dessen noch nicht würdig ist, mit seinem
- Munde den Gott in sich aufzunehmen, Der selbst ganz Liebe ist, so soll
- er wenigstens der Liturgie als Zuschauer beiwohnen, er mag zusehen, wie
- die anderen das heilige Abendmahl nehmen, um unmerklich und
- unwillkürlich mit jeder Woche besser und vollkommener zu werden.
- Gewaltig und unermeßlich könnte die Wirkung der heiligen Liturgie sein,
- wenn der Mensch ihr beiwohnte, um das, was er gehört hat, in sein Leben
- aufzunehmen.
- Indem alle in gleicher Weise aus der Liturgie Belehrung schöpfen und
- indem sie auf alle Glieder der Gesellschaft vom Zaren herab bis zum
- letzten Bettler gleichermaßen wirkt, spricht sie zu allen in gleicher
- Weise, wenngleich nicht in derselben Sprache, und unterweist alle in der
- Liebe, die da ist das Band der Gesellschaft, die innerste Triebfeder
- alles dessen, das sich harmonisch bewegt, und die Nahrung und das Leben
- von allem.
- Wenn aber die heilige Liturgie schon, während sie zelebriert wird, so
- stark auf die Anwesenden wirkt, so ist ihre Wirkung auf den Zelebranten
- oder den Priester noch weit tiefer. Wenn er sie andächtig und mit
- Ehrfurcht, Glauben und Liebe zelebriert, so reinigt sich sein ganzes
- Wesen, gleich einem Gefäß, das später zu nichts mehr ...; und mag er nun
- den ganzen Tag erregt in der Erfüllung seiner zahlreichen
- seelsorgerischen Pflichten, inmitten seiner Familie, seiner Hausgenossen
- oder seiner Pfarrkinder zubringen, der Heiland selbst wird sich in ihm
- verkörpern. Christus wird in allen seinen Handlungen lebendig sein, und
- der Heiland wird durch seinen Mund zu uns sprechen. Ob er die
- Streitenden zu versöhnen oder den Starken oder den Zornigen zu bewegen
- sucht, Gnade gegenüber dem Schwachen zu üben; ob er den Trauernden
- tröstet und den Bedrückten zur Geduld ermahnt oder ... seine Worte
- werden von der heilenden Kraft des Balsams erfüllt sein und überall und
- allerorten zu Worten des Friedens und der Liebe werden.
- Jugendschriften
- 1834
- Großer, feierlicher Augenblick! Gott, wie rauschen, wie drängen sich in
- ihm die Wogen der mannigfaltigsten Gefühle zusammen! Nein, das ist kein
- Traum. Das ist die verhängnisvolle unvermeidliche Grenzscheide zwischen
- Erinnerung und Hoffnung ... Es gibt schon kein Erinnern mehr, schon
- schwindet es dahin, schon wird es von der Hoffnung zurückgedrängt. Zu
- meinen Füßen braust meine Vergangenheit; über mir, durch Nebelschleier
- hindurch, schimmert geheimnisvoll die Zukunft. Ich flehe dich an, Leben
- meiner Seele (mein Schutzgeist, mein Engel), mein Genius! Verbirg dich
- nicht vor mir! Wache in diesem Augenblick über mir und weiche dieses
- ganze Jahr, das für mich so vielversprechend beginnt, nicht von meiner
- Seite. Wie wirst du aussehen, du, meine Zukunft? Liegst du glanzvoll,
- groß vor mir, gärt es in dir von gewaltigen Taten, oder ... O mögest du
- ruhmvoll, tatenreich und ganz der Arbeit und der Ruhe gewidmet sein!
- Warum stehst du so geheimnisvoll vor mir, du [Jahr] 1834? Sei auch du
- mein Schutzengel. Sollten sich Trägheit und Gefühllosigkeit auch nur
- einen Augenblick erdreisten, sich mir zu nahen, -- oh, dann wecke mich
- aus dem Schlummer, gib es nicht zu, daß sie Macht über mich gewinnen!
- Laß deine so vielsagenden Zahlen wie eine nimmer ruhende Uhr, wie mein
- Gewissen vor mir stehen: laß jede deiner Ziffern lauter denn eine
- Sturmglocke an mein Ohr tönen, laß sie gleich einem galvanischen Stab
- meinen ganzen Körper in Zuckungen versetzen und erschüttern.
- Geheimnisvolles, unbegreifliches Jahr 1834! Wo werde ich dich durch
- große Werke kennzeichnen? Inmitten dieses Haufens aufeinandergetürmter
- Häuser, dieser lärmenden Straßen, dieser siedenden Geschäftigkeit --
- dieser Menge, dieses Durcheinanders aller möglichen Moden, Paraden,
- Beamten, dieser seltsamen nordischen Nächte, dieses Glanzes und dieser
- gemeinen Farblosigkeit? In meinem herrlichen, alten, gelobten, mit
- fruchtreichen Gärten geschmückten Kiew, das mein prachtvoller,
- wundersamer, südlicher Himmel überwölbt und das wonneatmende Nächte
- einhüllen, wo die Berge mit ihren schönen -- man möchte sagen
- harmonischen -- Hängen, und wo mein klarer, wild dahinstürmender Dnjepr,
- der es umspült, im Schmuck grünen Buschwerks prangt? -- Wird es dort
- sein? ... Oh! Ich weiß nicht, wie ich dich nennen soll, mein Genius! Du,
- der du schon seit meiner Wiege im Vorüberfliegen mein Ohr mit deinen
- harmonischen Liedern trafst, der du solch herrliche, mir bis heute noch
- unbegreifliche Gedanken in mir erwecktest und solch unendliche
- wonnevolle Träume in mir nährtest! Oh, blicke mich an! Herrlicher,
- blicke herab auf mich mit deinen himmlischen Augen! Ich knie vor dir.
- Ich liege zu deinen Füßen! Oh, verlasse mich nicht! Verweile bei mir auf
- der Erde, wenn auch nur zwei Stunden an jedem Tage, als mein herrlicher
- Bruder! Ich will es vollbringen. Ja, ich werde es vollbringen. In mir
- kocht es und siedet's vor Lebenskraft. Meine Werke werden von
- Begeisterung erfüllt sein. Die erhabene Gottheit, die über dieser Erde
- thront, wird über ihnen schweben. Ich werde es vollbringen ... Oh, küsse
- und segne mich!
- Über eine Geschichte der kleinrussischen Kosaken
- Es gibt bisher noch keine vollständige und befriedigende Darstellung der
- Geschichte Kleinrußlands und des kleinrussischen Volkes. Die zahlreichen
- kompilatorischen Darstellungen, die meist ohne strenge kritische
- Gesichtspunkte plan- und ziellos aus verschiedenen Chroniken
- zusammengetragen, dazu noch meist ganz unvollständig sind und durch die
- bisher diesem Volke sein Platz in der Weltgeschichte noch nicht
- angewiesen ward, diese Darstellungen nenne ich (trotzdem sie als
- Material ganz wertvoll sein können) noch keine Geschichte. Ich habe mich
- entschlossen, diese Arbeit auf mich zu nehmen und möglichst ausführlich
- darzustellen, wie dieser Teil Rußlands sich loslöste (und selbständig
- wurde), was für eine politische Verfassung er unter der fremden
- Herrschaft erhielt, wie sich hier eine kriegerische Bevölkerung
- heranbildete, die sich durch eine große Originalität des Charakters und
- durch ihre Taten auszeichnete; wie sich dieses Volk drei Jahrhunderte
- lang mit der Waffe in der Hand seine Rechte erobern mußte und hartnäckig
- seine Religion verteidigte, und wie es sich schließlich für immer an
- Rußland anschloß; wie es seinen kriegerischen Charakter verlor und sich
- in ein Volk von Ackerbauern verwandelte; wie sich das ganze Land
- allmählich statt der alten neue Rechte eroberte und endlich mit Rußland
- völlig zu einem Ganzen verschmolz. Ungefähr fünf Jahre lang habe ich mit
- großem Eifer Materialien gesammelt, die sich auf die Geschichte dieses
- Landes beziehen. Die Hälfte meiner Geschichte ist bereits so gut wie
- fertig, aber ich zögere noch, die ersten Bände herauszugeben, da ich
- vermute, daß es noch viele Quellen gibt, die mir vielleicht noch nicht
- bekannt sind, und die sich ohne Zweifel in den Händen von Privatpersonen
- befinden. Daher wende ich mich an alle die, die irgendwelche
- Materialien: Chroniken, Memoiren, Lieder, Erzählungen von
- Bandurenspielern, Aktenstücke (besonders auch solche, die sich auf die
- ersten Epochen der kleinrussischen Geschichte beziehen), besitzen (es
- ist unmöglich, daß meine gebildeten und aufgeklärten Landsleute mir
- diese Bitte abschlagen könnten). Ich bitte sie inniglich, mir diese
- Materialien zuzuschicken: wenn nicht die Originale, so doch wenigstens
- Kopien.
- Zwei Kapitel aus der kleinrussischen Erzählung
- Der schreckliche Eber
- I.
- Der Lehrer
- Die Ankunft einer neuen Person in dem gesegneten Lande Goltwjan machte
- mehr Aufsehen als das Gerücht, das vor zwei Jahren durch das Land ging,
- die Zahl der Rekruten solle vermehrt werden, oder als die plötzliche
- Erhöhung der Preise auf das Salz, das von den Steppenbewohnern der
- Ukraine aus der Krim eingeführt wurde. In den Schenken, auf den Straßen,
- in der Mühle, in der Branntweinbrennerei sprach man von nichts anderem
- als von dem neu hierher versetzten Lehrer. Die schlauen Politiker in
- ihren großen Kitteln und Kapuzen suchten, während sie mit höchst
- phlegmatischen Mienen dichte Rauchwolken unter ihrer Nase emporsteigen
- ließen, den Einfluß der Persönlichkeit festzustellen, der das Schicksal
- scheinbar schon bei der Geburt einen so hohen Platz über den Köpfen
- aller Bewohner der Welt angewiesen hatte, einer Person, die in den
- herrschaftlichen Gemächern wohnte und an einem Tisch mit der Besitzerin
- eines Gutes von fünfzig Seelen speiste. Man sprach davon, daß das
- Lehramt nicht seine ganze Befugnis ausmache, und daß sich sein Einfluß
- ohne allen Zweifel auch auf die wirtschaftliche Ordnung erstrecken
- werde; jedenfalls werde die Bemessung der Vorspanndienste, die
- Verteilung von Mehl, Speck usw. von keinem anderen abhängen als von ihm.
- Einzelne ließen mit bedeutsamer Miene durchblicken, daß nunmehr
- womöglich selbst der Verwalter zu einer bloßen Null herabsinken werde.
- Nur der _Miroschnik_, d. h. der Müller Ssolopi Tschubko, wagte die
- Behauptung aufzustellen, daß die Dorfältesten nichts von ihm zu
- befürchten hätten, er sei bereit, eine Wette einzugehen, und setze eine
- neue Mütze aus grauem reschetilowschem Lammfell zum Pfande --, daß der
- Lehrer keine Ahnung davon habe, wie man ein Fünfgespann zum Stehen und
- das stockende Mühlrad wieder in Schwung bringen müsse. Aber seine
- wichtige Haltung, sein glänzender Triumph über den Kirchensänger und die
- donnerähnliche Baßstimme, die alle Pfarrkinder in Rührung versetzt
- hatte, waren noch im Gedächtnis aller lebendig, und so blieb denn die
- vorteilhafte Meinung, die man von dem neuen Lehrer hatte, bestehen. Und
- wenn auch zu Ehren des Gastes kein einziges Turnier zwischen den
- angesehensten Bewohnern des Dorfes stattfand, so ließen sich dafür ihre
- liebenswürdigen Gattinnen nicht lumpen: begabt mit jener kräftigen
- Zunge, die so laute und durchdringende Töne hervorzubringen vermag und
- die sich bei den Weibern nach dem unerforschlichen Ratschluß der
- Vorsehung beinahe viermal so schnell bewegt wie bei den Männern, ließen
- sie ihr bei der Widerlegung der Angriffe und bei der Verteidigung der
- Vorzüge des Lehrers gewandt und behende freien Lauf.
- Lautes Geschrei und Geplapper, unterbrochen von plötzlichen Aufschreien
- und Gezänk, erfüllte die friedlichen Winkelgassen des Dorfes Mandrykow.
- Und da seine ehrenhaften Bewohnerinnen die löbliche Gewohnheit hatten,
- ihrer Zunge auch noch mit den Händen nachzuhelfen, konnte man in den
- Straßen fortwährend ein Paar kräftig ineinander verkrallter
- Gevatterinnen antreffen, die so eng aneinanderhingen, wie ein
- Schmeichler an einem Günstling des Glücks hängt oder wie ein Geizhals
- seine Tasche festhält, wenn die Straßen öde werden und eine einsame
- Laterne ihr erlöschendes Licht auf die gelben Mauern der schlafenden
- Stadt wirft. Am meisten hatten jedoch die Männer zu leiden, die es
- versuchten, sie zu trennen: Schnitzel und Scherben hagelten ihnen auf
- den Kopf herab, und häufig verprügelte eine erregte Gevatterin in der
- Hitze ihres Zornes statt eines fremden ihren eigenen Gatten.
- Inzwischen hatte sich unser Pädagoge völlig im Hause Anna Iwanownas
- eingelebt. Er gehörte zu der Zahl jener Seminaristen, die einen _Schreck
- vor der abgründigen Weisheit_ bekommen hatten, mit der das ***sche
- Seminar die nicht allzu wohlhabenden Herren von Kleinrußland gegen etwa
- hundert Rubel jährlich für ihren Beruf als Hauslehrer ausstattet. --
- Übrigens war Iwan Ossipowitsch sogar bis zur Theologie vorgedrungen, und
- er wäre wohl gar weiß Gott wie weit, ja wahrscheinlich sogar noch weiter
- gekommen, wenn seine lockeren Kameraden nicht gewesen wären, die sich
- beständig über seinen Schnurrbart und seinen stacheligen Backenbart
- lustig machten. Als von Jahr zu Jahr ein Teil die Schule verließ und
- immer jüngere und jüngere an ihre Stelle traten, ließen sie ihm
- überhaupt keine Ruhe mehr: bald warfen sie ihm klebrige Disteln in
- seinen Bart und Schnurrbart, bald hängten sie ihm hinten am Rock
- Schellen an, bald puderten sie ihm das Haar mit Sand oder schütteten ihm
- Nieswurz in die Tabaksdose, bis Iwan Ossipowitsch es überdrüssig wurde,
- der stumme Zeuge dieses ewigen Wechsels leichtsinniger Generationen und
- ihr Kinderspielzeug zu sein, bis er sich genötigt sah, dem Seminar
- Lebewohl zu sagen und sich in die »_Vakanz_« schicken zu lassen, d. h.
- nach dem Sprachgebrauch der kleinrussischen Seminare: Hauslehrer zu
- werden.
- Diese Veränderung bildete eine wichtige Epoche und einen Wendepunkt in
- seinem Leben. An die Stelle der ewigen Spöttereien und Streiche seiner
- mutwilligen Kameraden trat nun endlich etwas wie Achtung, Anhänglichkeit
- und Sympathie. Mußte man denn auch nicht unwillkürlich Achtung vor ihm
- empfinden, wenn er an Festtagen in seinem hellblauen Rock
- dahergeschritten kam -- wohlgemerkt im hellblauen Rock -- denn das ist
- von nicht geringer Bedeutung. Ich sehe es als meine Pflicht an, den
- Leser darüber aufzuklären, daß ein Rock im allgemeinen (gar nicht erst
- zu reden von einem blauen), wenn er bloß nicht aus grauem Stoff
- gefertigt ist, in den Dörfern an den gesegneten Ufern der Goltwa einen
- ganz wundersamen Eindruck macht: wo er sich auch zeigt, da fliegen
- selbst von den trägsten und unbeweglichsten Köpfen die Mützen herab und
- begeben sich in die Hände ihrer Besitzer; selbst die würdigen mit
- schwarzen und grauen Schnurrbärten gezierten, sonnengebräunten Häupter
- beugen sich tief bis zum Gürtel. Die Zahl aller Röcke im Dorfe betrug --
- wenn man auch den Mantel des Kirchensängers mitrechnet -- drei; aber so
- wie ein majestätischer Kürbis sich stolz aufbläht und alle übrigen
- Bewohner eines reichbepflanzten Melonenfeldes in den Schatten stellt,
- also verdunkelte der Rock unseres Freundes seine sämtlichen Mitbrüder.
- Was ihm den größten Reiz verlieh, das waren die Knochenknöpfe, die von
- den in Haufen auf der Straße stehenden Straßenjungen mächtig angestaunt
- wurden. Nicht ohne Vergnügen hörte unser stutzerhafter Erzieher der
- Jugend, wie die Mütter ihre Säuglinge auf die Knöpfe aufmerksam machten,
- und wie die Kleinen ihre Händchen ausstreckten und _Zga zga Zga zga_ (d.
- h. gut, gut) lallten. Beim Mittagessen war es ein Genuß, zuzusehen, wie
- würdig und mit welcher Rührung unser ehrenwerter Lehrer mit
- vorgebundener Serviette die allgemeine Verrichtung irdischer Sättigung
- besorgte. Da gab es kein überflüssiges Wort, keine unnötige Bewegung; er
- schien sich völlig in seinen Teller zu verfügen und ganz in ihm
- aufzugehen. Wenn er ihn so gründlich geleert hatte, daß kein
- gastronomisches Gerät, als da sind Gabel und Messer, noch etwas vorfand,
- dessen es sich bemächtigen konnte, schnitt er sich ein Stück Brot ab,
- spießte es auf die Gabel auf und fuhr mit diesem Gerät noch einmal über
- den Teller, wonach dieser so blank und rein war, als käme er eben aus
- der Fabrik. Aber dies alles, kann man wohl sagen, waren nur äußere
- Vorzüge, die seine Kenntnis der Sitten und Formen der feinen Welt
- bezeugten, und der Leser würde sehr fehlgehen, wenn er hieraus schließen
- wollte, daß damit alle seine Gaben und Fähigkeiten erschöpft gewesen
- wären. Der würdige Pädagoge besaß für einen einfachen Mann geradezu
- unermeßliche Kenntnisse, von denen er einige für sich behielt, wie z. B.
- die Zubereitung einer Arznei gegen den Biß von tollen Hunden und die
- Kunst, bloß aus Eichenrinde und Salpetersäure die schönste rote Farbe
- herzustellen. Außerdem konnte er eigenhändig die herrlichste
- Stiefelwichse und Tinte herstellen und für den kleinen Enkel Anna
- Iwanownas Figuren aus Papier ausschneiden; und an Winterabenden wickelte
- er Garn auf und spann er sogar.
- Ist es da wohl verwunderlich, wenn er sich bei solchen Gaben im Hause
- bald unentbehrlich machte, und wenn alle Knechte und Mägde völlig in ihn
- vernarrt waren, trotzdem sein Gesicht sowohl nach seiner Form wie nach
- seiner Farbe völlig einer Flasche glich, obwohl sein gewaltiger Mund,
- dessen dreisten Ansprüchen die abstehenden Ohren nur mit Mühe eine
- Schranke zu setzen vermochten, sich fortwährend verzog und verzerrte,
- indem er sich zu einem Lächeln zu zwingen suchte, und obwohl seine Augen
- eine hellgrüne Farbe hatten -- zwei Augen, wie sie, soviel mir bekannt
- ist, in den Annalen der Romane noch nie ein Held besessen hat. Aber
- vielleicht sehen die Frauen mehr als wir? Wer will sie enträtseln? Wie
- dem auch sein mag, genug, auch die alte Dame, die Frau des Hauses, war
- sehr befriedigt von den Kenntnissen des Lehrers in den Geheimnissen der
- Haushaltung und von seiner Kunst, aus Safran und _Herba rhabarbarum_
- Schnaps herzustellen, sowie von seiner Geschicklichkeit im Entwirren von
- Garn und seiner großen Lebenserfahrung. Der Haushälterin gefiel am
- meisten sein stutzerhafter Rock und seine Kunst, sich zu kleiden;
- übrigens hatte auch sie bemerkt, daß der Lehrer eine wundersame gerührte
- Miene machte, wenn er zu schweigen oder zu essen geruhte. Dem kleinen
- Enkel machten die papierenen Hähne und Männchen außerordentlich viel
- Spaß. Selbst der zottige _Browko_ pflegte ihm, sobald er ihn auf die
- Treppe hinaustreten sah, sofort zärtlich mit dem Schweife wedelnd,
- entgegenzulaufen und ihn ohne alle Förmlichkeit auf die Lippen zu
- küssen, wenn der Lehrer, die Würde, die seinem Amte gebührte,
- vergessend, sich unter dem majestätischen Giebel niederzusetzen
- beliebte. Nur die beiden älteren Enkelkinder und die Jungen, die zum
- Hause gehörten, mit denen er das A -- _Affe_, _Apfel_, _Be_ -- _Besen_,
- _Bild_, _Bär_ durchnahm, fürchteten sich vor der beredten, höchst
- ausdrucksvollen Rute des strengen Pädagogen.
- Während seines kurzen Aufenthaltes am neuen Orte hatte Iwan Ossipowitsch
- schon selbst Zeit gefunden, seine Beobachtungen zu machen und sich in
- seinem Kopfe wie in einem Hohlspiegel ein kleines Abbild der ihn
- umgebenden Welt zu formen. Die erste Person, an der seine
- Beobachtungsgabe mit dem gebührenden Respekt haften blieb, war, wie der
- Leser sich wohl selbst denken wird, die Gutsherrin. In ihrem Gesicht,
- das der scharfe Pinsel, der das menschliche Geschlecht seit undenklichen
- Zeiten koloriert und den man, seit Gott weiß wie langer Zeit, mit dem
- Namen »Falte« zu bezeichnen pflegt, nicht verschont hatte, in ihrer
- dunkelkaffeefarbenen Kapotte, in der Haube (deren Form in dem Gewirr der
- Ereignisse, die das achtzehnte Jahrhundert charakterisieren, verloren
- gegangen ist), in ihrem braunen Wams und den Schuhen ohne Hackenleder,
- erkannten seine Augen jene Lebensperiode wieder, die eine matte
- schwächliche Wiederholung der vergangenen, eine kalte farblose
- Übersetzung der Werke eines feurigen, von ewigen Leidenschaften
- glühenden Poeten ist, -- jener Periode, wenn den Menschen nichts als die
- Erinnerung, diese Repräsentantin der Gegenwart, Vergangenheit und
- Zukunft übrigbleibt, wenn das verhängnisvolle siebente Jahrzehnt einem
- Kälte durch die einstmals von Feuer durchströmten Adern treibt und das
- Lebensthermometer unter den Gefrierpunkt sinkt. Übrigens belebten die
- ewigen Sorgen und die Passion, sich zu beschäftigen und sich zu schaffen
- zu machen, einigermaßen das schon erloschene Leben in ihren Zügen, und
- ihre Frische und Gesundheit waren ein sicheres Unterpfand, daß ihr noch
- weitere dreißig Jahre des Lebens bevorstanden. Die ganze Zeit von fünf
- Uhr morgens bis sechs Uhr abends, das heißt bis zur Stunde, wo man sich
- Ruhe zu gönnen pflegt, bildete eine ununterbrochene Kette der Tätigkeit.
- Bis sieben Uhr morgens hatte sie bereits alle Räume besucht und den
- ganzen Haushalt durchmustert: Küche, Keller und Vorratskammern; sie
- hatte Zeit gefunden, sich mit dem Verwalter zu zanken und die Hühner und
- Gänse eigener Zucht, für die sie eine große Vorliebe hatte, zu füttern.
- Vor dem Mittagessen, das nie später als um zwölf Uhr stattfand, blickte
- sie in die Backstube hinein und half selbst beim Backen von Brot und
- einer besonderen Art von Brezeln aus Honig und Eierteig, deren bloßer
- Geruch den Pädagogen in eine unerklärliche Aufregung versetzte; besaß er
- doch eine leidenschaftliche Sympathie für alles, was der geistigen und
- physischen Natur der Menschen zur Nahrung dient. In der Zeit zwischen
- Mittagessen und Abend gibt's für eine Hausfrau genug zu tun. -- Da
- gibt's Wolle zu färben, Leinwand abzumessen, Gurken einzusalzen, Früchte
- einzumachen, Liköre zu süßen. Wieviel Methoden, Geheimnisse und
- Hausrezepte kommen während dieser Zeit zur Anwendung! Dem aufmerksamen
- Auge unseres Pädagogen konnte es nicht entgehen, daß auch Anna Iwanowna
- die Eitelkeit nicht ganz fremd war, und daher machte er es sich zur
- Regel, sich, freilich nur soweit ihm dies seine angeborene
- Schüchternheit erlaubte, in Lobeserhebungen über ihre außergewöhnlichen
- wirtschaftlichen Künste und Fähigkeiten zu ergehen, und dies wurde ihm,
- wie er später erfuhr, von großem Nutzen. Die würdige alte Dame verschloß
- die süßen Liköre und die Gläser mit Eingemachtem nicht eher, als bis
- Iwan Ossipowitsch davon gekostet und die außerordentliche Güte des einen
- wie des anderen gerühmt hatte. Alle übrigen Personen standen im
- Schatten, verglichen mit diesem leuchtenden Gestirn, so wie alle Gebäude
- im Hofe vor dem herrlichen Bau mit dem prachtvollen Portal in den Staub
- zu sinken schienen. Nur dem Auge eines scharfsinnigen Beobachters
- enthüllten sich ihre gegenseitigen Beziehungen und das besondere
- Kolorit, das jedem eigentümlich war, und dann erblickte er, fast wie in
- einem Ameisenhaufen, eine ewige Unruhe und Bewegung und er vernahm ein
- fortwährendes Geräusch, das keinen Augenblick verstummte. Unser Pädagoge
- verstand es, wie wir bereits gesehen haben, es jedem recht zu machen und
- sich gleich einem mächtigen Zauberer dauernd die allgemeine Achtung zu
- erwerben.
- Gänzlich unbegreiflich waren allein die Gründe, die ihn veranlaßt
- hatten, sich dem Küchenmeister anzuschließen. War es die hohe Achtung,
- die Iwan Ossipowitsch unwillkürlich vor seiner Kunst empfand, oder war
- es irgendein anderer Umstand -- das wagen wir nicht zu entscheiden.
- Genug, es vergingen keine zwei Tage, da erstanden Mandrykow zwei
- Dioskuren, der Orest und Pylades der neuen Welt. Aber noch
- unbegreiflicher war die Macht, die der Küchenmeister über unseren
- Pädagogen besaß, so daß der von Natur so bescheidene und schüchterne
- Lehrer, der nichts in den Mund nahm außer einem medizinischen Dekokt von
- _Betonica_ und _Herba rhabarbarum_, ihm unwillkürlich in die Schenken
- und überallhin zu folgen begann, wo der verbummelte Küchenmeister seine
- Nase hineinsteckte. Iwan Ossipowitsch gefiel die romantische Lage der
- Gegend, in der er sich aufhielt. Bald hatte er die Küche, die Speicher,
- die Scheunen, die Ställe und Vorratskammern, die einen unregelmäßigen
- Kreis um den geräumigen Herrenhof bildeten, besichtigt; mit besonderem
- Vergnügen verweilte er bei dem Garten, der üppig in die Breite
- geschossen war und dessen gigantische Bewohner, in ihre dunkelgrünen
- Mäntel gehüllt und von wundersamen Traumgestalten umschwebt, dastanden
- und schlummerten oder, sich plötzlich ihren Träumen entreißend, die
- unbotmäßige Luft wie Windmühlenflügel durchschnitten, und dann ging es
- wie ein unverständliches Geflüster durch das Blattwerk, und die
- gemessene majestätische Bewegung ihres ganzen Körpers gemahnte an die
- alten Mimen, die die großen Schatten der Verstorbenen auf den Gerüsten
- Melpomenes heraufbeschworen. Aber die Augen unseres Lehrers suchten ihr
- Objekt und hafteten mehr an den weniger majestätischen Gartenbewohnern,
- die dafür von unten bis oben mit Birnen und Äpfeln behangen waren, von
- denen die üppige Ukraine förmlich strotzt. Von hier aus kämpften sie
- sich bis zur Küche durch, hinter der zogen sich Plantagen von Erbsen,
- Kohl, Kartoffeln, sowie aller Kräuter hin, die in die Apotheke der
- Dorfküche gehören. Nicht ohne besonderes Vergnügen betrat er das reine,
- sauber geweißte und aufgeräumte Zimmer, in dem er nun wohnen sollte, mit
- dem Fenster, durch das man auf den Teich und die in violette Nebel
- gehüllte Landschaft hinaussah.
- Wir hatten bereits Gelegenheit, etwas über den Eindruck, den unser
- Lehrer auf die Schönen von Mandrykow gemacht hatte, zu bemerken: die
- gesenkten Augen, das Geflüster und die tiefen Verbeugungen ließen
- erkennen, daß seine Eroberung einer jeden von ihnen als keine geringe
- Angelegenheit erschien. Übrigens ist es hier wohl am Platze, den
- freundlichen Leser daran zu erinnern, daß Iwan Ossipowitsch einen Rock
- aus blauem Fabrikstoff mit schwarzen Knochenknöpfen von der Größe eines
- mächtigen Groschens anhatte; und so war es sehr verzeihlich, wenn er
- sich das Augenblinzeln der schwarzbrauigen Schelminnen zu seinen Gunsten
- auslegte. Zum Glück oder Unglück jedoch suchte das Gefühl, das der armen
- Menschheit so gut bekannt ist und ihr seit undenklichen Zeiten ein
- wahres Meer von unerträglichen Qualen beschert hat, unseren Pädagogen
- nicht heim. In diesem Punkte war Iwan Ossipowitsch ein echter Stoiker,
- und obwohl er noch nicht bis zur Philosophie vorgedrungen war, wußte er
- doch genau, daß keiner der Philosophen von Seneca und Sokrates bis herab
- zum Lektor des ***er Gymnasiums die wunderliche Hälfte des
- Menschengeschlechts für nichts achtete: ergo gab es keine Liebe. An
- solchen Prinzipien, die bei ihm schließlich die Festigkeit von
- Grundsätzen angenommen hatten, hielt er sehr fest, ja allzu fest ...
- _Homo proponit, Deus disponit_ pflegte der Lektor des ***er Gymnasiums
- häufig zu sagen, indem er die Schläge zählte, die er seinen faulen
- Schülern mit dem Lineal verabreichte; daher werden wir auch im folgenden
- Kapitel einen kleinen Umstand kennen lernen, der die Philosophie unseres
- Lehrers heftig erschütterte und seinen Verstand mit einer ganzen Wolke
- von Mißverständnissen bestürmte, ihn, der bisher unbeugsam in den
- Fußstapfen seiner großen Lehrmeister gewandelt war und sich mit
- regelmäßigem Pulsschlag in seiner flaschenförmigen Sphäre bewegt hatte.
- II.
- Der Erfolg der Gesandtschaft
- (Der Küchenmeister entschließt sich trotz der eigenen Herzenswunde,
- die er sich ganz plötzlich durch den Anblick der sich am Teiche
- waschenden Katerina zugezogen hat, das Versprechen, das er dem
- Lehrer gegeben hat, einzulösen und den Gesandten und Fürsprecher
- seiner Leidenschaft zu spielen. In dieser Absicht begibt er sich in
- die Hütte des Kosaken Charjka Potyliza.)
