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  Directory : Aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden I
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  • Project Gutenberg's Sämmtliche Werke 7: Briefwechsel I, by Nikolaj Gogol
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  • Title: Sämmtliche Werke 7: Briefwechsel I
  • Author: Nikolaj Gogol
  • Editor: Otto Buek
  • Release Date: December 13, 2017 [EBook #56174]
  • Language: German
  • *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 7: BRIEFWECHSEL I ***
  • Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
  • Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was
  • produced from images made available by the HathiTrust
  • Digital Library.
  • Nikolaus Gogol
  • Briefwechsel
  • Nikolaus Gogol
  • Sämmtliche Werke
  • In 8 Bänden
  • Herausgegeben
  • von
  • Otto Buek
  • Band 7
  • München und Leipzig
  • bei Georg Müller
  • 1913
  • Nikolaus Gogol
  • Aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden
  • Herausgegeben
  • von
  • Otto Buek
  • München und Leipzig
  • bei Georg Müller
  • 1913
  • Vorrede
  • Ich lag an einer schweren Krankheit danieder; schon war ich dem Tode
  • nahe. Da raffte ich meine letzten Kräfte zusammen, die mir noch blieben,
  • benutzte den ersten Augenblick, wo ich mich im vollen Besitz meiner
  • Geisteskräfte befand, und schrieb mein geistiges Testament nieder, in
  • dem ich unter anderm meinen Freunden die Pflicht auferlegte, nach meinem
  • Tode einige von meinen Briefen herauszugeben. Damit hoffte ich
  • wenigstens einen Teil der Schuld sühnen zu können, die ich durch die
  • Wertlosigkeit alles dessen, was ich bisher geschrieben hatte, auf mich
  • geladen hatte, denn meine Briefe enthielten nach dem Urteil derer, an
  • die sie gerichtet waren, weit mehr solche Gedanken, deren die Menschen
  • bedürfen, die ihnen not tun, als meine Werke. Gottes himmlische Güte
  • wandte die Hand des Todes von mir ab. Ich bin beinahe wiederhergestellt
  • und ich fühle mich wieder besser. Dennoch aber empfinde ich, wie schwach
  • meine Kräfte sind, und dies mahnt mich jeden Augenblick daran, daß mein
  • Leben an einem Haar hängt, und nun, wo ich mich zu einer weiten Reise
  • ins Heilige Land rüste, die meiner Seele ein Bedürfnis ist und während
  • deren mir vieles zustoßen kann, fühle ich den Wunsch, meinen Landsleuten
  • beim Abschied etwas von mir zu hinterlassen. So wähle ich denn selbst
  • alles aus meinen letzten Briefen, die ich wieder in meinen Besitz
  • bringen konnte, aus, was sich auf solche Fragen bezieht, die die
  • Gesellschaft gegenwärtig am meisten beschäftigen, lasse alles beiseite,
  • was erst nach meinem Tode Sinn und Inhalt erhalten kann, und scheide
  • alles aus, was nur für wenige von Bedeutung sein könnte. Dazu füge ich
  • noch zwei oder drei literarische Aufsätze hinzu, und endlich lege ich
  • dem Ganzen noch mein Testament bei, auf daß dieses, wenn mich der Tod
  • unterwegs ereilen sollte, als durch alle meine Leser bezeugt und
  • verbürgt, sogleich rechtmäßig in Kraft trete.
  • Mein Herz sagt mir, daß mein Buch einem wirklichen Bedürfnis entspricht
  • und daß es vielleicht von einigem Nutzen sein kann. Ich glaube dies
  • nicht deshalb, weil ich eine zu hohe Meinung von mir habe und weil ich
  • mir zutraue, Nützliches wirken zu können, sondern weil ich noch niemals
  • so innig von dem Wunsche beseelt war, etwas Nützliches zu vollbringen,
  • wie heute. Für uns Menschen genügt es schon, wenn wir die Hand
  • ausstrecken, um zu helfen; die eigentliche Hilfe aber kommt nicht von
  • uns, sondern von Gott, der seine Kraft von oben auf uns herabsendet und
  • sie dem ohnmächtigen Worte mitteilt. So unbedeutend und minderwertig
  • also mein Buch auch sein mag, ich wage dennoch, es der Öffentlichkeit zu
  • übergeben, und ich bitte meine Landsleute, es mehrmals durchzulesen;
  • zugleich aber bitte ich die unter ihnen, die sich eines gewissen
  • Wohlstandes erfreuen, sich mehrere Exemplare zu kaufen und sie an solche
  • Leute zu verteilen, die sich das Buch selbst nicht kaufen können, und
  • ihnen bei dieser Gelegenheit zu erklären, daß alles Geld, das nach
  • Deckung der Unkosten, die die bevorstehende Reise verursachen wird,
  • übrigbleiben sollte, teils denen, die gleich mir das innere Bedürfnis
  • fühlen, während der kommenden großen Fasten nach dem Heiligen Lande zu
  • pilgern und dies nicht aus eigenen Mitteln zu tun vermögen, teils denen
  • zur Unterstützung dienen soll, mit denen ich auf dem Wege dorthin
  • zusammentreffen werde und die am Grabe des Herrn für ihre Wohltäter, d.
  • h. meine Leser, beten werden.
  • Ich wünschte, ich könnte meine Reise vollenden wie ein guter Christ, und
  • daher bitte ich hiermit alle meine Landsleute um Verzeihung wegen aller
  • Kränkungen, die ich ihnen zugefügt haben sollte. Ich weiß, daß ich viele
  • Leute durch meine unüberlegten Handlungen und durch meine unreifen Werke
  • betrübt, viele sogar gegen mich aufgebracht und überhaupt bei vielen
  • Anstoß und Ärgernis erregt habe. Ich darf indessen zu meiner
  • Rechtfertigung sagen, daß meine Absicht stets gut war, und daß ich
  • niemand betrüben oder gegen mich aufbringen wollte; nur meine
  • Unbesonnenheit, meine Hast und Übereilung waren die Ursache, daß meine
  • Werke in so unvollkommener Gestalt ins Leben traten, wodurch beinahe
  • alle über ihren wahren Sinn getäuscht wurden. Alles andere dagegen,
  • wobei tatsächlich eine verletzende Absicht vorliegen sollte, bitte ich
  • mir mit jener Großmut zu verzeihen, deren nur die russische Seele fähig
  • ist, wenn sie verzeiht. Auch alle die bitte ich, mir zu vergeben, mit
  • denen mich mein Lebensweg für längere oder kürzere Zeit zusammengeführt
  • hat. Ich weiß, daß ich vielen Menschen mancherlei Unannehmlichkeiten
  • bereitet habe, ja manchen sogar mit Absicht. Überhaupt hatte die Art
  • meines Verkehrs mit den Menschen stets etwas Unangenehm-Abstoßendes an
  • sich. Dies rührte teils davon her, daß ich einem Zusammentreffen und
  • einer Bekanntschaft mit Menschen gern aus dem Wege ging, da ich das
  • Gefühl hatte, ich hätte den Menschen noch nichts Gescheites und wirklich
  • Notwendiges zu sagen (und leere und überflüssige Redensarten wollte ich
  • nicht machen), und da ich zugleich davon überzeugt war, daß ich mich
  • selbst wegen meiner zahllosen Mängel und Fehler noch in einiger
  • Entfernung von den Menschen erziehen müsse. Zum Teil aber war es auch
  • die Folge meiner kleinlichen Eitelkeit, wie sie nur denen unter uns
  • eigen ist, die sich aus Schmutz und Kot emporgearbeitet, sich eine
  • Stellung unter den Menschen erobert haben, und die sich daher für
  • berechtigt halten, stolz auf die anderen herabzusehen. Wie dem auch sein
  • mag, ich bitte, mir alle persönlichen Kränkungen zu verzeihen, die ich
  • einem Menschen seit den Zeiten meiner Kindheit bis zum gegenwärtigen
  • Augenblicke zugefügt haben sollte. Auch meine Berufsgenossen, die
  • Literaten, bitte ich um Verzeihung, wenn ich sie je bewußt oder unbewußt
  • geringschätzig oder ohne gebührende Achtung behandelt haben sollte; wem
  • es aber aus irgendeinem Grunde schwer werden sollte, mir zu vergeben,
  • den erinnere ich daran, daß er ein Christ ist. Wie der Fastende vor der
  • Beichte, die er sich vor dem Angesichte Gottes abzulegen anschickt, alle
  • seine Brüder um Verzeihung bittet, so bitte ich sie um Verzeihung, und
  • wie in solch einem Augenblick kein einziger den Mut findet, seinem
  • Bruder nicht zu vergeben, so werden auch meine Brüder nicht den Mut
  • haben, mir ihre Vergebung zu versagen. Und endlich bitte ich meine Leser
  • um Verzeihung, wenn auch in diesem Buche wieder etwas Peinliches
  • vorkommen sollte, das sie kränken oder beleidigen könnte. Ich bitte sie,
  • mir deshalb nicht innerlich zu zürnen, sondern mir statt dessen lieber
  • großmütig alle Mängel, die sie in diesem Buche entdecken sollten, sowohl
  • die des Schriftstellers wie die des Menschen, nachzuweisen: meine
  • Torheit, meine Unüberlegtheit, meine übermäßige Eitelkeit und
  • Sicherheit, mein eitles Selbstvertrauen -- mit einem Wort, alle die
  • Fehler, die allen Menschen eigen sind, auch wenn sie sie nicht erkennen,
  • und die ich wahrscheinlich in noch weit höherem Maße besitze.
  • Zum Schluß bitte ich alle Russen, für mich zu beten, vor allem die
  • Priester, deren ganzes Leben ein einziges Gebet ist. Auch die bitte ich,
  • mich in ihr Gebet einzuschließen, die in ihrer Demut nicht an die Kraft
  • ihres Gebets glauben, wie auch die, die überhaupt nicht an das Gebet
  • glauben und es nicht einmal für notwendig halten; aber wie kraftlos,
  • dürr und matt auch immer ihr Gebet sein möge, ich bitte sie, in diesem
  • kraftlosen, dürren und matten Gebet meiner zu gedenken. Ich aber will am
  • Grabe des Herrn für alle meine Landsleute beten; kein einziger soll von
  • meinem Gebete ausgeschlossen bleiben; und mein Gebet wird ebenso
  • kraftlos, dürr und matt sein, wenn nicht der heilige allgütige Wille des
  • Himmels es zu einem Gebet machen wird, wie es in Wahrheit sein soll.
  • Im Juli 1846.
  • I
  • Mein Testament
  • Völlig meiner Sinne mächtig und im vollen Besitz meines Verstandes lege
  • ich hier meinen letzten Willen nieder.
  • I. Erstens ordne ich an, daß mein Leib nicht eher begraben werden soll,
  • als bis sich an ihm deutliche Spuren der Auflösung bemerkbar machen. Ich
  • erinnere ausdrücklich daran, weil mich schon während meiner Krankheit
  • Augenblicke der Ohnmacht überkamen, wo das Leben stockte, mein Herz
  • aufhörte, zu schlagen, mein Puls stillstand ... Da ich während meines
  • Lebens schon häufig Zeuge vieler trauriger Vorfälle war, an denen unsere
  • unvernünftige Übereilung in allen Dingen, selbst bei einer solchen
  • Angelegenheit wie die Beerdigung, schuld war, so spreche ich dies hier
  • gleich zu Beginn meines Testamentes aus, in der Hoffnung, daß meine
  • Stimme vielleicht nach meinem Tode ganz allgemein zur Vorsicht mahnen
  • wird. Im übrigen aber soll man meinen Leib der Erde übergeben, ohne
  • lange zu überlegen, an welchem Ort er ruhen soll; auch sollen keine
  • Ehren oder Erinnerungen an meine sterblichen Reste geknüpft werden.
  • Jeder sollte sich schämen, der meinen faulenden Knochen irgendwelche
  • Achtung erweisen wollte, sind sie doch gar nicht mehr mein Eigentum, er
  • würde sich vor den Würmern beugen, die sie zernagen. Ich bitte daher
  • alle, lieber um so kräftiger für meine Seele zu beten, und statt aller
  • Bestattungsfeierlichkeiten und Ehren lieber einige arme Leute, denen es
  • am täglichen Brot fehlt, in meinem Namen mit einem einfachen Mittagessen
  • zu bewirten.
  • II. Zweitens ordne ich an, mir kein Denkmal auf meinem Grabe zu
  • errichten, ja gar nicht erst an diese Torheiten, die eines Christen
  • unwürdig sind, zu denken. Die Menschen, die mir nahestanden und die mich
  • wirklich lieb hatten, werden mir schon ein anderes Denkmal errichten:
  • und zwar werden sie es in sich selbst aufrichten, durch
  • unerschütterliches Festhalten an ihrem Lebenswerk und durch Aufmunterung
  • und Ermutigung aller Menschen ihrer Umgebung. Wer nach meinem Tode zu
  • höherer geistiger Reife emporwachsen wird, als sie ihm während meines
  • Lebens eigen war, der wird damit beweisen, daß er mich wahrhaft geliebt
  • hat, daß er mein Freund war, und mir damit ein wirkliches Denkmal
  • errichten, denn auch ich habe, bei all meiner Schwäche und Nichtigkeit,
  • meine Freunde stets ermutigt, und keiner von denen, die mir in der
  • letzten Zeit näher traten, hat in Stunden des Kummers und der
  • Entmutigung bei mir ein trübseliges Gesicht gefunden, obwohl ich selbst
  • schwere Augenblicke zu durchleben hatte und nicht weniger litt und
  • bekümmert war, als andere. So möge denn auch ein jeder von ihnen nach
  • meinem Tode dessen eingedenk sein, sich an alle meine Worte erinnern und
  • noch einmal all meine Briefe durchlesen, die ich vor einem Jahre an ihn
  • geschrieben habe.
  • III. Drittens ordne ich an, daß mich niemand beweinen soll; ja, der
  • würde eine Sünde auf seine Seele laden, der meinen Tod für einen großen
  • und allgemeinen Verlust halten wollte. Selbst wenn es mir gelungen sein
  • sollte, etwas Nützliches zu vollbringen, wenn ich wirklich schon
  • begonnen haben sollte, so wie es sich gehört, meine Pflicht zu erfüllen,
  • und wenn der Tod mich in dem Augenblick, wo ich mein Werk -- das ja
  • nicht dem Vergnügen einzelner dienen sollte, sondern dem, was allen not
  • tut -- begonnen, hinweggenommen haben sollte, so wäre es dennoch
  • unrichtig, sich einer fruchtlosen Verzweiflung zu überlassen. Selbst
  • wenn heute in Rußland ein Mann stürbe, dessen das Land bei der gegebenen
  • Lage der Dinge wirklich bedürfte, so wäre auch dies noch kein Grund für
  • einen der Lebenden, zu trauern und mutlos zu werden, obwohl es schon
  • richtig ist, daß, wenn uns von den Menschen, die wir alle brauchen,
  • einer nach dem andern entrissen wird, dies ein Zeichen des göttlichen
  • Zornes ist, und daß wir hierdurch aller Mittel und Werkzeuge beraubt
  • werden, mit deren Hilfe sich mancher dem Ziele nähern könnte, das uns
  • alle zu sich ruft. Wir dürfen nicht gleich traurig und mutlos werden bei
  • jedem plötzlichen Verlust, sondern müssen in unser Inneres blicken und
  • nicht an die Schlechtigkeit der andern und an die Schlechtigkeit der
  • ganzen Welt, sondern an unsere eigene Schlechtigkeit denken. Die Bosheit
  • und Verderbnis der Seele ist fürchterlich, warum aber erkennen wir das
  • erst dann, wenn wir den unerbittlichen Tod vor Augen sehen?
  • IV. Viertens vermache ich allen meinen Landsleuten (wobei ich lediglich
  • davon ausgehe, daß ein jeder Schriftsteller seinen Lesern irgendeinen
  • guten Gedanken als Vermächtnis hinterlassen sollte), viertens vermache
  • ich ihnen das Beste, was meine Feder hervorgebracht hat -- ich
  • hinterlasse ihnen ein Werk von mir, das den Titel _Abschiedserzählung_
  • trägt. Diese Erzählung handelt, wie sie erkennen werden, von ihnen
  • selbst. Ich habe sie lange in meinem Herzen getragen, wie meinen größten
  • Schatz, wie ein Zeichen der göttlichen Gnade, die sich an mir vollzogen
  • hat. Sie war mir ein Quell verborgener Tränen, seit den Tagen meiner
  • Kindheit. Sie also hinterlasse ich ihnen als Vermächtnis. Allein ich
  • flehe all meine Landsleute an, es nicht als Kränkung und Beleidigung
  • anzusehen, wenn sie etwas wie eine Belehrung aus ihr heraushören
  • sollten. Ich bin ein Schriftsteller, und die Aufgabe des Schriftstellers
  • besteht nicht allein darin, Geist und Geschmack angenehm zu unterhalten;
  • er muß strenge Rechenschaft ablegen, wenn seine Werke der Seele keinen
  • Nutzen gebracht haben und keine Wohltat gewesen sind und wenn keine
  • Belehrung für die Menschen in ihnen enthalten ist. Meine Landsleute
  • mögen doch bedenken, daß ja auch jeder unserer Brüder, der diese Welt
  • verläßt, selbst wenn er kein Schriftsteller ist, ein Recht hat, uns
  • etwas wie eine Lehre, eine brüderliche Mahnung zu hinterlassen, und
  • dabei kommt es weder darauf an, ob er nur eine geringe Stellung
  • bekleidet, noch ob er ein ohnmächtiger, oder gar ein unvernünftiger
  • Mensch ist; wir sollten lediglich daran denken, daß ein Mensch, der auf
  • dem Totenbett liegt, viele Dinge besser durchschauen kann, als ein
  • solcher, der sich in der Welt bewegt. Trotzdem ich mich aber auf dieses
  • mein wohlbegründetes Recht berufen könnte, hätte ich es doch nicht
  • gewagt, zu erwähnen, was man aus meiner Abschiedserzählung heraushören
  • wird; denn nicht mir, dessen Seele häßlicher und sündhafter ist, als die
  • aller andern, und der so schwer an seiner eigenen Unvollkommenheit
  • krankt, kommt es zu, solche Reden zu führen. Allein was mich dazu
  • treibt, ist ein anderer gewichtiger Grund. Landsleute! Es ist furchtbar.
  • Die Seele möchte vor Schrecken vergehen bei der bloßen Ahnung der
  • überirdischen Majestät und Erhabenheit des Jenseits und jener höchsten
  • geistigen Schöpfungen Gottes, vor denen die ganze Größe alles
  • Erschaffenen, das wir hier unten erblicken und das uns hier in Erstaunen
  • setzt, in Staub versinkt. Mein sterblicher Leib ächzt beim Gedanken an
  • all die monströsen gigantischen Gebilde und Früchte, deren Samen wir
  • während unseres Lebens säeten, ohne zu ahnen und ohne zu fühlen, was für
  • Schrecknisse aus ihnen erwachsen werden ... Vielleicht wird meine
  • _Abschiedserzählung_ einen gewissen Eindruck auf _die_ machen, die das
  • Leben noch immer für ein Spiel halten, vielleicht wird ihr Herz etwas
  • von seinem strengen Geheimnis und von der innigen himmlischen Musik
  • dieses Geheimnisses vernehmen. Landsleute! -- ich weiß nicht, ich finde
  • kein Wort dafür, wie ich euch in diesem Augenblick anreden soll. -- Fort
  • mit dem leeren Anstand! Landsleute! -- ich habe euch geliebt, ich habe
  • euch geliebt mit jener Liebe, von der man nicht spricht, die mir Gott
  • geschenkt hat, für die ich Ihm danke, wie für Seine höchste Wohltat,
  • weil diese Liebe mir Trost und Freude war während meiner schwersten
  • Leiden. Im Namen dieser Liebe bitte ich euch, meiner Abschiedserzählung
  • euer Ohr und Herz zu leihen. Ich schwöre es euch, ich habe sie nicht
  • erfunden, ich habe sie nicht erdacht, sie ist meiner Seele selbst
  • entströmt, die Gott selbst durch Kummer und Versuchungen gebildet hat,
  • und ihre Klänge entsprangen aus den innersten Kräften und Elementen
  • unseres russischen Wesens, das uns allen gemeinsam ist und durch das ich
  • euch allen aufs engste verschwistert bin[1].
  • V. Fünftens bitte ich, meiner Werke nach meinem Tode in der Presse und
  • in den Zeitschriften weder mit übereiltem Lob noch Tadel zu gedenken;
  • alle diese Urteile werden ebenso parteiisch sein, wie bei meinen
  • Lebzeiten. In meinen Werken gibt es weit mehr Verurteilungswürdiges als
  • solches, was Lob verdient. Alle Ausfälle, die sich gegen sie richteten,
  • waren ihrem eigentlichen Kerne nach mehr oder weniger berechtigt. Mir
  • gegenüber hat sich niemand schuldig gemacht; es wäre unedel und
  • ungerecht, wenn ein Mensch jemand um meinetwillen in irgendeiner
  • Hinsicht tadeln, oder ihm einen Vorwurf machen wollte. Ferner erkläre
  • ich laut, damit alle es hören können: daß es außer den schon gedruckten
  • Schriften keine Werke mehr von mir gibt: alles was an Manuskripten
  • vorhanden war, habe ich verbrannt, wie etwas Kraftloses, wie etwas
  • Totes, das ich in einer krankhaften Gemütsverfassung und in einem
  • Zwangszustande niedergeschrieben habe. Wenn daher jemand etwas unter
  • meinem Namen herausgeben sollte, so bitte ich dies für eine
  • nichtswürdige Fälschung zu halten. Dafür aber mache ich es meinen
  • Freunden zur Pflicht, alle meine Briefe zu sammeln, die ich seit dem
  • Ende des Jahres 1844 an einen von ihnen gerichtet habe, und diese nach
  • strenger Auswahl alles dessen, was irgendwie von Nutzen für unsere Seele
  • sein kann, und nach Verwerfung alles übrigen, das nur der eitlen
  • Unterhaltung dient, in Buchform herauszugeben. Diese Briefe enthalten
  • einiges, das _denen_ von Nutzen gewesen ist, an die sie gerichtet waren.
  • Gott ist barmherzig; vielleicht werden sie auch andern von Nutzen sein;
  • und vielleicht wird so wenigstens ein Teil der harten Verantwortlichkeit
  • für die Wertlosigkeit dessen, was ich früher geschrieben habe, von
  • meiner Seele genommen.
  • [Fußnote 1: Die Abschiedserzählung kann nicht erscheinen: was nach dem
  • Tode von Bedeutung sein könnte, das hat bei Lebzeiten keinen Sinn.]
  • VI. Nach meinem Tode soll keiner der Meinen mehr berechtigt sein, sich
  • selbst anzugehören -- sondern nur noch den Bekümmerten, den Leidenden
  • und denen gehören, die in diesem Leben schon irgendein Leid zu erdulden
  • hatten. Ihr Haus und Gut sollen mehr einem Gasthaus oder einer Herberge
  • für fremde Pilger, als der Wohnstätte eines Gutsbesitzers gleichen; wer
  • auch immer zu den Meinen kommt, den sollen sie aufnehmen, wie einen
  • nahen Verwandten und einen ihrem Herzen nahestehenden Menschen; sie
  • sollen ihn herzlich und freundschaftlich nach all seinen
  • Lebensverhältnissen ausfragen, um zu erfahren, ob er nicht
  • hilfsbedürftig ist, oder doch wenigstens um ihn zu erheitern und zu
  • ermuntern, auf daß keiner das Gut ungetröstet verlasse. Wenn der
  • Reisende aber einfachen Standes, wenn er an ein ärmliches Leben gewöhnt
  • ist und es ihm aus irgendeinem Grunde peinlich ist, im Hause des
  • Gutsbesitzers Wohnung zu nehmen, so sollen sie ihn zu einem wohlhabenden
  • Bauern, zu dem besten und tüchtigsten im ganzen Dorfe, führen, der sich
  • eines musterhaften Lebenswandels befleißigt und seinem Bruder mit einem
  • guten Rate zur Seite stehen kann; dieser soll seinen Gast ebenso
  • herzlich und freundlich nach seinen Verhältnissen ausfragen, ihm Mut
  • zusprechen, ihn ermuntern, ihm einen guten Rat und Zuspruch mit auf den
  • Weg geben, und dann dem Gutsherren über alles Bericht erstatten, damit
  • auch diese ihrerseits ein gutes Wort und einen guten Ratschlag
  • hinzufügen oder ihm Hilfe und Unterstützung schenken können, was und wie
  • sie es für angemessen halten, auf daß niemand ungetröstet davonfahre
  • oder das Gut ohne Zuspruch verlasse.
  • VII. Siebentens ordne ich an ... doch da fällt mir ein, daß ich hierüber
  • schon nicht mehr zu verfügen habe. Durch eine Unvorsichtigkeit bin ich
  • meines Eigentumsrechtes beraubt worden: mein Porträt ist gegen meinen
  • Willen und ohne Erlaubnis öffentlich verbreitet worden. Aus vielen
  • Gründen, die ich hier nicht näher anzugeben brauche, habe ich dies nicht
  • gewünscht; ich habe daher auch niemand durch Verkauf das Recht
  • abgetreten, eine öffentliche Ausgabe dieses Porträts zu veranstalten,
  • und sämtlichen Buchhändlern, die mit einem solchen Antrag an mich
  • herantraten, eine Absage erteilt; ich gedachte mir dies erst dann zu
  • gestatten, wenn es mir mit Gottes Hilfe gelingen sollte, jenes Werk zu
  • vollenden, das meine Gedanken während meines ganzen Lebens beschäftigt
  • hat, und zwar so zu vollenden, daß all meine Landsleute einstimmig
  • erklärten, ich hätte meine Aufgabe redlich gelöst, und den Wunsch
  • äußerten, die Züge des Menschen kennen zu lernen, der bis zu diesem
  • Augenblick in aller Stille gearbeitet und nie den Wunsch ausgesprochen
  • hätte, einen unverdienten Ruhm zu genießen. Dazu kam noch ein anderer
  • Umstand: mein Bild konnte in solch einem Falle sofort in einer großen
  • Anzahl von Exemplaren verbreitet werden und dem Künstler, der mein Bild
  • stechen würde, einen bedeutenden Gewinn eintragen. Dieser Künstler ist
  • bereits seit mehreren Jahren in Rom damit beschäftigt, einen Stich nach
  • dem unsterblichen Bilde Raffaels: _Die Verklärung Christi_ herzustellen.