- Nachdem Onißko seine Toilette beendigt hatte, überschritt er nicht ganz
- ohne Furcht und geheime Freude die Schwelle. Der Böse schien ihn necken
- zu wollen (er gab dies später selbst zu), indem er ihm fortwährend die
- schlanken Füßchen seiner Nachbarin vorzauberte: »Ach, wenn doch der
- Lehrer nicht wäre!« wiederholte er mehrmals bei sich selbst; »was hätte
- es ihn gekostet, wenn er sich's hätte einfallen lassen, sich nur ein
- klein wenig später zu verlieben?« Und nachdenklich durchmaß er langsamen
- Schrittes die große Viehweide, durch die ihn sein Weg hindurchführte.
- Doch jetzt durchbrach ein vielstimmiges Gebell die nachdenkliche
- Stimmung, die ihn gleich einer Wolke umfing, und seine Gedanken stoben
- aufgescheucht wie eine Schar wilder Enten nach allen Richtungen
- auseinander. Er richtete die Augen empor und sah nun, daß er nicht mehr
- weiter konnte. Vor ihm erhob sich ein Tor, durch das wie durch
- ein Transparent der ganze unbewegliche Besitz des Kosaken
- hindurchschimmerte. Ein blauer Schlitzrock und ein feuerfarbenes Band
- leuchteten ihm entgegen ... Das Herz hüpfte ihm in dem Busen ... die
- blonde Schöne öffnete das Tor, trieb die lästigen Hunde mit einer langen
- Rute auseinander und stand nun vor ihm.
- Der Hof Charjkas stellte ein großes Quadrat dar, das auf einer Böschung,
- die sich gegen den Teich hinabsenkte, lag und von allen Seiten mit einem
- geflochtenen Zaun umgeben war. Wenn das Tor geöffnet war, sah man
- unmittelbar vor sich eine sauber geweißte Hütte mit mächtigen Fenstern
- von ungleicher Größe und eine eichene Tür, die schon ganz schwarz vor
- Alter war; das Häuschen stand auf einem niedrigen Lehmfundament (einer
- sogenannten Prisba), das nach der in Kleinrußland herrschenden Sitte mit
- Wäsche, Suppenschüsseln und einem Topf, einem alten Invaliden aus Ton,
- bedeckt war, dem trotz seiner Wunden und Verletzungen noch kein Abschied
- bewilligt wird, und den man zum Dank für seine treuen Dienste mit
- Spülwasser zu füllen pflegt. Zu beiden Seiten der Hütte befanden sich
- Ställe und Speicher mit struppigen beschädigten Dächern. Hinter der
- Hütte ragte eine Tenne empor, die ihrerseits von einem Taubenschlag
- überragt wurde, über den man nur noch die vorüberziehenden Wolken und
- die in der Luft herumflatternden Tauben erblickte. Weiter unten streckte
- sich der Gemüsegarten gleich einem kostbaren türkischen Schal bis zum
- Teiche hinab. Auf dem ganzen Hofe erblickte man überall Strohhaufen, die
- unordentlich herumlagen.
- Katerina schien ein wenig verwundert über Onißkos Besuch. Da sie annahm,
- daß ihn ohne Zweifel lediglich die Not zu ihrem Vater geführt haben
- konnte, öffnete sie das Tor nur zur Hälfte und sagte ein wenig verlegen:
- »Vater ist nicht zu Hause; er wird auch kaum bis zum Abend heimkommen.«
- »_Mag es ihm so leicht aufstoßen, wie es aus seinem Innern aufsteigt!_
- Was wär' ich für ein Tölpel vor dem Herrn, wenn ich trockenen Brei
- fressen wollte, wo mir Quarkkuchen mit saurem Rahm vor der Nase stehen?«
- Die blonde Schöne blieb überrascht und verblüfft stehen, denn sie wußte
- nicht, wie sie diese Worte verstehen sollte. Ein Lächeln, das durch sein
- seltsames Benehmen veranlaßt war, huschte über ihr Gesicht und schien
- anzudeuten, daß sie auf weitere Aufklärung warte.
- Der Küchenmeister fühlte selbst, daß er sich nicht ganz deutlich
- ausgedrückt und dazu ihres Vaters mit etwas rauhen Worten gedacht hatte;
- er fuhr daher fort: »Da müßte mich doch schon der Böse selbst zum
- _Alten_ führen, wenn dieser eine so hübsche Tochter hat.«
- »Ah, ist es das!« sagte Katerina lächelnd und leicht errötend. »Bitte,
- tretet ein!« und sie schritt voraus und ging auf die Tür der Hütte zu.
- In Kleinrußland haben die Mädchen viel mehr Freiheit als irgendwo
- anders, und daher darf es nicht seltsam erscheinen, daß unsere Schöne,
- ohne daß ihr Vater etwas davon wußte, einen Gast bei sich empfing. »Bist
- du zu Fuß hierher gekommen, Onißko?« fragte sie ihn, indem sie sich auf
- der Schwelle an der Tür der Hütte niederließ und eine würdige und
- ehrbare Haltung anzunehmen suchte, obwohl ihr schelmisches Lächeln, bei
- dem sie eine lange Reihe schöner Zähne sehen ließ, sie deutlich verriet.
- -- Wieso zu Fuß? -- Teufel auch! sollte sie über das, was gestern
- vorgefallen ist, unterrichtet sein? dachte der Küchenmeister. -- »Gewiß
- doch zu Fuß, meine Schöne. Wahrhaftig, der Teufel müßte mich reiten,
- wenn ich absichtlich den Braunen meines Herrn angespannt hätte, bloß um
- von einem Hof zum anderen zu gelangen!«
- »Aber von der Küche bis zur Vorratskammer ist es doch nicht so weit!«
- Hier aber konnte sie sich doch nicht mehr halten und lachte laut auf.
- -- Nein, du Schelmin! Der Böse selbst ist nicht schlauer als dieses
- Mädel! wiederholte der Küchenmeister mehrmals bei sich selbst und
- wünschte den Lehrer laut zum Teufel, alle Sympathie und Freundschaft
- vergessend, die zwischen ihnen bestand.
- »Übrigens wäre ich damit einverstanden, daß mir die Karauschen samt den
- frischgesalzenen Eierschwämmen auf der Pfanne anbrennen, wenn du nur
- noch einmal so lachen wolltest, schönes Mädchen!«
- Bei diesen Worten konnte der Küchenmeister sich nicht mehr beherrschen
- und umarmte sie.
- »Nein, das habe ich nicht gerne!« rief Katerina errötend, wobei sie eine
- zornige Miene machte. »Bei Gott, Onißko, wenn du noch einmal so etwas
- tust, so werfe ich dir ohne viel Umstände diesen Topf an den Kopf.«
- Bei diesen Worten hellte sich ihr zorniges Gesichtchen ein wenig auf,
- und das Lächeln, das hierbei über ihr Antlitz huschte, schien deutlich
- sagen zu wollen: »aber ich wäre dessen nicht fähig!«
- »Nein, nicht doch, nicht doch! _Ich habe dich doch nicht mit dem
- Lastwagen gestreift._ Als ob das ein Grund ist, so böse zu werden! Als
- ob das weiß Gott was für ein Verbrechen wäre, -- ein hübsches Mädchen zu
- umarmen!«
- »Sieh, Onißko, ich bin ja gar nicht böse,« sagte sie, indem sie ein
- wenig von ihm abrückte und wieder ein fröhliches Gesicht machte;
- »übrigens schien es mir so, als hättest du den Lehrer erwähnt.«
- Da aber machte der Küchenmeister ein recht kümmerliches Gesicht, das
- mindestens um ein paar Zoll länger wurde als gewöhnlich. »Der Lehrer ...
- Iwan Ossipowitsch soll das heißen ... Pfui Teufel noch einmal! Ich
- verschlucke die Worte, noch ehe sie meinem Munde entschlüpfen können,
- ganz als ob ich Gewürzbranntwein getrunken hätte. Der Lehrer ... Sieh
- mal, was ich dir sagen will, mein Herz! Iwan Ossipowitsch hat sich so in
- dich verknallt, daß ... nun ... wie sich's halt nicht wiedergeben läßt.
- Er grämt und härmt sich ab wie die selige braune Stute, die der Herr dem
- Juden abgekauft hat und die einen Herzschlag bekam und krepierte. Was
- soll man da machen? Der arme Mensch tat mir leid, und da bin ich halt
- aufs Geratewohl hergekommen, um mich für ihn zu verwenden.«
- »Da hast du einen schönen Auftrag übernommen,« unterbrach ihn Katerina
- ein wenig ärgerlich. »Bist du etwa sein Brautwerber oder sein
- Verwandter? Ich würde dir doch raten, alle Landstreicher aus dem Dorfe
- in die Küche zu laden und selbst betteln zu gehen und vor den Fenstern
- um Almosen für sie zu bitten.«
- »Das ist schon ganz richtig; indes, ich weiß wohl, daß es dich freut,
- und sogar sehr freut, daß der Lehrer auf den Einfall gekommen ist, dir
- nachzulaufen.«
- »Das sollte mich freuen? Hör' mal, Onißko: wenn du das sagst, um dich
- über mich lustig zu machen, so wirst du wenig Nutzen davon haben. Du
- solltest dich schämen, ein armes Mädchen schlecht zu machen! Wenn du
- aber _wirklich_ so denkst, so bist du wahrhaftig der dümmste Mensch im
- ganzen Dorfe. Gottlob, ich bin noch nicht blind, Gott sei Dank, bin ich
- noch bei Verstande ... Aber das hast du sicherlich nicht umsonst gesagt:
- ich weiß wohl, etwas anderes hat dich dazu veranlaßt. Du hast wohl
- geglaubt ... Nein, du bist ein schlechter Mensch.«
- Bei diesen Worten wischte sie sich mit dem gestickten Hemdärmel eine
- Träne aus dem Gesicht, die plötzlich in ihrem Auge aufblitzte und ihr
- über die glühende Wange rollte, wie eine Sternschnuppe den warmen
- Abendhimmel hinunterschießt.
- -- Hol' der Teufel alle Lehrer der Welt! dachte Onißko bei sich, indem
- er das glühende Gesicht Katerinas betrachtete, auf dem das Lächeln von
- vorhin lange Zeit mit dem Ärger kämpfte, um ihn schließlich gänzlich zu
- verscheuchen.
- »Der Donner treffe mich hier auf der Stelle!« rief er endlich aus, da er
- seine innere Erregung nicht mehr unterdrücken konnte, und umfaßte ihre
- rundliche Taille. »Der Donner treffe mich, wenn es mich nicht ebenso
- freut, daß du Iwan Ossipowitsch nicht liebst, wie den alten Browko, wenn
- ich ihm sein Spülwasser bringe.«
- »Wirklich, auch ein Grund, sich zu freuen! Du wirst wohl noch mehr
- grinsen, wenn du erfährst, daß fast alle Mädchen im Dorf dasselbe
- sagen.«
- »Nein, sag' das nicht, Katerina. Die Mädchen haben ihn lieb. Neulich
- gingen wir beide zusammen durch das Dorf, da steckten sie fortwährend
- ihre Köpfe über den Zaun, wie Frösche aus dem Sumpfe. Wir guckten nach
- rechts -- da waren sie schon wieder verschwunden, aber zur Linken, da
- streckte wieder eine andere ihr Köpfchen vor. Doch hol' sie der Teufel
- alle mitsamt dem Lehrer! Ich gäbe ein Viertel vom besten Branntwein
- dritter Güte dafür, wenn ich von dir erfahren könnte, Katerina, ob du
- mich auch nur für einen Groschen liebhast?«
- »Ich weiß nicht, ob ich dich liebe; ich weiß nur, daß ich um alles in
- der Welt keinen Trunkenbold heiraten möchte. Wer mag mit so einem
- zusammenleben? Wie traurig ist das Los einer Familie, aus der solch ein
- Mensch stammt; man mag gar nicht in die Hütte hineinschauen: da gibt's
- nichts zu sehen als Armut und Elend, die Kinder hungern und weinen.
- Nein, nein, nein! Gott behüte! Mich schaudert's schon beim bloßen
- Gedanken daran! ...«
- Und Katerina warf ihm einen langen, tiefdringenden Blick zu. Gebeugten
- Hauptes und wie ein Verdammter saß der Küchenmeister in seine
- Vergangenheit versunken da. Schwere Gedanken, Ausgeburten geheimer
- Gewissensnöte, gruben tiefe Spuren in sein Gesicht und bewiesen
- deutlich, daß ihm nicht allzu heiter zumute war. Der durchbohrende Blick
- Katerinas schien sein ganzes Innere zu versengen und brachte alle
- ungestümen, wilden Streiche ans Licht, die in einer langen, nie endenden
- Reihe an ihm vorüberzogen.
- »Wahrhaftig, was bin ich für ein Mensch? Wer mag mit mir leben? Ich
- liege bloß meinem Pan auf dem Halse. Habe ich bisher etwas getan, wofür
- mir ein guter Mensch gedankt hätte? Ich habe nur immer gebummelt und
- gebummelt! Und habe ich auch nur einmal so gebummelt, daß Herz und Seele
- sich dabei wohl fühlten? Man betrinkt sich wie ein Hund und wird wieder
- nüchtern wie ein Hund, wenn andere einem nicht in noch peinlicherer
- Weise den Rausch austreiben. Nein, hol's der Teufel ... es ist ein
- Hundeleben, das ich führe!«
- Die schöne Katerina schien seine philosophischen Betrachtungen, die er
- bei sich selbst anstellte, zu erraten; sie legte ihm ihr braunes
- Händchen auf die Schulter und murmelte halblaut: »Nicht wahr, Onißko, du
- wirst nie mehr trinken.«
- »Nie wieder, mein Herzchen, nie wieder! Mag kommen, was da will! Für
- dich könnte ich alles tun.«
- Das Mädchen sah ihn gerührt an, und der Küchenmeister schloß sie
- begeistert in seine Arme und bedachte sie mit einem wahren Hagelschauer
- von Küssen, wie ihn der ruhige und gemütliche Gemüsegarten schon lange
- nicht erlebt hatte.
- Kaum aber hatte der Laut der verliebten Küsse die Luft erschüttert, als
- eine helle, durchdringende Stimme furchtbarer als das Grollen des
- Donners das Ohr des sich zärtlich liebkosenden Paares traf. Der
- Küchenmeister sah auf und erblickte zu seinem Entsetzen die auf dem
- Zaune stehende Ssimonicha.
- »Herrlich, vortrefflich! Feine junge Leute das! Bei uns im Dorfe weiß
- man noch nicht, wie Burschen und Mädel sich küssen, wenn der Vater nicht
- zu Hause ist! Herrlich! Das ist mir ein nettes Mandrykowsches Lämmchen!
- Man sage nun noch, das Sprichwort: >Stille Wasser sind tief< lüge. So
- also treibt man's. Solche Streiche macht ihr! ...«
- Mit Tränen im Auge mußte sich das schöne Mädchen in die Hütte
- zurückbegeben, wußte sie doch, daß sie den giftigen Reden der
- Schenkenbesitzerin nicht anders entgehen konnte.
- »Wenn dir doch jemand ein Schloß vor den Mund hängte, alte Hexe!« sagte
- der Küchenmeister. »Was geht denn dich das an?«
- »Was mich das angeht?« fuhr die unermüdliche Schankwirtin fort. »Das ist
- noch schöner! Die Burschen machen sich einen Spaß draus, über den Zaun
- und in fremde Gärten zu klettern, die Mädchen locken die Burschen zu
- sich herein -- und das sollte mich nichts angehen! Sie liebäugeln und
- küssen sich -- und das sollte mich nichts kümmern! Hast du's gehört,
- Karno?« schrie sie plötzlich auf, indem sie sich schnell umdrehte und an
- einen vorübergehenden Bauern wandte, der, ohne auf etwas zu achten, mit
- einer langen Rute fuchtelnd, daherkam, gefolgt von einer ebenso langsam
- einherschreitenden Kuh. »Hast du's gehört? Steh doch einen Augenblick
- still. Was das für eine Geschichte ist! Charjkas Tochter ...«
- »Pfui Teufel!« schrie der Küchenmeister, indem er zur Seite spuckte und
- völlig die Geduld verlor. »Der Teufel selbst hat sich vermummt und die
- Gestalt dieses Weibes angenommen. Warte nur, Hexe! Ich werde schon
- Gelegenheit finden, dir's heimzuzahlen!«
- Und der Küchenmeister setzte seinen Fuß auf den Zaun und war einen
- Augenblick später im Garten des Herrn.
- Es war nicht mehr sehr früh, als er in die Küche zurückkehrte und sich
- an die Zubereitung des Abendessens machte. Allein die große
- Zerstreutheit, die er bei jeder Gelegenheit an den Tag legte, konnte
- Jewdocha nicht entgehen. Mehrfach goß der Küchenmeister Essig in den mit
- sauerem Rahm versetzten Brei oder er spießte mit wichtiger Miene die
- Mütze auf den Bratenwender und wollte sie an Stelle eines Huhns braten.
- Während des Abendessens konnte Anna Iwanowna durchaus nicht verstehen,
- warum der Brei so unglaublich sauer und die Sauce so versalzen war, daß
- man sie absolut nicht in den Mund nehmen konnte. Nur mit Rücksicht auf
- die Mühen, denen er sich an jenem Tage unterzogen hatte, ließ man den
- Küchenmeister in Ruhe; zu einer anderen Zeit wäre unser Held nicht so
- leichten Kaufes davongekommen.
- »Nein, Herr Lehrer!« murmelte er, indem er sich auf seine hölzerne
- Pritsche streckte und sich seinen Kittel unter den Kopf legte, »die
- Katerina bekommen Sie ebensowenig zu sehen wie Ihre Ohren!« Und nachdem
- er seinen Kopf in den Kittel vergraben hatte, wie eine Gans eigener
- Zucht, versank er in Sinnen, um bald darauf einzuschlummern.
- Das Weib
- »Ausgeburt der Hölle! Olympier Zeus! Oh, du bist unerbittlich in deinem
- Zorne. Du wolltest der Welt eine Geisel schicken, du nahmst alles Gift,
- das unmerklich die Adern deiner herrlichen Welt durchdringt,
- verdichtetest es zu einem einzigen Tropfen, schleudertest ihn mit deiner
- lichtspendenden Rechten zürnend hinunter und vergiftetest mit ihm deine
- wundersame Schöpfung: du schufst das Weib! Du beneidetest uns und unser
- armseliges Glück: du wolltest nicht, daß der Mensch ewige Segenswünsche
- aus den Gründen seines dankbaren Herzens zu dir emporsteigen ließ:
- lieber mochten Flüche aus seinem ruchlosen Munde hervorzucken ... Du
- schufst das Weib.«
- So sprach Telekles, ein junger Schüler des Platon, indem er vor seinen
- Lehrer trat. Seine Augen sprühten Blitze; auf seinen Wangen wütete ein
- Feuer, und die zitternden Lippen kündeten von wilden Stürmen einer
- zerrissenen Seele. Seine Hand drängte zornig die purpurnen Wellen seines
- weichen Gewandes zurück, und die geöffnete Schnalle fiel nachlässig auf
- die jugendliche Brust des Jünglings herab.
- »Wie, mein göttlicher Lehrer? Warst du es nicht, der es in einem
- göttergleichen himmlischen Gewande vor uns erstehen ließ? War es nicht
- dein Wohllaut ausströmender Mund, der so wunderbare Worte zum Preis
- ihrer milden Schönheit zu sagen wußte? Hast du uns nicht gelehrt, so
- glühend, so wesenlos zu verehren? Nein, mein Lehrer, deine göttliche
- Weisheit ist noch ein Kind, das nichts ahnt von den unendlichen
- Abgründen des arglistigen Herzens. Nein, nein, nicht einmal der Schatten
- einer bitteren Erfahrung hat deine heiteren Gedanken gestreift, du
- kennst das Weib nicht.«
- Glühende Tränen entströmten seinen Augen; er verhüllte sein Haupt mit
- dem Mantel, verbarg sein Antlitz in den Händen und lehnte sich an die
- Marmorsäule mit dem herrlichen, reichverzierten korinthischen Kapitäl,
- das von flimmernden Strahlen besonnt wurde. Ein tiefer schwerer Seufzer
- entrang sich der Brust des Jünglings, wie wenn alle verborgenen Nerven
- seines Wesens, alle Gefühle und alles, was das Innere des Menschen
- ausfüllt, in schmerzlichen Klagelauten aufstöhnte, und diese Klagelaute
- gingen wie eine Erschütterung durch seinen ganzen Körper, und seine
- ganze körperliche Natur, soweit sie den Sinnen erfaßbar ist, verwandelte
- sich, unfähig die ewigen, nie endenden Qualen der Seele auszusprechen,
- in eine einzige schmerzliche Klage.
- Der hohe Lehrer der Weisheit betrachtete ihn stumm, und sein Gesicht
- spiegelte alle seine erhabenen Gedanken, die er gedacht hatte und die
- ihre Spuren auf ihm hinterlassen hatten. So will die Erinnerung an ein
- herrliches Traumbild noch lange nicht weichen und mischt sich mit dem
- Aufleuchten neuer Gedanken, solange der Mensch noch nicht in die Welt
- der Wirklichkeit untergetaucht ist. Das Licht floß wie ein mächtiger,
- wundervoller Wasserfall durch eine kühne Öffnung in der Kuppel auf den
- Weisen hinab und überschüttete ihn mit seinem strahlenden Glanz, und
- jeder Zug seines beseelten Angesichts schien von hohen Gedanken und
- Gefühlen zu künden.
- »Kannst du denn auch lieben, Telekles?« fragte er ihn mit ruhiger
- Stimme.
- »Ob ich lieben kann!« fiel der Jüngling rasch ein, »frag' doch den Zeus,
- ob er durch ein Runzeln seiner Augenbrauen die Erde zu erschüttern
- vermag. Frag' Phidias, ob er Gefühle im kalten Marmor entzünden und dem
- toten Block Leben einhauchen kann. Wenn in meinen Adern kein Blut
- siedet, sondern eine heiße Flamme wütet, wenn alle meine Gefühle, alle
- meine Gedanken, wenn ich selbst mich ganz in Töne verwandle, wenn diese
- Töne in mir glühen und meine Seele nichts wie Liebe tönt, wenn meine
- Rede ein Sturm und mein Atem -- Feuer ist! Nein, nein, ich verstehe es
- nicht, zu lieben! So sage mir doch, wo dieser Sterbliche, wo dieser
- wundersame Mensch zu finden ist, der dies Gefühl sein eigen nennt? Hat
- am Ende gar die weise Pythia dies Wunder unter den Menschen entdeckt?«
- »Armer Jüngling! Das also nennen die Menschen Liebe! Das ist das
- Schicksal, das diesem sanften Geschöpf bereitet wird, in dem die Götter
- die Schönheit zum Ausdruck bringen, in dem sie der Welt das Gute zum
- Geschenk machen, durch das sie ihre Anwesenheit hier auf Erden beweisen
- wollten! Armer Jüngling! Du hättest dieses sanfte Wesen mit deinem
- glühenden Atem versengt, du hättest dieses reine Leuchten durch einen
- Sturm von Leidenschaft getrübt und in Aufruhr versetzt! Ich weiß, du
- willst mit vom Verrat der Alkinoe sprechen. Deine Augen waren selbst
- Zeugen ... aber waren sie auch Zeugen deiner eigenen wilden Regungen,
- die deine Seele zu jener Zeit in ihren Tiefen bewegten? Hast du dich
- auch im voraus geprüft? Glühte vielleicht der ganze wilde Aufruhr deiner
- Leidenschaften in deinem Auge? Und wann haben je die Leidenschaften die
- Wahrheit erkannt? Was wollen die Menschen? Sie dürsten nach ewiger
- Seligkeit, nach einem nie endenden Glück, und ein kurzer, flüchtiger
- Schmerz genügt schon, damit sie gleich Kindern das ganze, langsam
- errichtete Gebäude zerstören! Aber mag die Wahrheit selbst mit deinen
- Augen gesehen haben, mag es doch richtig sein, daß die schöne Alkinoe
- sich mit arglistigem Verrate befleckt hat. Frage deine Seele: was warst
- du, und was war _sie_ zu jener Zeit, als du Leben, Glück und ein Meer
- von Seligkeiten in den Umarmungen Alkinoes fandest? Blättere die
- flammenden Seiten deines Lebens um, meinst du, du wirst auch nur eine
- Seite finden, die beredter, die göttlicher ist als jene? Wolltest du
- alle kostbaren Edelsteine der persischen Könige oder alles Gold Libyens
- für jene himmlischen Augenblicke eintauschen? Ja, was sind selbst die
- höchsten Ehren in Athen und die höchste Gewalt im Volke im Vergleich zu
- ihnen? Und ein Wesen, das wie Prometheus alles Schöne, das es den
- Göttern raubte, dir zum Geschenk darbrachte, den Himmel mit seinen
- heiteren Himmelsbewohnern in deine Seele senkte -- willst du mit deinem
- verbrecherischen Fluche treffen, wo doch dein ganzes Leben ein einziges
- Gefühl der Dankbarkeit sein sollte, wo du Tränen der Rührung vergießen
- und dem Lebenspender Zeus zarte Hymnen singen solltest, auf daß er ihr
- ein langes Leben schenken und die Wolken des Kummers von ihrem heiteren
- Haupte verscheuchen möge.
- »Betrachte dich mit prüfendem Auge: was warst du früher und was bist du
- jetzt, seit du die Ewigkeit in Alkinoes göttlichen Zügen entdeckt hast:
- wieviel neue Geheimnisse, wieviel neue Offenbarungen fandest und
- enträtseltest du mit deiner unendlichen Seele und um wieviel näher kamst
- du dem höchsten Gute! Wir reifen und werden vollkommener; aber wann?
- Wenn wir das Weib tiefer und gründlicher verstehen lernen. Denk an die
- üppigen Perser: sie haben ihre Frauen zu Sklavinnen gemacht, und was ist
- das Ergebnis? Sie haben kein Verständnis für das Gefühl des Schönen --
- dieses unendliche Meer geistiger Genüsse. Kein Funke schlägt aus ihrem
- Herzen empor beim Anblick der Göttin des Praxiteles; ihre Seele spricht
- nicht begeisterungsvoll mit der unsterblichen Seele des Marmors, und
- kein verständnisvoller Laut tönt ihr aus ihm entgegen. Was ist das Weib?
- -- Die Sprache der Götter. Wir wundern uns über das milde heitere Haupt
- des Mannes; aber wir glauben nicht das Ebenbild der Götter in ihm zu
- sehen; das sehen wir im Weibe und bewundern es im Weibe, und in ihm erst
- bewundern wir die Götter. Sie ist die Poesie! sie ist der Gedanke, wir
- dagegen sind bloß seine Verkörperung in der Wirklichkeit. Der Eindruck
- von ihr glüht in unserer Seele, und je stärker und je umfassender und
- größer die Wirkung ist, die er auf uns ausübt, um so edler und schöner
- werden wir. Solange das Bild noch im Kopfe des Künstlers weilt, sich
- unkörperlich in ihm formt und gestaltet, ist es -- ein Weib; sobald es
- sich materialisiert und greifbare Gestalt annimmt, wird es zum -- Manne.
- Warum strebt aber dann der Künstler mit so unersättlicher Begierde
- danach, seine unsterbliche Idee in grobe Materie zu verwandeln und sie
- unseren gemeinen Sinneswerkzeugen zu unterwerfen? Weil er von den hohen
- Gefühlen geleitet wird -- von dem Wunsche, die Gottheit der Materie
- einzuverleiben und den Menschen wenigstens einen Teil von der
- unendlichen Welt seines Inneren zugänglich zu machen, d. h. das Weib im
- Manne zu verkörpern. Und wenn das Auge eines Jünglings, dessen Herz
- glühend und verständnisvoll für die Kunst schlägt, zufällig auf das
- unsterbliche Bild des Künstlers fällt, -- was sucht es, was ergreift es
- in ihm? Sieht es etwa die Materie in ihm? Nein, sie verschwindet, und er
- erblickt die grenzenlose, unendliche, unkörperliche Idee des Künstlers
- vor sich. Wie erklingen da die Saiten seiner Seele, welch lebendige
- Lieder ertönen in seinem Inneren! Wie deutlich und lebendig spricht, wie
- auf den Ruf der Heimat, das Vergangene, das unwiederbringlich dahin ist,
- und die unabwendliche Zukunft in ihm! Wie unkörperlich umarmt seine
- Seele die göttliche Seele des Künstlers! Wie verschmelzen ihre Geister
- in einem unaussprechlichen Kusse der Seelen! Was wären die hohen
- Tugenden des Mannes, wenn sie nicht geschmückt und nicht geformt würden
- durch die milden sanften Tugenden des Weibes? Sein Mut, seine
- Festigkeit, seine stolze Verachtung des Lasters würden sich in Barbarei
- verwandeln. Raube der Welt das Licht -- und die bunte Vielfältigkeit der
- Farben fällt dahin; Himmel und Erde verschwimmen und gehen in der
- Finsternis unter, die noch dunkler ist als die Gestade des Hades. Was
- ist die Liebe? -- Die Heimat der Seele, die hehre Sehnsucht des Menschen
- nach der Vergangenheit, in der der reine Ursprung seines Lebens
- verborgen liegt, wo alles noch den unaussprechlichen, unverwischbaren
- Stempel kindlicher Unschuld trägt und wo uns alles heimatlich berührt.
- Und wenn die Seele versinkt im ätherischen Schoße der weiblichen Seele,
- wenn sie in ihr ihren Vater -- den ewigen Gott -- und ihre Brüder, d. h.
- Gefühle und Erscheinungen, die keines irdischen Ausdruckes fähig sind,
- findet -- was geschieht dann mit ihr? Dann tönen in ihr die alten Klänge
- wider, dann gedenkt sie des früheren paradiesischen Lebens am Busen
- Gottes, und sie setzt es fort bis in die Unendlichkeit.«
- Das begeisterte Auge des Weisen blickte starr und unbeweglich vor sich
- hin: vor ihnen stand Alkinoe, die während ihres Gespräches unbemerkt
- eingetreten war. Auf ein Götterbild gestützt, schien sie völlig in
- stumme Aufmerksamkeit versunken, und ihr herrliches Gesicht belebte
- häufig ganz plötzlich der Ausdruck einer göttlichen Seele. Die
- marmorweiße Hand, durch die die blauen, von himmlischer Ambrosia
- durchfluteten Adern hindurchschienen, schwebte frei in der Luft; der
- schlanke, von den purpurroten Bändern des Beinharnischs umschlungene
- Fuß, den sie einen Schritt vorgesetzt hatte, hatte die neidische Hülle
- abgestreift und schien kaum die niedrige Erde zu berühren; der hohe
- göttliche Busen wogte, gespannt von unruhigen Seufzern, auf und ab, und
- das Gewand, das die beiden durchsichtigen Wolken des Busens nur halb
- verdeckte, bebte und fiel in herrlichen malerischen Linien auf den
- Fußboden herab. Es schien, als ob der dünne lichte Äther, in dem sich
- die Himmelsbewohner baden, durchflutet von einer rosigen und bläulichen
- Flamme, die sich in unendlichen, in tausend Farben spielenden Strahlen
- zerstreut, für die es auf Erden keine Namen gibt, und in denen ein
- duftenden Meer eines unbegreiflichen Wohllautes wogt -- es schien, als
- ob dieser Äther sichtbare Form angenommen hätte und, indem er nun vor
- ihnen schwebte, die herrliche Gestalt des Menschen noch verklärte und
- vergöttlichte. Die nachlässig zurückgeworfenen Locken umdrängten schwarz
- wie die dunkle beseelte Nacht ihre lilienreine Stirn und fielen in
- dunklen Kaskaden auf die leuchtenden Schultern herab. Die Blitze, die
- ihren Augen entsprühten, schienen ihre ganze Seele zu offenbaren. Nein,
- selbst die Königin der Liebe war nie so schön, nicht einmal in dem
- Augenblick, als sie so wunderbar dem Schaum der jungfräulichen Wellen
- entstieg.