  • Er hat dieser Arbeit alles geopfert -- einer aufreibenden Arbeit, zu der
  • er viele Jahre gebraucht und die seine Gesundheit aufgezehrt hat, und er
  • hat dies Werk, das nun seiner Vollendung entgegengeht, mit einer solchen
  • Vollkommenheit ausgeführt, wie dies bisher noch keinem Radierer gelungen
  • ist. Wegen der hohen Kosten und da es nur eine kleine Zahl von
  • Kunstkennern und Liebhabern gibt, kann sein Stich nicht in dem Maße
  • verbreitet werden, um ihn für alles zu entschädigen. Hätte er mein Bild
  • stechen können, so wäre ihm geholfen gewesen. Nun aber ist mein Plan
  • zerstört: ist das Bild einer Persönlichkeit einmal in der Öffentlichkeit
  • verbreitet, so wird es dadurch zum Eigentum eines jeden, der sich mit
  • der Herausgabe von Stichen und Steindrucken beschäftigt. Sollte es sich
  • jedoch so fügen, daß nach meinem Tode unveröffentlichte Briefe von mir
  • herausgegeben werden sollten, die der Gesellschaft von Nutzen sein
  • könnten (wenn auch nur durch das reine und aufrichtige Streben, Nutzen
  • zu stiften), und sollten meine Landsleute den Wunsch haben, mein Porträt
  • kennen zu lernen, so bitte ich alle Herausgeber solcher Bilder,
  • hochherzig auf ihre Rechte zu verzichten; dagegen bitte ich die Leser,
  • die sich aus einem übertriebenen Wohlwollen für alles, was Ruhm und
  • Ansehen genießt, ein Porträt von mit angeschafft haben, es sofort,
  • nachdem sie diese Zeilen gelesen haben, zu vernichten, um so mehr, da
  • diese Porträts schlecht und gar nicht ähnlich sind, und sich nur ein
  • solches Porträt zu kaufen, das die Unterschrift: _Gestochen von
  • Jordanow_ trägt. Dies wäre wenigstens eine gute Tat. Noch besser aber
  • wäre es, wenn die, die sich eines gewissen Wohlstandes erfreuen, sich
  • statt meines Bildes den Stich: _Die Verklärung Christi_ kaufen wollten,
  • einen Stich, der selbst nach dem Urteil von Ausländern die Krone der
  • Radiererkunst darstellt und Rußland zum höchsten Ruhme gereicht.
  • Mein Testament soll sofort nach meinem Tode in allen Zeitungen und
  • Journalen veröffentlicht werden, damit sich niemand aus Unkenntnis und
  • ohne es zu wollen, gegen mich vergehe und damit eine Schuld auf seine
  • Seele lade.
  • II
  • Die Frau in der vornehmen Welt
  • An Frau ***
  • Sie glauben, Sie können keinen Einfluß auf die Gesellschaft ausüben. Ich
  • bin der entgegengesetzten Ansicht. Der Einfluß der Frau kann sehr groß
  • sein, besonders heute, bei der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung oder
  • -unordnung, die einerseits durch eine matte erschlaffte
  • gesellschaftliche Bildung charakterisiert wird und in der sich
  • andererseits eine seelische Erkaltung und eine moralische Müdigkeit
  • bemerkbar macht, die dringend einer Erweckung und Belebung bedarf. Um
  • jedoch eine solche Neubelebung hervorzubringen, dazu bedürfen wir der
  • Hilfe der Frau. Dies ist eine Wahrheit, die die ganze Welt ganz
  • plötzlich wie eine dunkle Ahnung ergriffen hat. Jedermann scheint etwas
  • von der Frau zu erwarten. Lassen wir einmal alles andere beiseite, sehen
  • wir uns einmal in unserem russischen Vaterlande um und achten wir dabei
  • auf das, was wir so häufig bemerken können: auf die zahlreichen
  • Mißbräuche aller Art. Es stellt sich heraus, daß die Mehrzahl aller
  • Fälle von Bestechungen (Mißbräuchen im Dienst), sowie alle übrigen
  • Vergehen, deren man unsere Beamten und die Bürger aller Klassen
  • beschuldigt, entweder auf die Verschwendungssucht der Frauen, die danach
  • lechzen, in der großen und kleinen Welt zu glänzen und zu diesem Zweck
  • Geld von ihren Männern verlangen, oder aber auf die Hohlheit und die
  • Leere in ihrem häuslichen Leben zurückgeführt werden können, das
  • lediglich allerhand idealen Träumereien und nicht den wahren
  • eigentlichen Aufgaben und Pflichten gewidmet ist, die doch weit schöner
  • und erhabener sind als alle Träumereien. Die Männer würden sich auch
  • nicht den zehnten Teil der Mißbräuche zuschulden kommen lassen, die sie
  • jetzt verüben, wenn ihre Frauen auch nur im mindesten ihre Pflicht und
  • Schuldigkeit täten. Die Seele der Frau -- ist für den Mann ein
  • schützender Talisman, der ihn vor vielen moralischen Krankheiten und
  • Ansteckungen behütet; sie ist eine Kraft, die ihn auf dem geraden Wege
  • festhält, und eine Führerin, die ihn vom krummen Pfade auf den rechten
  • zurückleitet; umgekehrt aber kann die Seele der Frau auch der böse Geist
  • des Mannes sein und ihn für alle Ewigkeit zugrunde richten. Sie haben
  • das selbst gefühlt und einen so schönen Ausdruck dafür gefunden, wie ihn
  • bisher noch keine von weiblicher Hand geschriebene Zeile enthält. Jedoch
  • Sie sagen: alle andern Frauen könnten ein Feld für ihre Betätigung
  • finden, nur Sie allein nicht. Sie finden überall Arbeit für sich, sie
  • können Verkehrtes und Verfehltes verbessern und wieder einrenken oder
  • mit etwas Neuem und Notwendigem beginnen -- mit einem Wort, sie können
  • überall fördernd eingreifen, nur Sie selbst finden keine Tätigkeit für
  • sich und wiederholen immer wieder betrübt: »Warum bin ich nicht an ihrer
  • Stelle?« Wissen Sie, daß dies eine allgemeine Verblendung ist? Heute
  • will es jedem so erscheinen, als ob er viel Gutes stiften könnte, wenn
  • er an der Stelle eines anderen stünde oder _sein_ Amt bekleidete, und
  • als ob er es nur in _seiner_ eigenen Stellung nicht könnte. Das ist der
  • Grund allen Übels. Wir alle sollten jetzt darüber nachdenken, wie wir in
  • unsrer eigenen Lage und an der Stelle, wo wir stehen, Gutes wirken
  • können. Glauben Sie mir, Gott hat nicht vergebens einen jeden gerade an
  • die Stelle gestellt, an der er steht. Man muß sich nur ordentlich
  • umsehen. Sie sagen: warum bin ich nicht Mutter einer Familie; dann
  • könnten Sie Ihren Mutterpflichten nachkommen, von denen Sie sich jetzt
  • eine so klare und deutliche Vorstellung machen; oder Sie sagen: warum
  • liegt mein Gut nicht danieder; das würde Sie veranlassen, aufs Land zu
  • gehen, Gutsbesitzerin zu werden und sich mit der Landwirtschaft zu
  • beschäftigen; Sie klagen: warum ist mein Mann nicht in einem
  • gemeinnützigen Beruf tätig, der ihm schwere Pflichten auferlegt, dann
  • könnten Sie ihm behilflich sein, Sie könnten die treibende Kraft sein,
  • die ihn erfrischt und aufmuntert; warum gibt es keine anderen Aufgaben
  • und Pflichten für Sie, als die langweiligen sinnlosen Besuche in der
  • großen Welt und der hohlen seelenlosen vornehmen Gesellschaft, die Ihnen
  • jetzt einsamer und öder erscheint als eine menschenleere Wüste! Und
  • dennoch und trotz alledem ist diese Welt doch bevölkert, es gibt
  • Menschen in ihr und zwar ganz ebensolche wie überall sonst. Sie dulden
  • und quälen sich ebenso und leiden dieselbe Not, schreien stumm um Hilfe
  • und wissen, ach! nicht einmal, wie sie um Hilfe bitten sollen. Welchem
  • Bettler aber soll man zuerst helfen: dem, der noch auf die Straße
  • hinausgehen und betteln kann, oder dem, der nicht einmal die Kraft hat,
  • seine Hand auszustrecken? Sie sagen, Sie wissen nicht und können es sich
  • nicht einmal denken, womit Sie jemand in der vornehmen Welt von Nutzen
  • sein könnten; dazu müsse man über so viele verschiedene Mittel verfügen,
  • dazu müsse man eine so kluge und allseitig unterrichtete Frau sein, daß
  • Ihnen schon bei dem bloßen Gedanken an dies alles der Kopf ganz wirr
  • werde. Wie aber, wenn man dazu nur das zu sein brauchte, was Sie bereits
  • sind? Wie, wenn Sie die Mittel bereits besäßen, deren man gegenwärtig
  • gerade bedarf? Alles das, was Sie über sich selbst sagen, ist vollkommen
  • wahr: Sie sind wirklich noch zu jung, Sie besitzen weder
  • Menschenkenntnis noch Lebenserfahrung, mit einem Wort nichts von
  • alledem, dessen man bedarf, um anderen Menschen geistigen Beistand
  • leisten zu können, vielleicht werden Sie sich diese Dinge sogar niemals
  • aneignen, aber Sie besitzen andere Mittel, durch die Ihnen nichts
  • unmöglich ist. Erstens sind Sie schön, zweitens sind Sie im Besitz eines
  • unbefleckten, von keiner Schmähung und Verleumdung berührten Namens, und
  • drittens verfügen Sie über eine Kraft, über eine Macht, die Sie selbst
  • nicht in sich vermuten, -- über die Macht der Herzensreinheit. Die
  • Schönheit der Frau ist noch immer etwas Geheimnisvolles. Gott hat nicht
  • vergebens gewollt, daß gewisse Frauen schön sein sollen; es ist nicht
  • umsonst so eingerichtet, daß die Schönheit auf alle Menschen den
  • gleichen mächtigen Eindruck macht, sogar auf die, die gegen alles
  • gleichgültig und gefühllos und die zu nichts fähig sind. Wenn schon die
  • sinnlose Laune einer schönen Frau die Ursache welthistorischer
  • Revolutionen werden und die gescheitesten Menschen zu allerhand
  • Torheiten veranlassen konnte, wie stände es wohl dann, wenn diese Launen
  • vernünftig und auf das Gute gerichtet wären? Wieviel Gutes könnte wohl
  • dann eine schöne Frau im Vergleich mit anderen Frauen stiften! Dies ist
  • somit eine mächtige Waffe. Sie aber besitzen noch eine höhere Schönheit
  • -- den reinen Zauber einer besonderen, nur Ihnen allein eigenen
  • Unschuld, die ich nicht mit Worten beschreiben kann, aus der jedoch
  • jedem Menschen Ihr sanftes Taubengemüt entgegenleuchtet. Wissen Sie, daß
  • die verdorbensten unter unseren jungen Leuten mir gestanden haben, daß
  • ihnen in Ihrer Gegenwart nie ein häßlicher Gedanke eingefallen sei, daß
  • sie, wenn Sie zugegen sind, nie den Mut hätten, -- ein Wort zu sagen, --
  • nicht nur kein zweideutiges Wort, mit dem sie wohl andere Auserwählte
  • erfreuen, nein überhaupt kein Wort, da sie das Gefühl hätten, daß in
  • Ihrer Anwesenheit alles grob und plump erscheinen und unanständig und
  • burschikos klingen würde? Dies ist schon eine Wirkung, die ohne Ihr
  • Wissen von Ihrer bloßen Anwesenheit ausgeht! Wer sich in Ihrer Gegenwart
  • nicht einmal einen häßlichen Gedanken erlaubt, der schämt sich bereits
  • dieser Gedanken, und eine solche Selbsterkenntnis ist, auch wenn sie nur
  • einer momentanen Regung entspringt, bereits der erste Schritt des
  • Menschen zur Besserung. So ist denn auch dies eine mächtige Waffe. Zu
  • alledem aber haben Sie noch ein von Gott selbst in Ihre Seele gelegtes
  • Streben oder wie Sie es nennen: _einen Durst_ nach dem Guten. Glauben
  • Sie wirklich, daß Ihnen dieser Durst vergebens verliehen ward, dieser
  • Durst, der Ihnen keinen Augenblick Ruhe läßt? Kaum haben Sie einen
  • edlen, klugen Mann geheiratet, der alle Eigenschaften besitzt, um eine
  • Frau glücklich zu machen, da werden Sie, statt tief in Ihrem häuslichen
  • Glück aufzugehen, in ihm unterzutauchen, schon wieder von dem Gedanken
  • gequält, daß Sie dieses Glückes nicht würdig sind, daß Sie nicht das
  • Recht haben, sich ihm hinzugeben, es zu genießen, während Sie ringsum
  • von soviel Leiden umgeben sind und während jeden Augenblick die
  • Nachricht von allerhand Nöten und Unglücksfällen zu Ihnen dringt: von
  • Hungersnot, Feuersbrünsten, schwerem seelischem Leid und furchtbaren
  • geistigen Krankheiten, die unser heute lebendes Geschlecht ergriffen
  • haben. Glauben Sie mir, das geschieht nicht ohne Grund. Wer inmitten all
  • der lauten Zerstreuungen und Vergnügungen in seiner Seele eine solche
  • himmlische Unruhe und Sorge um die Menschen, ein solches engelhaftes
  • Mitgefühl und Mitleid mit ihnen verschließt, der kann viel, sehr viel
  • für sie tun; der hat stets ein Betätigungsfeld, denn es gibt überall
  • Menschen. Fliehen Sie daher die Welt nicht, in die Sie durch Ihre
  • Bestimmung hineingestellt worden sind; hadern Sie nicht mit der
  • Vorsehung. In Ihnen lebt etwas von jener unbekannten Kraft, deren die
  • Welt jetzt bedarf; schon aus Ihrer Stimme tönen einem jeden, infolge des
  • ständigen Dranges Ihrer Seele, den Menschen zu Hilfe zu eilen, Töne
  • entgegen, die einen verwandt berühren; wenn Sie zu sprechen beginnen,
  • und Ihr reiner Blick und dieses Lächeln, das niemals von Ihren Lippen
  • schwindet und nur Ihnen allein eigen ist, Ihre Rede begleitet, so will
  • es jedem so scheinen, wie wenn eine liebe Schwester aus dem Himmel zu
  • ihm spräche. Ihre Stimme hat etwas Mächtiges, Unüberwindliches
  • angenommen, Sie können befehlen und ein solcher Despot sein, wie keiner
  • von uns. So gebieten Sie denn, wortlos und stumm, durch Ihre bloße
  • Gegenwart; gebieten Sie gerade durch Ihre Schwäche und Kraftlosigkeit,
  • über die Sie so empört sind; gebieten Sie gerade durch jene weibliche
  • Schönheit, die die Frau unserer Zeit leider bereits verloren hat. Mit
  • Ihrer ängstlichen Unerfahrenheit werden Sie heute unendlich mehr
  • ausrichten, als eine kluge Frau, die in ihrem stolzen Selbstvertrauen
  • bereits alles kennen gelernt und ausgekostet hat. Ihre gescheitesten
  • Gedanken, mit denen sie die heutige Welt auf den rechten Weg
  • zurückführen wollte, würden in Form von boshaften Epigrammen auf ihr
  • Haupt zurückschnellen, dagegen wird sich bei keinem von uns ein Epigramm
  • auf die Lippen zu drängen wagen, wenn Sie jemand von uns stumm und mit
  • flehendem Blick auffordern würden, sich zu bessern. Warum haben Sie sich
  • durch die Erzählungen über die Laster und die Verdorbenheit der
  • vornehmen Welt so erschrecken lassen. Diese Laster sind tatsächlich
  • vorhanden, ja noch in weit höherem Maße, als Sie es glauben; aber Sie
  • sollten gar nichts davon wissen. Brauchen Sie sich denn vor den
  • traurigen Lockungen und Sünden der Welt zu fürchten? Stürzen Sie sich
  • nur ruhig mit demselben strahlenden Lächeln in sie hinein; treten Sie
  • ein, wie in ein Krankenhaus, das mit Kranken und Leidenden angefüllt
  • ist, aber nicht als Arzt, der strenge Vorschriften macht und bittre
  • Arzneien verordnet! Sie sollen sich gar nicht darum kümmern, von welchen
  • Krankheiten jeder einzelne befallen ist. Sie haben nicht die Fähigkeit,
  • Krankheiten zu diagnostizieren und zu heilen, und daher werde ich Ihnen
  • nicht dazu raten, wozu ich jeder andern Frau raten müßte, die dazu fähig
  • ist. Ihre Aufgabe besteht lediglich darin, den Leidenden durch Ihr
  • Lächeln und durch Ihre Stimme zu erfreuen, aus der die Seele einer
  • Schwester zu uns Menschen zu sprechen scheint, einer Schwester, die vom
  • Himmel zu uns herabgestiegen ist -- nichts mehr. Verweilen Sie nicht zu
  • lange bei jedem Einzelnen und eilen Sie schnell zu dem Nächsten weiter,
  • denn man bedarf Ihrer überall. Ach! An allen Enden der Welt harrt und
  • wartet man ungeduldig auf dieses Eine, auf diese lieben verwandten
  • Laute, diese einzige Stimme, die Sie schon besitzen. Sprechen Sie nie
  • mit Weltleuten über Dinge, über die sich diese Leute zu unterhalten
  • pflegen; zwingen Sie sie, darüber zu sprechen, worüber Sie sprechen.
  • Gott bewahre Sie vor jeglicher Pedanterie und vor allen jenen Reden, die
  • den Lippen einer üppigen Weltdame entströmen. Führen Sie jenen
  • schlichten treuherzigen Plauderton in die Gesellschaft ein, jenen Ton,
  • in dem Sie so beredt zu erzählen wissen, wenn Sie sich im Kreise von
  • nahestehenden Menschen und Hausgenossen befinden, wenn jedes schlichte
  • Wort, das Sie sagen, gleichsam aufstrahlt und Licht um sich her
  • verbreitet und es der Seele eines jeden, der Ihnen zuhört, so erscheint,
  • als rede er mit den Engeln süße Worte über einen himmlischen
  • Kindheitsstand der Menschheit. Solche Gespräche und Reden sollten Sie in
  • die Gesellschaft einführen.
  • 1846.
  • III
  • Die Bestimmung der Krankheiten
  • Aus einem Brief an den Grafen A. P. T.
  • Meine Kräfte lassen von Augenblick zu Augenblick nach, aber nicht mein
  • Geist. Noch nie fühlte ich mich durch die körperlichen Gebrechen so
  • entkräftet. Oft leide ich so sehr, so furchtbar, fühle ich eine so
  • schreckliche Müdigkeit im ganzen Körper, daß ich mich Gott weiß wie sehr
  • freue, wenn der Tag endlich zu Ende geht und wenn man endlich zu Bett
  • gehen kann. Oft rufe ich von geistiger Ohnmacht übermannt aus: Mein
  • Gott, wo ist denn endlich das Ufer, wann kommt das Ende von alledem!
  • Wenn man dann aber Einkehr in sich selbst hält und tiefer in sein
  • Inneres hineinschaut, dann entströmen der Seele nur noch Tränen und
  • Worte des Dankes. O wie sehr bedürfen wir der Leiden! Von dem vielen
  • Guten und Nützlichen, das ich aus ihnen gezogen habe, will ich nur auf
  • eines hinweisen! Ich mag heute sein, wie ich will, ich bin doch besser
  • geworden, als ich früher war; wenn diese Krankheiten und Leiden nicht
  • gewesen wären, so hätte ich gewiß geglaubt, daß ich schon ganz so sei,
  • wie ich sein sollte. Dabei will ich gar nicht einmal davon reden, daß
  • die Gesundheit, die uns Russen immer dazu reizt, über den Strang zu
  • schlagen, und den Wunsch in uns rege hält, unsere Vorzüge vor anderen
  • Leuten zur Schau zu stellen, mich dazu veranlaßt hätte, tausend
  • Torheiten zu begehen. Dazu besuchen mich jetzt in Augenblicken geistiger
  • Frische, die mir die Güte des Himmels schenkt, und während der
  • schlimmsten Qualen zuweilen unendlich viel schönere und bessere
  • Gedanken, als ich sie früher je gehabt habe, und ich sehe es selbst, daß
  • jedes Werk meiner Feder heute weit wertvoller und bedeutsamer sein wird,
  • als alles Frühere. Hätten mich diese schweren und qualvollen Leiden
  • nicht heimgesucht, wie hochmütig wäre ich da wohl geworden, für einen
  • wie bedeutenden Menschen hätte ich mich gehalten! Wenn ich jedoch jeden
  • Augenblick fühle, daß mein Leben an einem Haar hängt, daß meine
  • Krankheit plötzlich meinem Werk, auf dem meine ganze Bedeutung beruht,
  • ein Ende bereiten könne, daß der ganze Nutzen, den meine Seele so innig
  • zu bringen wünscht, nur ein ohnmächtiger Wunsch bleiben und nie
  • Erfüllung werden wird, daß ich nie mit den Talenten, die mir Gott
  • verliehen hat, wuchern, und daß ich verdammt werden würde, wie der
  • schlimmste Verbrecher -- wenn ich dies alles fühle und erkenne, so füge
  • ich mich stets in Demut und finde keine Worte, wie ich der göttlichen
  • Vorsehung für meine Krankheit danken soll. Daher sollten auch Sie jedes
  • Leiden mit Ergebung hinnehmen, in dem Glauben, daß es notwendig ist.
  • Bitten Sie Gott nur um eins: daß Ihnen die wunderbare Bestimmung dieses
  • Leidens und die ganze Tiefe seiner großen Bedeutung aufgehe.
  • 1846.
  • IV
  • Etwas über die Bedeutung des Wortes
  • Als Puschkin einmal folgende Verse aus der Ode Derschawins an
  • Chrapowizky las:
  • »Mag der Satiriker die Worte schmähn,
  • Wenn er nur meinen Taten Achtung zollt«,
  • sagte er: »Derschawin hat nicht ganz recht, die Worte des Dichters sind
  • bereits seine Taten.« Puschkin hat recht. Der Poet soll im Reiche des
  • Worts ebenso einwandfrei und makellos dastehen, wie jeder andere Mensch
  • in seinem Kreise. Wenn sich ein Schriftsteller entschuldigen und
  • bestimmte Umstände für die Unaufrichtigkeit, Unüberlegtheit oder
  • Übereiltheit seiner Worte verantwortlich machen wollte, dann kann auch
  • jeder ungerechte Richter eine Entschuldigung dafür finden, daß er sich
  • bestechen läßt und mit Recht und Gerechtigkeit Handel getrieben hat,
  • indem er die Schuld auf seine beschränkten Verhältnisse, auf seine Frau,
  • oder auf Krankheiten in seiner Familie abwälzt. Finden sich doch immer
  • genug Gründe, die man anführen kann! Ein Mensch gerät plötzlich in
  • schwierige Verhältnisse. Es geht die Nachkommen doch nichts an, wer
  • schuld daran war, daß der Schriftsteller eine Dummheit, etwas Törichtes
  • und Albernes gesagt hat und daß er seinen Gedanken in unüberlegter und
  • unreifer Weise Ausdruck gegeben hat. Sie werden nicht danach fragen, wer
  • seine Hand geführt hat: ein kurzsichtiger Freund, der ihn zu verfrühtem
  • Handeln aufforderte, oder ein Journalist, der nur um den Erfolg seiner
  • Zeitschrift besorgt war. Die Nachwelt wird weder auf Koterien noch auf
  • Journalisten, ja nicht einmal auf seine Armut und seine schwierige Lage
  • Rücksicht nehmen. Ihr Tadel wird sich gegen ihn und nicht gegen sie
  • richten. Warum konntest du dem allem nicht widerstehen? Du hattest doch
  • ein Gefühl für die Ehre deines Standes, du selbst hast ihn doch allen
  • andern, ja den aussichtsreichsten und vorteilhaftesten Ämtern und
  • Berufen vorgezogen und hast dies nicht etwa aus einer Laune, sondern nur
  • darum getan, weil du dich von Gott dazu berufen fühltest. Zu alledem
  • ward dir noch ein Verstand geschenkt, der weiter und tiefer blickte,
  • einen größeren Umkreis von Dingen umspannte, als die, die dich
  • anspornten und vorwärts stießen! Warum also bliebst du ein Kind und
  • wardst nicht ein Mann, wo dir doch alles zuteil geworden war, was dazu
  • gehört, ein Mann zu sein? Kurz, ein gewöhnlicher Schriftsteller könnte
  • sich vielleicht noch mit den Umständen entschuldigen, nicht aber ein
  • Derschawin. Er hat sich selbst viel dadurch geschadet, daß er nicht
  • wenigstens die größere Hälfte seiner Oden verbrannt hat. Diese Hälfte
  • seiner Oden ist höchst merkwürdig und wunderbar: noch nie hat ein Mensch
  • so über sich selbst und über das Heiligtum seiner Überzeugungen und
  • Gefühle gespottet, wie dies Derschawin in dieser unseligen Hälfte seiner
  • Oden getan hat. Wie wenn er sich bemüht hätte, eine Karikatur seiner
  • eigenen Person zu zeichnen: alles, was bei ihm an vielen andern Stellen
  • schön und frei klingt, so durchwärmt ist von der inneren Kraft eines
  • geistigen Feuers, erscheint hier kalt, seelenlos und gezwungen; und was
  • das schlimmste ist, -- all jene Wendungen, jene Ausdrücke, ja ganze
  • Sätze (jene königliche Adlergeste seiner begeisterten beseelten Oden)
  • finden sich hier wieder, aber sie wirken hier bloß komisch und erzeugen
  • einen Eindruck, wie wenn ein Zwerg den Panzer eines Riesen angelegt und
  • ihn überdies noch verkehrt angezogen hätte. Wieviel Menschen urteilen
  • heute über Derschawin lediglich nach seinen banalen Oden! Wie viele
  • zweifeln an der Aufrichtigkeit seiner Gefühle, bloß weil sie den
  • Eindruck haben, daß diese Gefühle an vielen Stellen schwächlich und
  • seelenlos ausgedrückt sind! Was für zweideutige Gerüchte sind über
  • seinen Charakter, die Vornehmheit seines Wesens und über die
  • Unbestechlichkeit der richterlichen Gewalt entstanden, für die er
  • eintrat! Und dies bloß darum, weil er das nicht verbrannt hat, was er
  • dem Feuer hätte übergeben sollen. Unser Freund P*** hat folgende
  • Gewohnheit: sobald er ein paar Zeilen von einem bekannten Schriftsteller
  • entdeckt, veröffentlicht er sie sofort in einer Zeitschrift, ohne es
  • sich gründlich zu überlegen, ob sie dem Autor zur Ehre oder zur Unehre
  • gereichen. Und er besiegelt sein ganzes Werk mit der bekannten Ausrede
  • der Journalisten: »Wir hoffen, die Leser und die Nachwelt werden uns
  • dankbar sein für die Mitteilung dieser wertvollen Zeilen; alles, was von
  • einem großen Mann herrührt, hat Anspruch auf unser Interesse« und
  • dergleichen mehr. Das alles sind Torheiten. Irgendein unbedeutender
  • Leser wird es ihm vielleicht danken, aber die Nachwelt wird diese
  • kostbaren Zeilen gar nicht beachten, wenn sie nur eine seelenlose
  • Wiederholung dessen sind, was bereits bekannt ist, und wenn sie uns
  • nicht einen Hauch von der Heiligkeit dessen fühlen lassen, was wirklich
  • heilig sein soll. Je erhabener eine Wahrheit ist, um so vorsichtiger muß
  • man mit ihr umgehen; sonst verwandelt sie sich in einen Gemeinplatz und
  • Phrasen schenkt man keinen Glauben. Die Atheisten haben bei weitem nicht
  • soviel Unheil angerichtet, wie die Heuchler oder _die_ Propheten Gottes,
  • die noch nicht genügend für ihr Amt vorbereitet waren und sich
  • erdreisteten, Seinen Namen mit ungeweihten Lippen zu verkünden. Man muß
  • redlich mit dem Worte umgehen: es ist die höchste Gabe, die Gott den
  • Menschen verliehen hat. Wehe dem Schriftsteller, der in einem Augenblick
  • ein Wort spricht, wo er unter dem Einfluß leidenschaftlicher
  • Verirrungen, des Ärgers, des Zornes oder einer persönlichen Abneigung
  • steht, kurz, zu einer Zeit, wo seine Seele noch nicht zu voller Harmonie
  • gelangt ist: dann werden ihm Worte entfliehen, die allen Widerwillen und
  • Ekel einflößen, und in solchen Fällen kann man selbst beim reinsten
  • Streben nach dem Guten Unheil anrichten. Unser obenerwähnter Freund P***
  • kann als Beweis dafür dienen: er war sein ganzes Leben lang eifrig darum
  • bemüht, _seinen Lesern sofort alles mitzuteilen_, sie von allem in
  • Kenntnis zu setzen, was er soeben gelernt hatte, ohne zu überlegen, ob
  • ein Gedanke in seinem eigenen Kopfe auch genügend ausgereift war, um
  • auch allen andern vertraut und verständlich zu sein, mit einem Wort --
  • er stellte sich vor den Lesern in seiner ganzen Unklarheit und
  • Verworrenheit zur Schau. Und wie? Haben die Leser etwa das edle und
  • schöne Streben bemerkt, das bei ihm so oft durchleuchtete? Haben sie von
  • ihm angenommen, was er ihnen mitteilen wollte? Nein, sie haben nichts an
  • ihm entdeckt als seine innere Zuchtlosigkeit und Unreinlichkeit, die der
  • Mensch zuallererst bemerkt, und haben nichts von ihm angenommen. Dreißig
  • Jahre lang hat dieser Mensch gearbeitet und gestrebt wie eine Ameise,
  • sein ganzes Leben hindurch war er bemüht, alles eiligst an den Mann zu
  • bringen, was sich ihm an Gegenständen darbot, die zur Bildung und
  • Aufklärung Rußlands beitragen konnten, und kein Mensch hat ihm dafür
  • gedankt; ich bin noch nie einem dankbaren Jüngling begegnet, der erklärt
  • hätte, er schulde ihm Anerkennung für ein neues Licht, das er ihm
  • aufgesteckt, oder für das edle Streben nach dem Guten, das sein Wort ihm
  • eingepflanzt habe. Im Gegenteil, ich mußte ihn oft verteidigen und für
  • die Reinheit seiner Absichten und für die Aufrichtigkeit seiner Worte
  • gegenüber solchen Leuten eintreten, die ihn doch wohl hätten verstehen
  • können. Ja, es wurde mir sogar schwer, jemand zu überzeugen, weil er es
  • verstanden hat, sich so vor allen zu vermummen, daß es völlig unmöglich
  • ist, ihn den Leuten in seiner wahren Gestalt vorzuführen. [Wenn er vom
  • Patriotismus spricht, dann spricht er so über ihn, daß es den Anschein
  • hat, als ob sein Patriotismus ein bezahlter Patriotismus sei; spricht er
  • von der Liebe zum Zaren, einem Gefühl, das er warm und aufrichtig und
  • wie ein Heiligtum in seiner Seele hegt, so äußert er sich so, daß man
  • nichts wie Kriecherei und habsüchtige Liebedienerei herauszuhören meint.
  • Seiner aufrichtigen ungekünstelten Empörung über jede Bestrebung, die
  • Rußland schaden kann, leiht er einen Ausdruck, wie wenn er bestimmte
  • Leute, die er allein kennt, denunzieren wollte. Mit einem Wort, auf
  • Schritt und Tritt verleumdet er sich selbst.] Es ist eine große Gefahr
  • für einen Schriftsteller, mit dem Wort Spott zu treiben: »Ein faules
  • Wort gehe nie aus eurem Munde.« Wenn sich dies ohne Ausnahme auf jeden
  • von uns bezieht, um wieviel mehr muß es für die gelten, deren Reich --
  • das Wort ist und deren Bestimmung es ist, von allem Schönen und Hohen zu
  • reden. Wehe, wenn mit faulen Worten von heiligen und erhabenen Dingen
  • geredet wird; dann ist es schon besser, man redet mit faulen Worten von
  • faulen Dingen. Alle großen Erzieher der Menschheit haben _denen_, die
  • die Gabe des Wortes besaßen, in erster Linie ein langes Schweigen
  • auferlegt und zwar gerade dann und in solchen Augenblicken, wo sich in
  • ihnen der Wunsch am stärksten regte, mit Worten zu prunken, und wenn
  • ihre Seele den Drang fühlte, den Menschen viel Gutes und Nützliches zu
  • sagen; sie fühlten, wie leicht man schänden kann, was man erhöhen will,
  • und wie unsere Zunge auf Schritt und Tritt zur Verräterin wird. »Leg'
  • Tür und Riegel deinem Munde auf«, sagt Jesus Sirach: »Du verzäunest
  • deine Güter mit Dornen; warum machst du nicht vielmehr deinem Munde Tür
  • und Riegel? Du wägest dein Gold und Silber ein; warum wägest du nicht
  • auch deine Worte auf der Goldwage?«
  • 1844.
  • V
  • Über den öffentlichen Vortrag russischer Dichtungen
  • An L**
  • Ich freue mich, daß man bei uns endlich mit dem öffentlichen Vortrag der
  • Dichtungen unserer russischen Schriftsteller begonnen hat. Man hat nur
  • schon aus Moskau einiges hierüber geschrieben, dort soll man
  • verschiedene Werke der modernen Literatur, darunter auch einige Stücke
  • aus meinen Erzählungen, vorgetragen haben. Ich war immer der Ansicht,
  • daß solche öffentlichen Vorlesungen eine Notwendigkeit für uns sind. Wie
  • es scheint, neigen wir mehr zu gemeinsamem Tun, selbst beim Lesen; wenn
  • wir allein sind, sind wir alle träge, und solange wir sehen, daß sich
  • die andern nicht regen, regen auch wir uns nicht. Ich glaube, wir werden
  • tüchtige Rezitatoren hervorbringen: bei uns gibt es nur wenig Schwätzer,
  • die über die Macht der Rede verfügen und die sich in den Gerichtssälen
  • und Parlamenten hervortun könnten, aber wir besitzen viele Leute, die
  • die Fähigkeit haben, mit jedem andern zu _fühlen_. Eine Empfindung
  • mitzuteilen, sie mit andern zu teilen, das wird bei manchen geradezu
  • eine Leidenschaft, die um so stärker wird, je mehr sie merken, daß sie
  • sich nicht in Worten auszudrücken vermögen (ein Zeichen ist eine
  • ästhetische Natur). Auch unsere Sprache begünstigt die Ausbildung von
  • Rezitatoren; sie ist wie geschaffen für den kunstvollen Vortrag, da sie
  • über alle Klangnuancen verfügt und die kühnsten Übergänge vom Erhabenen
  • zum Einfachen in ein und derselben Rede ermöglicht. Ich glaube sogar,
  • daß die öffentlichen Vorlesungen bei uns mit der Zeit das Schauspiel
  • ersetzen werden. Ich wünschte freilich, daß für diese Vorlesungen, wie
  • sie heute veranstaltet werden, Werke ausgewählt würden, die es wirklich
  • verdienen, öffentlich vorgetragen zu werden, so daß es auch den
  • Rezitator nicht zu gereuen brauchte, Mühe und Arbeit auf die
  • Vorbereitung zu verwenden. In unserer modernen Literatur aber gibt es
  • nichts Derartiges, und es ist ja auch gar nicht nötig, daß durchaus
  • etwas Modernes vorgetragen wird; das Publikum liest es ja doch ohnedies
  • wegen seiner großen Vorliebe für alles Neue. Alle diese neuen
  • Erzählungen (darunter auch meine eigenen) sind gar nicht bedeutend
  • genug, als daß man sie öffentlich vortragen sollte. Wir sollten uns an
  • unsere Poeten halten, an jene hohen Dichtwerke, die in ihrem Kopfe in
  • langem Nachdenken und langer Arbeit ausreiften und an denen auch der
  • Rezitator lange arbeiten sollte. Unsere Dichter sind heute im Publikum
  • so gut wie unbekannt. Man hat in den Zeitschriften viel über sie
  • geredet, sie ausführlich und unter Aufwand vieler Worte analysiert, aber
  • diese Analysen waren eigentlich mehr eine Selbstcharakteristik der
  • Verfasser als eine solche der Dichter. Die Zeitschriften haben damit nur
  • das erreicht, daß sie die Begriffe, die unser Publikum von seinen
  • Dichtern hatte, noch mehr verwirrt und durcheinandergebracht haben, so
  • daß die Persönlichkeit jedes Dichters für unser Publikum zweideutig und
  • widerspruchsvoll geworden ist und daß sich niemand mehr ein klares Bild
  • davon macht, was eigentlich das wahre Wesen eines jeden Dichters ist.
  • Nur ein kunstvoller Vortrag kann einen klaren Begriff von einem Dichter
  • vermitteln. Aber natürlich sollte der Vortrag nur von einem Redner
  • übernommen werden, der jede kleinste, verschwindende Nuance des Werks,
  • das er vorliest, wiederzugeben vermag. Dazu braucht man kein feuriger
  • Jüngling zu sein, der in der Siedehitze der Begeisterung und in einem
  • Zug an einem und demselben Abend eine Tragödie, eine Komödie, eine Ode
  • und wer weiß was sonst noch herunterzulesen imstande ist. Ein lyrisches
  • Gedicht wie es sich gehört vorzutragen -- das ist durchaus keine
  • Kleinigkeit: dazu muß man es erst lange durcharbeiten. Man muß das hohe
  • Gefühl, das die Seele des Dichters erfüllte, aufrichtig mit ihm teilen;
  • man muß jedes seiner Worte mit Herz und Seele nachempfinden und erst
  • dann zum öffentlichen Vortrag schreiten. Solch ein Vortrag wird
  • keineswegs laut und lärmend und nicht aus der Fieberglut geboren sein.
  • Im Gegenteil, er kann sehr ruhig sein, aber die Stimme des Vortragenden
  • wird eine unbegreifliche, nie geahnte Kraft ausströmen, die ein Zeugnis
  • für seine echte innere Rührung ist. Diese Kraft wird sich allen
  • mitteilen und Wunder wirken: auch die, die nie von den Lauten der Poesie
  • ergriffen wurden, werden erschüttert werden. Der Vortrag unserer
  • Dichtwerke kann der Öffentlichkeit sehr zum Nutzen gereichen. In unseren
  • Dichtern gibt es viel Schönes, das nicht bloß gänzlich vergessen,
  • sondern auch verunehrt, schlecht gemacht und dem Publikum in einem
  • gemeinen niedrigen Sinne ausgelegt worden ist, an den unsere
  • hochherzigen Dichter nicht im entferntesten gedacht haben. Ich weiß
  • nicht, von wem der Gedanke stammt, den Ertrag der öffentlichen
  • Vorlesungen den Armen zuzuwenden: dieser Gedanke ist jedenfalls sehr
  • schön. Er kommt besonders heute gerade zur rechten Zeit, wo es in
  • Rußland so viele Menschen gibt, die unter Hungersnot, Feuersbrünsten,
  • Krankheiten und allerhand Mißgeschick zu leiden haben. Wie würden sich
  • die Geister der Dichter, die nicht mehr unter uns weilen, freuen, wenn
  • ein solcher Gebrauch von ihren Werken gemacht würde!
  • 1843.
  • VI
  • Wie man den Armen helfen soll
  • Aus einem Briefe an A. O. Sm--rn--wa.
  • Ich komme nun zu Ihren Ausfällen gegen die Torheit der (Petersburger)
  • Jugend, die auf die Idee verfallen ist, ausländischen Sängern und
  • Schauspielerinnen goldene Kränze und Becher zu verehren, während in
  • Rußland ganze Provinzen von der Hungersnot heimgesucht werden. Das ist
  • weder Dummheit noch eine Verhärtung des Herzens, das ist nicht einmal
  • Leichtsinn -- es ist eine Folge der menschlichen Gleichgültigkeit, die
  • ein gemeinsamer Charakterzug von uns allen ist. Die Leiden und
  • Schrecknisse, die eine Hungersnot mit sich bringt, spielen sich ja in
  • einer großen Entfernung von uns ab, das geschieht tief im Innern der
  • Provinz, und nicht vor unseren Augen -- da liegt des Rätsels Lösung, und
  • das erklärt alles! Ein Mensch, der bereit ist, hundert Rubel für einen
  • Parkettplatz im Theater zu bezahlen, um sich am Gesang eines Rubini zu
  • erfreuen, würde sicherlich sein ganzes Hab und Gut verkaufen, wenn er
  • zufällig Augenzeuge eines einzigen von jenen furchtbaren Bildern der
  • Hungersnot sein müßte, vor denen alle Greuel und Schrecken, wie sie in
  • Melodramen dargestellt werden, verblassen. Mit der Veranstaltung von
  • Sammlungen hat es bei uns keine Schwierigkeit, wir sind alle bereit, zu
  • geben. Aber gerade für die Armen ist man heute bei uns nicht allzugern
  • bereit, etwas zu geben, teils, weil nicht jeder davon überzeugt ist, daß
  • seine Gabe auch an ihr Ziel und in die Hände dessen gelangen wird, der
  • sie erhalten soll. Meist gleicht die Hilfe einer Flüssigkeit, die man in
  • der hohlen Hand trägt, und die unterwegs zerrinnt, ehe sie an ihren
  • Bestimmungsort gelangt -- und der Notleidende bekommt nichts zu sehen,
  • als die trockene Hand, in der nichts enthalten ist. Das ist's, was
  • zuerst überlegt sein will, ehe man mit der Sammlung von Gaben beginnt.
  • Hierüber wollen wir später miteinander reden, weil das durchaus keine
  • unwichtige Sache ist, die es wohl wert ist, daß man sie in verständiger
  • Weise bespricht. Nun aber wollen wir einmal gemeinsam überlegen, wo
  • zuerst und vor allem geholfen werden muß. Man sollte in erster Linie
  • solchen Leuten helfen, die von einem plötzlichen unerwarteten
  • Unglücksfall betroffen wurden, durch den sie mit einem Schlage und in
  • einem Augenblick um alles gekommen sind: es kann sich dabei um eine
  • Feuersbrunst handeln, bei der das ganze Hab und Gut bis auf den Grund
  • abgebrannt ist, oder um eine Seuche, der das ganze Vieh zum Opfer
  • gefallen ist, oder um einen Todesfall, der einen Unglücklichen seiner
  • einzigen Stütze beraubt hat -- mit einem Wort um jeden plötzlichen
  • Verlust, in dessen Gefolge die Armut mit einem Male über einen Menschen
  • hereinbricht, der gar nicht an sie gewöhnt ist. Da ist Ihre Hilfe am
  • Platze. Dabei aber ist es nötig, daß diese Hilfe auch in wahrhaft
  • christlicher Weise dargebracht werde: wenn sie bloß in einer
  • Geldunterstützung besteht, dann hat sie gar keinen Wert und kann nichts
  • Gutes wirken. Wenn Sie nicht zuvor selbst gründlich über die ganze Lage
  • des Menschen nachgedacht haben, dem Sie helfen wollen, und keinen Rat
  • und keine Unterweisung für ihn mitbringen, wie er von nun an sein Leben
  • einrichten soll, so wird ihm nicht viel Vorteil aus Ihrer Hilfe
  • erwachsen. Der Wert der Unterstützung, die einem Menschen erwiesen wird,
  • kommt selten dem Wert des verlorenen Gutes gleich; im allgemeinen
  • beträgt sie selten soviel wie die Hälfte dessen, was der Mensch verloren
  • hat, oft dagegen nur ein Viertel und zuweilen sogar noch weniger. Der
  • Russe ist überall zum äußersten fähig: wenn er erkennt, daß er mit dem
  • wenigen Gelde, das er erhalten hat, nicht mehr das gleiche Leben führen
  • kann, wie früher, ist er imstande, in seiner Verzweiflung alles auf
  • einmal durchzubringen, was ihm gegeben wird, um ihm für längere Zeit
  • einen Lebensunterhalt zu gewähren. Daher müssen Sie ihn belehren, wie er
  • sich mit dem, was ihm durch Ihre Unterstützung zuteil wurde, aus seiner
  • Lage heraushelfen kann; klären Sie ihn über die wahre Bedeutung des
  • Unglücks auf, damit er einsieht, daß es ihm gesandt ward, auf daß er
  • sein früheres Leben aufgebe und ein anderer werde, wie früher, gleichsam
  • ein neuer Mensch in physischer wie in moralischer Beziehung. Sie werden
  • ihm dies schon in kluger Weise darzulegen wissen, wenn Sie nur seinen
  • Charakter und seine Lebensverhältnisse näher kennen lernen werden. Und
  • er wird Sie verstehen: das Unglück macht den Menschen weicher; sein
  • Wesen wird feiner, zartfühlender, er bekommt mehr Verständnis für Dinge,
  • die die Begriffe eines Menschen übersteigen, der in alltäglichen
  • gewöhnlichen Verhältnissen lebt; er verwandelt sich dann gleichsam in
  • ein Stück warmen Wachses, das man kneten kann, wie man will. Am besten
  • wäre es jedoch, wenn die Hilfe in allen Fällen durch die Vermittlung
  • eines erfahrenen und klugen Priesters dargebracht würde. Nur ein
  • Priester ist imstande, den Menschen über den tiefen heiligen Sinn eines
  • Unglücks aufzuklären, das, in welcher Gestalt und Form es auch immer auf
  • dieser Erdenwelt über einen Menschen hereinbricht, ob er nun in einer
  • ärmlichen Hütte oder in prunkvollen Gemächern wohnt, stets eine Stimme
  • aus dem Himmel ist, die den Menschen auffordert, sein früheres Leben
  • aufzugeben und von Grund aus zu ändern.
  • 1844.
  • VII
  • Über Schukowskis Übersetzung der Odyssee
  • An W. M. Jasykow.
  • Das Erscheinen der Odyssee wird eine Epoche heraufführen. Die Odyssee
  • ist sicherlich die vollkommenste Dichtung aller Zeiten. Sie ist ein Werk
  • von gewaltigem Umfang. Die Ilias ist ihr gegenüber nur eine Episode. Die
  • Odyssee umfaßt die gesamte antike Welt, das öffentliche und das
  • häusliche Leben, alle Sphären der Menschen jener Zeit mit ihren
  • Beschäftigungen, ihrem Wissen und Glauben ... kurz, es ist beinahe
  • schwer zu sagen, was die Odyssee nicht enthält oder was von ihr
  • übergangen wäre. Während mehrerer Jahrhunderte ist sie den Dichtern der
  • Antike und hierauf allen Dichtern überhaupt eine nie versiegende Quelle
  • gewesen. Ihr entnahmen sie den Stoff für eine unzählige Menge von
  • Tragödien und Komödien; und dies alles machte die Runde durch die Welt
  • und wurde zum Gemeingut aller, während die Odyssee selbst vergessen
  • wurde. Das Schicksal der Odyssee hat etwas Seltsames an sich: sie wurde
  • in Europa nicht in ihrem wahren Werte erkannt. Daran ist teils der
  • Umstand schuld, daß es an einer Übersetzung fehlte, die eine
  • künstlerische Nachbildung des herrlichsten Werkes der Antike darstellte,
  • teils der Mangel einer Sprache, die reich und vollkommen genug war, um
  • all die unendlichen kaum faßbaren Schönheiten der hellenischen Zunge im
  • allgemeinen und Homers im besonderen widerzuspiegeln; und endlich fehlte
  • es auch an einem Volk, das mit einem so reinen jungfräulich unberührten
  • Geschmack begabt gewesen wäre, wie er erforderlich ist, um einen Homer
  • innerlich zu verstehen und nachzuempfinden.
  • Gegenwärtig wird diese größte Dichtung in die reichste und vollkommenste
  • aller europäischen Sprachen übersetzt.
  • Schukowskis gesamte literarische Tätigkeit war gleichsam nur die
  • Vorbereitung zu diesem Werk. Er mußte seine Verskunst an Übersetzungen
  • von Dichtwerken aller Nationen und Sprachen schulen und ausbilden, um
  • fähig zu werden, Homers unvergängliche Verse nachzubilden -- sein Ohr
  • mußte der Leier aller Völker lauschen, um so feinhörig zu werden, daß
  • ihm der Eigenton der hellenischen Laute nicht entgehen konnte; er mußte
  • auch von dem glühenden Wunsche durchdrungen werden, alle seine
  • Landsleute zu ästhetischem Nutz und Frommen ihrer Seele, zu solcher
  • Liebe zu Homer zu zwingen, es mußte sich im Innern des Übersetzers
  • selbst vieles ereignen, was seine Seele zu höherer Harmonie stimmte und
  • ihr jene hohe Ruhe mitteilte, die dazu erforderlich ist, um ein Werk
  • nachzudichten, das einer solchen ebenmäßigen Harmonie und Ruhe
  • entsprungen ist, er mußte endlich auch noch in tieferem Sinn zum
  • Christen werden, um sich jene weitblickende vertiefte Lebensanschauung
  • anzueignen, wie sie nur ein Christ haben kann, der bereits begriffen
  • hat, was der Sinn des Lebens ist. So viele Voraussetzungen mußten
  • erfüllt werden, damit die Übersetzung der Odyssee nicht zu einer
  • sklavischen Nachbildung werden, sondern damit uns aus ihr das _lebendige
  • Wort_ entgegenklingen und ganz Rußland Homer als etwas Verwandtes und
  • Vertrautes aufnehmen konnte.
  • Dafür ist auch etwas wahrhaft Wunderbares zustande gekommen. Das ist
  • keine Übersetzung, sondern eher eine Neuschöpfung, eine Restauration,
  • eine Auferstehung Homers. Die Übersetzung scheint uns noch tiefer in das
  • Leben der Alten einzuführen, als selbst das Original. Der Übersetzer ist
  • gleichsam ganz unmerklich zum Kommentator Homers geworden, er hat sich
  • gewissermaßen wie ein die Dinge verdeutlichendes Sehrohr vor den Leser
  • gestellt, das alle unendlichen Schätze Homers noch klarer und bestimmter
  • hervortreten läßt.
  • Meiner Überzeugung nach haben sich heute die Verhältnisse wie mit
  • Absicht so gestaltet, daß das Erscheinen der Odyssee in unserer Zeit
  • geradezu zur Notwendigkeit werden mußte: in der Literatur wie überall
  • sonst -- macht sich eine gewisse Kühle, ein Nachlassen des Interesses
  • bemerkbar. Eine Müdigkeit hat die Menschen ergriffen, man begeistert
  • sich nicht mehr und man ist nicht mehr enttäuscht. Selbst die
  • krampfhaften und krankhaften Produkte unseres Zeitalters, mit ihrem
  • Einschlag aller möglichen unverdauten Ideen, wie sie uns als Folge
  • politischer und anderer Gärungen angeflogen sind, sind sehr im
  • Niedergang begriffen, nur die ewig nachhinkenden Leser, die daran
  • gewöhnt sind, sich an die Schleppe der führenden Journalisten zu hängen,
  • lesen noch hin und wieder etwas Derartiges, ohne in ihrer Einfalt zu
  • bemerken, daß die vorangehenden Leithämmel schon längst sinnend und
  • nachdenklich stehen geblieben sind, da sie selbst nicht wissen, wohin
  • sie ihre umherirrenden Herden führen sollen. Mit einem Wort, jetzt ist
  • eine Zeit gekommen, wo das Erscheinen eines edlen, in all seinen Teilen
  • formvollendeten Werks, das das Leben mit einer wunderbaren Deutlichkeit
  • und Klarheit widerspiegelt und von dem eine hohe Ruhe und der Hauch
  • einer geradezu kindlichen Einfalt ausgeht, von unendlicher Bedeutung
  • sein kann.
  • Von der Odyssee wird eine große Wirkung _auf uns alle_ und _auf jeden
  • einzelnen von uns_ ausgehen.
  • Sehen wir einmal zu, was für eine Wirkung sie auf _uns alle_ ausüben
  • kann. Die Odyssee ist das Werk, das alle notwendigen Voraussetzungen
  • dafür enthält, ein Buch zu werden, das allgemein und vom ganzen Volke
  • gelesen wird. Sie vereint in sich die Spannung, die von einem Märchen
  • ausgeht, und die schlichte Wahrheit menschlicher Erlebnisse, die auf
  • jeden Menschen, er mag sein, wer er will, den gleichen Reiz ausüben.