- Erstaunt und in ehrfurchtsvoller Andacht warf sich der Jüngling der
- stolzen Schönen zu Füßen, und eine heiße Träne, die dem Auge der sich
- über ihn beugenden Halbgöttin entstieg, tropfte auf seine brennenden
- Wangen.
- Fragmente
- Gedichte und poetische Versuche
- Sturm
- »Warum so trüb?« -- »Einst war ich heiter,«
- Sag' ich zu meiner Lust Genossen.
- »Ich hab' mein Herz dem Schmerz erschlossen;
- Die Freude starb: ich lebe weiter.
- Jung war ich, und mein heller Blick
- hat Trauer nicht und Mißgeschick
- Gekannt; jetzt welkt die Jugend hin,
- Stirbt wie der Herbst, und ich verblute
- Gleich ihm. Nie wird mir froh zumute.
- Die Freude lockt nicht meinen Sinn.«
- Die Freunde lachen: »Was du nur
- Zu weinen hast! Das Wetter ist
- So heiter klar, und die Natur
- Nicht halb so trüb, wie du es bist.«
- Und ich: »Mir gilt das alles nichts.
- Ob Tag zu Tag und Jahr sich türmt,
- Ob's hell, ob's dunkel ist, was ficht's
- Mich an, wenn mir's im Herzen stürmt.« --
- Albumblatt
- Das Licht verliert im Auge des Träumers schnell seine Wärme. Er findet
- die Hoffnungen, die ihn belebten, unerfüllt, seine Erwartungen
- unbefriedigt, und die Glut des Genießens verraucht in seinem Herzen ...
- Er befindet sich in einem Zustande der Starrheit und Leblosigkeit. Wie
- glücklich ist er, wenn er den Wert der Erinnerungen vergangener Tage
- erkennt: der Tage einer glücklichen Kindheit, da er die keimenden
- Zukunftsträume von sich warf und seine Freunde verließ, die ihm von
- ganzem Herzen ergeben waren.
- Hans Küchelgarten
- Eine Idylle
- in ** Bildern
- von
- W. Alow
- 1827
- Deutsch von Ulrich Steindorff
- Das vorliegende Werk hätte nie das Licht der Welt erblickt, wenn nicht
- besondere Umstände, die nur für den Verfasser von Bedeutung sind, die
- Veranlassung dazu gegeben hätten. Dies Werk ist eine Frucht seiner
- achtzehnjährigen Jugend. Wir haben nicht die Absicht, hier ein Urteil
- über die Vorzüge oder Mängel dieser Dichtung abzugeben -- das überlassen
- wir dem Publikum -- wir wollen nur bemerken, daß viele von den Bildern
- dieser Idylle leider verloren gegangen sind; sie haben wahrscheinlich
- das Band zwischen den nun unverbunden dastehenden Teilen gebildet und
- die Zeichnung des im Mittelpunkt stehenden Charakters vollendet. Wir
- rechnen es uns indessen zum Verdienst an, daß wir dem Publikum, soweit
- dies möglich war, Gelegenheit gaben, das Werk eines jungen Talentes
- kennen zu lernen.
- Erstes Bild
- Es tagt. Das Dorf taucht aus dem Dämmerdunst
- Mit seinen Häusern, seinen Gärten. Alles liegt
- In hellem Licht. Der Glockenturm erglänzt
- Wie lauter Gold, und auf dem alten Zaun
- Tanzt froh ein Sonnenstrahl. Die Silberflut
- Gleicht einem Zauberspiegel, der getreu
- Das Konterfei von Zaun und Gärtchen gibt.
- Und nichts hält Ruhe in dem Silberspiegel.
- Blau wölbt der Himmel sich; die Wolken ziehn
- Wie Wellen hin, und flüsternd rauscht der Wald.
- Dort, wo das Ufer weit ins Meer sich wagt,
- Da steht behaglich unter Lindenschatten
- Ein Pfarrhaus, schon jahrzehntelang bewohnt
- Von seinem greisen Herrn und arg verfallen.
- Das Dach geworfen und der Schornstein schwarz,
- Von blüh'ndem Moos bedeckt das Mauerwerk;
- Die Fenster windschief. Aber immer ist
- Das Häuschen traulich nett. Um keinen Preis
- Der Welt wär' es dem Alten feil. -- Dort steht
- Die Linde, sein geliebter Ruheplatz.
- Auch sie ist alt. Doch Jugendfrische weht
- Rings von den Rosenbäumen. Vögel nisten
- In ihrem Dunkel und erfüllen Garten
- Und Haus mit ihrer Lieder frohem Schall.
- -- Weil ihn der Schlaf die ganze Nacht gemieden,
- Ging schon vorm Morgengraun der Pfarrer, hier
- Ein wenig in der Frische noch zu schlummern.
- Im alten Lehnstuhl unterm Lindendach
- Schläft er. Der sanfte Wind kühlt sein Gesicht
- Und spielt voll Keckheit mit den grauen Haaren.
- Wer ist die Schöne, die mit Blicken
- Ihm naht, in denen alle Glut,
- Des Morgens ganze Frische ruht,
- Und vor ihn tritt? Welch ein Entzücken,
- Wie sie mit lilienweißer Hand
- Ihn sanft berührt, um ihn zu wecken,
- Bemüht, ihn ja nicht zu erschrecken.
- Doch eh' er aus dem Schlaf sich fand
- Zur Welt, sprach er, die Lider kaum
- Geöffnet, leise wie im Traum:
- »Du wunder-, wunderbarer Gast,
- Der du mein Heim besuchet hast,
- Warum füllt Kummer mich und schwillt
- Durch meine Seele. Was bewegt
- Mich Greisen denn dein Engelsbild
- So tief, so seltsam tief, und regt
- Den Sinn mir auf? Sieh mich und schilt,
- Schilt nicht: mein Leib ist schwach und alt
- Und allem, was da lebt, längst kalt.
- Seit ich mich tot in mir verscharrte,
- Ist's Ruhe nur, auf die ich warte,
- Die ich begehre immerfort.
- Ihr gilt mein Denken, gilt mein Wort.
- Und nun kommst du, du Junge, mir
- Zu Gaste, lockst mich heiß zu dir?
- Ach nein, aus deinem lichten Munde
- Flammt einer neuen Hoffnung Kunde.
- Rufst du zum Himmel mich? Zur Stunde
- Bin ich bereit. Allein mir fehlt
- Die Würde. Meine Sündenlast
- Ist groß. Ich war in dieser Welt
- Ein arger Streiter und gehaßt
- Von Hirt und Herde. Grausamkeit
- War mir nicht fremd. Allein ich schwor
- Den Teufel ab, und ich verlor
- Zur Buße keinen Tag, allzeit
- Entsühnend die Vergangenheit.«
- Voll schwerer Sorge und verwirrt
- Fragt sie sich bang: »Soll ich's ihm sagen, --
- Wer weiß, wohin die Träume ihn verschlagen, --
- Sag' ich ihm, daß er phantasiert?«
- Doch Nebel des Vergessens hängt
- Um ihn, den neuer Schlaf umfängt.
- Sie neigt sich über ihn, verstohlen.
- Wie sanft er schläft, wie still er ruht!
- Kaum merklich hebt beim Atemholen
- Die Brust sich. Licht in Ätherflut
- Hält ihn ein Engel in der Hut,
- Und paradiesisch Lächeln flicht
- Sich leuchtend um sein Angesicht.
- Nun öffnet er die Augen: »Wer,
- Wer ist's? -- Luise? -- Seltsam, ach;
- Mir träumte -- --, du, wo kommst du her?
- Bist, Wildfang, du so früh schon wach?
- Noch liegt der Tau. -- Es nebelt schwer.« --
- »Großvater, nein, 's ist hell und klar.
- Im Walde blitzt das Sonnenlicht.
- Und schon am frühsten Morgen war
- Es heiß wie jetzt. Es regt sich nicht
- Ein Blatt. -- Weißt du, warum ich kam?
- Es gibt ein Fest. Wir feiern heut.
- Der alte Geiger Lodelham
- Und auch der Fritz sind längst bereit.
- Erst kommt die Kahnfahrt bis zur Mittagszeit
- Und dann -- --; ach, wenn nur Hans -- --!« Den Greis
- Umspielt ein weises Lächeln. Still
- Hört er, was sie erzählen will,
- Das sorglos junge Blut. »Ich weiß,
- Großväterchen, nur du hast Macht,
- Ein bitter großes Weh zu bannen.
- Mein Hans ist krank. Bald in der Nacht
- Und bald am Tag schleicht er von dannen
- Zum dunklen Meer. Nichts ist ihm recht,
- Nichts freut ihn mehr. Wenn man ihn fragt,
- Dann hört er gar nicht, was man sagt.
- Er spricht nur mit sich selbst. So schlecht,
- So elend sieht er aus. Wenn ihn sein Schmerz
- Noch lange quält, geht er zugrund.
- >Zugrund<, wie zittert, wenn mein Mund
- Das harte Wort gebraucht, mein Herz.
- Meinst du, daß er vielleicht mit mir
- Nicht mehr zufrieden ist, daß er
- Mich nicht mehr liebt? Das träfe schwer
- Und hart wie Stahl mein Herz. Sag's mir,
- Du Engelsguter!« -- Und sie schlang
- Die Arme fest um ihn. Kaum ging
- Ihr Atem, als sie an ihm hing
- In ihrer Liebe so verwirrt und bang.
- Als sich die Träne ihr ins Auge stahl,
- Wie war sie schön in ihrer Qual.
- »Gib Ruh', mein Kind, nicht weinen, nein.
- Schämst du dich nicht?« Der Pfarrer mühte
- Sich tröstend um sie. »Gottes Güte
- Wird dir Geduld und Kraft verleihn.
- Wenn du ihn innig bittest, wirst
- Du auch bei ihm Erhörung finden.
- Hans lebt ja nur für dich. Du irrst.
- Du mußt die Zweifel überwinden.
- Du darfst dir nicht mit solchen leeren
- Gedanken deine Ruhe stören.« -- --
- Und als er noch der weinenden Luise
- Zuspricht, die an die welke Brust sich lehnt,
- Da bringt die alte Gertrud schon den Kaffee,
- Den heißen, bernsteinklaren, den der Greis
- So gern im Freien nahm. Er liebte es,
- Die Weichselpfeife dann dabei zu rauchen.
- So stieg denn bald der Rauch in klaren Ringen.
- Luise fütterte gedankenschwer
- Den Kater, der mit lautem Schnurren,
- Vom süßen Duft gelockt, sie lang umstrichen.
- Der Greis erhob sich vom geblümten Sessel
- Aus Väterzeit, sprach sein Gebet und drückte
- Der Enkelin die Hand. Dann zog er sich
- Den sonntäglichen, taftnen Schlafrock an,
- Den silberschimmernden, und nahm das Käppchen,
- Das Hans ihm kürzlich aus der Stadt gebracht
- Und ihm geschenkt. So ging er denn gemächlich,
- Sich auf Luisens weiße Schulter stützend, --
- Hell schlug der Sang der Lerchen himmelwärts --
- Ins Feld hinaus. -- Wie herrlich war der Tag!
- Es ließ ein Wind das Gold der Felder wogen,
- Das, überragt von dichten, früchteprangenden
- Laubkronen, in der Sonne flimmerte.
- Fern dunkelten die grünen Wälder.
- Dem regenbogenfarbnen Sommerdunst
- Entströmten Fluten wundersamster Düfte.
- Die Bienen waren fleißig unterwegs
- Und sogen Honig aus den jungen Blüten.
- Die Grillen zirpten froh. Und aus der Weite
- Klang laut und lauter kräft'ger Rudersang.
- Und lichter ward der Wald. Das Tal erschien.
- Das frohe Schrein der Herden scholl herauf.
- Tief in der Ferne sah man schon das Dach
- Vom Haus Luisens winken, sah das Rot
- Der Ziegel schimmern, wenn die Sonnenstrahlen
- In keckem Tanzspiel blitzend es umhuschten. -- --
- Zweites Bild
- Noch ungeklärt sind die Gedanken,
- Die Hans bewegen, und sein Blick
- Sieht wirr die Welt des Lebens wanken
- Und sucht sein künftiges Geschick. --
- In stillem Frieden war die Zeit
- Dem Tändelnden vorbeigeflossen;
- Noch hatte keine Bitterkeit
- Sich in der Seele Unschuld ihm gegossen.
- Kind dieser Erdenwelt war er.
- Doch ihrer Leidenschaften Brand
- War seinem Herzen unbekannt.
- Ganz sorglos war und leicht bisher
- In Heiterkeit und Glück und Lust
- Das Kind beim Spiel der Kinderschar.
- Das Böse war noch seiner Brust
- Ganz fremd. Ihm blühte wunderbar
- Die Welt. -- Schon in der frühsten Zeit
- Der Kindheit war sein Kamerad
- Luise, deren Heiterkeit
- Und Milde seinen Lebenspfad
- Erhellt. Wenn sie im grünen Kleid
- Zu tanzen anfing oder sang,
- Dann schoß durchs blonde Ringelhaar
- Manch Blitz, der zündend weitersprang.
- Ihr rosa Miedertüchlein glitt
- Herab. Man sah bei jedem Schritt
- Das feine, zarte Füßchenpaar.
- Sie war ein Kind, und kindlich war
- Ihr Tun. -- Im Walde spielte sie
- Mit ihm. Sie fingen sich. Dann lief
- Sie fort, versteckte sich und schrie
- Ihm plötzlich zu, daß er erschreckte.
- Sie schwärzte heimlich, wenn er schlief,
- Ihm sein Gesicht, und lachend weckte
- Sie ihn dann aus dem süßen Schlafe.
- Und er, er küßte sie zur Strafe. --
- Und Lenz auf Lenz zog hin ins Land.
- Die Spiele wollten nicht mehr taugen.
- Die gegenseit'ge Keckheit schwand.
- Es schwand das Feuer seiner Augen.
- Und sie hält Traurigkeit gebannt
- Und Schüchternheit. -- Ihr, junger Herzen
- Verliebte, erste Worte, wart
- Gekommen, und es blieben nicht erspart
- Die Tage voller süßer Schmerzen.
- Was blieb ihm denn zu wünschen weiter,
- Wo er Luise bis zur Nacht,
- Gefesselt wie von Zaubermacht,
- Nicht ließ, ihr treuester Begleiter,
- Ihr Schatten, wo sie ging und stand.
- Mit innig tiefer Freude sahen
- Die Eltern, wie das Glück sich fand,
- Und sahen sich nicht satt. Die nahen,
- Leidvollen, zweifelvollen Zeiten
- hielt noch ein Engel sanft verhüllt den beiden. --
- Doch allzubald befiel ein Schmerz,
- Ein tiefer, ihn. Matt ward vor Gram
- Sein Blick; er starrte himmelwärts
- Und war ganz unstet, ach, und wundersam.
- Es schien, als suchte stets sein Geist,
- Als hegte er geheimen Groll.
- Die Seele sehnte sich zumeist
- Gedankenschwer und kummervoll. --
- Er sitzt und schaut hinab vom Strand
- Hinaus aufs Meer wie festgebannt.
- Und wenn im Takt die Wellen rauschen,
- Scheint einer Stimme er zu lauschen.
- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
- Bald geht er grübelnd durch das Tal,
- Die Augen feierlich voll Glanz,
- Wenn bei der Wolken Wirbeltanz
- Der Donner grollt, ein Feuerstrahl
- Durchs Dunkel zuckt und wilder Regen
- Heiß prasselt und mit einemmal
- In Strömen rauscht auf allen Wegen.
- Bald sitzt er in der Mitternacht
- Vor alten Sagen auf und wacht
- Und hofft, daß sich die Lettern regen
- In ihrer Stummheit, wenn die Seiten
- Er wendet, die so tiefe Kunde
- Ihm bringen von den grauen Zeiten.
- Ins Buch versunken manche Stunde,
- Sitzt er und wendet kaum das Haupt.
- Wer ihn in dieser schweren Not
- Gesehn, der hätte fest geglaubt,
- Die Zeit, da er gelebt, sei tot.
- Gedanken, wunderbare, hatten
- Mit ihrem Zauber ihn gebannt.
- Er suchte dunkler Eichen Schatten
- Auf seinem Weg durchs Sommerland.
- Aus diesen tiefen Schatten sprach
- Manch Rätsel, das er nicht verstand,
- Und träumend streckte er die Hand
- Liebkosend aus und griff darnach. --
- Luise ist die ganze Zeit
- Allein in ihrem tiefen Kummer.
- Ihr Herz ist einzig ihm geweiht.
- Sie findet nächtens keinen Schlummer
- Und bringt die gleiche Zärtlichkeit
- Ihm dennoch stets entgegen, hält
- Die zarten Arme um ihn, küßt
- Ihn sanft, daß er den Schmerz vergißt,
- Bis er der Schwermut neu verfällt.
- Schön sind die Stunden, wunderbar,
- Wenn ferne Träume ihn umschweben
- Und der Gesichte lichte Schar
- Ihn fortträgt in ein andres Leben.
- Doch, wenn der Seele Land zerstört,
- Der stille Erdenfleck vergessen,
- Der Scholle nicht sein Herz gehört,
- Die schlichten Menschen er vermessen
- Nicht achtet, werden Traumgestalten
- Auch dann noch froh im Herzen walten? -- --
- Indessen laßt sein unstet Wesen
- Belauschen uns. Macht euch bereit,
- Die Rätsel seines Geists zu lösen
- In ihrer Mannigfaltigkeit. --
- Drittes Bild
- Du klassisch schöner Werke klassisch schönes Land!
- Des Ruhmes und der Freiheit Land, Athen!
- An dich, in wundersamer Gluten Wehn,
- Ist meine Seele festgebannt.
- Vom Tempel hoch bis hin zu des Piräus Mauern
- Ergießen sich und wogen feierliche Massen.
- Äschines' Worte blitzen, donnern und durchschauern,
- Der Iliß Wassern gleich, und fassen
- Gebietrisch alle wie der laute Sturm der Welle.
- Gewaltig ragt empor die Marmorherrlichkeit
- Der Parthenon, wo Säule sich an Säule reiht;
- Empor Minerva, von des Phidias Stahl geweiht.
- Und Zeuxis' wie Parrhasios' Pinsel strahlen Helle.
- Im Portikus steht göttergleich ein Greis
- Und redet weise von der andern Welt;
- Sagt, wer für Tugend einst Unsterblichkeit erhält,
- Wen Schande trifft und wen der Preis.
- Horch! Rohes Tosen mischt sich in das Springbrunnrauschen.
- Der Tag ist wach, und dem Theater voll Verlangen
- Zu strömt das Volk. Wie Persiens Farben prangen!
- Sieh, wie die Tuniken sich bauschen!
- Noch eh' die Leidenschaft des Sophokles verklungen,
- Schwirrt Kranz auf Kranz, von den Begeisterten geschwungen.
- Von Epikurens Honigmund, dem liebgewohnten,
- Enteilt sind Amors Diener, Krieger und Archonten,
- Daß ihnen sich die hohe Wissenschaft enthülle,
- Wie man Genüsse schlürft und trinkt des Lebens Fülle.
- Aspasia kommt! Ihr Blick, vom Wimpernschwarz verbrämt,
- Trifft einen Jüngling, und sein Atem stockt verschämt.
- Wie heiß die Lippen sind! Wie loht der Rede Glut!
- Die schwarzen, losen Locken fallen wie die Nacht
- Auf ihrer Schultern Marmorpracht,
- Auf ihre Brüste wie die Flut. --
- Und jetzt? -- Tympane tosen und die Becher klirren.
- Bacchantinnen in wilder Raserei, geschmückt
- Mit Efeu, stürmen durch den heil'gen Hain in wirren,
- Gehetzten Haufen. -- Wo? Wohin? -- Entrückt, entrückt.
- Allein! -- Verschwunden ist der Chor.
- Und Gram befällt mich neu und Wehe.
- Stieg' doch vom Tal ein Faun empor;
- Dräng' aus des Gartens dunkler Nähe
- Mir einer Nymphe Sang ans Ohr!
- Ihr Griechen, wunderbarlich habt
- Die Welt mit Träumen ihr erfüllt,
- In Zauber alles eingehüllt!
- Heut ist sie ärmlich, grau, verschabt
- Und wohl quadriert, mit Nichts begabt. -- --
- * * * * *
- Doch neue Träume kommen und heben
- Und ziehen ihn lockend himmelan
- Empor aus der Sorgen Ozean,
- hinweg von allem kleinlichen Leben. --
- Viertes Bild
- Im Land, wo des Lebens Wunderquellen
- Entspringen und strahlend rings alles erhellen;
- Wo schwer die Nächte vom Ambraduft,
- Von Lotossüße geschwängert die Luft;
- Wo Räucherwerkwolken die Bläue durchfluten
- Und Mangostans Früchte golden gluten;
- Wo Kandahars Wiesengrund samten sich breitet;
- Wo kühn sich ob allem der Himmel weitet
- Und Blüten regnet in üppigem Glanz;
- Wo Schwärme von Faltern auffunkeln im Tanz:
- Dort sieht mein Blick eine Peri: versunken,
- Nichts sehend, nichts hörend; traumestrunken.
- Gleich Sonnen leuchtet ihr Augenpaar,
- Wie Hemasagara funkelt ihr Haar.
- Ihr Atem gleicht dem, den die Lilie haucht,
- Wenn die Nacht den Garten in Schlummer taucht
- Und im Wind ihre Seufzer von dannen schwingen;
- Ihre Stimme den nächtlichen Ton von Syringen,
- Dem silbernen Tone, wenn Israfil
- Die Flügel schlägt in mutwilligem Spiel;
- Dem heimlichen Plätschern des Tschindara-Fluß.
- Und ihr Lächeln erst! Und erst ihr Kuß!
- Was ist? -- Sie hebt sich, ein Hauch, und entschwindet
- In Himmeln, wo sie Verwandte findet.
- Bleib! Blicke dich um! Bleib! -- Taub meinem Schrei,
- Verrinnt sie im Regenbogen. -- Vorbei!
- Erinnrung an sie bleibt und hält
- Sich fest; und Duft erfüllt die Welt. --
- * * * * *
- Bunt war sein Träumen überstrahlt;
- Vom Drang der Jugend heiß durchflossen.
- Die Hoheit, die sein Herz genossen,
- Hat herrlich oft sich abgemalt
- Auf seinem Angesicht. Allein,
- Was ihn in seinen Träumerein,
- Was die erregte Seele quälte,
- Wonach er schrie, wonach er bangte,
- In wilder Leidenschaft verlangte,
- Als gält' es, daß er sich vermählte
- Der ganzen Welt mit ganzer Lust,
- Verstand er nicht. -- Voll Staub und Dust,
- Von Dumpfheit voll und Schwere fand
- Er diese Welt und wirr. Es flog
- Sein Herz und schlug und schlug und zog
- Ihn hin nach fernem, fernem Land.
- Wer sah ihn so? Sein Atem ächzte.
- Die Brust ging keuchend auf und nieder.
- Stolz funkelte durch seine Lider.
- Ach, wie die Seele darnach lechzte,
- Am flücht'gen Traum sich festzusaugen.
- Ach, welche Feuer in ihm brannten,
- Wie ihn die Tränen übermannten,
- Das Leben schürend in den heißen Augen. --
- Sechstes Bild
- Zwei Meilen nur von Wismar liegt das Dorf,
- Wo unserer Geschichte Welt, die Welt,
- Wo ihre Menschen leben, Grenzen findet.
- Das heitre Lünensdorf, so hieß es einst;
- Doch weiß ich nicht, ob es noch heut so ist. --
- Weit schimmerte dem Wanderer entgegen
- Das kleine, weiße Häuschen Wilhelm Bauchs,
- Des Musikers, das er vor langer Zeit,
- Als er des Pastors Kind zum Weibe nahm,
- Erbaut. Es war ein liebes, heitres Haus;
- Grün war's gestrichen; rote Ziegelplatten
- Erklirrten hell im Wind. Kastanienbäume
- Umstanden es und drängten in die Fenster.
- Durch ihre Stämme sah ein Weidenzaun,
- Den Wilhelm selbst aus Ruten sich geflochten.
- Jetzt rankte sich der Hopfen an ihm hoch.
- Vom Fenster zu dem Zaun lief eine Stange,
- Behangen mit der Wäsche, die im Glanz
- Der heißen Mittagssonne lustig blinkte.
- Durch eine Speicherluke drängte sich
- Laut girrend eine Taubenschar; es schrien
- Die Puter, und mit seinen Flügeln schlagend
- Entbot der Hofhahn seinen Morgengruß
- Dem Tag und pickte den behäbig bunten Hennen
- Die Körner fort. Zwei fromme Ziegen rupften
- Das junge Gras. Schon lange stieg der Rauch
- In krausen Wolken aus dem Schornstein auf
- Zum Himmel, um den Morgendunst zu mehren.
- Dort auf der Seite, wo der Mauerputz
- Ein wenig abgebröckelt von den grauen Ziegeln,
- Dort, wo die alten Bäume Schatten geben,
- Stand schon seit frühstem Morgen säuberlich
- Gedeckt ein Eichentisch voll guter Dinge:
- Radieschen, gelber Käse, eine Dose
- In Entenform mit Butter; Wein und Bier,
- Der süße Bischof, Zucker, Waffelkuchen
- Und dann ein Korb mit leuchtend reifen Früchten:
- Himbeeren voller Duft, glashelle Trauben
- Und bernsteinfarbne Birnen, blaue Pflaumen
- Und rote Pfirsiche in buntem Durcheinander. --
- Es war so festlich, denn Herr Wilhelm wollte
- Der lieben Frau Geburtstag in dem Kreise
- Der Töchter und des alten Pfarrherrn feiern.
- Luise kam, doch ihre Schwester Fanny,
- Die Jüngere, war fortgeeilt, um Hans
- Zu holen, und war noch nicht zurück.
- Vermutlich irrte er verträumt umher.
- Luise blickte unverwandt zum dunklen Fenster
- Im Nachbarhaus empor; lag es doch nur
- Zwei Schritt von ihr. -- Sie war nicht selbst gegangen,
- Damit er nicht den Gram von ihrer Stirn,
- Aus ihren Augen keinen Vorwurf läse.
- Da wandte Wilhelm sich, Luisens Vater,
- Zu ihr und sprach: »Du mußt den Hans mal schelten,
- Daß er so lange nicht mehr bei uns war.
- Pass' auf, du hast ihn dir zu sehr verwöhnt.«
- Doch sie war um die Antwort nicht verlegen:
- »Mir fehlt der Mut, den braven Hans zu tadeln.
- Er ist schon ohnedies so bleich und elend.«
- »Was, krank, sagst du?« fiel Mutter Berta ein.
- »Es ist nicht Krankheit, nur Melancholie,
- Die ihn jetzt plagt, und die wird sehr bald weichen,
- Seid ihr einmal vermählt. Ein junger Sproß,
- Den halbverdorrt ein Sommerregen trifft,
- Fängt plötzlich an zu blühn. -- Ist denn die Frau
- Nicht Lichtflut für den Mann?« -- »Ein kluges Wort,«
- Warf da der Pfarrer ein. »Wenn Gott es will,
- Glaubt mir, wird alles noch vorübergehn!«
- Er klopfte wieder seine Pfeife aus.
- Dann fing er an, mit Wilhelm sich zu streiten;
- Sie sprachen von den Tagesneuigkeiten,
- Von schlimmer Ernte, von den Griechen, Türken,
- Von Missolunghi, von Kolokotroni,
- Dem großen Führer, und vom argen Krieg,
- Von Canning sprachen sie, vom Parlament,
- Vom Elend und vom Aufruhr in Madrid,
- Als Hans erschien und sich Luise plötzlich
- Mit einem Aufschrei ihm entgegenstürzte.
- Der Jüngling schlang den Arm um ihre Hüfte
- Und küßte sie. Der Pfarrer sprach zu ihm:
- »Nun schäm' dich, Hans, daß du so ganz vergessen
- Den alten Freund. Doch wenn du schon Luise
- Vergißt, wie solltest du der Alten noch
- Gedenken!« -- »Väterchen, laß sein, laß sein --
- Was schiltst du Hans denn immer!« sprach die Mutter.
- »Laßt uns zu Tisch gehn, sonst wird alles kalt:
- Der Brei, der Reis, die duft'gen Zuckererbsen,
- Der Glühwein und nicht minder der Kapaun,
- Den mit Rosinen ich und Butter briet.« --
- So setzten sie sich friedlich an den Tisch
- Und waren alle bald vom Wein belebt,
- Die Seelen voller Glück und Heiterkeit. --
- Der alte Geiger spielte, Fritz blies Flöte.
- Es gab ein Stück -- der Feiernden zu Ehren.
- Bald drehten allesamt im Walzer sich.
- Selbst Wilhelm wurde lustig, und gerötet
- Schwang er sich mit der Gattin wie ein Pfau
- Im Kreise. Wie im Wirbelwinde flog
- Hans mit Luise toll dahin. Die Welt
- Flog mit im gleichen, wundervollen Takt.
- Luise wagte kaum zu atmen, kaum
- Sich umzuschaun, vom Tanz so ganz gefangen.
- Der Pfarrer sagte: »Ach, ich sehe mich nicht satt
- An ihnen, glaubt's mir. Welch ein herrlich Paar.
- Luise, dieses heitre, liebe Kind,
- Und Hans so stattlich, klug und doch bescheiden.
- Sie sind doch füreinander wie geschaffen.
- Ja, glücklich wird ihr ganzes Leben sein.
- Ich danke Dir, mein güt'ger Gott, daß Du
- Im hohen Alter mir die Gnade schenktest
- Und mir die morsche Lebenskraft erhieltst,
- Damit ich solche Enkel schauen durfte.
- Nun kann ich sagen, wenn ich Abschied nehme:
- Auf Erden hab' ich Herrliches gesehn.«
- Siebentes Bild
- Des Abends Kühle senkt sich still hernieder.
- Die letzten, leisen Sonnenstrahlen küssen
- Das finstre Meer. Von tausend Flimmerfunken
- Durchsät, erglüht der Wald, und fern, fern her
- Erschimmern durch den Meeresdunst die Felsen
- In bunter Farbenpracht. Rings tiefe Stille.
- Und nur der Hirtenflöten melanchol'scher Ruf
- Tönt dann und wann von fernen, heitren Ufern;
- Und dann und wann ein leises Plätschern, wenn
- Ein Fisch im spiegelblanken Wasser ruckt,
- Wenn eine Schwalbe mit den Flügeln, ehe
- Sie auf zum Himmel steigt, es flüchtig streift.
- -- Fern zeigt ein Kahn sich wie ein heller Punkt.
- Wen trägt er wohl? Wer fährt wohl auf dem Meer?
- Der Pfarrer ist's, der Greis im Silberhaare,
- Und mit ihm Wilhelm mit der teuren Gattin.
- Die übermüt'ge Fanny läßt die Hand,
- Die von der Angelschnur herabgezogen,
- Im Wasser spielen. Hinten in dem Schiff
- Sitzt Hans mit seiner Braut. -- Sie sahen alle
- In stummer Freude einer Welle zu,
- Die breit dem Schiff gefolgt und unterm Schlag
- Der Ruder feurig schäumend perlte.
- Wie sich nun rasch die ros'ge Ferne klärte
- Und voller Duft ein Hauch von Süden kam,
- Da sprach der Pfarrer tief gerührt: »Wie schön
- Ist dieser Abend Gottes doch! So still
- Und herrlich wie das Leben des Gerechten.
- Denn es vollendet ebenso voll Frieden
- Den Weg, und auf den heil'gen Erdenrest
- Ergießen sich die gleichen schönen Tränen.
- Ja, auch für mich wird's Zeit. Auch meine Tage
- Sind bald gezählt. Ich kann nicht lang mehr bleiben.
- Doch werd' ich auch so herrlich schlafen gehen?« --
- Da weinten alle. Hans, der grad ein Lied
- Auf der Oboe spielte, ließ das Instrument
- Nachdenklich sinken. Es umspann ein Schlummer
- Sein Haupt, und weithin schweiften seine Sinne.
- Und Träume stürmten seltsam auf ihn ein.
- Luise wandte sich ihm zu: »Sag' mir, sag', Hans,
- Wenn du mich liebst, wenn ich in deiner Seele
- Noch Mitleid, Mitgefühl wachrufen kann,
- Was quälst du mich? Sag' mir einmal, warum
- Sitzt du bei Nacht einsam bei deinen Büchern?
- Ich weiß es. Unsre beiden Fenster liegen
- Doch nicht umsonst einander gegenüber.
- Warum weichst du uns allen aus und trauerst?
- Dein trüber Blick, ach, nimmt mir alle Ruh',
- Und deine Trauer macht mich selber trübe! --«
- Das rührte Hans. Er wurde ganz verlegen.
- Er drückte sie im Schmerz an seine Brust,
- Und eine Träne stahl sich ihm ins Auge.
- »Luise, frage nicht. Du mehrst doch nur
- Durch deine Unruh' meinen tiefen Kummer.
- Denn in Gedanken ich versunken scheine,
- Glaub' mir, dann denk' ich immer nur an dich
- Und sinne, wie sich all die schweren Zweifel
- Von deiner Seele nehmen, wie dein Herz
- Mit Freude sich und Frieden füllen ließe,
- Daß deiner Jugend reinen Schlaf nichts störe,
- Daß Böses dir nicht nahe, nicht der Schatten
- Von einem Kummer dich berühre, daß
- Dein Glück in alle Ewigkeiten währe!«
- Da lehnte sie an seine Brust sich an
- Und konnte in der Fülle des Gefühls,
- Des Dankes ihm kein einzig Wort erwidern. --
- Still zog das Boot am Ufer hin. -- Man landet
- Und steigt schnell aus. »Hört,« sprach der Vater Wilhelm,
- »Hört, Kinder, nehmt euch recht in acht und seht,
- Daß ihr euch nicht erkältet. Es ist feucht.
- Der Nebel steigt.« -- Hans ging mit ihr und dachte:
- Was wird, wenn sie erfährt, was sie doch nicht
- Erfahren soll? Er sah ihr in die Augen.
- In seinem Herzen ward ein Vorwurf laut.
- Ihm war, als wenn er schlecht gehandelt hätte,
- Als hätte er den ewigen Gott belogen. -- --
- Achtes Bild
- Vom Turme schlägt es Mitternacht.
- Hans sitzt wie immer auf und wacht.
- Dem Einsamen gewohnte Zeit.
- Das Flackerlicht der Lampe leiht
- Nur spärlich Helligkeit. Es fällt
- Wie Saat des Zweifels in die Welt
- Des Schlafs. -- Kein Blick träf' in der Runde
- Nur eines Menschen Spur. Fern, ferne
- Rauscht wie Gespräch aus Menschenmunde
- Die Welle in dem Glanz der Sterne.
- Die Stille läßt den Atem hören
- Der Nacht. -- Jetzt wird ihn nicht mehr stören
- Der laute Tag in seinem Denken,
- Wo über seine Stirn sich senken
- Friede und Ruh'. -- Und sie? Sie setzt
- Sich auf im Bett; im Fenster jetzt:
- »Er kann's nicht sehen, merkt's ja nicht;
- Ich seh' mich satt an seinem Bild.
- Er wacht, daß er mein Glück erfüllt.
- Gott sei ihm gnädig, sei ihm mild.« --
- * * * * *
- Die Welle rauscht im Mondeslicht.
- Ein Traum sinkt nieder und umfängt
- Ihr Haupt und beugt es leis, ganz leis.
- Um Hans spielt der Gedankenkreis
- Noch immer, dem er sich versenkt.
- 1.
- Entschieden alles! Ist's Gebot,
- Tiefinnerst jetzt zugrund zu gehn?
- Gibt's andres Ziel nicht als den Tod?
- Vermag ich Beßres nicht zu sehn?
- Soll ich mich hin zum Opfer geben,
- Tot für die Welt und ruhmlos leben?
- 2.
- Soll denn ein Herz, das Ruhm geliebt,
- Nur Nichtigkeiten lieben dürfen;
- Kalt jedem Glück sein, das sich gibt,
- Und niemals Seligkeiten schlürfen?
- Der Erde Schönheit nie mehr finden,
- Nie Wahres mehr in ihr ergründen?
- 3.
- Was ruft, was lockt ihr mich so bang,
- Ihr, dieser Erde schönste Lande.
- Bei Tag und Nacht wie Vogelsang
- Hör' ich in meiner Träume Bande,
- Bei Tag und Nacht die süßen Töne,
- Und bin berückt von eurer Schöne.
- 4.
- Euch, euch gehör' ich. Bald, ach bald
- Such' ich die seligen Gefilde,
- Ein Pilgrim, der zum Heil'gen wallt.
- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
- Hin fliegt umschäumt des Schiffes Bug.
- Hoch strebt der Sehnsucht froher Flug.
- 5.
- Ja, fallen wird der trübe Flor,
- In den euch stets der Traum gehüllt.
- Aufschließen wird die Welt das Tor
- Zur Wunderherrlichkeit, gewillt,
- Den Jüngling freundlich zu begrüßen
- Mit unversieglichen Genüssen.
- 6.
- Der Schönheit Meister! Meine Augen
- Bereiten sich, was ihr geschaffen
- Mit Stift und Meißel, einzusaugen.
- Mein Herz will eure Glut erraffen.
- Rausch' hin, mein Meer, von Riff zu Riff!
- Bring mich an Land, einsames Schiff!
- 7.
- Du aber, enger Winkelfrieden,
- Mein Wald, mein Feld, ihr müßt verzeihn.
- Himmlischer Regen reich beschieden
- Sei euch und Blüte und Gedeihn.
- Das Herz, scheint's, härmt sich, euch zu lassen,
- Und dürstet, euch noch einmal zu umfassen.
- 8.
- Auch du, mein engelstilles Herz,
- Vergib und geiz' mit deinen Tränen.
- Gib dich nicht hin dem ersten Schmerz.
- Verzeih dem armen Hans sein Sehnen.
- Klag' nicht. Der Weg ist bald gemessen,
- Und ich zurück. Wie könnt' ich dein vergessen! --
- Neuntes Bild
- Wer kommt noch zu so später Stunde
- Behutsam durch die Nacht gewallt,
- Den Wanderstab am Gürtelbunde,
- Den Rucksack rüstig umgeschnallt?
- Vor ihm ein Haus zur rechten Hand;
- Zur linken führt ein Weg ins Weite.
- Er will den weiten Weg ins Land,
- Erfleht von Gott Kraft zum Geleite.
- Allein er wendet, übermannt
- Von stillem Weh, verzehrt von Gram,
- Den Schritt zum Haus, woher er kam.
- * * * * *
- Vor einem offnen Fenster sitzt,
- Den Kopf in seine Hand gestützt,
- Und ruht ein wunderschönes Kind.
- Mit seinem Flügel streicht sie mild
- Und gibt ihr Träume ein -- der Wind,
- Von denen sie nun ganz erfüllt,
- Ein Lächeln zeigt. Und ihm entquillt,
- Wie er sich peinvoll naht der Schönen
- Und bebend ihr ins Antlitz schaut
- Und kummerschwer, sein Weh in Tränen.
- Sein Auge schimmert glanzbetaut.
- Er beugt sich nieder glühend heiß
- Und küßt sie seufzend, leis, ganz leis.
- * * * * *
- Den weiten Weg eilt er dahin.
- Sein Innerstes durchbebt ein Schauer.
- Unrast umdüstert seinen Sinn,
- Und seine Seele tiefe Trauer.
- Noch einmal wendet er den Blick
- Zum Abschiedsgruß. -- Ein weißes Band,
- Zieht schon der Nebel übers Land.
- Sein stöhnend Herz weist ihn zurück.
- Ein rauher Wind mit scharfem Tone
- Stößt Eichenkron' an Eichenkrone.
- Und grau verschwimmt im fernen Raum
- Das Haus. Ganz unklar wie im Traum
- Hat Pförtner Gottlieb nur vernommen,
- Daß wer durchs Gartentor gekommen
- Und daß einmal, als wenn er schälte,
- Der treue Hund im Hofe bellte.
- Zehntes Bild
- Spät wird der helle Führer wach, --
- Der Morgen ist nicht freundlich. Schwer
- Wogt übers Feld ein Nebelmeer,
- Und Regen rauscht und schlägt aufs Dach.
- Des jungen Morgens Kühle fächelt
- Die Schöne aus der Ruh'. Benommen
- Vom Schlaf am Fenster und beklommen,
- Streicht sie ihr Haar zurecht und lächelt.
- Doch Ärger schleicht sich ein und feuchtet
- Das Auge, daß es funkelnd leuchtet:
- »Wann kommst du, Hans? Wie lang soll's dauern?
- Du schwurst: beim ersten Tageslicht!
- Der Tag ist da. Ein Tag zum Trauern,
- Ein trüber Tag. Die Nebel schauern,
- Der Sturmwind heult. Was kommst du nicht?«
- Geängstigt halb und halb verdrossen,
- Blickt sie zum Fenster ihres Hans.
- Geschlossen ist's und bleibt geschlossen.
- Er schläft gewiß, und Traumesglanz
- Umgaukelt ihm sein Liebstes noch.
- Lang hat's getagt. Vom Regen sind
- Durchfurcht die Täler, und vom Wind
- Gewiegt der Wald. Ach, käm' er doch!
- * * * * *
- Der Mittag naht. Unmerklich steigt
- Der Nebel auf. Ganz matt, gezogen
- Tönt Donner noch. Der Eichwald schweigt.
- Auf flammt in siebenfarb'gem Bogen
- Am Himmel paradiesisch Licht.
- Mit Funken ist die Eiche übersprüht.
- Froh klingt vom Dorfe Lied auf Lied.
- Wo bist du, Hans, was kommst du nicht?
- * * * * *
- Warum? -- Die arge Brust umflicht
- Schwermut. Das Ohr wird müd der Qual,
- Zu horchen auf die Stundenzahl.
- Die Türe geht. -- Er ist's! -- Nein, nicht:
- Herein tritt Berta; wohlig fällt
- Der rosa Morgenrock, der weiche,
- Und farbenfroh die kantenreiche,
- Gestickte Schürze. »Engelgleiche,
- Was hat die Nachtruh' dir vergällt?
- Bist bleich und matt. Was ist geschehn?
- Störte der Regen, der so schwer
- Herabgerauscht, das wilde Meer,
- Der Hahn, der wüste Lärmer, den
- Kein Schlaf nachts ankommt, dich so sehr?
- Hat dich der Böse überkommen,
- Dir deinen reinen Schlaf genommen,
- Ins Herz gesenkt trübselig Trauern?
- Tust mich von ganzer Seele dauern.«
- * * * * *
- »Nein, nicht des Regens Rauschen, ach,
- Das wilde Meer nicht, nicht der Hahn,
- Der wüste Lärmer, hat's getan.
- Ach, was du nennst, hielt mich nicht wach.
- Nicht solcher Traum hat mich benommen,
- Bin solcher Trübsal nicht beklommen.
- Der Traum, der mir zu Sinnen kam,
- War anders, schwer und wundersam.« --
- * * * * *
- »Mir träumte: Finstre Öde sei
- Um meinen Weg. Rings Nebel nur
- Vom Moor, und in der Wüstenei
- Von trocknem Boden keine Spur.
- Ein ekler Dunst! Die Erde weicht.
- Bei jedem Schritt ein neuer Schlund,
- Bei jedem Schritt ein neuer Grund
- Zur Herzensangst. Und mich beschleicht
- Unsäglich Wehe. Da erscheint
- Urplötzlich Hans vor mir. Blut rinnt
- Aus einer Wunde. Er beginnt
- Zu schluchzen über mir und weint.
- Doch statt der hellen Tränen floß
- Ein trüber Strom. Ich wachte auf.
- Und über Brust und Antlitz goß
- Vom Blondhaar triefend wie der Lauf
- Von tausend Bächen dummer Regen.
- Mein Herze schlug in trüben Schlägen,
- Und Traurigkeit befiel den Sinn.
- Die Locken blieben feucht. In Sorgen
- Sitz' ich verhärmt seit frühem Morgen.
- Wann kommt er heim? Wo ist er hin?«
- * * * * *
- Die Mutter steht gedankenvoll
- Kopfschüttelnd vor ihr, ehe sie
- Ihr Antwort gibt: »Ach, wüßt' ich, wie
- Ich deiner Not Herr werden soll,
- Mein Töchterchen. Komm, laß uns sehn, --
- Gott geb' uns Kraft! -- was ihm geschehn.«
- * * * * *
- Sie treten in sein Zimmer. Leer,
- Ganz leer! Im Winkel liegt umher
- Ein alter Platoband, gar arg
- Verstaubt, Tieck, Aristophanes, Petrark
- Und Schillers Werke, die vermeßnen,
- Bei Winkelmanns, den halb vergeßnen.
- Und Fetzen von Papier. Es blühn
- Die Blumen auf der Etagere.
- Die Feder blinkt, mit der er kühn
- Entlastet sich der Träume Schwere.
- Sein Tisch, so tot! Doch nein, was hebt
- Sich jetzt? Ein Zettel flirrt. Was ist?
- Luise nimmt ihn auf und bebt.
- Von wem? An wen? Und als sie liest,
- Fängt ihre Zunge wie noch nie
- Zu lallen an. Sie stürzt aufs Knie.
- Gram, sengend Wehe warf sie nieder.
- Und Grabeskälte rann durch ihre Glieder.
- Elftes Bild
- Schau' her, Grausamer! Sieh, Tyrann,
- Wie sie verhärmt im Staube kauert;
- Die einsam Welkende, sieh' an,
- Wie sie in trüber Öde trauert,
- Vergessen, ach! Schau' hin einmal
- Auf dein Geschöpf, in dessen Brust
- Du Lebensglück und Lebenslust
- Mit Gram vertauscht und Höllenqual.
- Durchwühlte Grüfte, siehst du sie?
- Und wie sie dich geliebt, ja, wie!
- Mit welch lebend'ger Innigkeit
- Klang ihrer Rede Melodie,
- Die schlichte. Wo, wo ist die Zeit,
- Da du gelauscht? Wie war von Schuld,
- Von Trübsal rein des Blickes Brand,
- Der dich versengt. Wie oft entschwand
- Zu langsam ihrer Ungeduld
- Der böse Tag, zeigte sich nicht,
- Der Träumerischen, dein Gesicht.
- Und du konntst sie verlassen, du?
- Hast dich von allem abgewandt
- Und wanderst fremd in fremdem Land?
- Wem tust du das? Für wen, wozu?
- Doch schau', Grausamer! Sieh, Tyrann!
- Am Fenster harrt sie noch, verzehrt
- Von Sehnsucht, daß er wiederkehrt
- Zu ihr, er, der geliebte Mann. -- --
- Schon sinkt der Tag. Des Abends Helle
- Liegt wundersam auf allen Dingen.
- Ein kühler Wind regt seine Schwingen.
- Kaum hörbar plätschert fern die Welle.
- Die Nacht entbreitet ihre Schatten.
- Leis tönt die Syrinx. Es ermatten
- Im West die letzten Glutenschimmer.
- Sie sitzt reglos und harrt noch immer. --
- Nächtliche Gesichte
- Allmählich dunkelt und vergeht
- Des Abends Rot. Schon liegt die Welt
- In süßem Schlaf, und überm Feld
- Steigt auf des Mondes Majestät.
- Das Meer erschimmert wie Kristall.
- Durchsichtig scheint das ganze All.
- * * * * *
- Schatten wachsen auf und ziehen.
- Wundersam gestaltet fliehen
- Herrlich sie, weit, immer weiter,
- Himmelwärts die Sternenleiter.
- * * * * *
- Heller wird's: zwei Lichter blitzen.
- Da: zwei Ritter, zottig, fahl.
- Zweier schart'ger Schwerter Spitzen,
- Zweier Panzer Schmiedestahl!
- Halt! Sie suchen, treten an;
- Tauschen Platz um Platz jetzt. Hei!
- Kämpfen, glitzern Mann an Mann.
- Suchen wieder ... Da, vorbei!
- Dunkel schwillt und deckt sie schwer.
- Nur der Mond steht überm Meer. --
- * * * * *
- Ein Lied der Kön'gin Nachtigall durchschallt
- Den Forst; ein schmetternd Lied, das sacht verrauscht.
- Die Erde atmet kaum, sie lauscht
- Verträumt der Sängerin. Der Wald
- Steht reglos. Alles schläft im Kreise.
- Es tönt nur die verklärte Weise.
- * * * * *
- Luftgebaut ragt der Palast
- Einer Märchenfee empor.
- Vor dem Fenster dicht am Tor
- Singt verklärt ein Minnegast.
- Sieh, ein Silberteppich glänzt,
- Ganz durchwebt mit Wolkenringen.
- Drüber schwebt ein Geist, der grenzt
- Nord und Süd mit seinen Schwingen.
- Schlafen sieht der Gast, gebannt
- Durch ein Gitter aus Koralle,
- Seine Fee. Die Perlmuttwand
- Bringt der Trän' Kristall zu Falle. --
- Dunkel eint und deckt sie schwer.
- Nur der Mond steht überm Meer. -- --
- * * * * *
- Kaum schimmert durch den Dunst das Land.
- Geheime Wünsche ohne Zahl
- Weckt uns die See. -- Ein Riesenwal,
- Taucht aus dem Nebel. Übermannt
- Hat Schlaf den Fischer längst. Er ruht;
- Und unablässig rauscht die Flut. --
- * * * * *
- Strandwärts schwimmen Meerjungfrauen
- Herrlich schön. Den leuchtend hellen,
- Weißen Schaum der glühend blauen
- Wogen teilen sie. Die Wellen
- Spielen kosend wie im Traum
- Um die Schöne mit der weißen
- Lilienbrust. Sie atmet kaum.
- Um die zarten Glieder gleißen
- Tropfen wie ein Funkensaum.
- Ach, sie lächelt, kichert leise
- Und schwimmt sinnend hin im Licht.
- Bald voll Lust, bald wieder nicht.
- Träumerisch singt sie die Weise,
- Den Sirenensang der Klagen
- Des Verrats, den sie ertragen,
- Sie, die Junge. -- Reglos ruht
- Mondbeglänzt die blaue Flut. --
- * * * * *
- Ein Friedhof fern in fremder Flur,
- Von einem alten Zaun umhegt.
- Rings Steine, Kreuze. Moosbelegt
- Der stummen Toten Häuser. Nur
- Der Flug der Eulen und das schrille
- Schrein zerreißt die Grabesstille. --
- * * * * *
- Langsam steigt aus seinem Bette
- Jetzt ein Leichnam. Weiß umwallt
- Ihn sein Mantel. Vom Skelette
- Klopft den Staub er würdig. Kalt
- Weht vom Schädel Grabhauch. Feuer,
- Gelbes Feuer glüht aus seinen
- Augen. Mit den Knochenbeinen
- Hält ein Roß, ein ungeheuer
- Glänzend Roß er, einen Schimmel.
- Und es wächst, wächst bis zum Himmel.
- Leiche steht nach Leiche auf.
- Zug des Grauns! Von seinem Lauf
- Beben Erde, ach, und Lüfte. --
- Endlich schließen sich die Grüfte. --
- * * * * *
- Ein Schrecken packt sie an. Sie schlägt
- Das Fenster hastig zu. Ihr Blut
- Von Eiseskälte, bald von Glut
- Durchschauert, bebt gleichwie die Flut
- Im Sturm. Ein schweres Wehe legt
- Sich auf ihr Herz. Ihr Denken ruht. --
- Wenn mitleidlos des Schicksals Faust
- Ein kalter Kieselstein entsaust
- Und trifft ein armes Herz, wer hält
- Die Treue, sagt, in aller Welt
- Noch dem Verstand? Wes Seele ficht
- Kein Übel an? Und wer verfällt,
- Sich ewig gleich, im Unglück nicht
- Dem Aberglauben? Wer erblaßt
- Nicht, wenn solch Spukbild ihn erfaßt
- Im Traum? -- Aufs Lager bang
- Warf sie sich hin voll Schmerz und Kummer.
- Vergeblich suchte sie den Schlummer.
- Wenn ein Geräusch durchs Dunkel drang,
- Ein Mäuslein strich, floh ihre Lider
- Der Schlaf, der launenhafte, wieder. --
- Dreizehntes Bild
- Ein traurig Bild: Ruinen von Athen!
- Die Säulenreih'n, die bildwerkreichen,
- Sind morsch. In öden Tälern stehn
- Sie traurig, müder Zeiten Zeichen.
- Zertrümmert halb und halb verwittert
- Das hehre Denkmal, und zersplittert
- Selbst der Granit. -- Ein karger Rest. --
- Ein morscher Architrav nur prangt
- Voll Majestät, und Efeu rankt
- Und hält am Kapitäl sich fest.
- In Gräben, die man längst verließ,
- Herabgestürzt ein Giebelkranz;
- Dort schimmert noch ein prächt'ger Fries
- Und der Reliefmetopen Glanz.
- Hier trauert eine reichgeschmückte
- Korinthsche Säule noch. Und leise
- Eidechsen schlüpfen scharenweise
- Darüber hin. Voll Würde blickt
- Er auf das Elend rings. Gerückt
- In toter Zeiten dunkle Nacht,
- Verdrängt, hat er für nichts mehr acht.
- Athens Ruinen, ach! Trüb gleiten
- Die Bilder von Vergangenheiten
- Vorbei. An kaltem Marmor lehnt
- Der Wanderer. Wie er sich auch sehnt,
- Er weckt Erstorbnes nicht. Vergebens!
- Das Bündel des vergangnen Lebens
- Knüpft er nicht auf. Ohnmächt'ge Qual,
- Verlorne Müh'! -- Allüberall
- Liest nur Zerstörung, Schmach und Schande
- Der trübe Blick. Im Sonnenbrande
- Blinkt durch die Säulen dann und wann
- Ein Turban wohl. Quer durch die Blöcke,
- Durch Pfeiler, Gräber, Mauerstöcke
- Treibt barsch sein Roß ein Muselmann. -- --
- Hufschlag stampft letzte Trümmer nieder. -- --
- Unsagbar tiefe Traurigkeit
- Packt da den Fremden plötzlich wieder.
- Wie stöhnt sein Herz so laut. Er kann
- Den Schmerz nicht meistern. Bitter leid,
- Daß er den weiten Weg gemessen,
- Ist's ihm. Hat er sein Dach, den stillen,
- Friedlichen Platz daheim vergessen,
- Verlassen um der Gräber willen?
- Ach, wären doch die Traumgespinste,
- Die schönen, seinem Sinn geblieben.
- Der reinen Schönheit Spiegelkünste,
- Ach, hätten sie ihn nicht getrieben!
- Nun sind die Träume tot und kalt
- Und abgestreift ihr Zauberflor. --
- Mit unbarmherziger Gewalt
- Habt ihr ihm schonungslos das Tor
- Zur Glut der Traumeswelt verschlossen,
- Ihr, öder Wirklichkeiten Sprossen!
- Langsam verläßt und kummerschwer
- Der Fremde nun den Trümmerort.
- Er schwört, des blinden Einst nicht mehr
- Zu denken, aber immerfort
- Fliehn seine Opfer vor ihm her. -- -- --
- Sechzehntes Bild
- Zwei Jahre sind dahin. In Lünensdorf
- Blüht alles noch und prankt wie ehedem.
- Die gleichen Sorgen, gleichen Freuden stören
- Den stillen Herzensfrieden der Bewohner.
- Allein im Haus der Wilhelms hat sich viel
- Verändert. Lange ist der Pfarrer tot.
- Er hat den dornenvollen Weg beendet
- Und schläft den letzten tiefen, tiefen Schlaf.
- Wohl alle waren seinem Sarg gefolgt,
- Und alle hatten Tränen in den Augen,
- Gedenkend seines Lebens, seines Tuns.
- Er war es, der für unser Seelenheil,
- Für unser geistig Brot von je gesorgt.
- Er war es, der so schön das Gute lehrte;
- Er war der Trauervollen steter Trost,
- Der feste Schild der Witwen und der Waisen.
- Wie voller Güte stieg er doch an Feiertagen
- Auf seine Kanzel, und wie rührend sprach
- Er von dem reinen Martertum, vom Leiden
- Des Herrn. Und wir, wie lauschten wir erschüttert
- Und unter Tränen seinen tiefen Worten. --
- Wer seines Wegs von Wismar kommt, der geht
- Links von der Straße dicht an einem Friedhof
- Vorbei. Die alten Kreuze stehn gebückt
- In ihrem Kleid von Moos. Der harte Griffel
- Der Zeit hat seine Runen eingegraben.
- In ihrer Mitte leuchtet eine weiße Urne
- Auf schwarzem Steine, von zwei grünen Erlen
- Umrauscht und unter ihrem breiten Schatten.
- Das ist die letzte Ruhestatt des Pfarrherrn.
- Die braven Bauern waren gern bereit,
- Auf eigne Kosten ihm als letzte Ehre
- Dies Grabmal zu errichten. Alle Seiten
- Verkündeten durch eine Inschrift, wie
- Er lebte, wieviel stille Jahre er
- Als Seelensorger zugebracht und endlich
- Am Ziel des Wegs Gott seinen Geist vertraut. --
- Und zu der Stunde, wo der Ost voll Scham
- Errötend seine Flechten löst, und wo
- Im Felde sich ein frischer Wind erhebt,
- Der Tau die blitzend blanken Perlen streut,
- Rotkehlchen in den dichten Büschen schlagen,
- Und erst zur Hälfte noch der Sonnenball
- Sich übers Land hebt, kommen Bäuerinnen
- Mit Nelken, Rosen in der Hand zum Grab
- Und schmücken es mit duft'ger Blumen Fülle
- Und gehen ihres Wegs. -- Nur eine bleibt,
- Das Haupt in ihre Lilienhand gestützt,
- Und sitzt gar lange Zeit in tiefem Sinnen,
- Als wollte sie Unfaßliches begreifen.
- Wer würde, ach, in dieser kummervollen
- Gestalt Luise wohl erkennen? Wer?
- Der frohe Glanz der Augen ist erloschen,
- Ihr unschuldreines Lächeln ist nicht mehr
- Auf ihrem Antlitz. Nie und nimmer huscht
- Das Zeichen einer Freude drüber hin.
- Und doch, wie schön ist sie in ihrem Harm!
- Wie königlich ihr Blick trotz allen Wehs!
- So trauert wohl der strahlende Seraph
- Dem Sturz des menschlichen Geschlechtes nach.
- Voll Schönheit war die glückliche Luise,
- Die trauernde war fast noch herrlicher.
- Grad achtzehn Jahre war sie alt geworden
- Im Monat, als der Pfarrer von ihr schied.
- Mit ihrer ganzen kindlich reinen Seele
- War sie dem Greise zugetan. Und nun
- Denkt sie: Nein, deine Hoffnung hat sich nicht
- Erfüllt. Wie innig hattest du gewünscht,
- Am heiligen Altare uns zu trauen,
- Für alle Zeiten unsern Bund zu schließen.
- Wie hattest du den träumerischen Hans
- Geliebt -- -- Und er? -- -- --
- Ja, wenden wir den Blick zu Wilhelms Hütte.
- Es ist schon herbstlich kalt. Er sitzt daheim
- An seiner Drechselbank und schneidet Platten
- Aus Buchenholz mit feiner Maserung,
- Die er mit krausem Schnitzwerk dann verziert.
- Zu seinen Füßen liegt vergnügt geduckt
- Hektor, sein lieber, treuer Kamerad.
- Wie immer sorgt die tüchtige Hausfrau Berta
- Vom frühsten Morgen an schon für sein Wohl.
- Dicht vor dem Fenster drängt sich eine Schar
- Von Gänsen, und die Hühner gackern auch
- Noch unaufhörlich. Ganz wie ehedem
- Hört man das ew'ge Zwitschern frecher Spatzen,
- Die Tag für Tag im Küchenabfall picken. --
- Der Dompfaff kam, der Geck. Und auf den Feldern
- Hing lange Zeit der reife Duft des Herbstes.
- Die grünen Blätter wurden gelb und fielen,
- Die Schwalben zogen über ferne Meere. --
- In ihrer Sorglichkeit rief Hausfrau Berta:
- »Luise darf nicht mehr so lang ausbleiben.
- Es dunkelt, und der Sommer ist vorbei.
- Jetzt wird's früh feucht, und dichte Nebel fallen
- Und schicken ihre Schauer über uns.
- Warum irrt sie herum? Sie macht mir Not!
- Ja, ja, sie kann den Hans mal nicht vergessen.
- Gott weiß, ob er am Leben ist, ob nicht.« --
- Wie anders Fanny denkt als ihre Mutter!
- Mit ihren sechzehn Jahren sitzt sie still
- In ihrer Ecke vor dem Rocken, voll
- Von Sehnsucht und vom Freunde träumend,
- Und fast unhörbar sagt sie vor sich hin:
- »Ich hätte ihn nicht minder stark geliebt!«
- Siebzehntes Bild
- Wie trüb auch sonst die Tage schleichen
- Im Herbst, das Heute ist voll Licht.
- Die Sonne zeigt ein hell Gesicht,
- Und blanke Silberwellen streichen
- Am Himmel hin. Den Weg herab
- Mit Rucksack kommt und Wanderstab
- Ein Fremder matt und scheu daher.
- Voll Trauer, wie ein Greis gebeugt,
- Geht er die Postchaussee. Nichts zeugt
- Vom alten Hans, fast gar nichts mehr.
- Sein halberloschner Blick umschweift
- Das Meer der gelben Ährenwellen,
- Der Berge bunten Kranz. Es greift
- Der schöne Traum sein Herz; es schwellen
- Des Allvergessens Seligkeiten
- Die Brust. Doch die Gedanken schreiten,
- Ach, einem andern Ziele zu.
- Nichts wär' ihm nötiger als Ruh'.
- Er kommt, so scheint's, von weit, weit her.
- Sein Atem keucht und schmerzt, und schwer
- Schmerzt seine Seele ihn und ächzt.
- Er denkt, doch kein Gedanke lechzt
- Nach Ruh'. -- Wem gilt sein tiefes Grübeln?
- Erstaunt, wie er mit allen Übeln
- Von dem Geschick gemartert ward;
- Des eitlen Tuns erstaunt, wie er genarrt,
- Lacht bitter auf er, daß er trunken
- Die Welt des Wahns, so hassenswert,
- In seiner Unvernunft begehrt
- Und ihrem leeren Glanz versunken;
- Daß er sich in der Menschen Schoß,
- Von ihrem eklen Tun wie toll
- Berauscht, bezaubert, -- schwankungslos
- Geworfen kühn und glaubensvoll.
- Ach, kalt wie Gräber waren sie,
- Habgier und Ehrsucht galt allein,
- Nichts sonst, -- und wie verächtlich Vieh
- So tierisch, ach, und so gemein.
- Sie zogen in den Staub, was gut
- Und hehr. Es schalten ihre Zungen
- Verächtlich nur Begeisterungen
- Und Geistestat. Falsch war die Glut;
- Und wenn sie sich emporgeschwungen,
- Verderben rings. Wer lauschte schon
- Der Reden einschläferndem Ton
- Und bebte nicht? Von Gift wie schwer
- Ihr Atem, wie voll Lüge ist
- Ihr Herzschlag und ihr Geist voll List;
- Wie hohl die Worte und wie leer!