  • Edelleute und Bürger, Kaufleute, Gebildete wie Ungebildete, einfache
  • Soldaten, Bediente, Kinder beiderlei Geschlechts, von jener Altersstufe
  • an, wo die Kinder Freude an Märchen zu bekommen pflegen -- sie alle
  • werden sie lesen und ihr lauschen, ohne sich zu langweilen -- ein
  • Umstand von ungeheurer Wichtigkeit, besonders wenn man bedenkt, daß die
  • Odyssee zugleich ein wahrhaft moralisches Werk ist und daß der alte
  • Dichter sie nur deshalb gedichtet hat, weil er die Handlungen der
  • damaligen Menschen und ihre Gesetze in lebendigen Bildern darstellen
  • wollte.
  • Im griechischen Polytheismus liegt nichts Verführerisches für unser
  • Volk. Unser Volk ist klug, es weiß sich selbst solche Dinge, die die
  • gescheitesten Leute in Verlegenheit bringen, ohne viel Kopfzerbrechen zu
  • deuten und zu erklären. Es wird aus alledem nur dies eine entnehmen: wie
  • schwer es für den Menschen ist, allein und ohne Hilfe von Propheten und
  • höherer Offenbarungen zu einer wahrhaften Erkenntnis Gottes zu gelangen,
  • welch unsinnige Vorstellungen und Bilder er sich von Seinem wahren Wesen
  • macht, wenn er die Einheit und die eine Allkraft in eine Vielheit von
  • Kräften und Formen zerspaltet. Es wird nicht einmal über die alten
  • Heiden lachen, weil es sie für gänzlich unschuldig halten wird: zu ihnen
  • sprachen keine Propheten, Christus war noch nicht geboren, Apostel gab
  • es damals noch nicht. Nein, das Volk wird sich eher den Kopf kratzen
  • beim Gedanken, daß es mit geringerem Eifer zu Gott betet und seine
  • Pflicht und Schuldigkeit schlechter erfüllt, als die alten Heiden,
  • obwohl es den wahren Gott in Seiner wirklichen Gestalt kennt, obwohl es
  • Sein geschriebenes Gesetz stets in Händen hat und in seinen Beichtvätern
  • Lehrer und Berater hat, die ihm das Gesetz auslegen. Das Volk wird
  • verstehen, warum der Höchste auch dem Heiden um seines guten
  • Lebenswandels und seines inbrünstigen Gebets willen Seinen Beistand
  • lieh, trotzdem er Ihn aus Unwissenheit in der Gestalt eines Poseidon,
  • Kronion, Hephaistos, Helios, Kypris und der ganzen Schar von Göttern,
  • die die lebhafte Phantasie der Griechen ersonnen hat, anbetete und zu
  • ihnen flehte. Mit einem Wort, das Volk wird den Polytheismus beiseite
  • lassen und sich nur das aus der Odyssee aneignen, was es sich daraus
  • aneignen soll, d. h. das, was allen deutlich sichtbar ist, was den Geist
  • ihres Inhalts bildet und den eigentlichen Zweck ausmacht, um
  • dessentwillen die Odyssee geschrieben ist; er wird daraus die Lehre
  • ziehen, daß dem Menschen überall und auf jedem Gebiet viel Unglück
  • bevorsteht, daß er dagegen ankämpfen muß -- denn nur dazu ward dem
  • Menschen das Leben gegeben -- daß er niemals verzagen darf, wie Odysseus
  • nie verzweifelte, der sich in schweren Stunden der Not stets an sein
  • Herz wandte, ohne zu ahnen, daß er schon durch diese Wendung an sein
  • eigenes inneres Ich jenes innere an Gott gerichtete Gebet erschuf, das
  • sich jedem Menschen, auch dem, der nicht einmal einen Begriff von Gott
  • hat, auf die Lippen drängt. Das ist das _Allgemeine_, der lebendige
  • Geist ihres Inhalts, durch den die Odyssee einen Eindruck auf alle
  • machen muß, noch ehe sie entzückt und ergriffen sein werden von ihren
  • dichterischen Vorzügen: der Wahrheit der Bilder und der Lebendigkeit der
  • Schilderungen; noch ehe andre bewundernd staunen werden über die antiken
  • Schätze, die sich hier vor ihnen auftun und die in all diesen
  • Einzelheiten weder von der Skulptur, noch von der Malerei, noch von den
  • antiken Denkmälern im allgemeinen festgehalten wurden; noch ehe wieder
  • andre verwundert dastehen werden über die unglaubliche Kenntnis aller
  • Windungen und Falten der menschlichen Herzen, die alle offen dalagen vor
  • dem blinden Sänger, der alles sah; noch ehe wiederum andre staunen
  • werden über den tiefen staatsmännischen Blick, die große Beherrschung
  • der schweren Kunst der Menschenleitung und -regierung, die der göttliche
  • Alte gleichfalls besaß, er, der ein Gesetzgeber seines eigenen und der
  • kommenden Geschlechter war -- mit einem Wort, noch ehe sich jemand je
  • nach seinem Beruf, Handwerk, seiner Beschäftigung, seinen Neigungen,
  • Liebhabereien und seiner persönlichen Eigenart für irgendeine Einzelheit
  • in der Odyssee begeistern wird. Und dies alles nur daher, weil sich
  • dieser Geist ihres Inhalts, dieses ihr inneres Wesen einem jeden mit so
  • greifbarer Deutlichkeit aufdrängt, wie es in keinem andern Werk mit
  • ähnlicher Kraft zum Ausdruck kommt, alles durchdringend und alles
  • beherrschend, besonders wenn wir noch darauf achten, wie lebendig, wie
  • farbig alle Episoden sind, deren jede beinahe die Grundidee zu
  • überstrahlen, in den Hintergrund zu drängen imstande ist.
  • Warum aber müssen das alle so deutlich empfinden? Darum, weil es dem
  • alten Dichter so tief aus der Seele dringt. Man sieht förmlich auf
  • Schritt und Tritt, wie er das, was er für alle Zeiten im Menschen
  • befestigen und sichern wollte, mit der ganzen bestrickenden Schönheit
  • der Poesie zu umkleiden suchte; wie er danach strebte, was an den
  • Volkssitten gut und lobenswert war, zu erhalten und zu kräftigen, wie er
  • bemüht war, den Menschen an das Beste und Heiligste zu mahnen, was in
  • ihm liegt, und was er jeden Augenblick vergessen kann -- in jedem seiner
  • Helden den Menschen ein Muster und Beispiel für jeden Beruf und Stand zu
  • hinterlassen und allen zusammen in seinem unermüdlichen Odysseus ein
  • ewiges Musterbild allgemeinmenschlicher Tätigkeit aufzustellen.
  • Diese strenge Achtung der Sitten, diese tiefe Ehrfurcht vor der
  • Obrigkeit und den Regierenden, trotz der begrenzten und noch wenig
  • entwickelten Regierungsgewalt, diese jungfräuliche Schamhaftigkeit der
  • Jünglinge, diese Güte und diese Milde der Greise, diese herzliche
  • Gastfreundschaft, dieser Respekt, man möchte fast sagen, diese Ehrfurcht
  • vor dem Menschen, als dem Ebenbilde Gottes, dieser Glaube, daß kein
  • guter Gedanke im Hirne der Menschen entspringt, ohne den souveränen
  • Willen eines höheren Wesens, daß der Mensch aus eigener Kraft nichts zu
  • erreichen vermag -- kurz alles, jeder kleinste Zug in der Odyssee kündet
  • von dem inneren Wunsche dieses Dichters aller Dichter, dem Menschen der
  • alten Welt ein lebendiges und vollständiges Gesetzbuch zu hinterlassen,
  • zu einer Zeit, als es noch weder Gesetzgeber noch Stifter von
  • Rechtsordnungen gab, als noch die Beziehungen unter den Menschen durch
  • keine geschriebenen Bestimmungen oder bürgerlichen Rechte geregelt
  • waren, als die Menschen noch sehr vieles nicht wußten, ja nicht einmal
  • ahnten und als allein der göttliche Greis alles sah, hörte, erkannte und
  • ahnte -- ein blinder Mann, der der Sehkraft beraubt, die allen Menschen
  • eigen ist, und nur bewaffnet war mit jenem inneren Auge, das die
  • Menschen nicht besitzen.
  • Wie kunstvoll ist doch die Arbeit langjähriger Überlegungen unter der
  • Schlichtheit eines treuherzigen Berichtes versteckt! Es ist fast, als
  • hätte er alle Menschen zu einer Familie versammelt und säße nun mitten
  • unter ihnen, wie der Großvater unter seinen Enkeln, der gelegentlich
  • selbst dazu bereit ist, mit ihnen zu spielen und Mutwillen zu treiben,
  • und als trage er nun treuherzig seine Erzählung vor, nur darum besorgt,
  • niemand zu ermüden oder durch unangebrachte und allzu lange Belehrungen
  • zu erschrecken, sondern ihn unsichtbar auf Windesflügeln durch die ganze
  • Welt zu tragen, auf daß sich alle spielend aneignen, was dem Menschen
  • durchaus nicht zu Spiel und Scherz gegeben ward, und auf daß sie
  • unmerklich davon kosteten und sich davon erfüllten, was er während
  • seines Jahrhunderts und zu seiner Zeit an Schönstem und Bestem gesehen
  • und erfahren hat. Man könnte das Ganze beinahe für eine ohne jede
  • Vorbereitung dahinfließende Erzählung halten, wenn sich einem nicht
  • nachträglich, nach einer aufmerksamen Analyse die wunderbare Kunst des
  • Baus -- des Ganzen sowohl wie die jedes Gesanges im einzelnen enthüllte.
  • Wie dumm sind doch die superklugen deutschen Gelehrten, die den Gedanken
  • aufgebracht haben, Homer sei ein Mythos und all seine Werke seien
  • Volksgesänge und Rhapsodien.
  • Doch sehen wir nun einmal zu, was für eine Wirkung die Odyssee auf
  • _jeden einzelnen von uns_ ausüben kann. Zunächst wird sie auf unsere
  • Schriftstellerzunft, auf unsere Autoren wirken. Sie wird viele dem
  • Lichte zurückgeben, nachdem sie sie wie ein gewandter Lotse durch den
  • Nebel und die Verwirrung hindurchgesteuert hat, die durch unsere
  • zerfahrene und unausgegorene Schriftstellergeneration heraufbeschworen
  • wurde. Sie wird uns alle wieder daran erinnern, mit welch naiver
  • ungekünstelter Schlichtheit die Natur reproduziert, wie jeder Gedanke
  • bei uns zu einer geradezu greifbaren Klarheit gebracht werden, in welch
  • ruhigem Gleichmaß unsere Rede dahinfließen muß. Sie wird allen unseren
  • Schriftstellern wieder jene alte Wahrheit näher bringen, die wir unser
  • ganzes Leben lang im Auge behalten sollten und die wir doch immer wieder
  • vergessen: daß wir nämlich nicht eher zur Feder greifen sollten, als bis
  • sich in unserem Kopfe alles zu der Klarheit und Ordnung gestaltet hat,
  • daß selbst ein Kind imstande wäre, alles zu verstehen und in seinem
  • Gedächtnis aufzubewahren. Aber eine noch stärkere Wirkung als auf die
  • Schriftsteller wird die Odyssee auf die ausüben, die sich erst auf die
  • Schriftstellerlaufbahn vorbereiten, und die, ob sie nun auf dem
  • Gymnasium sind oder auf der Universität studieren, ihr künftiges
  • Arbeitsfeld noch unklar und wie im Nebel vor sich sehen: diese kann die
  • Odyssee von Anfang an auf den rechten Weg weisen und sie vor einem
  • unnötigen Herumirren in krummen winkligen Gassen bewahren, in denen sich
  • ihre Vorgänger zur Genüge umhergetrieben haben.
  • Ferner wird die Odyssee auch einen Einfluß auf den Geschmack und die
  • Entwicklung des ästhetischen Gefühls ausüben. Sie wird einen frischen
  • Zug in die Kritik hineintragen. Unserer Kritik hat sich eine gewisse
  • Müdigkeit bemächtigt, sie hat in der Analyse der problematischen Werke
  • unserer neuesten Literatur Ziel und Richtung verloren, sie hat sich in
  • ihrer Verzweiflung auf Seitenwege verirrt, läßt die literarischen
  • Probleme ganz beiseite und produziert nur noch ganz törichtes Zeug. Das
  • Erscheinen der Odyssee aber kann vielleicht viele wirklich gute und
  • tüchtige Kritiken hervorrufen, um so mehr, als es wohl auf der Welt kaum
  • ein zweites Werk gibt, das sich von so vielen Seiten aus betrachten
  • läßt, wie die Odyssee. Ich bin überzeugt, daß die Diskussionen, die
  • Untersuchungen, die Betrachtungen und Erörterungen, die Bemerkungen und
  • Gedanken, zu denen sie Veranlassung geben wird, unsere Zeitschriften
  • mehrere Jahre lang beschäftigen werden. Diese Leser werden nur Vorteil
  • davon haben: die Kritiken werden nicht mehr so hohl und nichtssagend
  • sein. Um eine solche Kritik zu schreiben, muß man viel lesen, sich über
  • vieles neu orientieren, viel erlebt und über vieles nachgedacht haben;
  • ein hohler und oberflächlicher Kopf wird über die Odyssee kaum etwas zu
  • sagen wissen.
  • Drittens kann die Odyssee in dem russischen Gewande, das ihr Schukowski
  • gegeben hat, viel zur Reinigung unserer Sprache beitragen. Bei keinem
  • unserer Schriftsteller, in keinem der früheren Werke Schukowskis, ja
  • nicht einmal bei Puschkin und Krylow, die häufig im Ausdruck, in ihren
  • Wendungen noch schärfer und genauer sind, als jener, hat die russische
  • Sprache einen solchen Reichtum, eine solche Vollkommenheit erreicht.
  • Hier finden sich alle ihre Wendungen und Nuancen in sämtlichen
  • Variationen und Abstufungen. Diese ungeheuren unendlichen Perioden, die
  • bei jedem andern matt und dunkel wirken würden, und andererseits
  • wiederum die knappen kurzen Perioden, die bei andern hart und abgerissen
  • klingen und der Rede etwas Herbes, Gefühlloses verleihen würden, stehen
  • bei Schukowski so brüderlich zusammen, alle Übergänge und der
  • Zusammenstoß der Gegensätze vollziehen sich mit einem solchen Wohllaut,
  • alles fließt so in eins zusammen und läßt die schwerfällige Masse des
  • Ganzen sich so zerteilen und verschwinden, daß man den Eindruck hat, als
  • hätten der Bau und das Gefüge der Sprache sich überhaupt verflüchtigt;
  • sie scheinen nicht mehr vorhanden zu sein, so wie auch der Übersetzer
  • völlig verschwindet. Statt seiner aber steht der greise Homer in seiner
  • ganzen majestätischen Größe vor unseren Augen, und wir hören die hehren,
  • gewaltigen, ewigen Worte, die nicht dem Munde eines Menschen entstammen,
  • sondern deren Bestimmung es ist, -- ewig durch die Welt zu tönen. Jetzt
  • werden unsere Schriftsteller erkennen, mit welch kluger Vorsicht jedes
  • Wort und jeder Ausdruck verwendet sein will, wie man jedem schlichten
  • Wort seine hohe Würde wiedergeben kann durch die Kunst, ihm seinen
  • richtigen Platz anzuweisen, und was für ein solches Werk, dessen
  • Bestimmung es ist, in den Händen aller zu sein und von allen genossen zu
  • werden -- das ein geniales Werk ist, diese äußere Wohlgestalt und dieser
  • äußere Anstand, diese Durchbildung und Abrundung des Ganzen bedeuten:
  • hier fällt jedes kleinste Staubkörnchen ins Auge und wird von jedem
  • bemerkt. Schukowski vergleicht diese Staubkörnchen sehr richtig mit
  • Papierschnitzeln, die in einem herrlich ausgeschmückten Prunkgemach
  • herumliegen, wo von der Decke herab bis zum Parkett alles glänzt und
  • strahlt wie ein Spiegel: jeder Eintretende wird zuallererst diese
  • Papierschnitzel bemerken, und zwar aus demselben Grunde, aus dem er sie
  • in einem unsauberen unaufgeräumten Zimmer überhaupt nicht entdecken
  • würde.
  • Viertens wird die Odyssee sowohl die Wißbegierde derer, die sich mit der
  • Wissenschaft beschäftigen, wie auch derer, die keine Wissenschaft
  • studiert haben, befruchten, indem sie uns eine lebendige Kenntnis der
  • antiken Welt vermitteln wird. In keinem Geschichtswerk kann man das
  • finden, was man aus ihr schöpfen kann; von ihr geht ein lebendiger Hauch
  • der Vergangenheit aus; der antike Mensch steht lebendig vor unseren
  • Augen, als hätten wir ihn erst gestern gesehen und mit ihm gesprochen.
  • Man sieht ihn förmlich vor sich in seinem ganzen Tun und Treiben und zu
  • allen Tageszeiten: wie er sich andächtig zum Opfer vorbereitet, wie er
  • beim Becher ehrsam mit dem Gastfreund spricht, wie er sich ankleidet,
  • wie er auf den Platz hinaustritt, wie er den Reden der Greise lauscht
  • und die Jünglinge belehrt; sein Haus, sein Wagen, sein Schlafgemach, das
  • kleinste Möbelstück im Hause, von den Tischen, die hereingetragen
  • werden, bis zum Riemenriegel an der Tür -- alles steht noch frischer und
  • lebendiger vor unseren Augen, als in dem ausgegrabenen Pompeji.
  • Und endlich bin ich sogar der Ansicht, daß von dem Erscheinen der
  • Odyssee eine Wirkung auf den heutigen Geist unserer Gesellschaft im
  • allgemeinen ausgehen wird. Gerade in unserer Zeit, wo durch den
  • geheimnisvollen Willen der Vorsehung überall ein schmerzlicher Schrei
  • der Unbefriedigung durch die Welt geht, ein Schrei der Unzufriedenheit
  • mit allem, was es auf der Welt gibt, mit den Zuständen, mit der Zeit,
  • wie mit uns selbst, wo allen endlich die Vollkommenheit, bis zu der uns
  • unser moderner bürgerlicher Geist und die Aufklärung emporgehoben haben,
  • verdächtig zu werden beginnt, wo sich bei jedem ein unbewußtes Sehnen
  • fühlbar macht, etwas anderes zu sein, als das, was man ist, ein Sehnen,
  • das vielleicht aus der edlen Quelle, dem Wunsche, besser zu sein,
  • entspringt; wo durch die törichten Losungen und durch die übereilte
  • Verkündigung neuer ganz unklar erfaßter Ideen hindurch sich ein
  • allgemeines Streben Bahn bricht, sich mehr einer dunkel ersehnten Mitte
  • zu nähern, das wahre Gesetz unseres Handelns, sowohl das der Massen, wie
  • das jedes einzelnen zu finden, in einer solchen Zeit muß die Odyssee
  • durch die patriarchalische Größe des antiken Lebens, durch die
  • unkomplizierte Einfachheit der das öffentliche Leben bewegenden
  • Triebfedern, durch die Frische des Lebens, durch die noch durch nichts
  • abgestumpfte kindliche Heiterkeit des Menschen, ergreifen. Aus der
  • Odyssee wird unserem neunzehnten Jahrhundert ein starker Vorwurf
  • entgegentönen, und dieser Vorwurf wird nicht verstummen, je tiefer es in
  • sie eindringen und je mehr es sich mit ihr vertraut machen wird.
  • Was kann zum Beispiel einen stärkeren Eindruck machen, als der Vorwurf,
  • den wir in unserer Seele vernehmen, wenn wir sehen, wie der antike
  • Mensch, mit seinen geringen Werkzeugen, bei der großen Unvollkommenheit
  • seiner Religion, die ihm sogar erlaubte, zu stehlen, Rache zu üben,
  • seine Zuflucht zu List und Tücke zu nehmen, um den Feind zu vernichten,
  • mit seiner rebellischen, harten, nicht zum Gehorsam neigenden Natur und
  • seinen schwachen Gesetzen es verstanden hat, durch die bloße Erfüllung
  • der von den Vorfahren ererbten Sitten und Gebräuche -- die nicht umsonst
  • von den alten Weisen eingeführt und festgesetzt worden waren, und die
  • nun auf ihr Gebot wie ein Heiligtum vom Vater auf den Sohn vererbt
  • wurden, -- wenn wir sehen, wie der Mensch der alten Zeit es verstanden
  • hat, durch bloße Erfüllung dieser Sitten seinen Handlungen eine gewisse
  • strenge Form, ein gewisses Ebenmaß, ja sogar eine gewisse Schönheit zu
  • verleihen, so daß alles an ihm vom Kopf bis zu der Zehe, jedes seiner
  • Worte, die einfachste Bewegung, ja selbst der Faltenwurf seines Gewandes
  • Größe und Würde atmete, und daß man in ihm wirklich den göttlichen
  • Ursprung des Menschen zu ahnen glaubt? Wir dagegen, mit all unseren
  • gewaltigen Mitteln und Werkzeugen der Vervollkommnung, mit der Erfahrung
  • aller Jahrhunderte, mit unserer schmiegsamen, gelehrigen Natur, mit
  • unserer Religion, die uns doch nur zu dem Zweck gegeben ward, damit wir
  • heilige und göttliche Menschen werden -- wir haben es mit all diesen
  • Mitteln zu nichts gebracht, als zu einer gewissen inneren, wie äußeren
  • Unordnung, Disharmonie und Zerfahrenheit, wir wußten nichts aus uns zu
  • machen, als traurige, halbe, zerstückelte und kleinliche Menschen, vom
  • Kopf bis zu den Füßen, ja bis zu unserer Kleidung, und zu alledem sind
  • wir uns gegenseitig so zuwider geworden, daß keiner den andern mehr
  • achtet; nicht einmal die tun es, die immer von der allgemeinen
  • Menschenachtung reden.
  • Mit einem Wort, die Odyssee wird auf die an ihrer europäischen
  • Vollkommenheit Leidenden und Krankenden eine starke Wirkung ausüben. Sie
  • wird sie an vieles Kindlich-Schöne erinnern, das uns leider verloren
  • gegangen ist, das die Menschheit sich jedoch wiedererobern muß, als ihr
  • rechtmäßiges Erbe. Viele werden zum Nachdenken über manche Dinge
  • angeregt werden. Zugleich aber wird vieles aus den alten
  • patriarchalischen Zeiten, die dem russischen Wesen so nah verwandt sind,
  • sich unsichtbar über das russische Land verbreiten. Der Wohlgeruch
  • atmende Mund der Poesie vermag unserer Seele manches einzuhauchen, was
  • ihr weder mit Gewalt, noch durch die Kraft des Gesetzes eingepflanzt
  • werden kann.
  • VIII
  • Einige Worte über unsere Kirche und unsere Geistlichkeit.
  • Aus einem Brief an den Grafen A. P. T.
  • Sie beunruhigen sich unnötigerweise wegen der Angriffe, die heute in
  • Europa gegen unsere Kirche gerichtet werden. Auch unsere Geistlichkeit
  • der Gleichgültigkeit anzuklagen, wäre eine Ungerechtigkeit. Warum wollen
  • Sie, daß unsere Geistlichkeit, die sich bisher durch eine würdige
  • überlegene Ruhe ausgezeichnet hat, die ihr so wohl anstand, sich unter
  • die europäischen Schreier mischen und gleich ihnen oberflächliche,
  • ungenügend durchdachte Broschüren erscheinen lassen soll? Unsere Kirche
  • hat sehr weise und klug gehandelt. Um sie zu verteidigen, muß man sie
  • erst selbst kennen gelernt und begriffen haben. Wir aber kennen unsere
  • Kirche sehr schlecht. Unsere Geistlichkeit sitzt nicht müßig da. Ich
  • weiß genau, daß im Innern unserer Klöster und in der Stille unserer
  • Klosterzellen an unwiderleglichen Werken zum Schutz und zur Verteidigung
  • unserer Kirche gearbeitet wird. Und diese Männer, gerade diese Männer
  • tun ihre Pflicht und Schuldigkeit weit besser, als wir; sie beeilen sich
  • nicht, und arbeiten in der Erkenntnis dessen, was ein solcher Gegenstand
  • erfordert, in tiefer Ruhe an ihrem Werk. Sie schaffen in ständigem Gebet
  • und in der Arbeit der Selbsterziehung; indem sie alle Leidenschaften und
  • alles, was einer unstatthaften, sinnlosen Fieberhitze gleichsieht, aus
  • ihrer Seele austreiben und sie bis zu der Höhe himmlischer
  • Leidenschaftslosigkeit zu erheben suchen, auf der sie sich erhalten muß,
  • wenn sie stark genug sein will, um einen solchen Gegenstand zu
  • behandeln. Aber auch diese Verteidigungsschriften werden noch nicht
  • genügen, um einen römischen Katholiken vollständig zu überzeugen. Unsere
  • Kirche muß in uns selbst geheiligt werden und nicht durch unsere Worte.
  • Wir selbst müssen unsere Kirche werden und durch uns muß ihre Wahrheit
  • verkündigt werden. Man sagt, daß es unserer Kirche an Lebenskraft fehlt,
  • aber man spricht die Unwahrheit, denn unsere Kirche ist das Leben.
  • Freilich ist man ganz logisch und durch einen richtigen Schluß zu diesem
  • falschen Satz gelangt: -- Wir selbst nämlich sind tot, sind Leichen, und
  • nicht die Kirche, und nach _uns_ nennt man unsere Kirche einen Leichnam.