- * * * * *
- Ja, tausendfach war ihm die Wahrheit
- Begegnet und von ihm erkannt.
- Doch ward zu höherm Glück die Klarheit
- Ihm in der Seele Träumerland?
- Wie ferne Sternenhelle zog
- Verlockend ihn der Ruhm. Allein
- Sein blinkend Gift war scharf, es trog
- Der dichte Qualm ihm vor den Schein.
- * * * * *
- Der Tag versinkt im West. Die Schatten
- Des Abends wachsen, und die matten,
- Hellweißen Wolkenränder glühen
- In greller Röte auf. Die dunkeln
- Vergilbten Blätter alle sprühen
- Von goldnem Strahlenwerk und funkeln.
- Der Wiesengrund der Heimat tut
- Sich vor dem Wandrer auf. Es füllt
- Den matten Blick urplötzlich Glut,
- Und eine heiße Träne quillt.
- Die Freuden aus vergangnen Jahren,
- Harmloser Späße, alter Träume Scharen,
- Sie engen ihm die Brust und rauben
- Den Atem ihm. Er will's nicht glauben
- Und sinnt dem Grund nach und beginnt
- Zu weinen wie ein schwaches Kind.
- * * * * *
- Meditationen
- Der Augenblick, da wunderbar
- Ein Auserkorner im Gefühl
- Der höchsten Kraft und Selbsterkenntnis
- Erfaßt des Daseins höchstes Ziel,
- Der sei gesegnet immerdar.
- Nicht leerer Träume Schattenpracht
- Und nicht des Ruhmes Flitterglanz
- Stört ihn und lockt bei Tag und Nacht
- Ihn in den lauten Wirbeltanz
- Der Welt. Sein Sinn hat junge Kraft,
- Ist Ansporn ihm und einz'ger Rat,
- Reizt ihn und treibt die Leidenschaft
- Zu Edlem ihn und großer Tat.
- Für sie setzt er sein Leben ein;
- Mag auch der Torenpöbel schrein,
- Er wird lebend'ger Trümmer wegen
- Nicht wankend, denn er hört allein
- Der Enkelzeit rauschenden Segen.
- * * * * *
- Wenn aber Trug und Traumgestalten
- Mit Sucht nach Glanz ein Herz beseelen,
- Dem Willenskraft und Härte fehlen,
- Im Wirrwarr standhaft sich zu halten,
- Dann ist es besser, ohne Fülle
- Das Feld des Lebens zu durchmessen,
- In der Familie, in der Stille
- Des Weltenlärmes zu vergessen. -- --
- Achtzehntes Bild
- Die Sterne gehen auf in Harmonie.
- Mit mildem Blicke schweifen sie
- Ob all der Schlafversunkenheit
- Als Wächter leisen Menschenschlummers.
- Sie senden Ruh' der Guten Leid,
- Und Bösen -- des Gewissenskummers
- Todbringend Gift. -- Was schickt ihr nicht
- Der Trübsal Frieden jetzt? Ihr seid
- Des Menschen Freude, tröstend Licht. --
- Wenn seine Blicke voller Leid
- Und Kummer flehend an euch haften,
- Hört er den Streit der Leidenschaften
- Im Herzen; und er ruft euch laut,
- Bis er die Schmerzen euch vertraut. --
- Noch ist Luise traurig-müd;
- Und noch entkleidet nicht; sie blickt
- Verträumt, weil aller Schlaf sie flieht,
- Noch in die Herbstnacht unverrückt.
- Ihr Sinn beschwört das alte Bild.
- Da füllt sie Heiterkeit und weitet
- Das Herz ihr, dem ein Lied entquillt,
- Das am Spinett sie froh begleitet.
- Das Laub fällt raschelnd von den Bäumen,
- Durch die der Hofzaun blinkt. -- Hans steht
- In des Vergessens süßen Träumen,
- Vom Mantel eingehüllt, und späht
- Und lauscht. -- Soll er noch länger säumen? --
- Wie wird es ihm jetzt bei dem Klange
- Der Stimme, die ihm nicht geklungen
- Seit seiner Trennung, die ihm lange,
- So lange, lange nicht gesungen!
- Das Lied, das heißer Leidenschaft,
- Das, sangesfrohem Mut entquollen
- Und all dem Übermaß der Kraft,
- Begeistert einst und froh erschollen,
- Sein Lied, es schwillt ihm durch den Regen
- Der Blätter wonnesam entgegen:
- Dich rufe ich! Ich rufe dich,
- Des Lächeln mich bezaubert hat,
- Mein Lieb! Viel Stunden setze ich
- Mich zu dir, und es sehen sich
- Die Augen doch an dir nicht satt.
- Du singst: -- geheimnisvolle Klänge,
- Des Herzens reinste Töne hallen
- Und zittern durch die Luft und schallen
- Wie Schlag von tausend Nachtigallen,
- Als ob ein Silberbach mir sänge.
- Schnell zu mir! Lehn' dich an mich, schnelle,
- Durchbebt von Gluten, wundersamen.
- Dein Herz brennt in der Stille helle,
- Und deine Ruh' strömt Well' auf Welle
- In mich die heißen Liebesflammen.
- Bist du mir fern, dann quält mich Wehe.
- Vergessen gibt es nicht für mich.
- Wenn ich erwach', zur Ruhe gehe,
- Stets bete ich und stets erflehe
- Ich Glück, mein Engel, nur für dich! --
- * * * * *
- War's Täuschung, was sie sah? Es sprühten
- Zwei Feuer auf; zwei Augen glühten
- Dicht vor ihr, dicht. Und sie vernahm,
- Wie jemand seufzend näher kam.
- Angst packt sie, Zittern fällt sie an;
- Sie wendet sich und ... Hans! ... wer kann
- Solch wundersames Wiedersehen,
- Kann der Gefühle eignen Bann,
- Der Blicke Flammensprach' verstehen?
- Wer kann die Feuerworte finden,
- Zu schildern recht, wie das Empfinden,
- Aufwogend wild, die Brust durchspült
- Und unser tiefstes Herz durchwühlt?
- Man bebt, erblaßt, vor Freude schwach.
- Gedanken, Worte fehlen; ach,
- Voll Seligkeit entringt im Überschwang
- Der Brust sich nur ein heller Klang.
- * * * * *
- Hans faßt allmählich sich. Er blickt
- Durch Tränen ihr ins Angesicht
- Und denkt: »In Traum bin ich entrückt;
- Erwachte ich doch ewig nicht!
- Sie ist noch die, die mich umfaßt
- Mit kindlich innigem Verlangen.
- Ach, ihre Jugend starb wohl an der Last
- Der Trauer. Wie verhärmt, verblaßt
- Ist jetzt das frische Rot der Wangen.
- Ich Tor, der ich, um Not und Schmerzen
- Zu finden, floh von ihrem Herzen.«
- Des Leidensschlafes Schwere sank
- Von ihm; gesund und ruhig ward
- Er wieder, er, den Stürme lang
- Geschüttelt, wild durchtobt und hart. --
- So strahlt die Welt stets sonnenblank
- Aufs neu. -- In Glut gehärtet Stahl
- Glänzt stärker, heller tausendmal. --
- Die Gäste zechen. Ihre Runde
- Gehn Glas und Becher und erklingen.
- Die Alten plaudern manche Stunde.
- Derweil sich heiß im Tanze schwingen
- Die Jünglinge, da lärmt und schallt
- Die heiterste Musik. In Saus und Braus
- Herrscht Freude über Alt und Jung;
- Und gastlich ladend lacht das Haus.
- Der Bäuerinnen junge Schar
- Bringt blaue Veilchen für die Braut,
- Dem Bräut'gam Flammenrosen dar.
- Sie schmücken das verliebte Paar.
- »Bleibt lang noch jung,« so hallt es laut,
- »Blüht, wie hier diese Veilchen blühn
- Vom Felde, frisch und immer grün.
- Mag euer Herz von Liebe, schaut,
- Wie dieser Rosen Feuer glühn!«
- * * * * *
- Von Zärtlichkeit ganz hingerissen
- harrt Hans erbebend schon. Sein Blick
- Ist helle Freude, tiefes Glück.
- Sein Herz will unverstellt genießen,
- Nachdem des Zwanges Panzerkleid
- Gefallen ist, die Seligkeit.
- Euch, Träume voller Trug und List,
- Wird nun nicht mehr vergöttern er,
- Der ird'scher Schönheit Diener ist. --
- Doch was umdüstert ihn so schwer?
- (Unfaßlich ist des Menschen Art!)
- Von seinen Träumen scheidend, starrt
- Er ihnen trauernd nach, verloren,
- Wie einem, dem er Treu' geschworen. --
- So harrt der Schüler vor dem Schlage
- Der Glocke am ersehnten Tage
- Des letzten Unterrichts. Ganz voll
- Von Plänen und vor Freude toll,
- Spinnt er sich Träume. Ohne Klage,
- Zufrieden mit der Welt und sich in lang
- Entbehrter Freiheit Überschwang.
- Doch wenn die Abschiedsstunde naht
- Von Haus und Freund und Kamerad,
- Mit denen Arbeit er und Ruh', die Zeit
- Geteilt und Lust an tollen Streichen,
- Dann seufzt er wohl und Tränen schleichen
- Ins Aug' ihm, und er fühlt ein Leid. --
- Epilog
- Es heben in der Öde sich und steigen
- In meines Tempels Einsamkeit,
- Die unerkannt und unentweiht
- Von eines Menschen Fuß, im Schweigen
- Der Seele Träume auf. Wie weit
- Dringt wohl hinaus ihr lauter Reigen?
- Ob wer erregt sein Ohr ihm leiht?
- Wird einer Jungfrau heißes Herz sich neigen,
- Wird eines Jünglings Sinn durch sie befreit?
- Voll ungewollter Rührung singe
- Mein Lied ich, rätselhaft erregt,
- Das stille Lied, das mich bewegt
- Und das ich dir als Loblied bringe,
- Mein Deutschland! Hoher Pläne Land,
- Der Feen und Geister Königtum,
- Mein Herz ist voll von deinem Ruhm!
- Der große Goethe hält die Hand
- Als Schutzgeist über dein Gedeihn.
- Mit seinen hohen Liedern bannt
- Er jede Not von dir und Pein. -- --
- Beilage
- Aus Gogols Briefwechsel mit Bjelinski
- I.
- Gogols Brief an Bjelinski
- Um den 20. Juni 1847 (neuen Stils).
- Ich habe Ihren Aufsatz über mich im »Sowremennik« mit schmerzlichem
- Bedauern gelesen -- nicht deshalb, weil mich die Art, wie Sie mich vor
- allen herabzusetzen suchen, verletzt, sondern weil mir aus diesem
- Aufsatz die Stimme eines Menschen entgegentönt, der mir zürnt. Ich aber
- wünsche keinen Menschen, selbst keinen solchen, der mich nicht liebt,
- gegen mich aufzubringen, am wenigsten Sie, von dem ich geglaubt habe,
- daß er mich liebt. Ich hatte durchaus nicht die Absicht, Sie durch eine
- Stelle in meinem Buche zu betrüben. Wie konnte es nur geschehen, daß in
- Rußland alle Menschen bis auf den letzten so über mich aufgebracht
- waren? Das ist etwas, was ich bisher noch nicht zu verstehen vermag. Die
- Östlinge, die Westlinge und die, die eine neutrale Stellung einnehmen,
- sie alle fühlen sich schmerzlich berührt. Es ist wahr, ich wollte jedem
- von ihnen einen kleinen Schlag versetzen, ich hielt das für nötig, weil
- ich es an meiner eigenen Haut gespürt hatte, wie notwendig so etwas ist
- [wir alle hätten etwas mehr Demut und Bescheidenheit nötig], aber ich
- habe nicht geglaubt, daß die Schläge, die ich austeilte, so plump, so
- ungeschickt und so verletzend ausfallen würden. Ich dachte, man würde
- mir das alles großmütig verzeihen, und mein Buch würde den Grund zu
- einer allgemeinen Versöhnung und nicht zu Streit und Zwietracht legen.
- Sie haben mein Buch mit dem Auge eines zornigen, verärgerten Menschen
- gelesen, und daher haben Sie alles unrichtig ausgelegt. Sehen Sie über
- alle die Stellen hinweg, die bisher noch für viele, wenn nicht gar für
- alle ein Rätsel, achten Sie vor allem auf die, die jedem gesunden und
- einsichtsvollen Menschen verständlich sind, und Sie werden erkennen, daß
- Sie sich in vielen Punkten geirrt haben.
- Ich habe nicht vergebens alle meine Leser angefleht, mein Buch mehrmals
- zu lesen, da ich alle Mißverständnisse, denen es ausgesetzt sein würde,
- schon vorausahnte. Glauben Sie mir, es ist nicht leicht, ein Buch zu
- beurteilen, das so eng mit der ganzen geistigen Entwicklung seines
- Autors zusammenhängt, der lange Zeit im Verborgenen und ganz in sich
- selbst zurückgezogen lebte und unter seiner Unfähigkeit, sich
- auszudrücken, litt. Es war ja auch kein leichter Entschluß, sich selbst
- an den Pranger zu stellen und dem allgemeinen Gespött auszusetzen, indem
- man einen Teil seiner inneren Entwicklung, deren wahrer Sinn nicht so
- bald verstanden wird, der Öffentlichkeit preisgab. Schon dieses Wagnis
- allein hätte einen gescheiten Menschen nachdenklich stimmen und ihn
- veranlassen müssen, mit der Abgabe seines Urteils über das Buch zu
- warten und es zu verschiedenen Stunden und in einer ruhigeren, mehr zur
- aufrichtigen Rechenschaftsablage über sich selbst geeigneten
- Geistesstimmung aufs neue zu überlesen, denn nur in solchen Augenblicken
- ist die Seele fähig, eine andere Seele zu verstehen, mein Buch ist aber
- eine durchaus seelische, geistige Angelegenheit. Sie hätten dann
- sicherlich nicht diese unüberlegten Folgerungen daraus gezogen, von
- denen Ihr Aufsatz strotzt. Wie kann man zum Beispiel daraus, daß ich
- gesagt habe, die Kritiker, die von meinen Fehlern und Mängeln reden,
- enthielten viel Richtiges, folgern, die Kritiker, die meine Vorzüge
- hervorgehoben haben, hätten unrecht. Eine solche Logik kann nur dem
- Kopfe eines zornigen Menschen entspringen, der nur nach etwas sucht, was
- ihn reizen und ärgern muß, und der einen Gegenstand nicht ruhig von
- allen Seiten in Betracht zieht. Ich habe es mir in meinem Geiste lange
- überlegt, wie ich mich über die Kritiker äußern sollte, die meine
- Vorzüge hervorgehoben und anläßlich meiner Werke viele schöne Gedanken,
- die die Kunst betrafen, ausgesprochen haben; ich wollte die Vorzüge und
- die ästhetischen Gefühlsnuancen eines jeden von ihnen unvoreingenommen
- feststellen und charakterisieren; ich wartete nur auf den Augenblick, wo
- ich etwas hierüber sagen konnte, oder richtiger, wo es mir anstehen
- würde, hierüber zu sprechen, damit man nachher nicht erklären sollte,
- daß ich ein eigennütziges Ziel im Auge gehabt und mich nicht allein und
- ganz vorurteilslos von meinem Gerechtigkeitsgefühl hätte lenken lassen.
- Schreiben Sie die unbarmherzigsten Kritiken, wählen Sie die bittersten
- Worte, über die Sie verfügen, um einen Menschen herabzusetzen, tragen
- Sie das Ihre dazu bei, mich in den Augen Ihrer Leser lächerlich zu
- machen, ohne die empfindlichsten Seiten des vielleicht zartfühlendsten
- Herzens zu schonen -- meine Seele wird dies alles ertragen, wenn auch
- nicht ohne Schmerz und ohne schmerzliche Erschütterungen; aber es ist
- bitter, sehr bitter für mich -- dies erkläre ich Ihnen ganz aufrichtig
- -- zu wissen, daß selbst ein böser Mensch Haß und Zorn gegen mich in
- seinem Herzen hegt; und Sie habe ich doch für einen guten Menschen
- gehalten. Dies der aufrichtige Ausdruck meiner Gefühle.
- N. G.
- II.
- Aus einem Briefe Gogols an N. I. Prokopowitsch
- Frankfurt, den 20. Juni (1847).
- Du wunderst dich, daß ich so begierig bin, zu hören, was man über mein
- Buch spricht. Das kommt daher, weil ich sehr begierig bin, die Menschen
- kennen zu lernen, und aus den Urteilen über mein Buch gewinne ich doch
- etwas wie eine Vorstellung von den Menschen mit all ihrem Wissen und
- ihrer Unwissenheit; was jedoch viel wichtiger ist, dadurch gewinne ich
- einen Einblick in ihre Seelenverfassung, die für mich noch weit
- bedeutsamer ist, als ihre äußere Charakteristik, und die ich, wie du
- selbst zugeben wirst, ohne mein Buch nie hätte kennen lernen können.
- Übrigens, da wir gerade darüber reden: Vor einigen Tagen las ich
- _Bjelinskis_ Kritik im zweiten Heft des »Zeitgenossen« (Sowremennik). Er
- scheint zu glauben, daß das ganze Buch auf ihn gemünzt ist, und hat aus
- ihm einen offenen Angriff gegen alle, die seine Ansicht teilen,
- herausgelesen. Das ist ganz falsch; in meinem Buche sind, wie du siehst,
- Angriffe gegen alle und gegen alles enthalten, was sich ins Maßlose
- verliert. Wahrscheinlich hat er die »Leithämmel«[6] auf sich bezogen,
- und doch galt diese Bemerkung bloß den Journalisten im allgemeinen.
- Diese Gereiztheit hat mich sehr betrübt, nicht wegen der harten Worte,
- die ich angeblich nicht zu ertragen vermag -- du weißt doch, daß ich die
- härtesten Worte vertragen kann --, sondern weil dieser Mensch doch
- immerhin während zehn Jahren, trotz aller Übertreibungen und
- Maßlosigkeiten, mit Teilnahme und Sympathie von mir gesprochen und dabei
- doch auch in ganz richtiger Weise auf viele Züge in meinen Werken
- aufmerksam gemacht hat, die die anderen nicht bemerkt haben, obwohl sie
- glaubten, ein viel besseres Verständnis für diese Dinge zu besitzen als
- er. Ich müßte undankbar gegen diese Menschen sein, wo ich es doch
- verstehe, selbst denen gerecht zu werden, die nichts als Mängel und
- Fehler in mir entdecken und nur auf diese hinweisen! Aber gerade das
- Gegenteil trifft zu: in diesem Falle habe ich mich nur getäuscht; ich
- hielt Bjelinski für größer und glaubte nicht, daß er solch einer
- kurzsichtigen Ansicht und solch kleinlicher Folgerungen fähig sei. Ich
- weiß nicht, warum es einem so schwer wird, den Vorwurf der Undankbarkeit
- zu ertragen, aber für mich war dieser Vorwurf schwerer als alle anderen
- Vorwürfe, weil meine Seele tatsächlich sehr zur Dankbarkeit neigt, und
- ich bin gerne dankbar, weil mir das selbst Genuß bereitet. Bitte sprich
- hierüber mit Bjelinski und schreibe mir, welches seine Stimmung gegen
- mich ist. Wenn ihm die Galle überläuft und er eine Wut gegen mich hat,
- so mag er sie im »Zeitgenossen« (Sowremennik) an mir auslassen und zwar
- in jeder Form, die ihm recht ist, nur soll er sie nicht wider mich in
- seinem Herzen hegen[7]. Wenn sich jedoch sein Unmut gelegt haben sollte,
- so gib ihm den beifolgenden Brief zu lesen, den du gleichfalls lesen
- darfst.
- [Fußnote 6: Vergl. Band 7: Von der Odyssee.]
- [Fußnote 7: Hierauf erwiderte Prokopowitsch: »Mir scheint, du bist sehr
- im Irrtum, wenn du glaubst, daß Bjelinski seinen Aufsatz geschrieben
- hat, weil er deine Ausfälle gegen die Journalisten im allgemeinen auf
- sich bezogen hat. Ich kenne Bjelinski schon lange und kann nicht anders,
- als fest davon überzeugt sein, daß er nie eine Zeile geschrieben hat, um
- sich für eine persönliche Kränkung zu rächen.«]
- Aus alledem ersehe ich, daß ich genötigt sein werde, einige Erklärungen
- über mein Buch abzugeben, weil nicht nur Bjelinski, sondern selbst
- solche Leute, die mich und meine Persönlichkeit doch weit besser kennen
- könnten als er, so seltsame Schlüsse aus meinem Werke ziehen, daß man
- einfach starr ist. Offenbar enthält es weit mehr Dunkelheiten und
- Unklarheiten, als ich selbst darin finde ...
- III.
- Bjelinskis Brief an Gogol
- Sie haben nur teilweise recht, wenn Sie glauben, den Zorn eines
- _verärgerten_ Menschen aus meinem Aufsatz herauslesen zu können. Dieses
- Epitheton ist viel zu schwach und matt, um die Stimmung zu
- charakterisieren, in die mich die Lektüre Ihres Briefes versetzt hat.
- Aber Sie haben vollkommen unrecht, wenn Sie dies auf Ihr tatsächlich
- nicht sehr schmeichelhaftes Urteil über die Verehrer Ihres Talentes
- zurückführen. Nein, das hat einen anderen, weit gewichtigeren Grund.
- Eine Kränkung, eine Verletzung unseres Selbstgefühls läßt sich noch
- ertragen, und ich wäre vernünftig genug gewesen, über diesen Gegenstand
- zu schweigen, wenn es sich bloß darum gehandelt hätte; was der Mensch
- jedoch nicht ertragen kann, ist eine Verletzung seines Wahrheitsgefühls,
- seiner Menschenwürde: man kann nicht mehr schweigen, wenn man unter dem
- Deckmantel der Religion und einer Apologie der Knute Lüge und
- Unsittlichkeit für Wahrheit und Tugend ausgibt.
- Ja, ich habe Sie geliebt, ich habe Sie mit der ganzen Leidenschaft
- geliebt, mit der ein Mensch -- den die Bande des Blutes mit seinem
- Vaterlande verknüpfen, dessen Hoffnung, dessen Ehre und Ruhm -- einen
- seiner großen Führer auf dem Wege zum Selbstbewußtsein, zum Fortschritt
- und zur Entwicklung lieben kann. Und Sie hatten begründeten Anlaß, einen
- Augenblick Ihre Seelenruhe zu verlieren, als Sie das Recht auf eine
- solche Liebe einbüßten. Ich sage dies nicht deshalb, weil ich glaube,
- meine Liebe sei ein würdiger Lohn für ein großes Talent, sondern
- deshalb, weil ich in dieser Beziehung nicht nur eine einzige, sondern
- viele Personen darstelle, deren Mehrzahl weder Sie noch ich je gesehen
- und die Sie ihrerseits auch noch niemals kennen gelernt haben. Ich bin
- nicht imstande, Ihnen auch nur einen schwachen Begriff von der Empörung
- zu geben, die Ihr Buch in allen edlen Herzen hervorgerufen hat, noch von
- dem wilden Freudengeheul, in das alle Ihre Feinde und alle die
- unliterarischen Tschitschikows, Nosdrjows, Polizeimeister so gut wie
- alle literarischen, deren Namen Ihnen wohlbekannt sind, ausgebrochen
- sind. Sie sehen selbst, daß sogar Menschen von derselben Geistesrichtung
- wie die, die in Ihrem Buche vertreten wird, Ihr Werk fallen lassen.
- Selbst wenn es das Produkt einer tiefen, aufrichtigen Überzeugung wäre,
- selbst dann müßte es denselben Eindruck auf das Publikum machen. Und
- wenn alle (mit Ausnahme weniger Menschen, die man gesehen haben und die
- man kennen muß, um sich nicht über ihren Beifall zu freuen) das Buch für
- einen schlauen, aber gar zu ungenierten Trick hielten, um auf dem Umwege
- über den Himmel einem höchst irdischen Ziel nachzujagen, -- so sind Sie
- allein schuld daran. Und das ist durchaus nicht verwunderlich,
- erstaunlich ist nur das, daß Sie sich darüber wundern. Ich glaube, das
- käme daher, weil Sie Rußland _nur als Künstler_ so tief und gründlich
- kennen, nicht aber auch als denkender Mensch, dessen Rolle Sie in Ihrem
- phantastischen Buche mit so wenig Glück auf sich genommen haben. Und das
- nicht etwa deswegen, weil Sie kein denkender Mensch sind, sondern
- deshalb, weil Sie sich schon seit vielen Jahren daran gewöhnt haben,
- Rußland aus einer gewissen lockenden Ferne anzusehen, es ist doch
- bekannt, daß nichts leichter ist, als die Dinge aus der Ferne genau so
- zu sehen, wie man sie gerne sehen möchte; denn Sie leben ja auch in
- dieser _schönen Ferne_ ganz für sich und in sich selbst, bleiben ihr
- selbst fremd und bewegen sich in dem einförmigen Kreise gleichgestimmter
- oder doch solcher Menschen, die nicht kräftig genug sind, sich Ihrem
- Einfluß zu widersetzen. Daher haben Sie auch nicht bemerkt, daß Rußlands
- Heil nicht im Mystizismus und Asketismus, ebensowenig wie im Pietismus,
- sondern vielmehr in dem Fortschritt der Zivilisation, der Aufklärung und
- der Humanität liegt. Was es braucht, sind nicht Predigten (die hat es
- genug gehört!) und nicht Gebete (die hat es genug gestammelt!), was es
- braucht, ist, daß das Volk zum Gefühl seiner Menschenwürde erweckt wird,
- ein Gefühl, das ihm für Jahrhunderte durch den Schmutz und die
- Unsauberkeit, in denen es lebte, verloren gegangen war; was es braucht,
- sind Rechte und Gesetze, nicht wie sie den Lehren der Kirche, sondern
- wie sie der gesunden Vernunft und der Gerechtigkeit entsprechen, und
- eine möglichst strenge und pünktliche Erfüllung dieser Gesetze. Statt
- dessen aber bietet Rußland das furchtbare Bild eines Landes dar, in dem
- Menschen mit Menschen handeln, ohne sich auch nur damit rechtfertigen zu
- können, womit sich die schlauen amerikanischen Pflanzer entschuldigen,
- die da behaupten, der Neger sei kein Mensch; das Bild eines Landes, in
- dem sich die Menschen nicht beim Namen nennen, sondern sich mit plumpen
- Kosenamen und Diminutiven wie Wanjka, Waßjka, Stjoschka, Palaschka
- titulieren; eines Landes endlich, in dem es keinerlei Garantien für die
- Integrität der Persönlichkeit, die Ehre und das Eigentum, ja nicht
- einmal eine polizeiliche Ordnung, sondern nur gewaltige Korporationen
- aller möglicher Diebe und Räuber in Ämtern und Würden gibt! Die
- aktuellsten nationalen Fragen, die das Rußland von heute bewegen, sind
- folgende: die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Abschaffung der
- Prügelstrafe und die Sorge für eine möglichst strenge Durchführung zum
- mindesten _der_ Gesetze, die es heute schon gibt. Das fühlt sogar die
- Regierung selbst (die sehr gut weiß, wie die Gutsbesitzer ihre Bauern
- behandeln, und wie viele von den ersten alljährlich durch die Hand der
- letzten umkommen), was durch die schwächlichen, fruchtlosen und halben
- Regierungsmaßnahmen zugunsten der weißen Neger und durch die komische
- Einführung der einschwänzigen Knute an Stelle der dreischwänzigen
- Peitsche dokumentiert wird.
- Das sind die Fragen, die ganz Rußland während seines apathischen
- Schlummers bewegen und beunruhigen! Und in einer solchen Zeit tritt ein
- großer Schriftsteller, der durch seine wunderbaren, künstlerischen, von
- tiefer Wahrheit durchdrungenen Werke so machtvoll an der Erweckung
- Rußlands zum Selbstbewußtsein mitgearbeitet und ihm die Möglichkeit
- gegeben hat, sich selbst wie in einem Spiegel zu sehen, mit einem Buche
- auf, in dem er barbarische Gutsbesitzer im Namen Christi und der Kirche
- unterweist, wie sie ihren Bauern möglichst viel Geld abnehmen können,
- und sie belehrt, daß sie sie möglichst viel schimpfen sollen ... Und das
- sollte mich nicht empören? Ja, wenn Sie einen Angriff auf mein Leben
- unternommen hätten, könnte ich Sie nicht mehr hassen, wie um dieser
- schmachvollen Zeilen willen ... Und danach wollen Sie, daß man an die
- Aufrichtigkeit, an die gute Absicht Ihres Buches glauben soll! Nein!
- Wenn Sie von der wahren Lehre Christi und nicht von einer falschen
- teuflischen Lehre erfüllt wären, so hätten Sie in Ihrem neuesten Buche
- etwas ganz anderes geschrieben. Sie hätten zum Gutsbesitzer gesagt: Da
- seine Bauern seine Brüder in Christus seien, und da ein Bruder nicht der
- Sklave seines Bruders sein kann, so seien die Gutsherren verpflichtet,
- ihren Bauern die Freiheit zu schenken oder wenigstens ihre Arbeitskraft
- möglichst im eigenen Interesse ihrer Bauern zu gebrauchen, da sich die
- Herren in ihrem Inneren und vor ihrem Gewissen eingestehen müßten, wie
- unwahrhaftig das zwischen ihnen und ihren Bauern bestehende Verhältnis
- sei.
- Und dann der Ausdruck: »_O du ungewaschenes Maul!_« Welchem Nosdrjow,
- welchem Sabakewitsch haben Sie diesen Ausdruck abgelauscht, um ihn der
- Welt als eine große Entdeckung zum Nutz und zur Belehrung der Bauern zu
- überliefern, die sich ja auch ohnedies nur darum nicht waschen, weil sie
- ihren Brüdern glauben und sich selbst nicht für Menschen halten? Und
- Ihren Begriff von der nationalen russischen Rechtspflege, deren Ideal
- Sie in der törichten Redensart erblicken, daß man sowohl den, der recht,
- wie den, der unrecht hat, auspeitschen solle? Aber das geschieht ja auch
- ohnedies oft genug bei uns, obwohl man freilich weit häufiger den
- prügelt, der im Recht ist, wenn er sich durch nichts von der Strafe
- loszukaufen vermag; sagt doch ein anderes Sprichwort in solch einem
- Falle: Schuldig ohne Schuld! Und solch ein Buch konnte das Ergebnis
- eines mühsamen und schwierigen inneren Prozesses, einer erhabenen
- geistigen Erleuchtung sein! Das ist unmöglich! Entweder Sie sind krank
- ... dann müssen Sie sich eiligst in Behandlung begeben, oder ... ich
- wage es nicht, meinen Gedanken auszusprechen ... Apologet der Knute,
- Apostel der Unwissenheit, Vorkämpfer des Obskurantismus und der
- finstersten Reaktion, Verherrlicher tatarischer Sitten -- was tuen Sie!
- Blicken Sie vor sich hin -- Sie stehen vor einem Abgrund. Daß Sie für
- diese Lehre eine Stütze in der apostolischen Kirche suchen, das verstehe
- ich noch: sie war ja doch stets die Stütze der Knute und die Bediente
- des Despotismus: warum aber ziehen Sie Christus in diese Sache hinein?