  • Wie sollen wir unsere Kirche verteidigen und was für eine Antwort sollen
  • wir geben, wenn man uns vor folgende Fragen stellt: »Hat die Kirche euch
  • denn zu besseren Menschen gemacht? Tut denn jeder bei euch, wie es sich
  • gehört, seine Pflicht und Schuldigkeit?« Was sollen wir hierauf
  • antworten, wenn wir es plötzlich tief im Innern fühlen, wenn das
  • Gewissen es uns sagt, daß wir die ganze Zeit über neben unserer Kirche
  • hergewandelt, an ihr vorübergegangen sind und sie nicht einmal jetzt
  • ordentlich kennen? Wir sind im Besitze eines Schatzes von unendlichem
  • Wert und bemühen uns nicht, uns ein Gefühl dafür zu verschaffen, sondern
  • wissen nicht einmal, wo wir ihn verwahrt halten. Man bittet den Herrn
  • des Hauses, er möge doch den kostbarsten Gegenstand vorzeigen, den sein
  • Haus birgt, und der Herr weiß selbst nicht, wo dieser Gegenstand sich
  • befindet. Diese Kirche, die sich seit den Zeiten der Apostel allein in
  • ihrer unberührten ursprünglichen Reinheit erhalten hat, wie eine keusche
  • Jungfrau, diese Kirche, die mit all ihren tiefen Lehren und ihren
  • kleinsten äußeren Zeremonien gleichsam unmittelbar um des russischen
  • Volkes willen vom Himmel herabgestiegen ist, sie, die allein fähig ist,
  • alle Zweifelsknoten und alle unsere Fragen zu lösen, sie, die angesichts
  • des ganzen Europa das größte und unerhörteste Wunder zu vollbringen
  • vermag, indem sie jeden unserer Stände, alle Ämter und Berufe
  • veranlassen kann, sich in den ihnen gesetzten Grenzen zu halten, ohne
  • den Staat in irgendeiner Weise umzuwälzen oder zu erschüttern, Rußland
  • groß und stark zu machen und die ganze Welt durch die wohlgefügte
  • harmonische Ordnung eines Organismus in Staunen zu setzen, durch den es
  • bisher nur Schrecken verbreitete, -- diese Kirche ist uns bisher ganz
  • unbekannt! Diese für das Leben geschaffene Kirche haben wir noch immer
  • nicht in unserem Leben zur Wahrheit gemacht.
  • Nein, Gott bewahre uns davor, unsere Kirche jetzt verteidigen zu wollen.
  • Das hieße sie herabsetzen. Für uns gibt es nur eine Art der Propaganda
  • -- unser Leben selbst. Durch unser Leben müssen wir unsere Kirche
  • verteidigen, die durchaus nichts anderes ist, als _Leben_, durch den
  • reinen Atem unserer Seelen müssen wir ihre Wahrheit verkünden. Mögen die
  • Missionäre des römischen Katholizismus sich an die Brust schlagen, mit
  • den Händen fuchteln und die Beredsamkeit ihrer Seufzer und Worte mit
  • schnell trocknenden Tränen begleiten. Der Verkünder des griechischen
  • Katholizismus aber soll so vor das Volk treten, daß schon beim bloßen
  • Anblick seiner demutsvollen Gestalt, der erloschenen Augen und der
  • ruhigen ergreifenden Stimme, die tief aus der Seele dringt und in der
  • alle weltlichen Wünsche erstorben sind, alles erschüttert wird, noch ehe
  • er erklärt hat, worum es sich handelt, und alles wie aus einem Munde zu
  • ihm spricht: »Du brauchst nichts zu sagen: wir vernehmen, auch ohne daß
  • du ein Wort redest, die heilige Wahrheit deiner Kirche.«
  • IX
  • Über denselben Gegenstand
  • Aus einem Briefe an den Grafen A. P. T.
  • Die Ansicht, daß unsere Kirche bei uns so wenig Autorität und Bedeutung
  • hat, weil unsere Geistlichkeit nicht weltgewandt genug ist und es nicht
  • versteht, sich in der Gesellschaft zu bewegen, ist genau so töricht, wie
  • die Behauptung, unsere Geistlichkeit werde durch die Satzungen unserer
  • Kirche an jeder Berührung mit dem Leben gehindert und durch die
  • Regierung in ihrem Handeln beschränkt. Freilich sind unserer
  • Geistlichkeit bei ihrem Verkehr mit der Welt und mit den Menschen
  • strenge und wohlberechtigte Schranken gezogen. Glauben Sie mir, es wäre
  • nicht gut, wenn unsere Geistlichen häufiger mit uns zusammenkämen, an
  • unseren täglichen Zusammenkünften und Vergnügungen teilnähmen oder sich
  • in unsere Familienangelegenheiten mischen würden. Der Geistliche ist
  • vielen Versuchungen ausgesetzt, in weit höherem Maße als wir: er würde
  • sicher zu all jenen Intrigen im Schoße der Familien kommen, die man
  • den römisch-katholischen Priestern zum Vorwurf macht. Die
  • römisch-katholischen Geistlichen sind gerade deshalb so verderbt und
  • korrumpiert, weil sie zu weltlich geworden sind. Unsere Geistlichkeit
  • hat zwei Gebiete, auf denen sie sich betätigen kann und auf denen sie
  • mit uns zusammentrifft: die Beichte und die Predigt. Auf diesen beiden
  • Gebieten, auf deren erstem sich nur ein- bis zweimal jährlich
  • Gelegenheit zur Betätigung bietet, während man sich auf dem zweiten
  • jeden Sonntag treffen kann, läßt sich sehr viel leisten. Und wenn der
  • Priester es nur verstände, angesichts des vielen Häßlichen und Bösen,
  • das er im Menschen findet, bis zum richtigen Zeitpunkt zu schweigen und
  • sich's gründlich zu überlegen, wie er sich ausdrücken, wie er so zu den
  • Menschen reden solle, daß jedes seiner Worte ihnen tief zu Herzen
  • dringt, so wird er bei der Beichte und in der Predigt so starke mächtige
  • Worte dafür finden, wie ihm dies in seinen täglichen Unterhaltungen mit
  • uns nie gelingen würde. Er muß von einem erhöhten Platz zu dem mitten im
  • Weltgetriebe stehenden Menschen reden, damit der Mensch den Eindruck
  • gewinne, daß nicht ein Priester vor ihm stehe, sondern Gott selbst, der
  • sie alle beide hört, und daß von Seiner unsichtbaren Gegenwart ein Hauch
  • ausgeht, der beide mit ehrfürchtigem Schaudern erfüllt. Nein, es ist
  • sogar gut, daß unsere Geistlichkeit sich in einer gewissen Entfernung
  • von uns hält. Es ist gut, daß sie sich sogar durch ihre Kleidung, die
  • keinerlei Wandlungen und Launen unserer törichten Mode unterworfen ist,
  • von uns unterscheidet. Diese Kleidung ist schön, groß und würdig. Das
  • ist kein sinnloses, aus dem achtzehnten Jahrhundert übernommenes Rokoko,
  • das ist nicht die aus buntem Flitter zusammengesetzte, nichtssagende
  • Kleidung der römisch-katholischen Priester. Diese Kleidung hat einen
  • tiefen Sinn: sie ist ein Abbild, sie gleicht jener Kleidung, die der
  • _Heiland selbst_ getragen hat. Der Geistliche soll auch in seiner
  • Kleidung ein ewiges Erinnerungszeichen an _Den_ mit sich führen, dessen
  • Abbild er für uns sein soll, damit seine Seele sich auch nicht für einen
  • Augenblick vergessen und in den Genüssen, Zerstreuungen und den
  • nichtigen weltlichen Sorgen verlieren kann, denn von ihm wird tausendmal
  • strengere Rechenschaft gefordert werden, als von irgendeinem unter uns;
  • daher sollen die Geistlichen immer daran erinnert werden, daß sie
  • gleichsam andre, höhere Menschen sind. Nein, solange der Priester noch
  • jung ist, solange er das Leben noch nicht kennt, soll er überhaupt nur
  • bei der Beichte und bei der Predigt mit den Menschen zusammentreffen.
  • Und wenn er sich schon einmal in eine Unterhaltung mit einem von ihnen
  • einläßt, so sollen dies nur die Weisesten und Erfahrensten unter ihnen
  • sein, die ihn die Seele und das Herz des Menschen kennen lehren, und die
  • ihm das Leben in seiner wahren Gestalt und in seinem wahren Lichte und
  • nicht in dem Lichte, in dem es einem unerfahrenen Menschen erscheint,
  • darstellen können. Der Priester muß auch Zeit für sich selbst haben, er
  • muß an sich selbst arbeiten können. Er muß sich ein Beispiel an unserem
  • Heiland nehmen, der lange Zeit in der Wüste weilte und erst, nachdem er
  • sich durch ein vierzigtägiges Fasten darauf vorbereitet hatte, zu den
  • Menschen hinausging, um ihnen seine Lehre zu bringen. Einzelne kluge
  • Köpfe sind bei uns auf den Einfall gekommen, man müsse sich in der Welt
  • herumbewegen, um sie kennen zu lernen. Das ist grundfalsch. Diese
  • Ansicht wird durch alle Weltleute widerlegt, die sich ihr ganzes Leben
  • lang in der Welt bewegen und doch die hohlsten und leersten Menschen
  • sind. Nicht inmitten der Welt selbst wird man für die Welt erzogen,
  • sondern fernab von ihr in tiefer innerster Selbstbetrachtung, in der
  • Erforschung der eigenen Seele, denn dort liegen die Gesetze aller Dinge
  • verborgen: suche zuvor den Schlüssel zu deiner eigenen Seele; hast du
  • _ihn_ erst gefunden, so wirst du mit diesem Schlüssel auch die Seelen
  • aller anderen aufschließen.
  • X
  • Über das Lyrische bei unseren Poeten
  • An W. A. Schukowski
  • Laß uns von dem Aufsatz sprechen, über den das Todesurteil gefällt ist,
  • d. h. von dem Aufsatz, der die Überschrift: »_Über das Lyrische bei
  • unseren Poeten_« trägt. Vor allem: Dank für das Todesurteil! So ward ich
  • denn bereits zum zweitenmal von dir gerettet, du mein wahrhafter Lehrer
  • und Erzieher! Schon im vergangenen Jahre hat deine Hand mir Halt
  • geboten, als ich eben im Begriff war, Pletnjew für seinen »Sowremennik«
  • meine Betrachtungen über unsere russischen Dichter zu senden; und nun
  • hast du eine neue Frucht meines Unverstandes der Vernichtung
  • preisgegeben. Du bist der einzige, der mir noch Einhalt gebietet,
  • während mich die andern alle anfeuern und ermuntern; weiß ich doch
  • selbst nicht wozu. Wieviel Torheiten hätte ich schon begangen, wenn ich
  • nur auf meine andern Freunde gehört hätte! So, da hast du meinen
  • Dankhymnus: und nun zu dem Aufsatz selbst. Ich werde schamrot, wenn ich
  • daran denke, wie dumm ich noch immer bin, wie ich so gar nicht verstehe,
  • von gescheiteren Dingen zu reden. Am törichtesten aber geraten meine
  • Gedanken und Betrachtungen über die Literaten. Hier kommt alles, was ich
  • schreibe, besonders geschwollen, dunkel und unverständlich heraus. Ich
  • bin nicht imstande, meine eigenen Gedanken auszudrücken und
  • niederzuschreiben, die ich doch nicht nur im Geiste vor mir sehe,
  • sondern auch mit dem Herzen erahne und erfühle. Der Kern meines
  • Aufsatzes ist vernünftig und richtig, und doch habe ich mich so
  • ausgedrückt, daß jeder meiner Ausdrücke zum Widerspruch herausfordert.
  • Ich muß es noch einmal wiederholen: in der Lyrik unserer Dichter liegt
  • etwas, was kein Poet einer andern Nation besitzt -- es ist dies jenes
  • Etwas, das an die Bibel gemahnt, -- jene höhere Art Lyrik, die nichts
  • gemein hat mit leidenschaftlicher Schwärmerei und nur der sichere
  • Aufschwung im Lichte des Verstandes, der höchste Triumph geistiger
  • Nüchternheit ist. Ich will hier nicht einmal von Lomonossow und
  • Dershawin reden, selbst bei Puschkin tritt einem diese strenge Lyrik
  • überall da entgegen, wo er einen großen Gegenstand behandelt. Denke nur
  • an solche Gedichte wie: An einen Kirchenfürsten, der Prophet, oder sogar
  • an jene geheimnisvolle Flucht aus der Stadt, die erst nach seinem Tode
  • veröffentlicht wurde. Aber nimm einmal die Gedichte von Jasykow und du
  • wirst sehen, daß er stets unendlich hoch über die Leidenschaft, ja sogar
  • über sich selbst hinauswächst, wenn er an etwas Höheres rührt. Ich
  • möchte hier eines seiner Jugendgedichte »Der Genius« als Beispiel
  • anführen. Es ist übrigens nicht lang.
  • Einst stürmte der Prophet, der hohe,
  • Mit Blitz und Donner himmelwärts,
  • Und eine mächt'ge Feuerlohe
  • Erfüllte da Elisas Herz.
  • Es reckte sich sein Geist empor;
  • Ein heiliges Gefühl erblühte
  • In ihm, der vor Begeistrung glühte,
  • Und Gottes Stimme lauscht' sein Ohr.
  • So wird der Genius mit Beben
  • Sich eigner Größe froh bewußt,
  • Sieht er den Bruder aufwärts streben
  • Mit Donnerlaut aus Erdendust.
  • Und hehrer Wundertat entgegen
  • Die Kräfte reifen neu erwacht,
  • Und seiner Werke hoher Segen
  • Strahlt sternengleich durch Weltennacht.
  • Welch leuchtende Klarheit und welche strenge, erhabene Größe! Ich suchte
  • das dadurch zu erklären, daß unsere Dichter jeden großen Gegenstand in
  • seinem richtigen Zusammenhang mit dem höchsten Quell aller Lyrik, mit
  • Gott sehen, die einen bewußt, die andern unbewußt, weil die russische
  • Seele, wie sich das aus dem russischen Wesen selbst ergibt, dies aus
  • irgendeinem Grunde ganz von selbst fühlt. Ich sagte, daß es vorzüglich
  • zwei Gegenstände sind, die unsere Dichter zu dieser, der biblischen so
  • nahestehenden Art der Lyrik begeistert haben. Der erste ist --
  • _Rußland_. Bei dem bloßen Klang dieses Namens erhellt sich plötzlich das
  • Auge unseres Poeten, erweitert sich sein Horizont, wird alles um ihn
  • herum größer und weiter, wächst er selbst gewissermaßen zu höherer Würde
  • und Größe empor, und erhebt er sich hoch über den gewöhnlichen Menschen.
  • Das ist mehr als bloße Liebe zum Vaterland. Demgegenüber erschiene die
  • Vaterlandsliebe fast wie ekle Prahlerei. Ein Beweis dafür sind unsere
  • Hurrapatrioten. [Ihre übrigens meist ganz aufrichtigen Lobhymnen können
  • einem Rußland beinahe verleiden.] Wenn dagegen ein Dershawin von Rußland
  • spricht -- dann fühlt man eine übernatürliche Kraft durch seine Adern
  • rinnen, man ist gleichsam ganz erfüllt von der Größe Rußlands. Die
  • Vaterlandsliebe allein hätte -- gar nicht erst zu reden von Dershawin --
  • nicht einmal einem Jasykow die Kraft dieses großen, feierlichen
  • Ausdrucks verliehen, der sich jedesmal einstellt, wenn er von Rußland
  • redet. So zum Beispiel in den folgenden Versen, wo er darstellt, wie
  • Stephan Batorius gegen Rußland in den Krieg zieht.
  • Schon rüstet Stephan sich zur Schlacht,
  • Schon eilt er, seine ganze Macht
  • Zu einer Heerschar zu verdichten,
  • Um, wenn er Pskow den Tod gebracht,
  • Rußland für immer zu vernichten!
  • Doch du, o heil'ges Vaterland,
  • Du hehre Liebe unsrer Ahnen,
  • Du riss'st das Schwert aus seiner Hand.
  • Nicht siegten diesmal seine Fahnen.
  • Diese nüchterne, ruhige Heldenkraft, die sich zuweilen sogar
  • unwillkürlich mit einer prophetischen Verherrlichung Rußlands verbindet,
  • entspringt daraus, daß der Gedanke unbewußt an die höchste Vorsehung
  • rührt, deren Walten so deutlich in den Schicksalen unseres Vaterlandes
  • zum Ausdruck kommt. -- Außer der Liebe aber ist hieran auch noch das
  • tiefe, innere Entsetzen über die Vorgänge beteiligt, die sich durch
  • Gottes Willen auf jenem Stück Erde abspielen sollten, jenem Stück Erde,
  • das dazu bestimmt war, unser Vaterland zu werden, sowie die Vorahnung
  • eines neuen, herrlichen Baus, der sich, zunächst noch nicht für alle
  • sichtbar, errichtet, dessen Wachsen nur der Dichter mit dem scharfen Ohr
  • der Poesie, das alles hört, oder ein solcher Seelenkenner, der schon im
  • _Samen_ die künftige Frucht erkennt, zu vernehmen vermag. Heute beginnen
  • allmählich auch die andern Menschen etwas davon zu erkennen, aber sie
  • drücken sich so unklar aus, daß ihre Worte Torheit zu sein scheinen. Du
  • hast unrecht, wenn du annimmst, daß die heutige Jugend, wenn sie vom
  • Slawentum träumt und prophetisch von Rußlands Zukunft spricht, einer
  • Modeströmung folgt. Sie verstehen es nicht, ihre Gedanken in ihren
  • Köpfen ausreifen zu lassen, und beeilen sich, sie der Welt zu verkünden,
  • ohne zu bemerken, daß ihre Gedanken noch törichte Kinder sind -- das ist
  • alles. Auch bei den Juden lehrten gleichzeitig vierhundert Propheten:
  • von diesen war gewöhnlich nur einer der Gesandte Gottes, dessen Reden in
  • das heilige Buch des jüdischen Volkes eingetragen wurden; alle andern
  • werden viel Unnützes und Überflüssiges zusammengeredet haben, trotzdem
  • aber haben wohl auch sie dunkel und unklar dasselbe vernommen, was die
  • Auserwählten klar und verständig auszusprechen wußten; sonst hätte das
  • Volk sie sicherlich gesteinigt. Warum sind denn weder Frankreich, noch
  • England, noch Deutschland von dieser Strömung ergriffen und prophezeien
  • und künden nicht von sich selbst, warum tut dies Rußland allein? Nun,
  • weil Rußland es deutlicher fühlt, wie Gottes Hand auf allem ruht, an
  • allem teilhat, was sich mit unserem Lande zuträgt, und weil es ein neues
  • Reich herannahen fühlt. Daher die biblischen Töne bei unseren Dichtern.
  • Daher kann solches bei den Dichtern anderer Nationen nicht vorkommen,
  • und wenn sie ihr Vaterland noch so innig lieben und dieser Liebe einen
  • noch so glühenden Ausdruck zu geben vermögen. Und hier darfst du nicht
  • mit mir streiten, mein herrlicher Freund.
  • Doch laß uns nun zu dem andern Gegenstande übergehen, an dem sich die
  • Lyrik unserer Dichter gleichfalls zu jenem hohen, lyrischen Schwunge
  • erhebt, von dem hier die Rede ist: laß uns der Liebe zum Zaren gedenken.
  • Die zahlreichen Hymnen und Oden auf unsere Zaren haben unserer Poesie
  • schon seit den Zeiten Lomonossows und Dershawins jene erhabene,
  • königliche Note verliehen. Daß diese Gefühle aufrichtig sind, darüber
  • brauchen wir wohl nicht erst zu sprechen. Nur Geister von kleinlichem,
  • nörgelndem Witz, der nur karger, blitzartiger, oberflächlicher Gedanken
  • und Erwägungen fähig ist, werden dahinter nichts wie Schmeichelei und
  • den Wunsch, einen Vorteil für sich herauszuschlagen, suchen, und werden
  • diese Behauptung auf ein paar unbedeutende und schlechte Oden jener
  • Dichter gründen. Der dagegen, der nicht nur geistreich, der mehr ist,
  • der Einsicht und Weisheit besitzt, wird bei jenen Oden Dershawins
  • verweilen, in denen er den weiten Kreis nützlicher, wohltätiger
  • Wirksamkeit vor dem Herrscher beschreibt, und wo der Dichter selbst mit
  • Tränen in den Augen zu ihm von den Tränen spricht, die den Augen --
  • nicht nur der Russen -- nein auch gefühlloser Wilden, die an den
  • äußersten Enden seines Reiches wohnen, entströmen würden bei der bloßen
  • Berührung mit der Milde und Liebe, die nur die allmächtige Hand des
  • Herrschers ihrem Volke erweisen kann. Hier ist vieles zu so gewaltigem
  • Ausdruck emporgehoben, daß selbst, wenn sich einmal ein Herrscher finden
  • sollte, der für eine Zeitlang seine Pflicht vergäße, er sich beim Lesen
  • dieser Zeilen unfehlbar wieder seiner Schuldigkeit erinnern und von
  • tiefer Rührung über die Heiligkeit seines Amtes ergriffen werden würde.
  • Nur kaltherzige Menschen werden Dershawin wegen seiner übermäßigen
  • Verherrlichung Katharinas tadeln; der dagegen, der keinen Stein an
  • Stelle des Herzens hat, der wird die herrlichen Strophen nicht ohne
  • Rührung lesen, in denen der Dichter davon spricht, daß, wenn seine
  • Gestalt in Marmor gehauen auf die Nachwelt kommen sollte, dies nur
  • deshalb geschehen werde,
  • Weil ich die Kaiserin besang,
  • Der Reußen Zarin, welcher keine
  • Je gleichkommt auf der weiten Welt.
  • Des rühme, rühm' dich, meine Leier.
  • Auch die folgenden, kurz vor dem Tode geschriebenen Verse wird er kaum
  • ohne aufrichtige seelische Erschütterung lesen:
  • Schlaf sank auf Katharinens Muse nieder;
  • Das Alter raubte mir die Lieder.
  • -- -- -- -- -- -- -- -- ... Bald
  • Ertönt der andern Lied, wenn meins verhallt,
  • Und meiner Hand entsinkt die Leier;
  • In andern glühe nun das Feuer,
  • Mit dem drei Zaren einst mein Sang
  • Zu Ruhm und Preis erklang.
  • Der Greis, der mit einem Fuß im Grabe steht, wird nicht lügen. Während
  • seines ganzen Lebens hat er diese Liebe wie ein Heiligtum in sich gehegt
  • und so hat er sie mit sich ins Grab genommen und ist er ihr auch bis
  • übers Grab treu geblieben. Aber darum handelt es sich ja gar nicht.
  • Woher stammt diese Liebe? Das ist hier die Frage. Daß sie im ganzen
  • Volke, in einem dunkeln Instinkt seines Herzens lebt, und daher auch der
  • Dichter, als der reinste Spiegel seines Volkes, sie laut in sich
  • vernehmen mußte, das erklärt nur die eine Hälfte des Problems. Der
  • ganze, der vollkommene Dichter gibt sich nie an eine Sache hin, ohne
  • sich vorher Rechenschaft über sie abgelegt und ohne sich überzeugt zu
  • haben, daß sie vor der Weisheit und vor dem hellen Lichte seiner
  • Vernunft bestehen kann. Er, der im Besitz eines Ohres ist, das die
  • kommenden Dinge und Ereignisse vernimmt, und der von dem Streben beseelt
  • wird, die Dinge, die die andern nur stückweise, von einer einzigen, oder
  • etwa bloß von zwei Seiten und nicht von allen vier Seiten sehen, in
  • ihrer ganzen Vollkommenheit und Vollständigkeit nachzuschaffen, er
  • konnte nicht anders, als die Kulmination in der Entwicklung und dem
  • Reifen dieser Herrschergewalt voraussehen. Mit welcher Weisheit hat
  • Puschkin die Bedeutung des unumschränkten Monarchen gekennzeichnet! Wie
  • klug war überhaupt alles, was er während seiner letzten Lebensjahre
  • gesagt hat: »Warum,« so pflegte er zu sagen, »warum muß einer von uns
  • höher als alle, ja selbst noch über dem Gesetze stehen? Darum, weil das
  • Gesetz ein Stück Holz ist; weil der Mensch bei dem Worte Gesetz etwas
  • Kaltes, Hartes empfindet, etwas, dem das Herzliche, Brüderliche fehlt.
  • Mit der buchstäblichen Erfüllung des Gesetzes allein kommt man nicht
  • weit; und doch darf keiner von uns es verletzen oder umgehen; dazu
  • bedarf es eben der höchsten Gnade, die das Gesetz mildert, und die sich
  • für den Menschen lediglich in der unumschränkten Gewalt verkörpern kann.
  • Ein Staat ohne souveränen Monarchen ist ein Automat: es ist schon viel,
  • wenn er es so weit bringt, wie die Vereinigten Staaten. Und was sind die
  • Vereinigten Staaten? Etwas Totes, Abgestorbenes. Die Menschen dort sind
  • so hohl und so leer geworden, daß sie keinen Pfifferling mehr wert sind.
  • Ein Staat ohne souveränen Monarchen gleicht einem Orchester ohne
  • Kapellmeister: die einzelnen Musiker mögen noch so tüchtig sein; wenn es
  • an einem Manne fehlt, der das Ganze mit einer Bewegung des Taktstockes
  • lenkt und im rechten Augenblick das Zeichen gibt, dann wird nie ein
  • gutes Konzert zustande kommen. [Er scheint zwar selbst gar nichts zu
  • tun, er spielt auf keinem Instrument, sondern bewegt nur sein Stöckchen
  • kaum merklich hin und her, und hält Überschau über alle Musiker, und
  • doch genügt ein Blick von ihm, um hier oder dort den rauhen, häßlichen
  • Ton einer täppischen Trommel oder einer plumpen Pauke zu mildern.] In
  • seiner Gegenwart wagt es selbst des Meisters Geige nicht, sich allzu
  • frei gehen zu lassen und die andern zu übertönen; er wacht über der
  • allgemeinen Ordnung, er belebt alles, er, der Herr und Stifter höchster
  • Eintracht und Harmonie!« Welch tiefes Verständnis besaß er für die
  • großen, ewigen Wahrheiten!
  • Dieses innere Wesen, diese Macht des selbstherrlichen Monarchen hat er
  • ja auch, wenigstens zum Teil in einem seiner Gedichte zum Ausdruck
  • gebracht, das du übrigens selbst unter seinen nachgelassenen Werken
  • abgedruckt hast. Du hast sogar Korrekturen daran vorgenommen und die
  • Form verbessert; allein du hast den Sinn nicht verstanden. Ich will dir
  • hier des Rätsels Lösung geben. Ich meine die Ode an den Kaiser Nikolaus,
  • die unter dem bescheidenen Titel An N*** erschienen ist. Ihr Ursprung
  • ist folgender: Im Anitschkowpalast fand eine Abendgesellschaft statt,
  • eine von jenen Gesellschaften, zu denen, wie bekannt, nur wenige
  • Auserwählte aus unserer Gesellschaft eingeladen wurden; unter ihnen
  • befand sich an jenem Abend auch Puschkin. Alle Gäste waren bereits in
  • den Sälen versammelt; nur der Kaiser wollte lange Zeit nicht erscheinen.