- Was haben Sie Gemeinsames zwischen ihm und der Kirche, vor allem aber
- der griechisch-katholischen Kirche entdeckt? War er es doch, der den
- Menschen zuerst die Lehre von der Freiheit, Gleichheit und
- Brüderlichkeit verkündete und der die Wahrheit seiner Lehre durch sein
- Martyrium bekräftigte und besiegelte. In dieser Lehre lag ja auch nur so
- lange das _Heil_ der Menschen, als diese sich nicht zu einer Kirche
- zusammenschlossen und das Prinzip der Orthodoxie zu ihrer Grundlage
- machten. Die Kirche aber erschuf eine Hierarchie und wurde demgemäß eine
- Vorkämpferin der Ungleichheit, die den Machthabern schmeichelte, eine
- Feindin und Verfolgerin der Brüderlichkeit unter den Menschen -- und das
- ist sie bis auf die heutige Zeit geblieben. Indessen, der Sinn der Lehre
- Christi ist durch die philosophische Bewegung des verflossenen
- Jahrhunderts an den Tag gebracht worden. Und daher ist ein Voltaire, der
- in Europa mit dem Hauch seines Spottes alle Scheiterhaufen, die
- Fanatismus und Unwissenheit errichteten, auslöschte, natürlich in weit
- höherem Sinn ein Sohn Christi, Fleisch von Seinem Fleisch und Bein von
- Seinem Bein, als alle Ihre Popen, Erzpriester, Metropoliten und
- Patriarchen zusammen! Sollten Sie das wirklich nicht wissen? Das weiß
- doch heute bereits jeder Gymnasiast! ... Sollte es daher wirklich
- möglich sein, daß Sie, der Verfasser des »Revisors« und der »Toten
- Seelen«, aufrichtigen Herzens einen Hymnus auf die niederträchtige
- russische Geistlichkeit singen und sie so unendlich hoch über die
- katholische stellen konnten? Nehmen wir einmal an, Sie wußten nicht, daß
- diese Kirche einmal etwas bedeutet hat, während die erste nie etwas war,
- als die Bediente und Sklavin der weltlichen Macht; -- wie --? sollten
- Sie denn wirklich nicht wissen, daß unsere Geistlichkeit vom ganzen
- russischen Volke und der russischen Gesellschaft verachtet wird? Von wem
- erzählt das russische Volk obszöne Anekdoten? Vom Popen, von der
- Popenfrau, von der Popentochter und vom Knecht des Popen. Ist nicht in
- Rußland der Pope für jeden Russen der Inbegriff der Gefräßigkeit, des
- Geizes, der Speichelleckerei, der Schamlosigkeit? Und das sollten Sie
- alles nicht wissen? Seltsam! Nach Ihrer Meinung ist das russische Volk
- das religiöseste Volk der Welt. Das ist eine Lüge. Die Grundlage der
- Religiosität ist der Pietismus, die Ehrfurcht und die Gottesfurcht. Der
- Russe dagegen kratzt sich den ... wenn er den Namen Gottes ausspricht
- ... Und von den Heiligenbildern sagt er: sind sie gut -- so betet man zu
- ihnen; sind sie nicht mehr zu brauchen -- so deckt man die Töpfe mit
- ihnen zu.
- Blicken Sie aufmerksamer hin und Sie werden sich überzeugen, daß dies
- ein seinem innersten Wesen nach von Grund aus atheistisches Volk ist. Es
- besitzt noch sehr viel Aberglauben, aber keine Spur von Religiosität.
- Der Aberglaube verschwindet mit dem Fortschritt der Zivilisation, die
- Religiosität aber erhält sich daneben und verträgt sich häufig mit ihm:
- ein lebendiges Beispiel dafür ist Frankreich, wo es auch heute noch
- unter den aufgeklärten und gebildeten Leuten viele aufrichtige
- Katholiken gibt und wo viele zwar das Christentum aufgegeben haben,
- dennoch aber noch an einem Gott festhalten. Nicht so das russische Volk:
- mystische Exaltationen liegen nicht in seiner Natur; dazu besitzt es
- viel zu viel gesunde Menschenvernunft, Klarheit und positiven Verstand,
- und darin liegt vielleicht gerade die Gewähr für die Größe seiner
- künftigen historischen Schicksale. Die Religiosität hat nicht einmal in
- der Geistlichkeit Wurzel geschlagen, denn die wenigen eximierten
- Persönlichkeiten, die sich durch eine solche kalte asketische
- kontemplative Geisteshaltung auszeichneten, beweisen noch nichts. Die
- Mehrzahl unserer Geistlichen dagegen sind nur durch dicke Bäuche,
- scholastische Pedanterie und rohe Unwissenheit ausgezeichnet. Man würde
- ihnen unrecht tun, wenn man ihnen religiöse Intoleranz und Fanatismus
- vorwerfen wollte, man hätte eher noch Grund, ihren vorbildlichen
- Indifferentismus in Sachen des Glaubens zu loben. Echte Religiosität
- findet sich bei uns nur bei den Sektierern und Ketzern, die in einem
- solchen Gegensatz zu dem Volksgeist stehen und deren Anzahl im Vergleich
- zu der Masse des Volkes gar nicht ins Gewicht fällt.
- Ich will nicht näher auf Ihren Dithyrambus auf das Band der Liebe
- eingehen, das das russische Volk mit seinem Herrscher verknüpft. Ich
- will es ohne Umschweife aussprechen: dieser Dithyrambus hat bei niemand
- Sympathie gefunden und hat Ihnen selbst bei solchen Leuten geschadet,
- die Ihnen in anderer Hinsicht, d. h. in ihren Anschauungen, sehr nahe
- stehen. Was mich persönlich anbetrifft, so überlasse ich es Ihrem
- Gewissen, ob Sie sich noch weiter verzückt in die Betrachtung der
- göttlichen Schönheit des Selbstherrschertums versenken wollen (das ist
- sehr bequem und daher sehr -- einträglich), nur bitte ich Sie, seien Sie
- vernünftig und betrachten Sie es aus Ihrer _schönen Ferne_; aus der Nähe
- gesehen ist es viel weniger schön und auch nicht so ungefährlich. -- Ich
- will hier nur eins bemerken: wenn ein Europäer, besonders ein Katholik,
- von dem religiösen Geist ergriffen wird, wird er zum Ankläger, der sich
- gegen das Unrecht und die Ungerechtigkeit der Machthaber wendet, wie die
- jüdischen Propheten, die die Ungerechtigkeiten und Missetaten der
- Mächtigen an den Pranger stellten. Bei uns dagegen ist es umgekehrt:
- wenn ein Mensch (selbst ein anständiger) von der Krankheit, die bei den
- Psychiatern unter dem Namen _religiosa mania_ bekannt ist, ergriffen
- wird, dann fängt er sofort an, dem irdischen Gotte mehr Weihrauch zu
- spenden als dem himmlischen; dabei aber übertreibt er gleich und wird so
- maßlos, daß der Gott, selbst wenn er ihn für seinen sklavischen
- Diensteifer belohnen wollte, sieht, daß er sich damit vor der
- Gesellschaft kompromittieren würde. -- Wir sind halt dumme Kerle --, wir
- Russen.
- Hierbei fällt mir noch ein, daß Sie in Ihrem Buche behaupten und es als
- eine große Wahrheit hinstellen, daß Lesen und Schreiben dem einfachen
- Volke nicht nur nicht nützen, sondern sogar geradezu schaden würde. Was
- soll ich Ihnen darauf sagen?
- Möge Ihnen Ihr byzantinischer Gott diesen byzantinischen Gedanken
- verzeihen, wenn Sie nicht gewußt haben sollten, was Sie sagten, indem
- Sie ihn niederschrieben. -- Aber vielleicht werden Sie entgegnen: »Es
- ist möglich, daß ich mich geirrt habe und daß alle meine Gedanken falsch
- sind, warum aber will man mir das Recht nehmen, mich zu irren, und warum
- will man nicht an die Aufrichtigkeit meiner Irrtümer glauben?« Darauf
- antworte ich Ihnen folgendes: weil eine solche Anschauung in Rußland
- schon lange nichts Neues mehr ist. Erst vor kurzem ist sie von
- Buratschok und Genossen in erschöpfender Weise vertreten worden.
- Natürlich steckt in Ihrem Buche weit mehr Verstand und sogar Talent, als
- in ihren Werken, obwohl es nicht allzu reich an beiden ist, dafür aber
- haben jene die Ihnen gemeinsame Lehre mit viel größerer Energie und mit
- weit größerer Konsequenz vertreten, sie sind kühn bis zu ihren letzten
- Ergebnissen vorgedrungen, haben alles dem byzantinischen Gotte geopfert
- und nichts für den Satan übriggelassen, während Sie jedem von beiden
- eine Kerze stiften wollten, sich hierdurch in Widersprüche verwickelten
- und für Puschkin, die Literatur und das Theater eintraten, die von Ihrem
- Standpunkt aus, wenn Sie nur ehrlich genug gewesen wären, um konsequent
- zu sein, nichts zum Heil unserer Seele, wohl aber sehr viel zu ihrem
- Verderben beitragen können ... Wessen Hirn aber hätte den Gedanken von
- der Identität Gogols und Buratschoks ertragen können? Sie haben sich
- einen viel zu hohen Platz in der Meinung des russischen Publikums
- erobert, als daß es Ihnen die Aufrichtigkeit solcher Überzeugungen zu
- glauben vermöchte. Was uns bei einem Toren natürlich vorkommt, kann uns
- bei einem genialen Mann nicht so erscheinen. Es gibt Menschen, die auf
- den Gedanken gekommen sind, Ihr Buch sei die Frucht einer geistigen
- Störung, die ganz positiv an Wahnsinn grenzt. Aber sie haben diese
- Folgerung bald wieder fallen gelassen -- denn es ist doch ganz klar, daß
- dies Buch nicht an einem Tag, auch nicht in einer Woche oder in einem
- Monat, sondern vielleicht während eines ganzen Jahres geschrieben wurde,
- oder daß Sie gar zwei oder drei Jahre lang daran gearbeitet haben; alles
- darin hängt sehr genau zusammen, selbst die nachlässige Darstellung läßt
- erkennen, daß viel Überlegung darin steckt, daß es wohl durchdacht ist.
- Ein Hymnus auf die höchsten Machthaber ist ja doch auch sehr geeignet,
- dem frommen Autor eine angenehme und gesicherte irdische Existenz zu
- verschaffen. Das war der Grund, weshalb sich in Petersburg das Gerücht
- verbreitete, Sie hätten dieses Buch geschrieben, um Erzieher bei dem
- Sohne des Thronfolgers zu werden. Schon früher ist in Petersburg einer
- Ihrer Briefe an Uwarow bekanntgeworden, in dem Sie mit Schmerz davon
- sprechen, daß man in Rußland Ihre Werke falsch auslegt, Ihre
- Unzufriedenheit mit Ihren früheren Schriften äußern und erklären, Ihre
- Werke würden Sie erst dann befriedigen, wenn Sie den Beifall des Zaren
- fänden. Und nun urteilen Sie selbst, ob man sich wundern kann, daß Ihr
- Buch Ihnen beim Publikum sowohl als Schriftsteller, noch viel mehr aber
- als Mensch geschadet hat.
- Sie verstehen, wie ich sehe, das russische Publikum nicht recht. Sein
- Charakter wird durch die Situation bestimmt, in der sich die russische
- Gesellschaft befindet. In ihr regen sich frische Kräfte, die nach außen
- drängen, jedoch durch den schweren Druck, der auf ihr lastet, gehemmt
- werden und, da sie keinen Ausweg finden, nichts wie Trübsinn,
- Melancholie und Apathie erzeugen. Nur in der Literatur regt sich trotz
- der tatarischen Zensur noch etwas wie Leben und Fortschritt. Daher ist
- auch der Schriftstellerberuf bei uns etwas so Edles und Hohes, und daher
- wird es bei uns selbst dem kleinsten Talent so leicht, einen
- literarischen Erfolg zu erringen. Der Name des Poeten, der Titel des
- Literaten haben bei uns schon längst den glänzenden Flitter der
- Epauletten und der bunten Uniformen verdunkelt. Das ist auch der Grund,
- weshalb bei uns jede sogenannte literarische Tendenz und Bewegung,
- selbst bei einem geringen und dürftigen Talent, auf den Lohn der
- allgemeinen Beachtung rechnen darf, und warum die Popularität der großen
- Talente so schnell dahinsinkt, die ihre Kräfte aus ehrlicher Überzeugung
- oder aus unehrlichen Motiven in den Dienst der Orthodoxie, des
- Absolutismus und des Nationalismus stellen. Das treffendste Beispiel
- hierfür ist Puschkin, der nur zwei oder drei untertänige Gedichte zu
- schreiben und die Kammerjunkerlivree anzulegen brauchte, um mit einem
- Schlage die Liebe seines Volkes zu verlieren! Sie sind in einem großen
- Irrtum befangen, wenn Sie allen Ernstes glauben, daß der Mißerfolg Ihres
- Buches nicht seiner schlimmen Tendenz, sondern der Härte der Wahrheiten
- zuzuschreiben sei, die Sie allen und jedem ins Gesicht gesagt hätten.
- Das konnten Sie vielleicht von den Literaten glauben, wie aber paßte das
- Publikum in diese Kategorie? Wäre es wirklich möglich, daß Sie ihm im
- »Revisor«, in den »Toten Seelen« mit geringerer Schärfe und weniger
- Wahrheit und Talent weniger bittere Wahrheiten gesagt haben sollten? Die
- alte Schule zürnte und grollte Ihnen ja auch tatsächlich bis zur
- Raserei, aber der »Revisor« und die »Toten Seelen« sind darum doch nicht
- vergessen, während Ihr Buch schmählich vom Orkus verschlungen wurde. Und
- das Publikum hat in diesem Falle recht: es sieht in den russischen
- Schriftstellern seine einzigen Führer, seine Beschützer und Erretter aus
- dem russischen Absolutismus, der Orthodoxie und dem Nationalismus, daher
- ist es stets bereit, einem Schriftsteller ein _schlechtes_ Buch zu
- verzeihen, nie aber wird es ihm ein _schädliches_ Buch vergeben. Das
- beweist, wieviel frische gesunde Instinkte, wenn auch erst keimhaft, in
- unserer Gesellschaft schlummern, und es beweist auch, daß diese
- Gesellschaft eine Zukunft hat. Wenn Sie Rußland lieben, so freuen Sie
- sich über die Niederlage Ihres Buches.
- Nicht ohne eine gewisse Eitelkeit darf ich Ihnen sagen, daß ich das
- russische Publikum ein wenig zu kennen glaube. Ihr Buch hat mich
- erschreckt, weil ich es für möglich hielt, daß es einen schlechten
- Einfluß auf die Regierung und auf die Zensur ausüben, nicht aber, weil
- ich daran glaubte, daß es das Publikum in schlechtem Sinne beeinflussen
- könnte. Als sich in Petersburg das Gerücht verbreitete, die Regierung
- wolle Ihr Buch in vielen tausend Exemplaren drucken und zu ganz billigem
- Preise verkaufen lassen -- wurden meine Freunde mutlos; ich sagte ihnen
- jedoch sogleich, daß das Buch trotz alledem keinen Erfolg haben und daß
- es bald vergessen sein werde. Und so lebt es ja auch heute tatsächlich
- mehr in den Aufsätzen, die über es geschrieben wurden, als durch sich
- selbst in der Erinnerung des Publikums weiter. Ja, der Russe hat einen
- tiefen, obwohl noch unentwickelten Wahrheitsinstinkt.
- Ihr Appell mag ja vielleicht ganz aufrichtig gewesen sein, aber Ihr
- Gedanke, dem Publikum davon Mitteilung zu machen, war äußerst
- unglücklich. Die Zeiten naiver Frömmigkeit sind selbst für _unsere_
- Gesellschaft längst vorüber. Sie begreift schon, daß es ganz gleich ist,
- wo man betet, und daß nur solche Leute Christus in Jerusalem suchen, die
- ihn entweder nie in ihrem Busen getragen oder die ihn doch wieder
- verloren haben. Wer da fähig ist, beim Anblick fremder Leiden selbst zu
- leiden, wem es schwer wird, mitanzusehen, wie Menschen, die ihm völlig
- fremd sind, bedrückt werden, -- der trägt Christus in seiner Brust und
- der braucht nicht zu Fuß nach Jerusalem zu pilgern. Die Demut und
- Ergebung, die Sie predigen, ist nichts Neues und schmeckt erstlich nach
- furchtbarer Überhebung und zweitens nach einer höchst schmachvollen
- Herabsetzung der eigenen Menschenwürde. Der Gedanke, sich in ein
- abstraktes Vollkommenheitsideal zu verwandeln und sich durch seine Demut
- über alle anderen Menschen zu erheben, kann nur die Frucht des Hochmuts
- oder des Schwachsinns sein und führt in beiden Fällen nur zur Heuchelei,
- zum Pharisäertum und zum Chinesentum. Und dabei haben Sie sich erlaubt,
- sich nicht nur in unsauberen und zynischen Ausdrücken über andere zu
- äußern (das wäre schließlich nur eine Unhöflichkeit gewesen), nein, Sie
- sprechen auch so von sich selbst -- und das ist einfach häßlich; denn
- wenn ein Mensch, der seinen Nächsten auf die Backe schlägt, uns zur
- Empörung reizt, so erregt ein Mensch, der sich selbst ohrfeigt, unsere
- Verachtung. Nein, Ihr Geist ist verfinstert und nicht erleuchtet: Sie
- haben weder den Geist, noch die Form des Christentums unserer Zeit
- verstanden. Nicht die Wahrheit der christlichen Liebe, sondern
- krankhaftes Todesgrauen und Furcht vor Hölle und Teufel spricht aus
- Ihrem Buch.
- Und welch eine Sprache, was für Sätze sind das: »Die Menschen sind heute
- allzumal solch traurige jämmerliche Waschlappen geworden.« Glauben Sie
- wirklich, daß das heißt, sich biblisch ausdrücken, wenn Sie sagen, die
- Menschen sind allzumal, statt alle? Welch große Wahrheit ist es doch,
- daß, wenn der Mensch sich gänzlich der Lüge hingibt, ihn auch Verstand
- und Talent im Stich lassen. Wenn nicht Ihr Name unter dem Titel Ihres
- Buches stünde, wer hätte gedacht, daß dieser geschwollene und wirre
- Wort- und Phrasenflitter -- ein Werk des Verfassers der »Toten Seelen«
- und des »Revisors« sein könnte!
- Was endlich mich selbst anbetrifft, so erkläre ich Ihnen nochmals: Sie
- haben sich geirrt, wenn Sie meinen Aufsatz für eine Frucht der
- Verärgerung hielten, die durch Ihr Urteil über mich als einen Ihrer
- Kritiker hervorgerufen sei. Wenn mich nur dies allein empört hätte, dann
- hätte ich mich auch wirklich nur über dies eine empört und ärgerlich
- geäußert und über das andere ganz ruhig und unvoreingenommen gesprochen.
- Freilich ist es ganz richtig, daß Ihr Urteil über Ihre Verehrer in
- doppelter Hinsicht sehr unschön war. Ich erkenne an, daß es notwendig
- sein kann, einem Toren zuweilen einen kräftigen Schlag zu versetzen,
- wenn er uns durch seine Lobeserhebungen und seine Begeisterung
- lächerlich macht, aber auch das ist eine _bittere_ Notwendigkeit, denn
- es ist nicht angenehm, nicht ganz menschlich, einem Menschen -- selbst
- für seine falsche, auf einem Irrtum beruhende Liebe -- mit Haß und
- Feindschaft zu zahlen. Sie aber hatten, wenn auch nicht gerade Menschen
- von auserlesenen Verstandesfähigkeiten, zum mindesten solche, die auch
- keine Toren sind, im Auge. Diese Leute haben voller Bewunderung über
- Ihre Werke weit mehr Geschrei gemacht, als sie Vernünftiges über sie
- gesagt haben, immerhin aber stammte ihr Enthusiasmus aus einer so reinen
- und edlen Quelle, daß Sie sie keinesfalls ihrem gemeinsamen Feinde
- bedingungslos hätten ausliefern und ihnen noch den Vorwurf machen
- dürfen, sie strebten danach, Ihren Werken eine falsche Deutung zu geben.
- Sie haben dies natürlich aus Unvorsichtigkeit getan und, weil Sie sich
- von dem Grundgedanken Ihres Buches fortreißen ließen, während
- Wjasemskij, dieser Fürst unter den Aristokraten und dieser Lakai unter
- den Literaten, Ihren Gedanken weiter ausführte und eine private
- Denunziation gegen Ihre Verehrer (also in erster Linie gegen mich)
- veröffentlichte. Er hat dies wahrscheinlich aus Dankbarkeit gegen Sie
- getan, weil Sie diesen erbärmlichen Reimschmied zu einem großen Dichter
- gemacht haben, wahrscheinlich, und soviel ich mich erinnere, wegen
- seines »matten an der Erde klebenden Verses«. Das alles ist nicht schön.
- Daß Sie jedoch nur auf den Zeitpunkt gewartet haben, wo es Ihnen möglich
- sein würde, auch den Verehrern Ihres Talents Gerechtigkeit widerfahren
- zu lassen (nachdem Sie Ihren Feinden mit stolzer Bescheidenheit gerecht
- geworden waren) -- das war mir unbekannt; ich konnte es nicht wissen und
- hätte es, offen gestanden, auch nicht wissen wollen. Vor mir lag Ihr
- Buch und nicht Ihre Absichten! Ich las es, las es hundertmal
- nacheinander und konnte dennoch nichts darin finden als das, was darin
- steht, und das, was darin stand, beleidigte und empörte meine Seele aufs
- tiefste.
- Wenn ich meinem Gefühl freien Lauf lassen wollte, würde sich dieser
- Brief bald in ein dickes Heft verwandeln. Ich habe nie daran gedacht,
- Ihnen hierüber zu schreiben, obwohl ich vom qualvollen Wunsche danach
- verzehrt wurde, und obwohl Sie allen und jedem öffentlich das Recht
- gegeben hatten, Ihnen ganz ungeniert zu schreiben, da Sie keine andere
- Rücksicht kennten, als die der Wahrheit. In Rußland hätte ich das nicht
- tun können, da die dortigen »Schpekins« fremde Briefe öffnen, und zwar
- nicht zu ihrem persönlichen Vergnügen, sondern weil sie dienstlich dazu
- verpflichtet sind und um andere Leute zu denunzieren. Im Sommer dieses
- Jahres trieb mich eine beginnende Schwindsucht ins Ausland, und
- Nekrassow sandte mir Ihren Brief nach Salzbrunn nach, von wo ich heute
- in Gesellschaft Annenkows über Frankfurt am Main nach Paris weiterreise.
- Der unerwartete Empfang Ihres Briefes gab mir die Möglichkeit, Ihnen
- alles zu sagen, was mir auf der Seele lag und was ich gegen Sie und Ihr
- Buch empfand. Ich kann keine Halbheiten sagen und keine Winkelzüge
- machen, das liegt nicht in meiner Natur. Mögen Sie oder die Zeit mich
- belehren, daß ich mich in meinen Schlüssen über Sie geirrt habe. Ich
- würde der erste sein, der sich hierüber freuen würde, aber ich werde nie
- bereuen, was ich Ihnen gesagt habe. Hier handelt es sich nicht um meine
- oder Ihre Person, sondern um etwas weit Größeres und Höheres, als ich
- und selbst Sie sind, hier handelt es sich um die Wahrheit, um die
- russische Gesellschaft, um Rußland.
- Und dies ist mein letztes Wort, mit dem ich schließe: wenn Sie den
- unglücklichen Einfall hatten, Ihre wahrhaft großen Werke mit stolzer
- Bescheidenheit zu verleugnen, so müssen Sie nun mit aufrichtiger Demut
- Ihr letztes Buch abschwören und die schwere Schuld, die Sie durch seine
- Veröffentlichung auf sich geladen haben, durch neue Schöpfungen wieder
- gutmachen, die an Ihre früheren Werke erinnern.
- Salzbrunn, den 15. Juli 1847.
- IV.
- Gogol an Bjelinski[8]
- [Fußnote 8: Von diesem Brief ist nur das ursprüngliche Konzept
- vorhanden. Es umfaßt zwei auf Briefpapier geschriebene Hefte in
- Oktavformat. Beide Hefte wurden von Gogol in Stücke gerissen, so daß
- jedem Heft ungefähr zehn Blätter entsprachen. Der russische Herausgeber
- hat die einzelnen Stücke wieder aneinander gelegt und den ursprünglichen
- Wortlaut nach Möglichkeit durch entsprechende Ergänzungen und
- Einschaltungen wiederherzustellen gesucht. Die fehlenden Stellen sind
- durch Punkte ersetzt.]
- Womit sollte ich meine Antwort auf Ihr Schreiben beginnen, wenn nicht
- mit Ihren eigenen Worten: »Kommen Sie zu sich, Sie stehen am Rande eines
- Abgrundes!« Wie weit sind Sie vom geraden Weg abgekommen! In welch
- verzerrter, entstellter Gestalt erscheinen Ihnen die Dinge! Welch rohe,
- ungebildete Vorstellung haben Sie von meinem Buche gefaßt! Wie haben Sie
- es ausgelegt! ... Oh, mögen die heiligen Mächte Frieden in Ihre leidende
- Seele gießen! Wozu mußten Sie den einmal gewählten friedlichen Weg gegen
- einen anderen vertauschen? Was konnte herrlicher sein, als die Leser auf
- die Schönheiten in den Werken unserer Schriftsteller hinzuweisen, ihre
- Seele und ihre Geisteskräfte bis zum Verständnis alles Schönen zu
- erheben, die Schauer der in ihnen geweckten Sympathie zu genießen und so
- unmerklich auf ihre Seele einzuwirken? Dieser Weg hätte Sie zur
- Versöhnung mit dem Leben geführt, Sie gelehrt, alles in der Natur zu
- segnen. Jetzt dagegen fließt Ihr Mund von Haß und Galle über ... Wozu
- mußten Sie mit Ihrer feurigen Seele sich in diesen Strudel des
- politischen Lebens, in diese trüben Tageskämpfe stürzen, bei denen
- selbst ein vielseitiger Geist seine Festigkeit und Umsicht verlieren
- muß. Wie sollten Sie mit Ihrem einseitigen Geist, der die Explosivkraft
- des Pulvers hat und sich schon entzündet, noch ehe Sie sich davon
- überzeugt haben, was Wahrheit und was Lüge ist, wie sollten Sie da nicht
- die Orientierung verlieren? Sie werden verbrennen wie eine Kerze und
- auch andere mit sich in den Flammentod reißen ... Oh, wie tut mir mein
- Herz in diesem Augenblicke weh um Ihretwillen! Wie, wenn auch ich
- mitschuldig wäre? Wie, wenn auch meine Werke an Ihren Verirrungen
- teilhätten? Aber nein, wenn ich alle meine früheren Werke betrachte, so
- sehe ich, daß _sie_ Sie nicht irreleiten konnten ... Als ich sie
- schrieb, hatte ich Ehrfurcht vor allem, wovor sich der Mensch beugen
- muß. Mein Spott und mein Haß galten nicht der Obrigkeit und nicht den
- _höchsten_ Gesetzen unseres Staates, sondern ihrem Zerrbild, den
- Abweichungen, ihrer falschen Auslegung und den verkehrten Anwendungen.
- Nirgends habe ich über den Kern des russischen Charakters und die
- gewaltigen Kräfte, die in ihm schlummern, gespottet. Ich habe nur über
- das Kleinliche und Nichtige gespottet, das nicht zu seinen
- Charakterzügen gehört. Mein Fehler bestand darin, daß ich den Russen
- noch nicht deutlich genug charakterisiert, sein Wesen nicht völlig
- entfaltet, daß ich die tiefen Quellen, die in seiner Seele verborgen
- liegen, nicht aufgedeckt habe. Aber das ist keine leichte Sache. Wenn
- ich den Russen auch gründlich erforscht habe und wenn mir auch eine
- gewisse hellseherische Begabung dabei behilflich sein konnte, so war ich
- doch nicht durch mich selbst geblendet, meine Augen waren klar. Ich sah,
- daß ich noch nicht reif genug war, um den Kampf mit Ereignissen, die
- bedeutsamer und von höherer Art waren, als die, die bis dahin in meinen
- Werken vorkamen, und mit stärkeren Charakteren aufnehmen zu können.
- Alles konnte übertrieben und gewaltsam erscheinen. Und so geschah es
- auch mit diesem Buch, über das Sie so hergefallen sind. Sie haben es mit
- glühenden Augen betrachtet, und alles darin ist Ihnen in ganz anderem
- Lichte erschienen, als es in Wirklichkeit ist. Sie haben es nicht
- verstanden. Ich will mein Buch nicht verteidigen. Ich selbst habe es
- schlecht gemacht und mache es noch schlecht. Ich habe mich bei seiner
- Veröffentlichung einer Hast und Übereilung schuldig gemacht, die sonst
- nicht in meinem besonnenen und vorsichtigen Charakter liegt. Aber das
- Motiv war ehrlich. Ich wollte niemand mit dem Buch schmeicheln oder
- Weihrauch streuen. Ich wollte nur ein paar allzu stürmische Köpfe zur
- Besonnenheit mahnen, die im Begriffe waren, sich zu verirren und in
- diesen Strudel und diese Unordnung zu stürzen, in die plötzlich alle
- Dinge dieser Welt gestürzt waren, zu einer Zeit, wo der Geist in unserem
- Innern sich zu umnachten schien und gleichsam erlöschen wollte. Ich bin
- in Übertreibungen verfallen, aber ich versichere es Ihnen, ich habe es
- selbst nicht gemerkt. Eigennützige Ziele aber habe ich weder früher
- gehabt, als mich die Lockungen der Welt anzogen, noch viel weniger aber
- jetzt, wo es Zeit ist, daß ich an meinen Tod denke ... Ich wollte mir
- nichts dadurch erbetteln. Das liegt nicht in meiner Art. Gottlob, ich
- habe meine Armut liebgewonnen und würde sie niemals gegen jene Güter
- eintauschen, die Ihnen so verlockend erscheinen. Sie hätten doch
- mindestens daran denken sollen, daß ich keinen Winkel mein eigen nenne,
- ja ich bin sogar darum bemüht, meinen kleinen Reisekoffer möglichst zu
- erleichtern, damit mir der Abschied von der Welt nicht zu schwer wird.
- Sie hätten sich also hüten sollen, solche beleidigende Verdächtigungen
- gegen mich zu schleudern, die ich offen gestanden nicht einmal gegen den
- gemeinsten Schuft zu erheben den Mut gehabt hätte ... Sie entschuldigen
- sich damit, daß der Brief im Zustande heftiger Empörung geschrieben ist.
- Aber in welch einer Stimmung wagen Sie es, so respektlos von den
- wichtigsten Dingen zu reden?
- Wie soll ich mich gegen Ihre Angriffe verteidigen, wenn Ihre Angriffe
- ihr Ziel verfehlen? -- Nein, ein jeder von uns muß daran erinnert
- werden, daß sein Beruf heilig ist. -- Er sollte daran denken, welch
- strenge Rechenschaft von ihm gefordert werden wird ... Aber wenn der
- Beruf eines jeden von uns heilig ist, so ist es vor allem das Amt
- dessen, dem die schwere und furchtbare Pflicht zugefallen ist, für
- Millionen zu sorgen. Ja wir müßten einander sogar an die Heiligkeit
- unserer Pflichten mahnen. Ohne dies würde der Mensch in rein materiellen
- Gefühlen versinken. -- Oder glauben Sie, das wisse kein Mensch in
- Rußland? Sehen wir einmal genauer zu, woher das kommt. Rührt diese
- Neigung zum Luxus und diese furchtbare Häufung der Laster nicht daher,
- weil jeder sein _eigenes Steckenpferd_ hat? Der eine guckt nach England,
- ein anderer nach Preußen, ein dritter nach Frankreich hinüber; der eine
- schwört auf die einen Prinzipien, ein anderer auf andere; der eine kommt
- uns mit dem einen Projekt, ein anderer mit einem anderen. Soviel Köpfe
- soviel Sinne ... Und da sollte es bei einer solchen Uneinigkeit keine
- Diebe und Gauner und kein Unrecht aller Art geben, wenn ein jeder sieht,
- daß sich uns überall Hindernisse in den Weg stellen, wo ein jeder nur an
- sich und daran denkt, wie er sich ein recht warmes Plätzchen verschaffen
- könnte? ... Sie sagen, Rußlands Heil liege in der europäischen
- _Zivilisation_; aber was ist das für ein unbestimmtes uferloses Wort?