  • Er hatte sich in den andern Flügel des Schlosses zurückgezogen, die
  • erste freie Minute, während der ihn kein Geschäft rief, benutzt, die
  • Ilias aufgeschlagen und sich ganz unmerklich tief in die Lektüre
  • versenkt, während im Saale schon längst die Musik schmetterte und die
  • Tänze hin und her wogten. Er erschien erst ziemlich spät beim Ball,
  • während auf seinem Gesicht noch die Spuren anderer Eindrücke
  • nachzitterten. Dieses Sichkreuzen zweier widerspruchsvoller Stimmungen
  • wurde von keinem beachtet; auf Puschkins Seele aber machte es einen
  • tiefen Eindruck; die Frucht dieses Eindrucks war folgende grandiose Ode,
  • die ich hier noch einmal anführen will. Sie hat nur eine einzige
  • Strophe:
  • Lang hieltest Zwiesprach' du mit dem Homer allein,
  • Lang harrten wir auf dein Erscheinen,
  • Und aus der Ätherhöh' stiegst du im Strahlenschein,
  • Durch das Gesetz uns zu vereinen.
  • Doch in der Wüste fandst du uns. Entgegen scholl
  • Dir gotteslästerliches Singen
  • Beim wüsten Zechgelag', du sahst uns blind und toll
  • Um unsern neuen Götzen springen.
  • Und wir erschraken, da den Gram und Grimm wir sahen
  • In deinem Blick voll Hoheitsschimmer;
  • Und da verfluchtest du den kindisch blöden Wahn,
  • Schlugst deine Tafeln jäh in Trümmer.
  • Doch nein, du fluchtest nicht! ... Aus Höhen wolkenfern
  • Stiegst du ins Tal, das wolkenlose.
  • Du liebst des Donners Hall, doch lauschest du auch gern
  • Dem Bienensummen um die Rose.
  • (Fiedler.)
  • Aber lassen wir die Person Nikolaus' II. beiseite und sehen wir zu, was
  • der Monarch im allgemeinen als Gesalbter Gottes bedeutet, er, der die
  • Pflicht hat, das ihm anvertraute Volk dem Lichte entgegenzuführen, in
  • dem Gott wohnt, und laß uns zusehen, ob Puschkin recht hatte, ihn mit
  • dem alten Freunde Gottes, mit Moses zu vergleichen? Der Mensch, auf
  • dessen Schultern das Schicksal von Millionen seiner Brüder gelegt ist,
  • der durch die furchtbare Verantwortlichkeit für sie, die er Gott
  • gegenüber auf sich genommen hat, von jeder Verantwortlichkeit vor den
  • Menschen befreit ist, der unter der Furchtbarkeit dieser Verantwortung
  • leidet und vielleicht im stillen solche Tränen vergießt und so
  • schmerzliche Qualen erduldet, wie sie sich ein tief unten stehender
  • Mensch nicht einmal vorzustellen vermag, dem inmitten aller
  • Sinnengenüsse und Zerstreuungen die ewige, nie verstummende Stimme
  • Gottes in den Ohren klingt, die unaufhörlich mahnend zu ihm spricht, der
  • darf wohl mit Recht dem alten Gottesfreund Moses verglichen werden, der
  • darf, wie er, seine Tafeln in Trümmer schlagen und das leichtsinnige,
  • gaukelnde Menschengeschlecht verfluchen, das, statt danach zu streben,
  • wonach alles, was auf dieser Erde lebt, streben sollte, unruhig und
  • eitel um seine von ihm selbst geschaffenen Götzen springt. Aber was
  • Puschkin so tief bewegte, das war neben allem andern jene höchste
  • Bedeutung der Herrschergewalt, die sich die Ohnmacht und Schwäche der
  • Menschheit vom Himmel herabgefleht hat; und dies Flehen war kein Schrei
  • nach der ewigen Gerechtigkeit, vor der kein Mensch dieser Erde zu
  • bestehen vermöchte, es war ein Schrei nach der himmlischen, göttlichen
  • Liebe, die alles zu vergeben vermag: unsere Pflichtvergessenheit, unser
  • ungeduldiges Murren und unsere Unzufriedenheit, mit einem Wort alles,
  • was ein Erdenmensch nicht verzeihen kann; auf daß ein einziger alle
  • Macht in seiner Person vereinigte, sich von uns allen entfernte und sich
  • über alles Irdische erhob, um sich gerade dadurch allen um so mehr zu
  • nähern, allen gleich zu werden, von seiner Höhe zu uns allen
  • herabzusteigen und allem verständnisvoll zu lauschen: vom Donner des
  • Himmels und der Lyra des Dichters bis herab zu unseren unscheinbarsten
  • Freuden und Vergnügungen.
  • Es hat den Anschein, als sei Puschkin in diesem Gedicht, nachdem er sich
  • selbst die Frage gestellt hatte, was denn diese Macht eigentlich sei,
  • vor der Größe und Erhabenheit der sich seinem Geiste aufdrängenden
  • Antwort in den Staub gesunken. Es ist gut, hierbei im Auge zu behalten,
  • daß das derselbe Dichter ist, der so ungeheuer stolz auf die
  • Unabhängigkeit seines Geistes und auf seine persönliche Würde war.
  • Niemand hat so gesungen wie er:
  • Ein Denkmal hab' ich mir errichtet ohnegleichen;
  • Zu diesem Geisterbau bewächst nie Gras den Pfad,
  • Trutzhäuptig überragt es selbst die Ruhmeszeichen,
  • Die sich Napoleon errichtet hat[2].
  • (Nach Fiedler.)
  • [Fußnote 2: Im Original heißt es: »Die Kaiser Alexander hat.« Schukowski
  • hat wohl aus Zensurrücksichten Alexander in Napoleon umgeändert. Anm.
  • des Herausg.]
  • An den »Ruhmeszeichen Napoleons« bist freilich du schuld, aber selbst
  • wenn diese Zeile in ihrer ursprünglichen Fassung erhalten geblieben
  • wäre, sie wäre dennoch ein Beweis, ja ein zwingender Beweis dafür, daß
  • Puschkin, trotzdem er sich persönlich, als Mensch, vielen gekrönten
  • Häuptern überlegen fühlte, doch tief im Innern empfand, wie klein und
  • gering sein Beruf im Vergleich mit dem eines gekrönten Königs war, und
  • daß er es verstand, sich ehrfürchtig vor denen unter ihnen zu beugen,
  • die der Welt die ganze Größe und Erhabenheit ihres Amtes vor Augen
  • geführt haben.
  • Unsere Dichter haben die hohe Bestimmung des Monarchen durchschaut,
  • indem sie erkannten, daß sie unweigerlich zuletzt ganz in der reinsten
  • _Liebe_ aufgehen, und daß es so allen offenbar werden müsse, warum der
  • Kaiser das Ebenbild Gottes ist, wie dies unser ganzes Land vorerst nur
  • instinktiv fühlt. Diese Bedeutung des Herrschers wird allmählich auch in
  • Europa in derselben Weise zum Ausdruck kommen. Alles zielt darauf hin,
  • in den Fürsten diese höchste göttliche Liebe zu ihrem Volk zu erwecken.
  • Schon vernimmt man den Schrei der Seelennot, an der die ganze Menschheit
  • und beinahe jedes moderne europäische Volk leidet; die Bedauernswerten
  • winden sich alle in ihrem Schmerz und wissen sich selbst nicht zu
  • helfen: jede äußere Berührung ist ihren schmerzenden Wunden eine Pein;
  • jedes Mittel, jede Hilfe, die der Verstand ersinnt, erscheint ihnen rauh
  • und qualvoll und bringt keine Heilung. Dieser Schrei wird schließlich so
  • laut werden, daß selbst das gefühlloseste Herz vor Mitgefühl zerspringen
  • wird, und ein tiefes Mitleid von einer bisher noch nicht gekannten
  • Stärke wird die ganze Kraft einer andern, neuen Liebe wachrufen, wie sie
  • bisher nicht ihresgleichen hatte. Dann wird der Mensch von Liebe zu
  • allem, was menschlich ist, entbrennen -- von einer gewaltigen Liebe, wie
  • er noch nie von einer gleichen ergriffen war. Von uns gewöhnlichen
  • Menschen aber wird keiner die ganze Kraft dieser Liebe in sich
  • verwirklichen können, sie wird eine Idee, ein Gedanke bleiben und nie
  • ganz zur Tat werden; nur die können völlig von ihr durchdrungen werden,
  • denen das ewige unwandelbare Gesetz auferlegt ward, alle Menschen zu
  • lieben, wie wenn sie ein einziger Mensch wären. Wenn so der Fürst von
  • Liebe für jeden Menschen seines Reichs, für jeden Beruf und Stand
  • ergriffen werden, und alles, was da lebt, gleichsam zu seinem eigenen
  • Fleisch und Blut machen wird, wenn er in seinem Herzen mit allen leiden,
  • Tag und Nacht um sein leidendes Volk trauern und klagen und für es beten
  • wird, dann wird im Fürsten jene allmächtige Stimme der Liebe lebendig
  • werden, die der leidenden Menschheit allein verständlich ist, die ihre
  • Wunden nicht schmerzlich berühren wird und die allein allen Ständen
  • Frieden und Versöhnung bringen und den Staat in einen wohlgeordneten
  • Chor harmonisch zusammenklingender Stimmen verwandeln kann. Nur da wird
  • ein Volk ganz gesunden, wo der Monarch seine hohe Bestimmung erkennen
  • wird -- ein Abbild Dessen auf Erden zu sein, Der selbst die Liebe ist.
  • In Europa ist es niemand in den Sinn gekommen, die höchste Bedeutung,
  • die höchste Aufgabe des Monarchen zu ergründen. Die Staatsmänner, die
  • Gesetzeskundigen und Rechtsgelehrten haben immer nur die eine Seite der
  • Sache in Betracht gezogen, nämlich die, daß der Monarch der höchste
  • Beamte des Staates ist, [der von Menschen eingesetzt ward], und daher
  • wissen sie auch nicht, wie sie sich zu dieser Institution verhalten
  • sollen, [wie sie ihre wahren Grenzen bestimmen sollen], wenn die sich
  • täglich ändernden Umstände es notwendig machen, ihre Kompetenzen zu
  • erweitern oder zu beschränken; dadurch aber wird dort der Fürst seinem
  • Volk und umgekehrt das Volk seinem Fürsten gegenüber in eine sonderbare
  • Lage versetzt; beide betrachten sich gegenseitig beinahe wie zwei
  • Gegner, von denen jeder die Macht auf Kosten des andern an sich reißen
  • will. Bei uns aber haben die Dichter und nicht die Rechtsgelehrten die
  • höchste Bestimmung des Monarchen erkannt; -- die Dichter haben Gottes
  • Willen mit ehrfürchtigem Zittern vernommen, sie, d. h. die monarchische
  • Gewalt in Rußland in ihrer wahren Gestalt zu begründen, daher nehmen
  • ihre Töne einen biblischen Charakter an, sobald ihr Mund das Wort »Zar«
  • ausspricht. Das erkennen bei uns auch die, die keine Dichter sind, weil
  • jede Seite unserer Geschichte zu deutlich von dem Willen der Vorsehung
  • spricht: diese monarchische Gewalt in Rußland in ihrer höchsten und
  • vollkommensten Gestalt zu begründen. Alle Ereignisse, die sich von der
  • Invasion der Tataren ab in unserem Vaterlande abgespielt haben, zielen
  • deutlich darauf hin, alle Macht in der Hand eines einzigen zu
  • vereinigen, um diesen einen zu jener berühmten Umwälzung des ganzen
  • Staats zu befähigen, ihm die Kraft zu verleihen, alle aufs tiefste zu
  • erschüttern, alle aufzurütteln, jeden von uns mit jener höheren
  • Selbsterkenntnis auszurüsten, ohne die der Mensch sich selbst nicht
  • verstehen, sich nicht selbst das Urteil sprechen, und nicht den Kampf
  • gegen Unwissenheit und Finsternis in sich selbst aufnehmen kann, wie ihn
  • der Herrscher in seinem Reiche aufgenommen hat; auf daß nachher, wenn
  • jeder von dieser heiligen Kampfbegeisterung erfaßt und alles sich seiner
  • Kraft bewußt ist, der Einzige wiederum allen voran und die Leuchte in
  • der Hand voraustragend, sein ganzes von _einem_ Geiste beseeltes Volk
  • mit sich reißen und jenem höchsten Lichte entgegenführen könne, nach dem
  • sich Rußland so innerlich sehnt. Und sieh nur, durch welche wunderbare
  • Fügung bereits die Saat der Liebe in die Herzen gesenkt ward, noch ehe
  • sich dem Herrscher selbst und seinen Untertanen die volle Bedeutung
  • dieser monarchischen Gewalt enthüllen konnte. Kein königliches
  • Geschlecht darf sich eines ähnlichen Ursprungs rühmen, wie das der
  • Romanows. Schon dieser ihr Ursprung ist ein hohes Werk der Liebe. Der
  • letzte und geringste der Untertanen des Reichs hat sein Leben hingegeben
  • und hingeopfert, um uns einen Zaren zu schenken, und mit diesem reinen
  • Opfer ein unzerreißbares Band zwischen dem Herrscher und seinem Volk
  • gestiftet. Die Liebe ist uns in Fleisch und Blut übergegangen und hat
  • eine tiefe Blutsverwandtschaft zwischen uns allen und dem Zaren erzeugt.
  • [Und so haben sich Herrscher und Untertanen miteinander verschmolzen und
  • sind so sehr eins geworden, daß es uns allen heute als ein großes
  • Unglück erscheinen würde, wenn der Fürst seinen Untertan vergessen und
  • sich von ihm abwenden oder der Untertan seinen Herrscher vergessen und
  • sich von ihm lossagen wollte.] Wie deutlich kommt der Wille Gottes
  • gerade in dieser Wahl der Romanows und keines andern Fürstengeschlechts
  • zum Ausdruck! Wie unbegreiflich ist diese Erhebung eines ganz
  • unbekannten Jünglings auf den Thron, wo doch Männer aus den ältesten
  • Adelsgeschlechtern und noch dazu verdienstvolle Männer, die ihr
  • Vaterland gerettet hatten: ein Poscharski, ein Trubetzkoi oder endlich
  • eine Reihe von Fürsten, die in direkter Linie von Rjurik abstammten,
  • daneben standen. Und doch wurden sie bei der Wahl übergangen, und es
  • erhob sich keine Stimme des Protestes: auch nicht _einer_ wagte es,
  • seine Rechte geltend zu machen! Und solches geschah in jener finsteren
  • Zeit der Wirren, wo jeder Streit und Unruhe stiften und Scharen von
  • Anhängern um sich sammeln konnte. Und wer wurde erwählt? Einer, der in
  • weiblicher Linie ein Verwandter jenes Zaren war, der noch vor kurzem die
  • Erde in Schrecken gesetzt hatte, [so daß nicht nur unter den Bojaren,
  • denen er nachgestellt und die er verfolgt hatte, sondern auch im Volk,
  • das kaum etwas von ihm zu leiden gehabt hatte, noch lange das Sprichwort
  • im Schwange blieb: »Der Kopf war gut, gottlob, daß er in der Erde
  • ruht.«] Und trotz alledem beschlossen alle, von den Bojaren bis zum
  • letzten Habenichts herab einstimmig, daß der Thron ihm gehören solle.
  • Solche Dinge geschehen bei uns! Wie kannst du da glauben, daß die Lyrik
  • unserer Dichter, die doch die wahre ganze Bedeutung des Königs aus den
  • Büchern des Alten Testaments kennen und die den Willen Gottes in allen
  • Ereignissen, die unser Vaterland betrafen, sich so deutlich äußern sehen
  • konnten -- wie kannst du glauben, daß die Lyrik unserer Dichter nicht
  • voller biblischer Anklänge sei? Ich wiederhole, die einfache Liebe hätte
  • nicht genügt, ihren Tönen eine so nüchterne Strenge zu verleihen: dazu
  • bedarf es einer vollen und festen, aus der Vernunft stammenden
  • Überzeugung, und nicht allein eines dunklen, unbewußten Liebesgefühls;
  • sonst müßten ihre Töne Weichheit und Zartheit atmen, wie bei dir in
  • deinen frühen Jugendwerken, als du dich noch ganz dem Gefühl deiner
  • liebenden Seele hingabst. Nein, es ist etwas Starkes, Hartes, ja fast zu
  • Starkes in unseren Dichtern, was die Dichter anderer Nationen nicht
  • besitzen. Wenn du das nicht fühlst, so beweist dies noch nicht, daß es
  • überhaupt nicht vorhanden ist. Du mußt doch berücksichtigen, daß du ja
  • nicht alle Züge des russischen Wesens in dir vereinst, vielmehr haben
  • sich viele Züge in dir bis zu einer solchen Höhe und so stark in die
  • Breite entwickelt, daß sie den andern keinen Raum zum Wachstum ließen,
  • und so stellst du eigentlich eine Ausnahme von jenem allgemeinen
  • russischen Charakter dar. In dir haben sich alle jene weichen und zarten
  • Seiten unseres slawischen Wesens vereinigt, jene starken und satten Züge
  • dagegen, bei denen den ganzen Menschen etwas wie ein Schauder und
  • Schrecken überläuft, sind dir unbekannt. Sie aber sind gerade der Quell
  • und Ursprung jener Lyrik, von der hier die Rede ist. Diese Lyrik vermag
  • sich für nichts mehr zu begeistern, als für ihren höchsten Quell, d. h.
  • für Gott allein. Sie hat etwas Strenges und Furchtsames und liebt die
  • vielen Worte nicht: sie widert alles auf dieser Erde an, wenn es nicht
  • den Abdruck des Göttlichen an sich trägt. Wer nur ein Fünkchen von
  • dieser lyrischen Stimmung besitzt, der besitzt trotz aller
  • Unvollkommenheiten und Fehler etwas von jenem strengen hohen Seelenadel,
  • vor dem er selbst ehrfürchtig erbebt und der ihn alles fliehen läßt, was
  • einem Dank oder einer Anerkennung von seiten der Menschen ähnlich sieht.
  • Seine eigene edelste Tat erregt ihm Abscheu und Ekel, wenn sie ihm einen
  • Lohn einträgt, denn er fühlt zu gut, daß das Höchste über jeden Lohn
  • erhaben sein sollte. [Erst nach Puschkins Tode hat man Näheres über
  • seine wahren Beziehungen zum Zaren erfahren und ist das Geheimnis, das
  • zwei seiner schönsten Gedichte umgibt, gelüftet worden. Er hat bei
  • Lebzeiten nie mit jemand von den Gefühlen gesprochen, die ihn erfüllten,
  • und er hat klug daran getan. Da man bei uns in Rußland nach dem vielen
  • kalten und lauten Zeitungsgerede im Stil jener Reklameartikel, in denen
  • man Pomaden usw. anpreist, und nach all den heftigen ungezogenen und
  • zornigen Ausfällen aller möglicher Hurra- und anderer Patrioten ganz
  • aufgehört hatte, an die Aufrichtigkeit gedruckter Äußerungen zu glauben
  • -- war es für Puschkin gefährlich, offen hervorzutreten: man hätte ihm
  • am allerehesten den Vorwurf der Bestechlichkeit gemacht und ihn
  • verdächtigt, daß er sich von Habgier und von einem selbstsüchtigen
  • Interesse leiten lasse. Nun aber, wo diese Dichtungen erst nach seinem
  • Tode erscheinen, wird sich wohl kaum ein Mensch in ganz Rußland finden,
  • der es wagt, Puschkin einen Schmeichler zu nennen, der nach der Gunst
  • irgendeines Menschen gestrebt habe. Hierdurch ward das Heiligtum eines
  • hohen reinen Gefühls gerettet. Jetzt wird jeder, auch der nicht fähig
  • ist, mit seinem eigenen Verstande in das Wesen der Sache einzudringen,
  • doch an sie glauben und Vertrauen zu ihr haben, denn er wird sich sagen:
  • »wenn selbst Puschkin so gedacht hat, so ist das sicherlich die
  • lauterste Wahrheit.«] Die königlichen Hymnen unserer Dichter haben
  • selbst Ausländer durch ihre erhabene Form und ihren hohen Stil in
  • Staunen gesetzt. Erst vor kurzem hat Mickiewicz in seinen Vorlesungen
  • darüber zu den Parisern gesprochen und er hat dies in einem Augenblick
  • ausgesprochen, als er selbst gereizt und erbittert gegen uns und ganz
  • Paris über uns empört war. Trotzdem aber hat er feierlich erklärt, daß
  • in den Oden und Hymnen unserer Dichter nichts Sklavisches und Gemeines,
  • sondern eher etwas Freies und Erhabenes liege, und unmittelbar danach
  • hat er, obwohl dies keinem seiner Landsleute gefallen wollte, seine
  • Ehrfurcht vor dem vornehmen edlen Charakter unserer Schriftsteller
  • ausgesprochen. Mickiewicz hat recht. Unsere Schriftsteller tragen
  • wirklich die Züge einer höheren Natur. In Augenblicken klarsten
  • Bewußtseins, höchster Selbsterkenntnis haben sie uns oft ihre
  • geistigen Porträts hinterlassen, die freilich den Eindruck einer
  • Selbstverherrlichung machen würden, wenn nicht das ganze Leben des
  • Dichters eine Bestätigung ihrer Treue wäre. Indem Puschkin an seine
  • Zukunft denkt, sagt er
  • Und meinem Volke bleib' ich lange lieb und teuer,
  • Weil ich in ihm den Trieb zum Guten stets entflammt,
  • In grauser Zeit durchglüht sein Herz mit Freiheitsfeuer
  • Und den Gefallnen nie verdammt.
  • (Fiedler.)
  • Man braucht nur an Puschkin zu denken, um sofort zu erkennen, wie treu
  • dies Porträt ist. [Wie lebhaft konnte er werden, wie konnte er sich
  • begeistern, wenn es sich darum handelte, das Los eines armen Verbannten
  • zu mildern oder einem Gefallenen die Hand zu reichen. Wie ungeduldig
  • wartete er auf den Augenblick, wo der Zar ihm gnädig gestimmt war --
  • nicht etwa, um sich selbst in Erinnerung und Empfehlung zu bringen --
  • nein, um ein Wort für einen Unglücklichen oder Gefallenen einzulegen.
  • Ein echt russischer Zug.] Denke nur an jenes rührende Schauspiel, wenn
  • das ganze Volk zu den Verbannten kommt, die die Reise nach Sibirien
  • antreten, und wenn jeder etwas von seiner Habe mitbringt! der eine
  • Speise und Trank, der andere etwas Geld, ein dritter ein christlich
  • mildes Trostwort. Da gibt es nichts von Haß gegen den Verbrecher, auch
  • nichts von jener Donquichotterie, die aus ihm einen Helden machen will,
  • sich seine Unterschrift oder ein Bild von ihm zu verschaffen sucht, oder
  • ihn neugierig anstarrt, wie dies wohl im aufgeklärten Europa vorkommt.
  • Dies ist etwas Größeres: es ist auch nicht der Wunsch, ihn zu
  • entschuldigen oder der Hand der Gerechtigkeit zu entreißen; es ist der
  • Wunsch, seinen sinkenden Mut zu heben, ihn zu trösten, wie ein Bruder
  • den Bruder tröstet, wie Christus uns gelehrt hat, einander zu trösten.
  • Puschkin hatte eine sehr hohe Meinung von dieser Neigung, den Gefallenen
  • wieder zu erheben. Daher pochte auch sein Herz so stolz und stürmisch,
  • als er davon hörte, daß der Monarch nach Moskau kommen wolle, während
  • dort die Cholera wütete. -- Eine Regung wie diese hatte wohl noch kein
  • Monarch gezeigt; und so konnte sie der Anlaß zu jenen wundervollen
  • Versen werden:
  • Beim Himmel, wer so kalt und fest
  • Dem schwarzen Tode kann begegnen
  • Um andrer willen, ist ein Held.
  • Ihn wird der Himmel ewig segnen,
  • Wie auch der Spruch der blinden Welt
  • Mag lauten ....
  • (Fiedler.)
  • Und in der gleichen Weise hat er einen andern Zug aus dem Leben eines
  • anderen Monarchen: Peters des Großen, verherrlicht. Denke an das
  • Gedicht: »_Das Fest an der Newa_«, wo er erstaunt fragt, was wohl der
  • Anlaß zu jenem ungewöhnlichen lauten Jubel, jener Feier im Hause des
  • Zaren sein mag, von der ganz Petersburg und die ganze Newa widerhallt,
  • die vom Kanonendonner erschüttert wird. Er zählt alle Ereignisse auf,
  • die das Herz des Zaren erfreut haben mögen und der Anlaß zu diesem
  • großen Jubelfeste sein könnten; er fragt sich: ist dem Zaren ein
  • Thronerbe geboren, feiert die Zarin, seine Gemahlin, ihren Geburtstag,
  • triumphiert der Zar über einen unbesiegbaren Feind, oder ist die Flotte,
  • für die der Zar eine besondere Leidenschaft hatte, im Hafen eingelaufen?
  • Und er antwortet auf alle diese Fragen:
  • Weil zum Feind er stieg hernieder
  • Und begrub uralten Groll,
  • Schäumen Becher, tönen Lieder,
  • Ist der Zar so freudenvoll,
  • Herrschet Jubel in den Hallen,
  • Rauscht das Fest am Newastrand.
  • Und Kanonenschüsse schallen
  • Donnernd durch das weite Land.
  • Puschkin allein konnte die ganze Schönheit einer solchen Handlung
  • empfinden. Seinem Untertan nicht nur vergeben können, sondern diese Tat,
  • diesen Akt der Vergebung auch noch feiern, wie den Sieg über einen Feind
  • -- das ist ein wahrhaft göttlicher Zug. Nur im Himmel ist man solcher
  • Handlungen fähig. Nur dort ist mehr Freude über die Reue eines Sünders
  • als über einen Gerechten und alle unsichtbaren himmlischen Heerscharen
  • nehmen an dem himmlischen Festmahle Gottes teil. Puschkin war ein Kenner
  • alles Großen im Menschen, für das er ein tiefes Verständnis hatte, und
  • wie hätte es auch anders sein können, wenn die innere Vornehmheit ein
  • charakteristischer Zug fast aller unserer Schriftsteller ist? Es ist
  • höchst merkwürdig, daß die Schriftsteller in allen anderen Ländern wegen
  • ihres persönlichen Charakters nicht die volle Achtung der Gesellschaft
  • genießen. Bei uns ist es gerade umgekehrt. Bei uns wird selbst ein
  • Mensch, der kein Schriftsteller, sondern ein bloßer Pfuscher ist, der
  • nicht allein keine schöne Seele hat, sondern sich bisweilen sogar recht
  • gemeine und niedrige Handlungen zuschulden kommen läßt, im Innern
  • Rußlands durchaus nicht für einen gemeinen Menschen gehalten. Im
  • Gegenteil, in allen Russen, selbst in denen, die kaum etwas von den
  • Schriftstellern hören, lebt etwas wie eine innere Überzeugung, daß der
  • Schriftsteller ein höheres Wesen ist, daß er unbedingt ein edler Mensch
  • sein muß, daß sich vieles für ihn nicht schickt und daß er sich manches
  • nicht gestatten darf, was man andern verzeiht. In einer unserer
  • Provinzen gab ein Adliger, der zugleich Literat war, während der Wahlen
  • zur Adelsversammlung seine Stimme einem Menschen, der kein ganz reines
  • Gewissen hatte -- da wandten sich alle Adligen sofort gegen ihn,
  • tadelten ihn und sagten vorwurfsvoll: »Und das will ein Schriftsteller
  • sein!«
  • 1846.
  • XI
  • Diskussionen
  • Aus einem Brief an L***
  • Der Streit um den Grundcharakter unserer europäischen und slawischen
  • Natur, der, wie du sagst, bereits in unsere Salons einzudringen beginnt,
  • beweist nur, daß wir bereits zu erwachen anfangen, aber noch nicht ganz
  • erwacht sind; daher ist es gar nicht verwunderlich, daß auf beiden
  • Seiten viel törichtes Zeug zusammengeredet wird. All diese Slawisten und
  • Europäisten -- Altgläubige und Neugläubige -- Östlinge und Westlinge --
  • (was sie aber in Wahrheit sind, weiß ich dir nicht zu sagen, weil sie
  • mir bis jetzt nur eine Karikatur auf das zu sein scheinen, was sie
  • wirklich sein wollen) -- sie alle sprechen von zwei ganz verschiedenen
  • Seiten derselben Sache, ohne auch nur zu ahnen, daß sie sich ja gar
  • nicht widersprechen, und daß eigentlich gar kein Anlaß zum Streit für
  • sie vorliegt. Die einen stehen zu nahe vor einem Gebäude und sehen nur
  • einen Teil von ihm, die andern stehen zu weit und sehen die ganze
  • Fassade, können aber dafür die einzelnen Teile nicht genau sehen.
  • Natürlich ist die Wahrheit mehr auf seiten der Slawophilen und Östlinge,
  • weil sie ja doch die ganze Fassade sehen, und folglich vom Ganzen und
  • nicht von den Teilen reden. Aber auch die Europäer und Westlinge haben
  • bis zu einem gewissen Grade recht, weil sie mit einer gewissen
  • Ausführlichkeit und Bestimmtheit von der Mauer reden, die sie
  • unmittelbar vor Augen haben; ihr Fehler besteht nur darin, daß sie über
  • dem Giebel, der diese Mauer krönt, die Spitze, in die der ganze Bau
  • ausläuft, d. h. das Kapitäl, die Kuppel und alle oberen Teile, nicht
  • sehen. Man könnte den einen den Rat geben, doch, wenn auch nur für einen
  • Augenblick, etwas näher heranzukommen, und den andern, ein wenig
  • zurückzutreten. Aber sie werden nicht darauf eingehen, weil der Geist
  • des Hochmuts beide gefangen hält. Jeder von beiden ist überzeugt, daß
  • das Recht ganz und ausschließlich auf seiner Seite, und das Unrecht ganz
  • und ausschließlich auf seiten des andern ist. Freilich ist mehr Hochmut
  • auf seiten der Slawophilen; sie prahlen gern, jeder von ihnen bildet
  • sich ein, er habe Amerika entdeckt, und macht aus jeder Mücke, die er
  • findet, einen Elefanten. Natürlich bringen sie mit solch trotzigen
  • Großsprechereien die Westlinge nur noch mehr gegen sich auf, die vieles
  • schon längst aufgegeben hätten, weil sie heute bereits mancherlei kennen
  • lernen, wovon sie früher nie etwas gehört haben, und sich nur noch
  • dagegen sträuben, weil sie dem allzu trotzig tuenden Gegner nicht gern
  • nachgeben wollen. [Diese Streitigkeiten wären alle miteinander nicht
  • gefährlich, wenn sie sich nur auf die Salons und die Zeitschriften
  • beschränkten. Das Schlimme ist, daß zwei entgegengesetzte Anschauungen,
  • die noch so wenig ausgereift und geklärt sind, bereits die Köpfe vieler
  • Männer von Ämtern und Würden zu beeinflussen beginnen. Man hat mir
  • erzählt, es käme vor -- und dies sei besonders dort der Fall, wo ein Amt
  • oder wo die Macht in den Händen zweier Personen liegt -- daß ein
  • Vorgesetzter vollkommen in europäischem Geiste zu wirken und zu regieren
  • sucht, während der andere ganz im altrussischen Geist zu wirken und alle
  • alten Einrichtungen zu befestigen strebt, die in einem absoluten
  • Gegensatz zu denen stehen, die sein Kollege einzuführen plant. Und
  • daraus erwächst, sowohl für die Sache selbst wie für die Beamten, nur
  • Unheil: sie wissen nicht mehr, wem sie gehorchen sollen. Und da beide
  • Ansichten, trotzdem sie so extrem sind, noch keinem völlig klar sind,
  • machen sich, wie man sagt, allerhand Schelme diesen Umstand zunutze.
  • Auch der Gauner hat jetzt die Möglichkeit, sich, sei es unter der Maske
  • eines Slawophilen oder Europaschwärmers -- wie sich's trifft -- d. h. je
  • nachdem was dem Vorgesetzten gerade mehr gefällt, ein hübsches Pöstchen
  • zu ergattern und dort entweder als Verteidiger der alten Sitten oder als
  • Vorkämpfer einer neuen Ordnung allerhand Durchstechereien zu verüben.]
  • Diese Streithändel sind überhaupt eine Angelegenheit, an der sich
  • klügere und ältere Leute nicht beteiligen sollten. Mag sich doch die
  • Jugend zuerst gründlich austoben: das ist ihre Sache. Glaube mir, es ist
  • nun einmal so und muß auch so sein, daß sich die größten Schreier
  • gründlich sattschreien müssen, damit die klugen Leute unterdessen einmal
  • gründlich nachdenken können. Höre aufmerksam zu, wenn sich die Menschen
  • um dich herum streiten, aber mische dich nicht selbst in ihren Streit.
  • Die Idee des Werks, das du schreiben willst, ist sehr vernünftig, und
  • ich bin sogar überzeugt, daß du dies besser machen wirst, als ein großer
  • Schriftsteller. Nur um eins bitte ich dich, arbeite nach Möglichkeit nur
  • in Stunden größter Kaltblütigkeit und Ruhe daran. Gott bewahre dich vor
  • jeglicher Heftigkeit und Hitze, auch bei dem unbedeutendsten Ausdruck.
  • Zorn ist nie am Platze, am wenigsten bei einer guten Sache, weil er ihr
  • gutes Recht nur trübt und verdunkelt. Sei immer eingedenk, daß du kein
  • Jüngling mehr, sondern bereits ein Mann in vorgeschrittenem Alter bist.
  • Einem jungen Mann stünde es vielleicht noch an, heftig zu sein und zu
  • zürnen: wenigstens verleiht ihm der Zorn in den Augen mancher Leute
  • etwas Schönes. Wenn dagegen ein alter Mann heftig wird, wird er ganz
  • einfach häßlich und wird von den jungen Leuten verspottet und lächerlich
  • gemacht. Siehe zu, daß man nicht einmal von dir sagt: »Dieser häßliche,
  • alte Mann! Sein ganzes Leben lang hat er auf der Bärenhaut gelegen und
  • nichts getan und nun tritt er plötzlich auf und macht andern Leuten
  • Vorwürfe wegen ihres schlechten Lebenswandels.« Aus dem Munde eines
  • alten Mannes sollen nur gütige, nicht aber laute und polternde Worte
  • kommen. Ein Geist reinster Milde und Sanftmut muß die hohen Reden des
  • Greises durchwehen, so daß die jungen Leute kein Wort der Entgegnung
  • finden und das Gefühl haben, daß jede Rede hier unziemlich wäre und daß
  • ein ergrautes Haupt etwas Ehrwürdiges habe.
  • 1844.
  • XII
  • Der Christ schreitet vorwärts
  • An Schtsch--w
  • Mein Freund! Halte dich nicht für mehr, als für einen Lehrling und für
  • einen Schüler. Glaube nicht, daß du schon zu alt bist, um noch zu
  • lernen, daß deine Kräfte und Fähigkeiten schon die rechte Reife und den
  • höchsten Grad der Entwicklung erreicht und daß dein Charakter und deine
  • Seele schon ihre rechte Gestalt angenommen haben und nicht mehr besser
  • werden können. Für einen Christen gibt es keine vollendete Lehrzeit, er
  • bleibt ein ewiger Lehrling, ein Schüler bis zum Grabe. Nach dem
  • gewöhnlichen Lauf der Dinge erreicht der Mensch seine höchste
  • Verstandesreife mit dreißig Jahren. Zwischen dem dreißigsten und
  • vierzigsten Jahre geht es mit seinen Kräften noch ein wenig aufwärts;
  • jenseits dieser Altersgrenze aber gibt es kein Fortschreiten mehr und
  • wird alles, was der Mensch produziert, nicht nur keineswegs besser,
  • sondern sogar schwächer und kälter als das, was er früher hervorgebracht
  • hat. Dies gilt jedoch nicht für einen Christen, und wo für die andern
  • die Grenze der Vollkommenheit liegt, da beginnt der Weg erst für den
  • Christen. Die begabtesten und fähigsten Menschen werden, wenn sie das
  • vierzigste Jahr überschritten haben, stumpf, müde und schwach. Nimm alle
  • Philosophen und die größten weltumspannenden Genies: ihre Blütezeit
  • fällt in die Epoche ihrer besten Mannesjahre; von da ab beginnt ihr
  • Geist bereits nachzulassen, und im Alter fallen sie sogar häufig in
  • Kindheit zurück. Denke zum Beispiel an Kant, der während seiner letzten
  • Jahre fast gänzlich das Gedächtnis verlor, ein Kind wurde und starb.
  • Vergleiche damit das Leben aller Heiligen, und du wirst sehen, daß sie
  • an Verstand und Geisteskräften erstarkten, je gebrechlicher sie wurden
  • und je mehr sie sich dem Tode näherten. Selbst die unter ihnen, die von
  • Natur keineswegs mit glänzenden Gaben ausgestattet waren und ihr ganzes
  • Leben lang für einfältig und dumm galten, setzten die Menschen später
  • durch die Weisheit ihrer Reden in Erstaunen. Woher kommt das wohl? Weil
  • sie sich jene vorwärtstreibende Kraft erhielten, die jeder andere Mensch
  • nur während seiner Jugendjahre besitzt, wenn er von Heldentaten träumt,
  • denen der Lohn des allgemeinen Beifalls winkt, wenn er noch in rosige
  • Fernen blickt, die für den Jüngling soviel Verlockendes haben. Versinken
  • aber diese Fernen erst einmal und mit ihnen die Heldentaten -- so
  • erlischt auch die Kraft, die ihn vorwärts treibt. Vor dem Christen aber
  • strahlt ewig eine lockende Ferne und ihm stehen stets unvergängliche
  • Heldentaten bevor. Wie ein Jüngling sehnt er sich nach den Kämpfen des
  • Lebens; ihm fehlt es nie an einem Feind, gegen den er zu streiten und
  • anzukämpfen hätte, weil sein in sich zurückgewandter Blick, der immer an
  • Schärfe und Klarheit zunimmt, ihm in seinem Innern stets neue Gebrechen
  • und Fehler aufdeckt, die ihn zu neuen Kämpfen aufrufen. Daher können
  • auch seine Kräfte nie ganz einschlummern oder schwächer werden, sie
  • werden vielmehr unaufhörlich geweckt, und der Wunsch, besser zu sein und
  • sich den himmlischen Beifall zu verdienen, ist ihm ein solcher Ansporn,
  • wie ihn nicht einmal der ehrgeizigste Mensch in seiner unersättlichen
  • Ehrsucht besitzt. Das ist der Grund, weswegen der Christ noch weiter
  • fortschreitet, wenn die andern Menschen bereits Rückschritte machen, und
  • warum er immer klüger wird, je weiter er fortschreitet.
  • Der Verstand ist nicht das höchste Vermögen in uns. Er hat lediglich
  • polizeiliche Funktionen; er kann nur die Dinge ordnen und jedem Ding
  • seinen Platz anweisen, das bereits in uns liegt. Er selbst aber
  • schreitet nicht vorwärts, wenn ihm die beiden andern Vermögen in uns,
  • aus denen er seine Weisheit schöpft, nicht vorangehen. Abstrakte
  • Lektüre, Grübeleien und ein fortgesetztes Studium aller Wissenschaften
  • tragen nur sehr wenig zu seiner Entwicklung bei: zuweilen ersticken sie
  • ihn sogar und hemmen sie ihn in seiner selbständigen Entwicklung. Er ist
  • weit abhängiger von den Zuständen des Gemüts: sowie die Leidenschaften
  • in uns zu toben beginnen, wird er blind und töricht; ist unsere Seele
  • dagegen ruhig und von keiner Leidenschaft bewegt, so erhellt und klärt
  • auch er sich und läßt uns klug und weise handeln. Die Vernunft ist ein
  • weit höheres Vermögen; aber sie wird nur durch den Sieg über die
  • Leidenschaften erworben. Nur solche Menschen haben sie besessen, die
  • ihre eigene Selbsterziehung nie vernachlässigten. Aber auch die Vernunft
  • setzt den Menschen noch nicht in den Stand, fortzuschreiten und vorwärts
  • zu streben. Es gibt ein noch höheres Vermögen; es heißt Weisheit, und
  • diese kann uns nur Christus allein verleihen. Sie wird keinem von uns
  • bei seiner Geburt in die Wiege gelegt, sie ist keinem von uns angeboren,
  • sondern ist ein Geschenk der höchsten, himmlischen Gnade. Der, der schon
  • Verstand und Vernunft besitzt, kann sich die Weisheit nur dadurch
  • erwerben, daß er Gott Tag und Nacht immer wieder in heißem Gebet bittet,
  • sie ihm herabzusenden, daß er seine Seele bis zur reinsten
  • unschuldigsten Güte und Milde erhebt und alles in sich nach bestem
  • Vermögen reinigt und in Ordnung bringt, um diesen himmlischen Gast in
  • sich aufzunehmen, der solche Wohnungen meidet, in denen noch keine
  • Ordnung im seelischen Hausgerät herrscht und wo noch nicht alles ganz
  • einträchtig und harmonisch zusammenklingt. Wenn jedoch die Weisheit das
  • Haus betritt, dann beginnt ein himmlisches Leben für den Menschen, und
  • er lernt die ganze wundersame Süßigkeit kennen, die darin liegt, ein
  • Schüler zu sein; die ganze Welt wird seine Lehrerin, der geringste unter
  • den Menschen kann ihm zum Lehrer werden. Aus dem einfachsten Rat weiß er
  • die weise Belehrung, die in ihm steckt, herauszulesen; das törichteste
  • Ding wendet ihm seine tiefste, klügste Seite zu, und das ganze Weltall
  • liegt vor ihm, wie ein offenes Buch der Weisheit; mehr Schätze als alle
  • andern wird er aus diesem Buch schöpfen, denn weit lauter als den andern
  • wird es ihm aus ihm entgegentönen, daß er ein Schüler ist. Sollte ihn
  • jedoch auch nur für einen Augenblick der Wahn anwandeln, daß seine
  • Lehrjahre beendet seien, daß er kein Schüler mehr sei, und sollte er
  • sich durch eine ihm erteilte Lehre oder Belehrung gekränkt fühlen, so
  • wird die Weisheit plötzlich von ihm genommen werden, und er wird im
  • Dunkeln zurückbleiben, wie König Salomon in seinen letzten Tagen.
  • 1846.
  • XIII
  • Karamsin
  • Aus einem Brief an N. M. Jasykow
  • Ich habe den Aufsatz, den Pogodin zu Ehren Karamsins geschrieben hat,
  • mit großem Vergnügen gelesen. Das ist Pogodins beste Arbeit, sowohl der
  • Sauberkeit und Vornehmheit des Inhalts, als auch der äußeren Form nach:
  • seine gewöhnlichen groben und plumpen Ausfälle fehlen hier ganz, und
  • auch der Stil hat nichts von jener rohen Flüchtigkeit, die ihm so sehr
  • schadet. Vielmehr ist hier alles schön aufgebaut, wohl überlegt,
  • geordnet und vorzüglich disponiert. Alle Stellen aus Karamsin sind so
  • klug ausgewählt, daß Karamsin gewissermaßen ganz durch sich selbst
  • beleuchtet wird, er charakterisiert sich gleichsam selbst, bestimmt sich
  • mit seinen eigenen Worten den Wert und tritt damit dem Leser lebendig
  • vor Augen. Denn Karamsin ist in der Tat eine außergewöhnliche
  • Erscheinung. Unter unseren Schriftstellern ist er sicherlich der, von
  • dem man mit dem meisten Recht behaupten kann, er habe seine Aufgabe ganz
  • erfüllt, sein Pfund nicht in der Erde vergraben und für die fünf
  • Talente, die ihm verliehen waren, noch fünf neue hinzuerworben! Karamsin
  • war der erste, der den Beweis erbracht hat, daß ein Schriftsteller bei
  • uns unabhängig sei und von allen gleichmäßig als angesehenster Bürger
  • unseres Staates geachtet werden kann. Er hat zuerst feierlich verkündet,
  • daß die Zensur einem Schriftsteller nicht im Wege stehen könne, und daß
  • sie, wenn er nur in so hohem Maße von dem reinen Streben nach dem Guten
  • beseelt sei, daß dieses Streben seine ganze Seele erfüllt, ihm in
  • Fleisch und Blut übergegangen und sein tägliches Brot geworden ist, nie
  • zu streng gegen ihn verfahren werde, und daß er überall Freiheit
  • genießen könne. Er hat das ausgesprochen und bewiesen. Kein Mensch hat
  • eine so kühne und edle Sprache geführt wie Karamsin, ohne daß er darum
  • seine eigenen Gedanken und Meinungen zu unterdrücken brauchte, trotzdem
  • sie durchaus nicht in allen Punkten mit den Anschauungen der damaligen
  • Regierung übereinstimmten, und man hat unwillkürlich das Gefühl, daß er
  • allein ein Recht dazu hatte. Welch eine Lehre für einen Schriftsteller!
  • Und wie komisch erscheinen danach die unter uns, die da behaupten, man
  • könne in Rußland nie die ganze Wahrheit sagen, denn sie sei uns ein Dorn
  • im Auge! Und dabei drücken sie sich selbst so töricht und roh aus, daß
  • sie weit mehr, als durch die Wahrheit selbst, durch die hochmütigen
  • Worte verletzen, mit denen sie ihre Wahrheit zum Ausdruck bringen, und
  • deren maßlose Heftigkeit nur die Zuchtlosigkeit eines undisziplinierten
  • verworrenen Geistes bezeugt; und dann wundern sie sich noch und sind sie
  • empört, daß niemand ihre Wahrheit anerkennen und anhören will! Nein, man
  • muß ein so reines, harmonisches Gemüt besitzen wie Karamsin, dann erst
  • hat man ein Recht, jene Wahrheit zu verkünden: dann werden uns alle
  • anhören, vom Zaren bis herab zum letzten Bettler im Staate; ja man wird
  • uns mit solch einer Liebe und Hingebung zuhören, wie man in keinem Lande
  • der Welt einem parlamentarischen Redner und Verteidiger der Bürgerrechte
  • und keinem der hervorragenden Prediger zuzuhören pflegt, die die Elite
  • der modernen Gesellschaft um sich versammeln. Mit solch einer Liebe und
  • Hingebung vermag eben nur unser herrliches Rußland zuzuhören [von dem
  • man sich erzählt, daß es die Wahrheit überhaupt nicht liebt].
  • 1846
  • XIV
  • Vom Theater, von einer einseitigen Ansicht über das Theater und
  • von der Einseitigkeit überhaupt
  • An den Grafen A. P. T...
  • Sie sind sehr einseitig und zwar sind Sie erst seit kurzer Zeit so
  • einseitig geworden; und Sie sind es nur deshalb geworden, weil ein
  • Mensch, der sich in der Gemütsverfassung befindet, in der Sie sich jetzt
  • eben befinden, nicht anders als einseitig werden kann. Sie denken nur
  • noch an das Heil und die Rettung Ihrer Seele, und da Sie noch immer den
  • Weg nicht entdecken können, auf dem es Ihnen bestimmt ist, Ihr
  • Seelenheil zu finden, so halten Sie alles auf der Welt für sündhaft und
  • für ein Hindernis auf dem Wege zu Ihrer Rettung. Ein Mönch kann nicht
  • strenger sein, als Sie. So sind auch Ihre Ausfälle gegen das Theater
  • ganz einseitig und ungerecht. Sie suchen darin eine Stütze für Ihre
  • Ansicht, daß auch einige Geistliche, die Sie kennen, gegen das Theater
  • eifern: und sie haben ganz recht, während Sie unrecht haben. Denken Sie
  • einmal etwas tiefer darüber nach: _sind Sie wirklich_ gegen das Theater
  • oder nur gegen jene Form, jene Gestalt, in der es heute auftritt. Die
  • Kirche wandte sich in den ersten Jahrhunderten, als das Christentum
  • überall zur Annahme gelangt war, gegen das Theater, das war zu einer
  • Zeit, als das Theater noch der einzige Zufluchtsort des von überall
  • vertriebenen Heidentums und eine Freistätte seiner wilden Bacchanale
  • war. Das war der Grund, weswegen Johannes Chrysostomus so mächtig gegen
  • das Theater eiferte. Aber die Zeiten haben sich geändert. Die ganze Welt
  • hat sich erneut durch das Heraufkommen junger und frischer europäischer
  • Völker, deren Bildung und Erziehung bereits auf christlicher Grundlage
  • begann, und nun waren es die heiligen Männer selbst, die das Theater
  • wieder begründeten und einführten: an den geistlichen Akademien wurden
  • Theater gegründet. Unser Dimitrij Rostowski, der mit Recht zu den
  • heiligen Kirchenvätern gezählt wird, dichtete selbst Stücke, die zur
  • Aufführung bestimmt waren. Folglich liegt die Schuld nicht beim Theater.
  • Man kann alles in sein Gegenteil verkehren und allem einen schlechten
  • Sinn unterlegen; der Mensch ist hierzu fähig. Man muß einem Ding jedoch
  • stets auf den Grund gehen und in Betracht ziehen, was es sein soll, und
  • es nicht nach den Karikaturen beurteilen, die nach ihm hergestellt
  • wurden. Das Theater ist durchaus keine geringe Sache und keine
  • unwichtige Angelegenheit, wenn man berücksichtigt, daß es eine große
  • Menge von fünf- bis sechstausend Menschen mit einem Male in seinen
  • Räumen aufnehmen und beherbergen kann und daß diese ganze Menge, in der
  • die einzelnen, für sich genommen, nichts miteinander gemein haben,
  • plötzlich von einer großen Erschütterung ergriffen werden, in einem
  • einzigen Augenblick in _einen_ Strom von Tränen oder in ein einziges
  • allgemeines Gelächter ausbrechen kann. Das ist ein Katheder, von dem aus
  • man der Welt sehr viel Gutes sagen kann. Sie müssen freilich einen
  • Unterschied machen zwischen dem eigentlichen, sogenannten höheren
  • Theater und jenen Ballettaufführungen, Tänzen, Possen, Melodramen und
  • all jenem Flitter und falschen Prunk der Ausstattungsstücke, die nur für
  • das Auge berechnet sind und die nur einem korrupten Geschmack oder einem
  • korrupten Gefühl schmeicheln, und Sie müssen daneben das eigentliche
  • Theater ins Auge fassen. Ein Theater, in dem hohe Tragödien und Komödien
  • aufgeführt werden, muß in völliger Unabhängigkeit von allen anderen
  • Künsten dastehen. Es wäre ja auch merkwürdig, Shakespeare mit Tänzern
  • und Tänzerinnen in weißledernen Hosen unter einen Hut bringen zu wollen.
  • Welch eine Kombination! Die Beine sind etwas für sich, und ebenso ist
  • der Kopf etwas für sich. In einzelnen Gegenden Europas hat man das
  • begriffen: dort gibt es eigene Theater für die Werke der höheren
  • dramatischen Kunst, und nur diese Theater werden von der Regierung
  • subventioniert. Man sollte ganz ernsthaft darüber nachdenken, ob es
  • nicht möglich wäre, die besten Werke der dramatischen Kunst so zur
  • Aufführung zu bringen, daß das Publikum auf sie aufmerksam würde und daß
  • die wohltätige moralische Wirkung, die von allen großen Dichtern
  • ausgeht, ganz zur Geltung käme. Shakespeare, Sheridan, Molière, Goethe,
  • Schiller, Beaumarchais, sogar Lessing, Regnard und viele andere unter
  • den Dichtern zweiten Ranges aus dem verflossenen Jahrhundert haben
  • nichts geschrieben, was dazu beitragen konnte, unsere Achtung vor den
  • großen Gegenständen zu verringern; in ihren Dichtungen sind nicht die
  • leisesten Nachwirkungen davon zu spüren, was in den Werken der
  • fanatischen Autoren jener Zeit gärt und brodelt, die sich mit
  • politischen Fragen beschäftigten und die Saat der Mißachtung gegen das
  • Heilige ausstreuten. Wenn auch bei jenen einmal Hohn und Spott
  • aufblitzen, so richten sie sich gegen die Heuchelei, Gotteslästerung,
  • Verdrehung der Wahrheit und niemals gegen das, was die Wurzel aller
  • menschlichen Tugend bildet; im Gegenteil, ihre Liebe für das Gute ist
  • selbst dort noch streng und deutlich vernehmbar, wo sie ganze Garben
  • funkelnder Epigramme aufblitzen lassen. Häufige Wiederholungen
  • dramatischer Werke hohen Stils, d. h. jener wahrhaft klassischen Stücke,
  • die sich mit dem Wesen und mit der Seele der Menschen beschäftigen,
  • müssen dazu führen, daß die Menschen sich festen Grundsätzen zuneigen
  • und in ihnen bestärkt werden und daß sich ihre Charaktere unmerklich
  • innerlich kräftigen und befestigen, während diese Flut von leichten und
  • nichtssagenden Stücken, von all diesen Possen und schlecht durchdachten
  • Dramen bis hinauf zum Ballett und selbst zur Oper nur ablenkt und
  • zerstreut und die Gesellschaft oberflächlich und leichtsinnig macht.