- Wenn Sie doch wenigstens klar definiert hätten, was man unter dem Namen
- der europäischen Zivilisation verstehen soll! Dazu gehören sowohl die
- Phalanstère, die Roten und alle möglichen Kategorien anderer Leute, die
- allesamt bereit sind, einander aufzufressen, und die alle solch
- umstürzlerische destruktive Prinzipien haben, daß in Europa jeder
- denkende Kopf zittert und sich unwillkürlich fragt: wo ist denn nun
- unsere Zivilisation? Ein leeres Phantom hat die Gestalt dieser
- Zivilisation angenommen ...
- Wo haben Sie ferner die Meinung hergenommen, daß ich einen Hymnus auf
- unsere Geistlichkeit gedichtet habe? Ich habe gesagt, die Predigt des
- Priesters der morgenländischen Kirche solle in seinem Leben und in
- seinen Taten bestehen. Und woher kommt dieser Geist des Hasses bei
- Ihnen? Ich habe sehr viel schlimme Pfarrer gekannt und kann Ihnen sehr
- viele komische Anekdoten über sie erzählen, aber dafür bin ich auch
- solchen Priestern begegnet, über deren heiligen Lebenswandel und über
- deren hohe Taten ich staunen mußte, und ich sah, daß sie Produkte
- unserer morgenländischen und nicht solche der abendländischen Kirche
- waren. Es ist mir also gar nicht eingefallen, einen Hymnus auf unsere
- Geistlichkeit zu singen, die unsere Kirche schändet, wohl aber auf die
- Geistlichen, die dazu beitragen, sie zu erhöhen.
- Wie merkwürdig ist doch meine Lage, daß ich mich gegen Angriffe
- verteidigen muß, die sich alle gar nicht gegen mich und gegen mein Buch
- richten! Sie sagen, Sie hätten mein Buch angeblich hundertmal gelesen,
- während Ihre eigenen Worte davon zeugen, daß Sie es nicht ein einziges
- Mal gelesen haben. Der Zorn hat Ihre Augen umnebelt und trägt die
- Schuld, daß Sie nichts in seinem wahren Lichte gesehen haben. Hie und da
- leuchtet ein Funke von Wahrheit inmitten eines ungeheuren Haufens von
- Sophismen und unüberlegter jugendlicher schwärmerischer Verirrungen auf.
- Aber welcher Mangel an Bildung! Wie kann man es wagen, bei so einem
- geringen Fond von Kenntnissen von so großen Erscheinungen zu sprechen?
- Sie scheiden die Kirche vom Christentum, dieselbe Kirche und dieselben
- Priester, die durch ihren Märtyrertod die Wahrheit jedes Wortes, das aus
- Christi Munde kam, besiegelt haben, von denen Tausende durch das Messer
- und das Schwert des Mörders umkamen, für den sie beteten, bis sie
- schließlich ihre Henker ermüdeten, so daß die Sieger den Besiegten zu
- Füßen fielen und die ganze Welt sich zu ihrer Lehre bekannte. Und diese
- selben Priester, diese Bischöfe und Märtyrer, die das Heiligtum der
- Kirche auf ihren Schultern durch alle Fährnisse hindurchgetragen und
- gerettet haben, wollen Sie von Christus scheiden, indem Sie sie falsche
- Ausleger der Lehre Christi nennen! Wer kann denn dann heute Ihrer
- Ansicht nach Christus besser und genauer auslegen? Etwa die heutigen
- Kommunisten und Sozialisten, die da behaupten, Christus habe geboten,
- den Menschen ihr Eigentum wegzunehmen und die auszuplündern, die sich
- ein Vermögen erworben haben? Kommen Sie doch zur Besinnung -- wohin sind
- Sie geraten? Sie erklären, daß Voltaire dem Christentum einen Dienst
- geleistet habe, und sagen, das sei jedem Gymnasiasten bekannt. Als ich
- noch auf dem Gymnasium war, habe ich selbst _damals_ nicht für Voltaire
- geschwärmt. Ich war schon damals klug genug, um zu sehen, daß Voltaire
- ein gewandter Witzling, aber keineswegs ein tiefer Mensch war. Für einen
- Voltaire konnte weder ein Puschkin, noch ein Ssuworow schwärmen, wie
- überhaupt kein mehr oder weniger umfassender Geist. Voltaire ist trotz
- aller seiner glänzenden _Aperçus_ immer nur der Franzose geblieben, der
- davon überzeugt ist, daß man lachend und scherzend von allen hohen
- Gegenständen sprechen kann. Von ihm kann man sagen, was Puschkin von den
- Franzosen im allgemeinen gesagt hat:
- Der Franzos ist ein Kind,
- Er stürzt geschwind
- Einen Thron über Nacht,
- Schafft Gesetz und Macht,
- Ist schnell -- wie der Blitz
- Und leer wie der Witz.
- Er reizt und macht,
- Daß man staunt und lacht
- -- -- -- -- -- -- --
- Man kann nicht auf Grund einer oberflächlichen journalistischen Bildung
- über solche Gegenstände urteilen. Dazu muß man die Geschichte der Kirche
- studiert haben. Dazu muß man die ganze Geschichte der Menschheit
- verständnisvoll und mit Überlegung aus den Quellen selbst kennen lernen
- und nicht etwa aus modernen oberflächlichen Broschüren, die Gott weiß
- wer geschrieben hat. Dieses flache enzyklopädische Wissen zerstreut den
- Geist nur und konzentriert ihn nicht.
- Was soll ich Ihnen auf Ihre schroffen Bemerkungen über den russischen
- Bauern sagen -- Bemerkungen, die Sie mit so viel Selbstvertrauen und
- Sicherheit vorbringen, als ob Sie Gott weiß wie lange mit den Bauern zu
- tun gehabt hätten? Was soll ich dazu sagen, wenn doch Tausende von
- Kirchen und Klöstern, die das russische Land erfüllen und die nicht aus
- den Mitteln, die von den Reichen gestiftet, sondern aus den armseligen
- Groschen der Besitzlosen erbaut werden, eine so überzeugende Sprache
- sprechen! ... Nein, ein Mensch, der sein Leben lang in Petersburg
- zugebracht hat und es beständig mit leichten Zeitungsaufsätzen
- französischer Romanschreiber zu tun hat, die sich so in ihre Ideen
- verrannt haben, und der nicht merkt, in welcher verzerrten Form und wie
- töricht das Leben bei ihnen dargestellt ist, nein, ein solcher Mensch
- kann nicht über das Volk urteilen. Gestatten Sie mir auch zu bemerken,
- daß ich mehr Recht habe, über das russische Volk zu sprechen, _als Sie_.
- Alle meine Werke zeugen, nach der einstimmigen Überzeugung aller Leute,
- von einer gründlichen Kenntnis des russischen Wesens; sie sind die
- Schöpfungen eines Schriftstellers, der das Volk ernsthaft studiert und
- beobachtet hat und vielleicht schon die Gabe besitzt, sich in seine
- Lebensgewohnheiten hineinzuversetzen, was auch Sie in Ihren Kritiken
- zugestanden haben. Was aber wollen _Sie_ zum Beweise Ihrer Kenntnis des
- russischen Wesens anführen? Was haben Sie geschrieben, woraus eine
- solche Kenntnis hervorginge? Das ist ein großer Gegenstand, und darüber
- könnte ich Ihnen ganze Bücher vollschreiben. Sie würden sich schämen,
- daß Sie den Ratschlägen, die ich einem Gutsbesitzer erteile, solch einen
- plumpen Sinn untergelegt haben. Diese Ratschläge mögen eine noch so
- geringe Bedeutung haben, sie enthalten jedenfalls keineswegs einen
- Protest gegen die Volksbildung ... sondern höchstens einen Protest gegen
- die Korruption des russischen Volkes durch die Literatur, während doch
- die Schriftkunde uns gegeben ward, um den Menschen zur höchsten Klarheit
- zu führen. Überhaupt erinnern Ihre Urteile über die Gutsbesitzer an die
- Zeiten Von-Wisins. Seit jener Zeit hat sich vieles, sehr vieles in
- Rußland verändert, und seitdem ist sehr viel Neues entstanden. Daß die
- Aufsicht und Autorität eines Gutsbesitzers, der die Universität besucht
- und folglich für vieles ein Gefühl hat, ... weit günstiger und
- vorteilhafter für die Bauern ist, ... wie es ja auch viele Gegenstände
- gibt, über die wir rechtzeitig nachdenken sollten, ehe wir mit dem
- himmelstürmenden Feuer des Jünglings oder Ritters darüber reden ...
- Überhaupt bemüht man sich bei uns weit mehr um die Änderung der Namen
- und der Ausdrücke, als um das Wesen der Sache ... Sie sollten sich
- schämen, in unseren Diminutiven, mit denen wir mitunter sogar unsere
- Freunde benennen, einen Ausdruck der Knechtung und Unterdrückung zu
- sehen. Auf solche kindische Folgerungen wird man geführt, wenn man eine
- falsche Ansicht von den wichtigsten und wesentlichsten Dingen hat.
- Sodann bin ich auch über das kühne Selbstvertrauen und die Sicherheit
- erstaunt, mit der Sie erklären: »Ich kenne unsere Gesellschaft und den
- Geist, der sie beseelt.« Wie kann man für dies sich jeden Augenblick
- verwandelnde Chamäleon einstehen? Durch welche Tatsachen können Sie
- beweisen, daß Sie die Gesellschaft kennen? Welche Mittel besitzen Sie
- dazu? Haben Sie etwa irgendwo in Ihren Werken bewiesen, daß Sie ein
- tiefer Kenner der menschlichen Seele sind? Sie, der Sie fast nie mit den
- Menschen und der Welt in Berührung kommen, der Sie das friedliche Leben
- eines Journalisten führen und stets nur mit Feuilletonartikeln
- beschäftigt sind, wie sollten Sie einen Begriff von jenem furchtbaren
- Schreckbilde haben, das uns durch unerwartete Erscheinungen in seine
- Falle lockt; geraten doch alle jungen Schriftsteller in diese Falle
- hinein, die über alles in der Welt und die ganze Menschheit reden,
- während es um uns herum genug Dinge gibt, um die wir uns kümmern
- sollten. Wir sollten zuerst einmal diese Aufgaben erfüllen, dann würde
- es der Gesellschaft schon ganz von selbst gut gehen. Wenn wir dagegen
- unsere Pflichten gegen die uns nahestehenden Menschen vernachlässigen
- und dem Wohl der Gesellschaft nachjagen, so geraten wir auf Abwege ...
- ebenso ... Ich bin in der letzten Zeit vielen vortrefflichen Menschen
- begegnet, die über diese Sache völlig die Orientierung verloren haben.
- Viele denken, wenn sie sehen, daß die Gesellschaft sich auf einem Abweg
- befindet und daß die Dinge immer verworrener werden, daß man die Welt
- durch allerhand Reorganisationen und Reformen oder dadurch, daß man sie
- in dieser oder jener Weise umgestaltet, verbessern könne. Andere
- glauben, man könne mit Hilfe einer besonderen, recht mittelmäßigen
- Literatur, die Sie Belletristik nennen, erzieherisch auf die
- Gesellschaft wirken. Das sind Träume! Abgesehen davon, daß selbst die
- gelesensten Bücher daliegen, ohne Nutzen zu bringen ... sind auch die
- Früchte ... wenn überhaupt welche daraus erwachsen, ganz anderer Art,
- als der Autor glaubt; vielmehr sind sie häufig so beschaffen, daß er
- entsetzt vor ihnen zurückweicht ... Die Gesellschaft bildet sich von
- selbst, sie setzt sich aus Einheiten zusammen. Jede dieser Einheiten muß
- ihre Pflicht und Schuldigkeit tun ... Der Mensch muß eingedenk sein, daß
- er nichts weniger als ein Stück Materie, daß er kein Vieh ist, sondern
- ein hoher Bürger des hohen himmlischen Bürgerreichs, und so lange nicht
- ein jeder wenigstens zum Teil sein Leben dem Geiste dieses himmlischen
- Bürgerreichs entsprechend gestalten wird, wird es auch im irdischen
- Gemeinwesen keine Ordnung geben.
- Sie sagen, Rußland hätte lange vergeblich gebetet. O nein, Rußland hat
- im Jahre 1612 gebetet und das Land vor den Polen gerettet; dann hat es
- 1812 noch einmal gebetet und das Land vor den Franzosen gerettet. Oder
- nennen Sie das beten, wenn ein Tausendstel aller Menschen betet und alle
- übrigen vom Morgen bis zum Abend bummeln und zechen ... wenn sie bei
- jeder Schaustellung dabei sind und ihre letzte Habe verpfänden, um nur
- allen Komfort zu genießen, den uns die europäische Zivilisation samt all
- ihren Torheiten beschert hat.
- Nein, lassen wir diese Träume ... Lassen Sie uns ehrlich unsere Pflicht
- tun. Wir wollen uns bemühen, unsere Talente nicht in der Erde zu
- vergraben. Wir wollen unser Handwerk gewissenhaft ausüben. Dann wird
- alles gut gehen, und die Lage der Gesellschaft wird sich ganz von selbst
- bessern ... Die Gutsbesitzer werden auf ihre Güter zurückkehren. Die
- Beamten werden erkennen, daß man kein üppiges, verschwenderisches Leben
- zu führen braucht, und werden aufhören, Geschenke anzunehmen. Die
- Ehrgeizigen aber werden sehen, daß eine hohe Stellung weder mit einem
- hohen Gehalt, noch mit großen Geldeinnahmen verknüpft ist ... weder sie
- noch ich sind geboren ... Gestatten Sie mir, Sie an Ihre frühere
- Tätigkeit zu erinnern. Der Literat lebt für die Wahrheit. Er soll der
- Kunst ehrlich dienen und den Seelen dieser Welt Frieden und nicht Haß
- und Feindschaft einhauchen. Machen Sie den Anfang und fangen Sie noch
- einmal an, zu lernen! Studieren Sie die Dichter und Weisheitslehrer, die
- erzieherisch auf den Geist wirken. Die journalistische Tätigkeit laugt
- die Seele aus, man entdeckt plötzlich eine innere Leere in sich. Denken
- Sie daran, daß Sie nur eine oberflächliche Bildung genossen und nicht
- einmal die Universität beendigt haben. Machen Sie das durch die Lektüre
- großer Werke und nicht durch Beschäftigung mit modernen Broschüren
- wieder gut, die aus einem erhitzten Gemüt entspringen, das von der
- geraden gesunden Ansicht der Dinge ablenkt.
- V.
- Fragment aus demselben Brief, das an einer anderen Stelle
- aufgefunden worden ist
- Sie haben meine Worte über das Lesen und Schreiben ganz buchstäblich
- verstanden und ihnen einen zu engen, begrenzten Sinn untergelegt. Diese
- Worte waren an einen Gutsbesitzer gerichtet, dessen Bauern Landwirte
- sind. Es kam mir beinahe komisch vor, daß Sie aus diesen Worten den
- Schluß ziehen konnten, als wollte ich die elementare Volksbildung
- bekämpfen; als ob jetzt davon die Rede wäre -- wo das doch eine Frage
- ist, die unsere Väter längst gelöst haben! Unsere Väter und Großväter
- haben, selbst wenn sie selbst Analphabeten waren, entschieden, daß die
- Elementarbildung etwas Notwendiges sei. Aber darum handelt es sich ja
- gar nicht. Der Gedanke, der mein ganzes Buch durchzieht, ist dieser: wie
- man erst _die_ Menschen aufklären könne, die in nahem Verkehr mit dem
- Volke stehen, und _dann erst_ das Volk selbst. Alle diese kleinen
- Beamten und Regierungsvertreter, die alle lesen und schreiben können und
- sich dabei doch soviel Mißbräuche zuschulden kommen lassen ... Glauben
- Sie mir, es ist viel notwendiger, daß wir die Bücher, die Ihrer Ansicht
- nach so nützlich für das Volk sind, für diese Leute herausgeben. Das
- Volk ist weit weniger verdorben, als diese ganze lese- und
- schreibkundige Gesellschaft. Dagegen Bücher für diese Leute
- herauszugeben, Bücher, die ihnen das Geheimnis offenbaren, wie man mit
- dem Volk und mit den ihnen anvertrauten Untergebenen umgehen muß --
- nicht in dem umfassenden Sinne, wie ihn die oft wiederholten Worte
- ausdrücken: »_Stiehl nicht, sei rechtschaffen und ehrlich_« oder »Denke
- daran, daß deine Untergebenen ebensolche Menschen sind wie du« --
- sondern, die sie belehren, wie man es anfängt, nicht zu stehlen, und daß
- das Recht wirklich eingehalten werde ...
- VI.
- Gogol an W. G. Bjelinski[9]
- [Fußnote 9: Dieser Brief stellt Gogols Antwort auf Bjelinskis oben
- mitgeteiltes Schreiben dar. Es ist offenbar ein zweiter Brief, den Gogol
- an Stelle des oben abgedruckten ersten, später in Stücke gerissenen,
- geschrieben hat.]
- Ostende, den 10. August 1847.
- Ich konnte nicht gleich auf Ihren Brief antworten. Meine Seele ist ganz
- matt, ich fühle mich in meinem tiefsten Inneren erschüttert. Ich kann
- wohl sagen, es gibt keine empfindliche Seite in mir, die nicht aufs
- schwerste getroffen war, noch ehe ich Ihren Brief erhalten hatte. Ich
- habe Ihren Brief beinahe in einem zustande völliger Gefühllosigkeit
- gelesen, trotzdem aber war ich nicht imstande, ihn zu beantworten. Und
- was hätte ich auch antworten sollen! Gott weiß, vielleicht enthalten
- Ihre Worte wirklich etwas Wahres. Ich will Ihnen nur sagen, daß ich
- gelegentlich meines Buches ungefähr fünfzig verschiedene Briefe erhalten
- habe, aber kein einziger gleicht dem anderen, es gibt keine zwei Leute,
- die dieselbe Ansicht über einen Gegenstand haben: was der eine verwirft,
- das behauptet der andere. Und doch gibt es auf beiden Seiten gleich edle
- und gescheite Menschen; die einzige nicht zu bezweifelnde Lehre, die ich
- aus alledem entnehmen zu können glaubte, war die, daß ich Rußland
- überhaupt nicht kenne, daß sich sehr vieles verändert hat, seit ich
- nicht mehr dort war, und daß man heute beinahe alles, was es dort gibt,
- von neuem kennen lernen muß, und daraus zog ich für meinen Teil
- folgenden Schluß: daß ich nichts mehr veröffentlichen und vor das
- Publikum bringen darf; weder lebendige Anschauungen meiner Phantasie,
- noch selbst zwei Zeilen aus irgendeinem Werk, solange ich nicht in
- Rußland war, eine Zeitlang dort gelebt und mich mit eigenen Augen von
- vielem überzeugt und vieles mit eigenen Händen befühlt haben werde. Ich
- sehe, daß viele, die mich beschuldigt haben, manches nicht zu kennen und
- manche Seiten des Lebens nicht berücksichtigt zu haben, selbst in vielen
- Punkten eine große Unkenntnis an den Tag legen und damit beweisen, daß
- sie selbst viele Seiten des Lebens nicht in Betracht gezogen haben.
- Nicht alle Klagen sind an unser Ohr gedrungen, und wir haben nicht alle
- Leiden in ihrer ganzen Schwere ermessen. Mir will es sogar so scheinen,
- daß nicht jeder von uns die gegenwärtige Zeit versteht, eine Zeit, in
- der der Geist völliger Disharmonie und Unordnung deutlicher als je
- zutage tritt. Wie dem auch sein mag, jetzt kommt alles zum Vorschein:
- jedes Ding will berücksichtigt sein, das Alte und das Neue fordern
- einander zum Kampfe heraus, und man braucht nur auf der einen Seite in
- Übertreibungen und Maßlosigkeiten zu verfallen, damit sich auch die
- andere Seite sofort derselben Übertreibungen und Maßlosigkeiten schuldig
- macht. Die gegenwärtige Zeit ist das Zeitalter besonnener vernünftiger
- Überlegung: ohne sich zu erhitzen, wägt sie alles ab und zieht sie alle
- Seiten der Dinge in Betracht, denn ohne dies ist es unmöglich, die
- rechte Mitte, das vernünftige Maß der Dinge kennen zu lernen. Sie
- verlangt von uns, daß wir Umschau halten mit dem vielseitigen Blick des
- Greises, und daß wir nicht mit dem heißen Draufgängertum der alten
- Ritter vorgehen. Diesem Zeitalter gegenüber sind wir reine Kinder.
- Glauben Sie mir, Sie und ich haben beide unsere Pflicht gegen unsere
- Zeit nicht erfüllt. Ich wenigstens bin mir darüber klar, aber sind auch
- Sie sich dessen bewußt? Ebenso wie ich die gegenwärtigen Dinge und viele
- Umstände übersehen habe, die ich hätte berücksichtigen müssen, ebenso
- haben auch Sie vieles übersehen; wenn ich mich zu sehr in mich selbst
- zurückgezogen habe, so haben Sie sich zu sehr zerstreut. Wie ich noch
- vieles kennen lernen muß, was Sie schon wissen und was ich nicht weiß,
- so müßten Sie wenigstens einen Teil davon kennen lernen, was ich weiß
- und was Sie zu Unrecht vernachlässigt und übersehen haben. Jetzt aber
- denken Sie vor allem an Ihre Gesundheit; vergessen Sie die modernen
- Probleme für eine Weile. Sie werden später mit größerer Frische und also
- auch mit größerem Nutzen für Sie selbst wie für die Probleme zu diesen
- zurückkehren. Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, daß Ihnen jener
- Seelenfriede zuteil werde, der unser höchstes Gut ist, ohne den man
- nicht wirken und auf keinem Gebiete vernünftig handeln kann.
- N. Gogol.
- Nachtrag
- Band VII und VIII
- Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden
- (Die wörtliche Übersetzung des Titels lautet: _Ausgewählte Stellen_ aus
- dem Briefwechsel mit meinen Freunden.) Den Plan, eine Auswahl von
- Stücken aus seinem Briefwechsel herauszugeben, faßte Gogol bereits im
- Beginn des Jahres 1845; an die Ausführung seiner Idee ging er jedoch
- erst im April 1846 heran. Ehe er das Manuskript an Pletnjew absandte,
- unterzog er sämtliche Stücke, die er in Buchform herauszugeben gedachte,
- einer gründlichen Korrektur und Überarbeitung. Zu allererst wurde das
- VII. Kapitel: _Über Schukowskis Übersetzung der Odyssee._ An W. M.
- Jasykow (Band VII, Seite 55 ff.) für den Druck umgearbeitet, redigiert
- und dann am 4. Juli 1846 an Pletnjew zur Veröffentlichung in dessen
- Zeitschrift gesandt. -- Am 30. Juli desselben Jahres erhält Pletnjew von
- Gogol aus Schwalbach: _Die Vorrede_ (Band VII, Seite 1 ff.) und die
- ersten sechs Stücke des »Briefwechsels« zugeschickt. Zwischen dem 13.
- und 24. August folgen aus Ostende weitere sieben Aufsätze (Nr. 8-14,
- Band VII, Seite 73-149) und am 12. September neuen Stils -- gleichfalls
- aus Ostende -- nochmals sieben Kapitel (Nr. 15-21, Band VII, Seite
- 151-253). Am 26. September sendet Gogol Pletnjew aus Ostende ein viertes
- Heft mit neun Kapiteln (Band VII, Nr. 22-30, Seite 255-367). Am 3.
- Oktober neuen Stils schickt Gogol aus Frankfurt zwei Korrekturen zu dem
- Aufsatz: An _einen hochgestellten Mann_ ein (Band VII, Nr. 28, Seite
- 323). Am 16. Oktober endlich erfolgt von Frankfurt a. M. aus die
- Absendung der beiden letzten Kapitel und einer Korrektur zum 10.
- Kapitel: _Über das Lyrische bei unseren Poeten._ An W. A. Schukowski
- (Band VII, Seite 85 ff.).
- Die _Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden_ erschien im
- Dezember des Jahres 1846. Die Unterschrift des Zensors ist vom 18.
- August 1846 datiert, bezieht sich jedoch wahrscheinlich nur auf das
- erste Heft; im Oktober ergaben sich Schwierigkeiten bei der Drucklegung:
- der Zensor wollte den Abdruck einzelner Partien und sogar ganzer Kapitel
- nicht gestatten; daher mußten fünf Briefe: Nr. 19, 20, 21, 26 und 28
- (Band VII, Seite 203, 209, 227, 307 und 323) gänzlich wegfallen. Diese
- Kapitel, sowie die von der Zensur gestrichenen Partien erschienen später
- in der »Gesamtausgabe« von Gogols Werken vom Jahre 1867, die von
- _Tschischow_ veranstaltet wurde. Die von der Zensur beanstandeten
- Stellen stehen in unserer Ausgabe in eckigen Klammern.
- Ferner bat Gogol selbst Pletnjew in einem Brief vom 16. Oktober 1846,
- »die ganze Stelle zu streichen, die von der Bedeutung der monarchischen
- Gewalt und ihrer weltlichen Erscheinungsform handelt, und durch den
- Abschnitt auf der letzten Seite des Heftes zu ersetzen«. Die neue
- veränderte Fassung des Textes beginnt mit den Worten: »Diese Bedeutung
- des Herrschers wird allmählich auch in Europa ...« (Band VII, Seite 100,
- Zeile 3 v. o.) und schließt mit dem Satze: »daher nehmen ihre Töne einen
- biblischen Charakter an« (Band VII, Seite 102, Zeile 3 v. o.). Wir
- lassen hier die umgearbeitete Stelle folgen, wie sie von Tschischow nach
- dem Manuskript nachträglich in seiner Gesamtausgabe der Werke Gogols
- abgedruckt wurde (Band III, Seite 374 bis 376): »Die souveräne Gewalt
- des Monarchen wird keineswegs an Bedeutung verlieren, sondern in dem
- Maße, wie die ganze Menschheit an Bildung zunehmen wird, nur noch
- wachsen. Je mehr jeder Beruf und Stand die ihm gesteckten gesetzlichen
- Grenzen einhalten wird und die gegenseitigen Beziehungen aller Menschen
- genauer bestimmt und normiert werden, um so deutlicher wird sich die
- Notwendigkeit einer höchsten Obergewalt herausstellen, die die ganze
- Macht der einzelnen Individuen in sich vereinigt und alle höchsten
- Vorzüge und Tugenden, die den Menschen geradezu Gott ähnlich machen, in
- Erscheinung treten läßt -- jene höchsten kollektiven Attribute und
- Eigenschaften, die der einzelne Mensch nicht besitzen kann. Eine ganze
- Million wie einen Menschen liebgewinnen -- das ist weit schwerer, als
- nur wenige unter dieser Million lieben; die Leiden aller Menschen so
- intensiv mitempfinden wie den Schmerz unseres liebsten Freundes und an
- die Rettung aller Menschen bis auf den letzten denken, wie man wohl auf
- die Rettung der eigenen Familie hofft, -- das kann nur _der_ in vollem
- Maße, dem dies zum unerschütterlichen Gebot gemacht ward und der da
- fühlt, daß er für die Verletzung dieses Gebotes vor Gott ebenso
- furchtbare Rechenschaft wird ablegen müssen, wie jedes einzelne
- Individuum für die Verletzung seiner Pflicht in seinem besonderen
- Wirkungskreis Rechenschaft geben wird. Wenn diese höchste leitende
- Obergewalt dahinfiele -- so würde der menschliche Geist verarmen. Diese
- souveräne Herrschergewalt des Monarchen wird heute nur deshalb
- angezweifelt, weil ihre ganze Bedeutung weder den Herrschern noch den
- Untertanen aufgegangen ist. Die monarchische Gewalt -- ist eine Torheit,
- wenn der Monarch nicht fühlt, daß er das Abbild Gottes auf Erden sein
- soll. Selbst wenn er noch so sehr das Gute will, wird er sich in seinen
- Handlungen nicht mehr zurechtfinden können, besonders bei der
- gegenwärtigen Ordnung der Dinge in Europa; sowie er jedoch zur
- Erkenntnis kommt, daß er die Aufgabe hat, den Menschen ein Abbild Gottes
- zu sein, wird für ihn alles klar und deutlich werden und wird auch
- Klarheit in sein Verhältnis zu seinen Untertanen kommen. Dann wird er
- sich nicht mehr einen Napoleon, einen Friedrich, einen Peter, eine
- Katharina oder einen Ludwig zum Muster nehmen, wie überhaupt keinen von
- den Fürsten, denen die Welt den Namen des Großen beilegt, und deren
- Bestimmung es war, infolge der zeitlichen Verhältnisse und Umstände
- außer der königlichen Würde auch noch die Rolle eines Feldherrn,
- Neugestalters oder Reformators auf sich zu nehmen, kurz nur eine
- einzelne Seite glanzvoll in sich zu verkörpern, was die unbedeutenderen
- Nachahmer irreleitet und so viele Fürsten in Versuchung führt. Er wird
- sich vielmehr die Handlungen Gottes selbst zum Vorbild nehmen, die aus
- der Geschichte der Menschheit so vernehmbar zu uns reden und die noch
- deutlicher in der Geschichte _des_ Volkes in Erscheinung treten, das
- Gott dazu auserwählt hatte, von Ihm Selbst regiert zu werden, um den
- Königen zu zeigen, wie regiert werden muß. Und wie wahrhaft göttlich hat
- Er regiert! Wie verstand Er es, Sein Volk mehr denn alle anderen Völker
- zu lieben! Mit welch väterlicher Liebe lehrte und unterwies Er es und
- mit welch himmlischer Geduld wartete Er auf seine Wandlung und
- Besserung. Wie ungern erhob Er Seine strafende Geißel wider Sein Volk!
- Wie beeilte Er Sich Selbst _dann_ noch nicht, als die Gottlosigkeit und
- die Sünden des Volkes zum Himmel schrien, es zu strafen, sondern sprach:
- >Ich will Selbst zur Erde hinabsteigen und zusehen, ob das Unrecht und
- die Sündhaftigkeit wirklich so groß sind!< Und wer war es, der so
- sprach? Der Allwissende, für alles Sorgende, der die Könige dieser Erde
- zur Vorsicht und Behutsamkeit mahnt! Wie Er ja auch Seine Strafen nicht
- deshalb verhängte, um den Menschen zu vernichten, den zu vernichten ja
- gar nicht schwer ist, sondern um ihn zu erretten, weil es _sehr_ schwer
- ist, ihn zu erretten, und um seine gefühllose Natur durch eine starke
- Erschütterung und ein Weckmittel aufzurütteln, ihm die ganzen Schrecken
- des Zieles, dem er in seiner Unwissenheit zustrebt, vor Augen zu führen
- und ihn dadurch zu mahnen, daß es noch Zeit wäre, an seine Rettung zu
- denken! Wie Er ja auch, da Er die unbestechliche sieghafte Macht Seiner
- unüberwindlichen Wahrheit und Gerechtigkeit kannte, alles tat, auf daß
- der schwache und ohnmächtige Mensch ihr nicht unterliege: sandte Er ihm
- doch Seine Propheten, daß sie erfüllt von Liebe zu ihren Brüdern und,
- nachdem sie eine Sprache gefunden, die den Menschen verständlich war,
- sie zur Besinnung brächten; Er, der sich entschloß, da Er endlich sah,
- daß alles vergeblich war, daß nichts sie zur Vernunft bringen könne und
- daß es kein Mittel gäbe, die Menschen Seiner unabwendlichen
- Gerechtigkeit zu entziehen, Sich Selbst für alle zum Opfer zu bringen,
- um den Preis eines solchen Opfers noch Seine Gerechtigkeit zu besiegen
- und den Menschen zu beweisen, daß eine solche Liebe höher ist, denn
- alles, was es gibt, daß sie an sich selbst die höchste himmlische
- Gerechtigkeit ist! Alles ward von Gott gesagt für den, der vor den
- Menschen in sich selbst Sein Abbild zur Darstellung bringen will, hat Er
- ihn doch gelehrt, wie er handeln soll. Um aber die Könige zu
- unterweisen, wie sie sich gegen Ihn Selbst, den Schöpfer alles
- Sichtbaren und Unsichtbaren, verhalten sollen, schenkte Er ihnen die
- Vorbilder der von Ihm Selbst gesalbten Könige David und Salomo, die mit
- ihrem ganzen Sein in Gott lebten, wie in ihrem eigenen Hause und die in
- ihrem Königstume das weise Zusammenwirken zweier Mächte -- der
- geistlichen und weltlichen -- verkörperten, und zwar in der Weise, daß
- nicht bloß keine von beiden die andere störte und hemmte, sondern daß
- sie sich gegenseitig noch stärkten und befestigten. So enthält das
- heilige Buch Gottes eine vollkommene Definition des Monarchen, dieses
- völlig von uns isolierten Wesens, dem auf Erden eine so schwere Aufgabe
- zuteil ward: nachdem er alles vollbracht, was jedes Menschen Aufgabe
- ist, und Christus in seinem ganzen Tun und Handeln bis in die kleinsten
- Einzelheiten seines Alltagslebens gleichgeworden ist, zu alledem auch
- noch in den erhabensten Äußerungen seiner Tätigkeit gegenüber allen
- Menschen Gott Vater gleich zu werden. In diesem Buche ist eine
- vollkommene Definition des Monarchen enthalten, die man nirgends sonst
- findet. Auf diese Definition ist noch keiner der europäischen
- Rechtsgelehrten gekommen, bei uns aber haben die Dichter etwas von ihr
- geahnt und vernommen, daher nehmen ihre Töne auch einen biblischen
- Charakter an.«
- Der ursprüngliche Text der Aufsätze und Privatbriefe Gogols an seine
- Freunde, die in dem »Briefwechsel« Aufnahme fanden und erst nach einer
- durchgreifenden Reinigung und Umarbeitung zur Veröffentlichung an
- Pletnjew gesandt wurden, stammt aus den verschiedensten Zeiten der
- Periode von 1843-1846, und zwar ist die Zahl der Stücke um so geringer,
- je mehr wir uns der ersten Hälfte des Jahres 1843 nähern. Von den
- Briefen dieser Epoche hat Gogol nur sehr wenige der Aufnahme in die
- Ausgewählten Stellen aus seinem Briefwechsel für würdig erachtet. Aus
- dem Jahre 1843 stammen die ersten Entwürfe folgender Artikel:
- 1) _Über den öffentlichen Vortrag russischer Dichtungen_ (Band VII, Nr.
- 5, Seite 43) und
- 2) _Die drei ersten Briefe über die Toten Seelen_ (Band VII, Nr. 18,
- Seite 175).
- Aus dem Jahre 1844 stammen folgende Aufsätze und Briefe:
- 1) _Diskussionen._ Aus einem Briefe an L***. (Band VII, Nr. 11, Seite
- 111.)
- 2) _Liebt unser russisches Vaterland._ Aus einem Briefe an den Grafen A.
- T. (Band VII, Nr. 19, Seite 203.) Dieses Stück stammt aus der zweiten
- Hälfte des Jahres 1844.
- 3) _Etwas über die Bedeutung des Worts._ (Band VII, Nr. 4, Seite 35.)
- Diese Betrachtung ist wahrscheinlich Ende Oktober des Jahres 1844
- niedergeschrieben.
- 4) _Wie man den Armen helfen soll._ Aus einem Briefe an A. O.
- Sm--rn--wa. (Band VII, Nr. 6, Seite 49.) Ist gegen Ende des Jahres 1844
- niedergeschrieben.
- 5) _Über die Aufgaben der lyrischen Dichtung unserer Zeit._ Zwei Briefe
- an N. M. Jasykow. (Band VII, Nr. 15, Seite 151.) Der erste Brief ist vom
- 2. Dezember, der zweite vom 26. Dezember 1844 datiert.
- 6) _An einen kurzsichtigen Freund._ (Band VII, Nr. 27, Seite 317.)
- Aus dem Jahre 1845 stammt der erste Entwurf folgender Stücke:
- 1) _Über Schukowskis Übersetzung der Odyssee._ An N. M. Jasykow. (Band
- VII, Nr. 7, Seite 55.) Ein Brief, der zu Beginn des Jahres geschrieben
- ist.
- 2) _An einen hochgestellten Mann._ (Band VII, Nr. 28, Seite 323.) Die
- Idee zu diesem Schreiben rührt vom Ende des Jahres 1844 her.
- Niedergeschrieben wurde es im Februar und März des Jahres 1845.
- 3) _Vom Theater, von einer einseitigen Ansicht über das Theater und von
- der Einseitigkeit überhaupt._ An den Grafen A. P. T... (Band VII, Nr.
- 14, Seite 129) -- ist im März und April 1845 niedergeschrieben.
- 4) _Lernt Rußland kennen._ Aus einem Briefe an den Grafen P. T. (Band
- VII, Nr. 20, Seite 209) -- stammt aus derselben Zeit (oder vom Ende des
- Jahres 1845?).
- 5) _Mein Testament_ (Band VII, Nr. 1, Seite 9) stammt aus dem Juli(?)
- 1845.
- 6) _Über ländliche Pflege und Gerichtsbarkeit_ (Band VII, Nr. 25, Seite
- 301).
- 7) _Wessen Los auf Erden das beste ist._ Aus einem Briefe an U. (Band
- VII, Nr. 29, Seite 359.)
- Mehr als die Hälfte der Briefe, die in die »Auswahl aus dem Briefwechsel
- mit meinen Freunden« aufgenommen wurden, stammen aus dem Jahre 1846. In
- einem Brief aus diesem Jahre schreibt Gogol an Schewyrjow: »Während
- dieser schweren Zeit der Krankheit, zu der sich auch noch schwere
- seelische Leiden gesellt haben, war ich genötigt, einen so regen
- Briefwechsel zu unterhalten, wie ich ihn bisher noch nie geführt habe.
- Und wie mit Absicht war dies beinahe für alle, die meinem Herzen
- nahestehen, eine Zeit voll innerer Erlebnisse und Erschütterungen. Sie
- alle wandten sich, wie von einem dunklen Instinkt getrieben, an mich und
- verlangten Rat und Hilfe von mir« (vgl. Band VII, Seite 163 ff.).
- »Während der letzten Zeit«, fährt Gogol fort, »kam es sogar vor, daß ich
- Briefe von Menschen erhielt, die mir fast gänzlich unbekannt waren, und
- daß ich ihnen Ratschläge erteilen konnte, die ich früher nie hätte
- erteilen können.« Am meisten von Krankheit gequält war Gogol in den
- ersten zwei Monaten des Jahres 1846; dies war auch sonst eine sehr
- schwere Zeit für ihn. Gogol arbeitete während dieser Monate intensiv an
- der »Auswahl aus dem Briefwechsel«. »Gleichzeitig brauchte er eine Kur,
- machte er Reisen, war er von schweren Sorgen gequält und mußte sich um
- Dinge kümmern, von deren Schwierigkeit seine Freunde keine Ahnung
- hatten.« Zugleich aber mußte er zahlreiche, sehr verschieden geartete
- Briefe erwidern, die nicht in leichtfertiger, sondern in wohlüberlegter
- Weise beantwortet sein wollten. Höchstwahrscheinlich erfolgte die
- Antwort auf einzelne Briefe vor der Öffentlichkeit, d. h. in der
- »Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden«, und es wäre
- vergeblich, nach dem ursprünglichen Text der Briefe, die unmittelbar an
- die Fragesteller gerichtet waren, zu forschen. »Auf Ihren langen Brief«,
- schreibt Gogol im Jahre 1846 an die Gräfin ***, »... antworte ich ...
- nicht nur keineswegs in aller Heimlichkeit, sondern wie Sie sehen, _in
- einem gedruckten Buche_, das vielleicht von der Hälfte aller Menschen in
- Rußland, die da lesen können, gelesen werden wird« (vgl. Band VII, Seite
- 309 ff.). Die an Schewyrjow gerichteten Briefe aus der »Auswahl« waren
- unter den Papieren Schewyrjows nicht zu finden, wahrscheinlich hat er
- sie auch erst gelesen, als sie bereits gedruckt in Buchform vorlagen. Es
- ist daher heute noch für den größten Teil der Briefe vom Jahre 1846, die
- in der »Auswahl« enthalten sind, kaum möglich, die chronologische
- Reihenfolge genau festzustellen, ebensowenig wie sich zurzeit die Frage
- beantworten läßt, ob _schriftliche_ Antworten auf die an Gogol
- gerichteten Fragen vorliegen. In den Papieren Schewyrjows wurde nicht
- ein Brief Gogols aus dem Jahre 1846 gefunden, der in die Auswahl aus dem
- Briefwechsel usw. aufgenommen wurde.
- Aus dem Jahre 1846 stammen folgende Briefe und Aufsätze der »Auswahl«:
- 1) _Über das Lyrische bei unseren Poeten._ An W. A. Schukowski. (Band
- VII, Nr. 10, Seite 85.) Dieses Stück wurde 1845 niedergeschrieben und
- 1846 nochmals umgearbeitet.
- 2) _Was die Frau ihrem Manne im häuslichen Leben des Alltags und bei den
- heutigen Zuständen in Rußland sein kann._ (Band VII, Nr. 24, Seite 291.)
- Dieses Stück stammt etwa aus dem September dieses Jahres und scheint
- unmittelbar für den Druck bestimmt gewesen zu sein.
- 3) _Einige Worte über unsere Kirche und unsere Geistlichkeit._ Aus einem
- Briefe an den Grafen A. P. T. (Band VII, Nr. 8, Seite 73) und
- 4) _Über denselben Gegenstand._ Aus einem Briefe an den Grafen A. P. T.
- (Band VII, Nr. 9, Seite 79.) 3 und 4 stammen aus der ersten Hälfte des
- Jahres 1846.
- 5) _Der Historienmaler Iwanow._ An M. Ju. Weligurski. (Band VII, Nr. 23,
- Seite 271.) Dieser Brief, der im Februar oder März dieses Jahres an den
- Grafen W. abgesandt wurde, wurde nachträglich, d. h. im August oder
- September, nochmals für den Druck umgearbeitet.
- 7) _Karamsin._ Aus einem Briefe an N. M. Jasykow. (Band VII, Nr. 13,
- Seite 123.) Der erste Entwurf dieses Briefes ist am 5. Mai 1846
- niedergeschrieben.
- 8) _Über die Aufklärung._ An W. A. Schukowski. (Band VII, Nr. 17, Seite
- 167.) Stammt aus dem Juni und Juli dieses Jahres.
- 9) _Was eine Gouverneursgattin ist._ An Fr. A. O. S. (Band VII, Nr. 21,
- Seite 227.) Der erste Entwurf dieses Briefes stammt aus der zweiten
- Juli-Hälfte des Jahres 1845, er wurde am 4. Juli 1846 in neuer
- verbesserter Fassung an Frau A. O. Smirnowa gesandt und endlich im
- September 1846 und 1847 für die Drucklegung nochmals umgearbeitet.
- 10) _Rußlands Schrecken und Grauen._ An die Gräfin *** (Band VII, Nr.
- 26, Seite 307) ist zu Beginn des August 1846 niedergeschrieben.
- 11) _Wesen und Eigenart der russischen Poesie._ (Band VII, Nr. 31, Seite
- 369.) Dieser Aufsatz wurde »während dreier Epochen« geschrieben, er ist
- 1836 oder 1843 (?) begonnen und im September 1846 für die Drucklegung
- vollendet.
- 12) _Die Frau in der vornehmen Welt._ An Frau ***. (Band VII, Nr. 2,
- Seite 21.)
- 13) _Der Christ schreitet vorwärts._ An Schtsch--w. (Band VII, Nr. 12,
- Seite 117.)
- 14) _Ratschläge._ An S. P. Schewyrew. (Band VII, Nr. 16, Seite 161.)
- 15) _Der vierte Brief über die Toten Seelen._ (Band VII, Nr. 18, IV,
- Seite 199.)
- 16) _Der russische Gutsbesitzer._ An B. N. B. (Band VII, Nr. 22, Seite
- 255.) Die Originalmanuskripte der letzten fünf Briefe sind unbekannt.
- Wahrscheinlich sind diese Stücke gleich für die »Auswahl« geschrieben.
- Der erste Brief wurde am 30. Juli druckfertig abgesandt, der zweite am
- 13. (25.) August, der dritte und vierte am 12. September neuen Stils,
- der fünfte am 26. September.
- Die _Vorrede_ (Band VII, Seite 1 ff.) zur »Auswahl« stammt aus dem
- August des Jahres 1846.
- Der Aufsatz: _Auferstehungstag_ (Band VII, Nr. 32, Seite 447) trägt kein
- Datum.
- * * * * *
- Der Brief an _Arkadius Ossipowitsch Rosetti_ (Band VIII, Nr. 1, Seite 1)
- ist in Neapel geschrieben und wurde am 15. April 1847 abgesandt.
- _Über den »Zeitgenossen«_; (Sowremennik); (Band VIII, Nr. 2, Seite 11),
- ein Brief an P. A. Pletnjew, ist vom 4. Dezember 1846 datiert.
- _Die Beichte des Dichters_ (Band VIII, Nr. 3, Seite 33) ist im Mai 1847
- begonnen und noch in demselben Jahre vollendet.
- Der Brief an _W. A. Schukowski_ (Band VIII, Nr. 4, Seite 101) wurde am
- 10. Januar 1848 (den 29. Dezember 1847) aus Neapel an Schukowski
- gesandt.
- _Die Betrachtungen über die Heilige Liturgie_ (Band VIII, Nr. 5, Seite
- 115 ff.) wurden im Januar und Februar des Jahres 1845 in Paris
- konzipiert und in der ersten Fassung noch vor der Abreise nach Jerusalem
- (d. h. vor dem Januar 1848) vollendet. Nachträglich wurden sie noch bis
- zum Jahre 1852 mehrfach umgearbeitet[10].
- _Hans Küchelgarten._ Dieses Jugendwerk Gogols wurde wahrscheinlich
- bereits während seiner Schulzeit konzipiert und begonnen. Bald nach
- Gogols Ankunft in St. Petersburg (1828) ließ er das Werk unter dem
- Pseudonym _W. Alow_ drucken und gab es den Buchhändlern in Kommission.
- Es wurde teils gar nicht beachtet teils wie z. B. von Polewoi
- offenkundig abgelehnt.
- [Fußnote 10: 1911 ist eine deutsche Übersetzung von K. von Mickwitz in
- Rendsburg (Heinrich Möller Söhne) erschienen, die dem Herausgeber bei
- der vorliegenden Ausgabe, besonders für die Ermittlung der Bibelzitate,
- wertvolle Dienste geleistet hat.
- Die bibliographischen Anmerkungen und Lesarten zu den bisher
- aufgeführten Schriften sind der Ausgabe von Tichonrawow und Schenrock
- entnommen.]
- _Beilage I-IV. Aus Gogols Briefwechsel mit Bjelinski._ (Band VIII, Seite
- 369.)
- Dieser Briefwechsel mit dem berühmten russischen Kritiker Wissarion
- Bjelinski bildet eine wichtige Ergänzung zu der »Auswahl«, da er ein
- helles Licht auf die Stimmung wirft, aus der dieses Werk entsprungen
- ist, und weil er geeignet ist, Gogols Ziele und Absichten, die er mit
- dem Buche verfolgte, schärfer zu beleuchten und ein Bild von der Wirkung
- zu geben, die der Briefwechsel auf die Zeitgenossen ausübte. Die
- »Auswahl aus dem Briefwechsel« bezeichnet einen Wendepunkt in Gogols
- Leben, das von diesem Augenblick an mit unheimlicher Schnelligkeit der
- Katastrophe zutreibt. Bald nach dem Erscheinen des ersten Bandes der
- »Toten Seelen« setzt jene innere Krise ein, die so verhängnisvoll für
- Gogols Schaffen und sein persönliches Schicksal werden sollte. Der
- Zweifel an dem Zweck und Sinn des Dichterberufs, insbesondere an der
- Berechtigung seines eigenen dichterischen Stils steigert sich allmählich
- bis zu einer selbstquälerischen Melancholie, die das ganze menschliche
- Tun einseitig in den Blickpunkt der religiösen Zielsetzung einstellte.
- Der religiös-sittliche Zweck allein darf Inhalt und Wesensart der
- dichterischen Produktion bestimmen. Damit nimmt Gogols Schaffen immer
- mehr jenen didaktischen Charakter an, wie er so deutlich in dem
- Briefwerke zum Ausdruck kommt. Das Entwerfen von Mustern sittlicher
- Größe und Schönheit, Belehrung und Erziehung werden nun zu den höchsten
- Aufgaben des Dichters. Zugleich aber drängt sich immer kräftiger jener
- rückwärtsgewandte Zug zu einer passiven, heteronomen sittlichen
- Lebensauffassung vor, die in der demütigen Unterwerfung unter die
- gottgewollten Bindungen, in ihrer fügsamen Hinnahme den Sieg der Tugend
- und damit die Selbsterlösung aus der Wirrnis und den Unzulänglichkeiten
- der menschlichen Zustände erblickt. Diese Geistesstimmung konnte den
- »Briefwechsel« zu dem Grundbuch des rückständigen Rußland machen, zu dem
- Arsenal aller reaktionären Ideologien, die auf alle folgenden
- Generationen, so z. B. noch auf Dostojewski, bis in die neuere und
- neueste Epoche fortwirkten. Gegen diese Tendenzen richtete sich schon zu
- Gogols Zeit der stürmische Protest der europäisch gesinnten russischen
- Jugend, wie er aus dem von wundervoller Leidenschaft durchpulsten Brief
- Bjelinskis zu uns spricht. Dieser Brief wird sicherlich Gogol nicht
- gerecht. In seinem prachtvollen Empörungsausbruch übersieht Bjelinski
- die radikalen Konsequenzen, die sich aus Gogols Standpunkt ergeben und
- für die der Zensor ein feineres Verständnis zeigte, als er nicht
- unbeträchtliche Teile aus dem »Briefwechsel« herausstrich, ebenso wie
- Bjelinski die tiefen inneren sittlichen Probleme des menschlichen und
- künstlerischen Gewissens verkennt, die in diesem Werk ihren Ausdruck
- finden. Und doch liegt in dieser Ungerechtigkeit zugleich eine höhere
- geschichtliche Gerechtigkeit. In einer von freudigen Hoffnungen
- kommender großer Ereignisse erfüllten Zeit, die schon den großen
- Frühlingssturm des Jahres 1848 vorausahnte und sich auf ihn rüstete,
- mußte Gogols Predigt als ein Produkt dunkelster Reaktion, als das Werk
- eines finsteren rückwärtsdrängenden Geistes erscheinen.
- Die Empörung über das Buch war allgemein, nicht allein bei den
- sogenannten Westlingen und den radikalen Slawophilen, sondern selbst bei
- Gogols nächsten Freunden, die über den hochmütigen lehrhaften Ton, den
- Gogol hier angeschlagen hatte, ungehalten waren. 1847 veröffentlichte
- Bjelinski im zweiten Heft des »Sowremjennik« (Zeitgenossen) eine
- außerordentlich ungünstige Kritik, die sich zwar aus Zensurrücksichten
- eines maßvollen Tones befleißigte, aber Gogol, der bisher in Bjelinskis
- Kritiken nur begeisterter Zustimmung begegnet war, aufs tiefste
- verletzte. Da er sich den Grund zu Bjelinskis ablehnendem Urteil nicht
- erklären konnte, war er geneigt, ihn auf persönliche Motive
- zurückzuführen, wie dies aus Gogols durch die Rezension hervorgerufenem
- Schreiben an Bjelinski deutlich hervorgeht.
- Bjelinski befand sich um diese Zeit auf Veranlassung seiner Freunde in
- Salzbrunn, wo er eine Kur gegen die Schwindsucht brauchte. An einem
- Julitag des Jahres 1847 setzte er sich hin und verfaßte jenen berühmten
- Brief (Band VIII, Seite 361), der eine so große Rolle in dem geistigen
- Freiheitskampf Rußlands gespielt hat.
- Dieser Brief ist das Manifest des revolutionären Rußland geworden. Zwei
- weltgeschichtliche Gegensätze stoßen hier in heftigem Zusammenprall
- aufeinander. Europäertum und konservatives Altrussentum halten hier ihre
- große Abrechnung. Licht, Sonne, Heiterkeit, Klarheit, freie
- Selbstbestimmung auf der einen, Dumpfheit, Enge, Gebundenheit, Autorität
- auf der anderen Seite sind die Losungen, um die in diesem Briefwechsel
- gekämpft wird. Und es unterliegt keinem Zweifel, auf wessen Seite der
- Sieg sich neigt. Die Wirkung des Briefes war unbeschreiblich. In tausend
- Abschriften wanderte er von Hand zu Hand, und bald gab es in den
- entlegensten Provinzen, wie Asksakow schreibt, keinen Schullehrer, der
- den Brief nicht auswendig kannte. In allen oppositionellen Konventikeln
- wurde er mit Begeisterung gelesen und heimlich weiterverbreitet. Bloß
- der Tod (Bjelinski starb am 28. Mai 1848) rettete den Autor vor der
- Rache des Despotismus. Mußten doch zahlreiche junge Leute, darunter auch
- Dostojewski, wegen dieses Schreibens nach Sibirien wandern, lediglich
- weil sie der Polizei nicht von dessen Existenz Mitteilung gemacht
- hatten. So kämpfte in diesem Brief der Geist des verstorbenen Bjelinski
- noch nach seinem Tode tapfer weiter fort, wenn auch zunächst noch mit
- geschlossenem Visier. Lange war der Brief in Rußland gänzlich verboten.
- Alexander Herzen veröffentlichte ihn zum erstenmal in seinem in London
- erscheinenden »Polarstern«. Danach wurde er im Auslande und endlich 1872
- auch in Rußland auszugsweise unter Weglassung der schärfsten Stellen
- nachgedruckt. Der vollständige Abdruck im Jahre 1906 in der Bibliothek
- Swetotsch (Die Fackel) durch Wengerow bezeichnet einen neuen Abschnitt
- in der Geschichte des Briefes und zugleich eine neue Epoche in der
- russischen Revolution.
- Chronologische Tabelle der Werke Gogols
- Die Zahl des Bandes, in dem die einzelnen Schriften erschienen
- sind, steht in eckigen Klammern hinter der Jahreszahl.
- Hans Küchelgarten (um 1828) [VIII]
- Abende auf dem Gutshof bei Dikanka
- I. Teil 1831 [III]
- Abende auf dem Gutshof bei Dikanka
- II. Teil 1832 [III]
- Arabesken 1834 [VI]
- Mirgorod, Teil I und II 1834 [IV]
- Über die Strömungen der Zeitschriftenliteratur 1835 [VI]
- der Jahre 1834-1835
- Der Revisor 1836 [V]
- Die Equipage 1836 [IV]
- Die Nase 1836 [II]
- Petersburger Skizzen 1837 [VI]
- Italienische Sommernächte 1839 [VI]
- Szenen aus einer unvollendeten Komödie -- Der 1832-1842 [V]
- Morgen eines vielbeschäftigten Herrn -- Der
- Prozeß -- Das Vorzimmer -- Fragment
- Eine Heiratsgeschichte 1833-1842 [V]
- Die Toten Seelen, I. Teil 1835-1842 [I]
- Die Spieler 1836-1842 [V]
- Nach dem Theater 1836-1842 [V]
- Das Porträt 1837-1842 [II]
- Der Mantel 1839-1842 [II]
- Rom 1839-1842 [VI]
- Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden 1846 [VII u.
- VIII]
- Die Beichte des Dichters 1846 [VIII]
- Betrachtungen über die Heilige Liturgie 1845-1848 [VIII]
- Brief an Schukowski 1848 [VIII]
- Die Toten Seelen, II. Teil 1845-1852 [II]
- Inhalt des siebenten Bandes
- Aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden I Seite
- Vorrede 1
- I Mein Testament 9
- II Die Frau in der vornehmen Welt 21
- III Die Bestimmung der Krankheiten 30
- IV Etwas über die Bedeutung des Wortes 35
- V Über den öffentlichen Vortrag russischer Dichtungen 43
- VI Wie man den Armen helfen soll 49
- VII Über Schukowskis Übersetzung der Odyssee 55
- VIII Einige Worte über unsere Kirche und unsere Geistlichkeit 73
- IX Über denselben Gegenstand 79
- X Über das Lyrische bei unseren Poeten 85
- XI Diskussionen 111
- XII Der Christ schreitet vorwärts 117
- XIII Karamsin 123
- XIV Vom Theater, von einer einseitigen Ansicht über das 129
- Theater und von der Einseitigkeit überhaupt
- XV Über die Aufgaben der lyrischen Dichtung unserer Zeit 151
- XVI Ratschläge 161
- XVII Über die Aufklärung 167
- XVIII Vier Briefe an verschiedene Personen über die »Toten 175
- Seelen«
- XIX Liebt unser russisches Vaterland 203
- XX Lernt Rußland kennen! 209
- XXI Was eine Gouverneursgattin ist 227
- XXII Der russische Gutsbesitzer 255
- XXIII Der Historienmaler Iwanow 271
- XXIV Was die Frau ihrem Manne im häuslichen Leben des Alltags 291
- und bei den heutigen Zuständen in Rußland sein kann
- XXV Über ländliche Rechtspflege und Gerichtsbarkeit 301
- XXVI Rußlands Schrecken und Grauen 307
- XXVII An einen kurzsichtigen Freund 317
- XXVIII In einen hochgestellten Mann 323
- XXIX Wessen Los auf Erden das beste ist 359
- XXX Ein Geleitspruch 363
- XXXI Wesen und Eigenart der russischen Poesie 369
- XXXII Auferstehungstag 447
- Inhalt des achten Bandes
- Aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden II Seite
- An Arkadius Ossipowitsch Rosetti 1
- Über den »Zeitgenossen« (Sowremjennik) 11
- Die Beichte des Dichters 33
- An W. A. Schukowski 101
- Betrachtungen über die Heilige Liturgie 115
- Einleitung 121
- Das Offertorium (_Proscomidia_) 125
- Die Liturgie der Katechumenen 145
- Die Liturgie der Gläubigen 169
- Schluß 217
- Jugendschriften 223
- 1834 225
- Über eine Geschichte der kleinrussischen Kosaken 231
- Zwei Kapitel aus der kleinrussischen Erzählung »Der 235
- schreckliche Eber«
- I Der Lehrer 237
- II Der Erfolg der Gesandtschaft 251
- Das Weib 263
- Fragmente
- Gedichte und poetische Versuche 275
- Sturm 277
- Albumblatt 279
- Hans Küchelgarten 283
- Beilage: Aus Gogols Briefwechsel mit Bjelinski
- I Gogol an Bjelinski 349
- II Aus einem Briefe Gogols an N. I. Prokopowitsch 355
- III Bjelinskis Brief an Gogol 361
- IV Gogol an Bjelinski 381
- V Fragment aus demselben Brief, das an einer anderen Stelle 395
- aufgefunden worden ist
- VI Gogol an W. S. Bjelinski 399
- Nachtrag 405
- Berichtigungen
- Zu Band V, Seite 479, Zeile 5 von unten: Prozeß. Das Bedientenzimmer
- usw. statt _Bedientenzimmer_ lies _Vorzimmer_ (Die Bedientenstube).
- Seite 480, Zeile 2 von unten statt _Die Bedientenstube_ lies _Das
- Vorzimmer_ (Die Bedientenstube).
- Zu Band VI, Seite 538, Zeile 6 statt 1835 lies 1836.
- Druck von Mänicke und Jahn, Rudolstadt
- Anmerkungen zur Transkription
- Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten. Auch
- Variationen in der Transliteration der russischen Namen wurden nicht
- verändert.
- Offensichtliche Fehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt, teilweise
- unter Verwendung der russischen Originaltexte (vorher/nachher):
- ... Deutsch von Ullrich Steindorf ...
- ... Deutsch von Ulrich Steindorff ...
- [S. 1]:
- ... An Arkadius Ossipowitsch Rossetti ...
- ... An Arkadius Ossipowitsch Rosetti ...
- [S. 13]:
- ... auf: warum heißt die Zeitschrift »Der Zeitgenosse«. Wir ...
- ... auf: warum heißt die Zeitschrift »Der Zeitgenosse«? Wir ...
- [S. 15]:
- ... ließ. Mein hartnäckiges Zureden und mein Verspechen, ...
- ... ließ. Mein hartnäckiges Zureden und mein Versprechen, ...
- [S. 37]:
- ... sowie ferner mit dem Unterschied, das sich dies alles in ...
- ... sowie ferner mit dem Unterschied, daß sich dies alles in ...
- [S. 64]:
- ... würden, Aufzeichnungen über sich selbst zu machen, und ...
- ... würde, Aufzeichnungen über sich selbst zu machen, und ...
- [S. 101]:
- ... An W. A. Schukkowski ...
- ... An W. A. Schukowski ...
- [S. 156]:
- ... Nachdem die Lobhymmen beendigt sind, beginnen die ...
- ... Nachdem die Lobhymnen beendigt sind, beginnen die ...
- [S. 159]:
- ... ausdrucksvoll, so daß jedes Wort einem jeden vernehmich ...
- ... ausdrucksvoll, so daß jedes Wort einem jeden vernehmlich ...
- [S. 179]:
- ... alle Tage unseres Lebens.« Und im vollen Bewußsein ...
- ... alle Tage unseres Lebens.« Und im vollen Bewußtsein ...
- [S. 183]:
- ... an Gott den Vater, den allmächtigen Schöpfer Himmels ...
- ... an Gott den Vater, den allmächtigen Schöpfer des Himmels ...
- [S. 184]:
- ... dem heiligen Hochalter, der den heiligen Abendmahlstisch ...
- ... dem heiligen Hochaltar, der den heiligen Abendmahlstisch ...
- [S. 372]:
- ... behaupten nnd es als eine große Wahrheit hinstellen, ...
- ... behaupten und es als eine große Wahrheit hinstellen, ...
- [S. 378]:
- ... Sie haben dies natürlich aus Unvorsichtigkeit und getan, ...
- ... Sie haben dies natürlich aus Unvorsichtigkeit getan und, ...
- [S. 411]:
- ... um um den Preis eines solchen Opfers noch Seine Gerechtigkeit ...
- ... um den Preis eines solchen Opfers noch Seine Gerechtigkeit ...
- [S. 417]:
- ... Über den »Zeitgenossen«; (Sowremjennik); ...
- ... Über den »Zeitgenossen«; (Sowremennik); ...
- [S. 427]:
- ... Das Offertorium (Prosconidia) | 125 ...
- ... Das Offertorium (Proscomidia) | 125 ...
- End of the Project Gutenberg EBook of Sämmtliche Werke 8: Briefwechsel II,
- Hans Küchelgarten, by Nikolaj Gogol
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