  • Eine Welt, deren Aufmerksamkeit durch Millionen glänzender Gegenstände
  • in Anspruch genommen wird, die unsere Gedanken nach allen Richtungen
  • ablenken und zerstreuen, wird Christus nicht so bald auf ihrem Wege
  • begegnen. Sie ist noch zu weit von den himmlischen Wahrheiten des
  • Christentums entfernt. Sie wird erschrocken zurückweichen, wie vor
  • finsteren Klostermauern, wenn man ihr keine unsichtbare Leiter reicht,
  • die zum Christentum emporführt, und wenn man sie nicht auf einen höheren
  • Platz geleitet, von dem aus sie den unendlichen Horizont des
  • Christentums besser überschauen und alles besser erkennen kann, was ihr
  • früher gänzlich unverständlich war. In der Welt gibt es vielerlei, was
  • allen, die sich vom Christentum entfernt haben, als Leiter dienen kann,
  • die sie unsichtbar zum Christentum emporleitet, darunter auch das
  • Theater, wenn es seiner höchsten Bestimmung zugeführt werden könnte. Man
  • müßte die vollkommensten Werke aller Zeiten und Völker in ihrer ganzen
  • strahlenden Schönheit zur Aufführung bringen. Man müßte sie häufiger, ja
  • so häufig als möglich, aufführen, man müßte ein und dasselbe Werk
  • fortwährend wiederholen. Und das ist sehr wohl möglich. Man kann allen
  • Stücken ihre Frische und Neuheit wiedergeben, so daß sie alle
  • interessieren, die Kleinsten wie den Größten, wenn man es nur versteht,
  • sie richtig aufzuführen. Das sind Torheiten, daß sie veraltet sind und
  • daß das Publikum den Geschmack an ihnen verloren hat. Das Publikum ist
  • gar nicht so launenhaft, es wird einem immer dorthin folgen, wohin man
  • es führt. Wenn ihm die Autoren nicht stets ihre üblen Melodramen
  • vorsetzen würden, würde das Publikum auch keinen Geschmack an ihnen
  • finden und nicht nach ihnen verlangen. Man nehme das abgespielteste
  • Stück und führe es auf, wie es sich gehört, dann wird das Publikum in
  • Scharen herbeiströmen. Molière wird ihm ganz neu erscheinen. Shakespeare
  • wird es mehr locken als die modernste Posse. Aber freilich muß eine
  • solche Aufführung tatsächlich und absolut künstlerisch sein, und diese
  • Aufgabe muß stets einem wahrhaften Künstler und dem allerersten und
  • tüchtigsten Schauspieler, der sich in der ganzen Truppe findet,
  • anvertraut werden. Auch soll man ihm nicht etwa noch einen Gehilfen,
  • irgendeinen Beamten und Sekretär, als Anhängsel zugesellen, sondern er
  • soll alles allein machen und allein über alles verfügen. Es muß sogar
  • besonders dafür gesorgt werden, daß die ganze Verantwortlichkeit ihm
  • allein zufalle; man muß ihn öffentlich vor versammeltem Publikum
  • sämtliche Nebenrollen -- und zwar eine nach der anderen -- spielen
  • lassen, um den weniger bedeutenden Schauspielern lebendige Vorbilder vor
  • Augen zu stellen; denn diese studieren ihre Rollen nach toten
  • Vorbildern, die durch eine dunkle Überlieferung bis auf sie gekommen
  • sind, sie schöpfen ihre Belehrung aus Büchern und nehmen kein wirkliches
  • lebendiges Interesse an ihren Rollen. Schon diese Darstellung
  • untergeordneter Rollen durch einen erstklassigen Schauspieler kann das
  • Publikum anlocken und es reizen, sich ein und dasselbe Stück zwanzigmal
  • nacheinander anzusehen. Wen könnte es nicht interessieren, Schtschepkin
  • oder Karatygin Rollen spielen zu sehen, die sie bisher noch niemals
  • gespielt haben! Wenn dann ein solcher erstklassiger Schauspieler auf
  • seine alte Rolle zurückkommt, nachdem er sämtliche anderen Rollen
  • gespielt hat, wird er sich einen ganz andern, umfassenderen Begriff von
  • seiner Rolle, sowie von dem ganzen Stück gebildet haben; das Stück aber
  • wird durch diese Vollkommenheit der Darstellung -- etwas bisher völlig
  • Unerhörtes -- für den Zuschauer noch mehr an Interesse gewinnen. Es gibt
  • nichts, was den Menschen stärker ergreift und erschüttert, als jene
  • vollkommene Ausgeglichenheit und Übereinstimmung aller Teile, wie sie
  • ihm bisher nur in der Ausführung eines Musikstückes durch ein Orchester
  • entgegentreten konnte, und durch die man es dahin zu bringen vermag, daß
  • ein Werk der dramatischen Kunst häufiger hintereinander gegeben werden
  • kann, als die beliebteste Oper. Man mag sagen, was man will, aber die in
  • Worte gefaßten Töne des Herzens und der Seele sind weit mannigfaltiger,
  • als die Töne der Musik. Ich muß jedoch wiederholen, dies alles ist nur
  • dann möglich, wenn diese Aufgabe auch tatsächlich so ausgeführt, wie es
  • sich gehört, und wenn die volle Verantwortlichkeit für das Repertoire
  • einem erstklassigen Schauspieler zufällt, d. h. wenn die Tragödien von
  • dem ersten tragischen und die Komödien vom ersten komischen Schauspieler
  • inszeniert werden und wenn beide ganz allein die Leitung des Ganzen
  • innehaben. [Ich sage: sie allein, weil ich weiß, wieviel Leute es bei
  • uns gibt, die bei jeder Sache dabei sein wollen und sich überall
  • herandrängen. Sowie irgendein Posten geschaffen wird, der mit
  • irgendwelchen Geldeinnahmen verknüpft ist, so ist auch schon irgendein
  • Sekretär bei der Hand, der sich hinzudrängt. Woher er plötzlich kommt,
  • das weiß Gott allein: es ist, wie wenn er plötzlich aus dem Wasser
  • emporgetaucht wäre; er beweist euch sofort, so klar wie daß zwei mal
  • zwei vier ist, seine Unentbehrlichkeit, beginnt damit, daß er Papiere
  • und Akten über ökonomische Fragen vollschreibt und dann fängt er
  • allmählich an, sich in alles hineinzumengen, bis schließlich alles in
  • Unordnung gerät. Diese Sekretäre sind wie ein unsichtbarer
  • Mottenschwarm; sie haben alle Berufe und Ämter unterwühlt, und das
  • Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen einerseits und den
  • Untergebenen und Vorgesetzten andererseits gänzlich verwirrt und
  • verschoben. Wir haben uns erst neulich über alle Berufe und Ämter
  • unterhalten, die es in unserem Vaterlande gibt. Indem wir ein jedes Amt
  • innerhalb der ihm gezogenen Grenzen betrachteten, fanden wir, daß sie
  • gerade das sind, was sie sein sollen, daß sie gewissermaßen wie durch
  • die Hand des Höchsten dafür geschaffen sind, um allen Bedürfnissen
  • unseres Staatslebens zu genügen, und daß sie alle insgesamt von ihrem
  • wahren Ziel abgewichen sind, weil jedermann mit allen andern darum zu
  • wetteifern schien, die Grenze der ihm gezogenen Berufspflichten zu
  • zerstören oder sich völlig über sie hinwegzusetzen. Alle, selbst ganz
  • kluge und ehrliche Leute, wollten durchaus, wenn auch nur um ein
  • Zollbreit, mehr Macht haben und den Kreis ihrer Tätigkeit überschreiten,
  • weil sie glaubten, daß sie selbst und ihr Beruf hierdurch vornehmer und
  • edler werden müßten. Wir sind damals sämtliche Beamtenkategorien, von
  • den höchsten bis zu den niedrigsten, durchgegangen, die Sekretäre aber
  • haben wir vergessen, und gerade sie neigen am meisten dazu, die Grenzen
  • ihres Berufs zu überschreiten. Wo ein Sekretär lediglich Schreiberarbeit
  • zu leisten hat, sucht er die Rolle eines Vermittlers zwischen
  • Vorgesetzten und Untergebenen zu spielen. Wo man eines solchen
  • Vermittlers zwischen Vorgesetzten und Untergebenen bedarf und wo ihm
  • diese Vermittlung übertragen wird, da beginnt er, wichtig zu tun; er tut
  • dem Untergebenen gegenüber so, als ob er selbst sein Vorgesetzter wäre,
  • er richtet sich ein Vorzimmer ein, läßt die Leute stundenlang auf sich
  • warten, kurz: statt den Untergebenen den Zutritt zu ihrem Vorgesetzten
  • zu erleichtern, trägt er nur dazu bei, ihn noch mehr zu erschweren. Und
  • dies alles geschieht häufig nur deshalb, um der Stellung eines Sekretärs
  • einen Schein von Vornehmheit zu geben. Ich habe sogar einige treffliche
  • und gescheite Leute gekannt, die die Untergebenen ihres Vorgesetzten in
  • meiner Gegenwart so behandelten, daß ich für diese Menschen erröten
  • mußte. Mein Chlestakow war in solchen Augenblicken ein Stümper gegen
  • sie. Dies alles wäre übrigens noch nicht so schlimm, wenn es nicht so
  • viele traurige Folgen hätte. Viele wahrhaft nützliche und unentbehrliche
  • Menschen sind schon aus dem Staatsdienst ausgetreten lediglich wegen der
  • Niedertracht eines Sekretärs, der die gleiche Achtung für sich in
  • Anspruch nahm, die sie allein dem Vorgesetzten schuldeten, und der sich,
  • wenn ihm jemand diese Achtung verweigerte, dadurch rächte, daß er ihn zu
  • verleumden suchte, dem Vorgesetzten eine schlechte Meinung von ihm
  • beibrachte, kurz sich der niederträchtigsten Mittel bediente, deren nur
  • ein ehrloser Mensch fähig ist. In den Departements für die schönen
  • Künste usw. liegt die Oberleitung in den Händen eines Komitees oder
  • eines unmittelbaren Vorgesetzten, der an der Spitze steht, und da gibt
  • es meist keinen Sekretär, der die Rolle eines Vermittlers spielt: da hat
  • er lediglich die Verfügungen anderer schriftlich zu fixieren oder er hat
  • die Geschäftsführung und die Verwaltung der Finanzen inne; zuweilen aber
  • kommt es doch auch dort vor, daß er sich dort infolge der Trägheit der
  • Mitglieder oder aus irgendeinem andern Grunde immer tiefer einnistet und
  • die Rolle eines Vermittlers oder sogar eines künstlerischen Leiters an
  • sich reißt. Und dann ist einfach der Teufel los: der Zuckerbäcker fängt
  • an Stiefel zu machen und der Schuster muß Kuchen backen. Ein Künstler
  • erhält Instruktionen, die nicht von einem Künstler herrühren; es
  • erscheint eine Verordnung, von der man überhaupt nicht verstehen kann,
  • wozu sie erlassen worden ist. Oft wundert man sich, wie ein Mensch, der
  • doch bis dahin ganz gescheit war, plötzlich ein so törichtes
  • Schriftstück abfassen konnte; dabei aber ist er nicht im mindesten daran
  • beteiligt; das Schriftstück stammt aus einer Quelle, an die kein Mensch
  • auch nur denken konnte, wie das Sprichwort sagt: Ein Schreiber hat's
  • hingeschmiert, dem der Name Hündchen gebührt.]
  • Bei jeglicher Kunst sollte die letzte und höchste Durchführung und
  • Ausführung in den Händen eines höchsten Meisters dieser Kunst liegen
  • [und nicht in den Händen irgendeines Sekretärs, der lediglich bei der
  • Verwaltung des Geschäfts und der Finanzen verwendet werden sollte]. Nur
  • der Meister selbst kann Unterricht in seiner Kunst erteilen, da er
  • allein alles kennt, was dazu erforderlich ist, und kein anderer. Nur ein
  • erstklassiger Schauspieler, der ein wirklicher Künstler ist, kann eine
  • gute Auswahl von Stücken treffen und sie nach strengen Grundsätzen
  • sichten; er allein kennt das Geheimnis, wie die Proben geleitet werden
  • müssen, er weiß, wie wichtig es ist, häufige Leseproben und
  • Probeaufführungen des ganzen Stückes zu veranstalten. Er wird es dem
  • Schauspieler nicht einmal erlauben, seine Rolle zu Hause auswendig zu
  • lernen, sondern es so einrichten, daß die Schauspieler das Ganze
  • zusammen einstudieren und daß jeder seine Rolle ganz von selbst während
  • der Proben lernt und im Kopfe behält, so daß er durch die Umstände
  • selbst, durch das ihn umgebende Milieu und durch die bloße Berührung mit
  • ihm unwillkürlich den richtigen und seiner Rolle angemessenen Ton
  • trifft. Dann kann auch ein schlechter Schauspieler manches Gute lernen:
  • solange die Schauspieler ihre Rolle noch nicht auswendig können, können
  • sie sich vieles von einem guten Schauspieler aneignen. Hier erfüllt sich
  • jeder, ohne selbst zu wissen, wie es geschieht, mit Wahrheit und
  • Natürlichkeit, sowohl in der Rede als auch in den Bewegungen. Der Ton
  • der Frage verleiht dem Ton der Antwort seine Farbe. Ist die Frage in
  • einem geschwollenen hochtrabenden Ton gehalten, so wird auch die Antwort
  • hochtrabend sein; stelle eine einfache Frage, so wird auch die Antwort
  • einfach ausfallen. Selbst der einfachste, schlichteste Mensch ist
  • imstande, eine passende Antwort zu geben. Aber wenn der Schauspieler
  • seine Rolle zu Hause auswendig gelernt hat, dann wird seine Antwort
  • geschwollen und einstudiert klingen, und diesen Ton der Antwort wird er
  • nie wieder loswerden können. Du wirst nie einen andern aus ihm machen,
  • kein Wort, keinen Tonfall wird er von dem besseren Schauspieler lernen;
  • die ganze Umgebung, alle Dinge und Charaktere, unter denen sich der von
  • ihm dargestellte Charakter bewegt, werden stumm für ihn bleiben, und
  • auch das Stück wird ihm fremd bleiben und ihm nichts sagen, und er wird
  • sich wie ein Toter zwischen Toten bewegen. Nur ein Schauspieler, der ein
  • wahrhafter Künstler ist, hat ein Gefühl für das Leben, das in einem
  • Stück pulsiert, und kann es dahin bringen, daß dieses Leben auch allen
  • Schauspielern sichtbar, und lebendig von ihnen empfunden wird, nur er
  • allein hat den richtigen Maßstab für die Veranstaltung der Proben, wie
  • sie geleitet werden müssen, wann man mit ihnen aufhören kann, und
  • wieviel Proben genügen, um das Stück dem Publikum in wirklicher
  • Vollendung vorzuführen. Man muß es nur verstehen, diesen Schauspieler
  • und Künstler dazu zu bewegen, daß er sich dieser Sache wie seiner
  • eigensten intimsten Aufgabe annimmt, man muß ihm beweisen, daß das seine
  • Pflicht ist und daß die Ehre seiner eigenen Kunst dies von ihm fordert
  • -- so wird er es tun, so wird er es durchführen, weil er seine Kunst
  • lieb hat. Ja, er wird sogar noch mehr tun, er wird dafür sorgen, daß
  • auch der unbedeutendste Schauspieler seine Rolle gut spielt, und wird
  • seine eigene Aufgabe in der strengen Vollendung des Ganzen sehen. Er
  • wird nie dulden, daß ein banales oder nichtssagendes Stück auf die Bühne
  • gelangt, [das vielleicht ein Beamter, dem es nur darum zu tun ist, daß
  • möglichst viel Geld in die Kasse kommt, aufführen lassen würde], er wird
  • es nicht dulden, weil schon sein inneres, ästhetisches Gefühl das Stück
  • ablehnen wird. Er ist auch nicht imstande, einen Druck auf die ihm
  • anvertrauten Schauspieler auszuüben, sie zu tyrannisieren und zu
  • schikanieren, [wie das Leute aus dem Beamtenstande tun], die Rücksicht
  • auf den Ruhm und das Ansehen seines Namens wird ihm dies nicht erlauben.
  • [Irgendein Beamter, z. B. ein Sekretär dagegen wird dreist und ruhig
  • eine Gemeinheit begehen, da er fest davon überzeugt ist, daß niemand was
  • davon erfahren wird, selbst wenn er sich noch so viel Gemeinheiten
  • zuschulden kommen läßt, weil er ja eine Null ist, die niemand beachtet.
  • Wenn sich dagegen ein Schtschepkin oder Karatygin etwas Unrechtes
  • zuschulden kommen lassen würden, so würde dies sofort allgemeines
  • Stadtgespräch werden. Darum ist es so ungeheuer wichtig, daß bei jeder
  • Sache die Hauptlast der Verantwortung auf einen Mann fällt, den bereits
  • jeder in der Gesellschaft kennt.] Und endlich wird ein Schauspieler, der
  • zugleich ein Künstler ist, der völlig in seiner Kunst lebt und aufgeht,
  • dessen höchstes Lebenselement die Kunst ist, über deren Reinerhaltung er
  • wacht und die er hütet wie ein Heiligtum, es nie dulden, daß das Theater
  • eine Pflanzstätte des Lasters werde. -- Also: die Schuld liegt nicht
  • beim Theater. Man reinige das Theater erst einmal von all dem Schutt und
  • Plunder, der darauf ruht, und dann mag man zusehen und darüber urteilen,
  • was das Theater ist. Ich habe hier nicht deshalb die Sprache aufs
  • Theater gebracht, weil ich durchaus vom Theater sprechen wollte, sondern
  • deshalb, weil man das, was hier übers Theater gesagt wurde, auf alle
  • Dinge anwenden kann. Es gibt viele Gegenstände, die darunter zu leiden
  • haben, daß man ihre eigentliche Bedeutung verfälscht und verdreht, und
  • da es ja überhaupt viele Leute in der Welt gibt, die die Neigung haben,
  • gleich in der ersten Hitze und Erregung zu handeln oder, wie es im
  • Sprichwort heißt, »das Kind mit dem Bade auszuschütten«[3] lieben, so
  • wird vieles, was uns allen zu Nutz und Frommen dienen könnte,
  • vernichtet. Einseitige Menschen, die überdies noch Fanatiker sind, sind
  • ein Krebsschaden für die Gesellschaft; wehe dem Lande oder dem Staat, in
  • dem solche Leute einen Teil der Macht in die Hände bekommen. Sie wissen
  • nichts von christlicher Demut und von Zweifeln an sich selbst; sie sind
  • fest davon überzeugt, daß die ganze Welt lügt und nur sie allein die
  • Wahrheit reden. Lieber Freund! Geben Sie doch ein wenig mehr acht auf
  • sich! Sie befinden sich gerade in diesem gefährlichen Zustande. Es ist
  • ein Glück, daß Sie noch keine Stellung haben und daß Sie nicht mit der
  • Verwaltung eines Amtes betraut sind: Sie, den ich als Menschen kenne,
  • der dazu befähigt ist, die schwierigsten und verantwortlichsten
  • Stellungen auszufüllen, Sie könnten weit mehr Unheil und Unordnung
  • anrichten, als der unbegabteste von allen unbegabten Menschen. Nehmen
  • Sie sich auch mit Ihrem Urteil über alle Dinge in acht! Seien Sie nicht
  • wie jene frommen Eiferer, die mit einem Male alles, was es auf der Welt
  • gibt, vernichten möchten, da sie alles für eitel Teufelswerk halten. Es
  • ist ihr Los, in die gröbsten Irrtümer zu verfallen. Etwas Ähnliches hat
  • sich neulich auf literarischem Gebiet ereignet. Da sind plötzlich Leute
  • erschienen und haben öffentlich in der Presse erklärt, Puschkin sei ein
  • Deist und kein Christ gewesen; wie wenn sie in Puschkins Seele
  • hineingeblickt hätten, und wie wenn Puschkin durchaus verpflichtet
  • gewesen wäre, in seinen Gedichten von den höchsten Dogmen des
  • Christentums zu sprechen, wozu sich selbst ein Priester der Kirche nur
  • mit großer Angst und tiefster Ehrfurcht entschließt, nachdem er sich
  • durch einen wahrhaft heiligen Lebenswandel dazu vorbereitet hat! Nach
  • der Ansicht dieser Leute sollte man die höchsten und erhabensten Ideen
  • des Christentums in Reimform bringen und sie wohl gar zu einer Art
  • Versspiel machen. Puschkin hat sehr klug daran getan, daß er es nicht
  • wagte, das, wovon seine Seele noch nicht bis ins Innerste durchdrungen
  • war, in Verse zu kleiden, und daß er es vorzog, allen denen, die sich
  • bereits sehr weit von Christus entfernt hatten, eine unsichtbare Sprosse
  • zum Höchsten zu sein, statt sie durch seelenlose Verse, wie sie von
  • Leuten geschrieben werden, die sich Christen nennen, dem Christentum
  • völlig zu entfremden. Ich kann gar nicht verstehen, wie es einem
  • Kritiker auch nur einfallen konnte, in der Presse ganz offen und vor
  • allen Leuten eine solche Beschuldigung gegen Puschkin zu erheben, seine
  • Werke wirkten demoralisierend auf die Menschen, wo doch selbst die
  • Zensur laut Vorschrift verpflichtet ist, wenn der Sinn eines Werks nicht
  • ganz klar aus dem Werk hervorgeht, ihm eine möglichst ungesuchte und
  • einfache Deutung zu geben, die möglichst günstig für den Autor ist, und
  • nicht eine falsche und gekünstelte, die dem Autor schaden muß. Wenn das
  • sogar der Zensur zur Vorschrift gemacht wird, die immer stumm sein und
  • schweigen muß und nicht einmal die Möglichkeit hat, sich vor dem
  • Publikum zu rechtfertigen, um wieviel mehr muß sich die Kritik das zum
  • Gebot machen, die selbst über die unbedeutendsten Motive und Handlungen
  • Aufklärung geben und sich ihretwegen rechtfertigen kann! Öffentlich
  • erklären, ein Mensch sei kein Christ, ja er sei sogar ein Feind Christi,
  • indem man sich auf einige Fehler seines Charakters und darauf beruft,
  • daß er der Welt und ihren Versuchungen erlegen sei, wie doch jeder von
  • uns ihnen erliegt -- ist das etwa christlich gehandelt? Ja, wer von uns
  • ist denn dann ein Christ? Auf diese Weise kann ich schließlich auch dem
  • Kritiker selbst vorwerfen, daß er kein Christ sei. Ich kann sagen, ein
  • Christ könne nicht mit solcher Sicherheit auf seinen Verstand bauen, um
  • ein Urteil in einer so dunklen Sache zu fällen, die Gott allein kennt
  • und begreift, denn ein Christ weiß, daß unser Verstand nur bei einem
  • ganz reinen heiligen Leben der vollen Klarheit teilhaftig und dazu
  • befähigt wird, einen Gegenstand von allen Seiten zu sehen; der
  • Lebenswandel eines solchen Menschen aber ist vielleicht doch noch nicht
  • so ganz rein und heilig. Ein Christ wird sich erst besinnen, ehe er sich
  • entschließt, jemand eines solchen schweren Verbrechens anzuklagen, wie
  • des, er wolle Gott nicht in der Gestalt anerkennen, in der ihn uns
  • Gottes Sohn selbst, der zu uns auf die Erde herabgestiegen ist,
  • anzubeten geboten hat, -- denn das ist eine furchtbare Beschuldigung. Er
  • wird ferner erklären: in der Poesie ist noch vieles ein Geheimnis; es
  • ist schon nicht leicht, über einen gewöhnlichen Menschen ein Urteil zu
  • fällen, und erst ein abschließendes und endgültiges Urteil über einen
  • Dichter fällen zu wollen, das kann nur ein Mensch, der selbst etwas vom
  • Geist der Poesie in sich trägt und beinahe ein dem Dichter selbst
  • ebenbürtiger Dichter ist -- wie dies ja auch für jedes einfache Handwerk
  • oder jede Kunstfertigkeit zutrifft, wo ja auch jeder in gewissem Maße
  • mitsprechen kann, wo aber nur der Meister selbst ein umfassendes und
  • endgültiges Urteil fällen darf. Kurz, der Christ wird in erster Linie
  • Demut üben, die sein vornehmstes Banner ist, an dem man erkennen kann,
  • daß er ein Christ ist. Statt von den Stellen in Puschkin zu reden, deren
  • Sinn noch dunkel ist und auf zwei verschiedene Weisen ausgelegt werden
  • kann, wird ein Christ nur von den Werken sprechen, die ganz klar sind,
  • die aus seinem reifen Mannesalter und nicht aus seiner schwärmerischen
  • Jugendzeit stammen. Er wird sein gewaltiges Gedicht »An einen
  • Kirchenfürsten« anführen, in dem Puschkin von sich selbst redet und
  • sagt: auch in den Jahren, als er noch für die Schönheit und das Treiben
  • dieser Erdenwelt begeistert gewesen sei, habe der bloße Anblick des
  • Dieners Christi einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht.
  • [Fußnote 3: »Aus Ärger über die Läuse in den Ofen mit dem Pelz!«]
  • Da traf dein Wort mich wundereigen
  • Mit überirdischer Gewalt,
  • Und meine Finger ließen schweigen
  • Die Saiten, die wie Hohn geschallt.
  • Mein Herz in seinem tiefsten Horte
  • Schlug reuekrank, gewissenswund;
  • Beim Chrysam deiner duft'gen Worte
  • Ward es zu neuem Sein gesund.
  • Aus deiner Geisteshöhe reichst du
  • Mir deine Hand zur Stütze nun;
  • Mit sanfter Liebeshand verscheuchst du
  • Den Sturm -- und meine Sinne ruhn.
  • Das ewig Wahre, ewig Schöne
  • Durchflammt das Herz mir im Gebet;
  • Stumm hört des Seraphs Harfentöne
  • Im heiligen Schauder der Poet.
  • (Fiedler.)
  • Das ist ein Gedicht, auf das ein Kritiker hinweisen wird, der ein
  • wahrhafter Christ ist! Dann wird seine Kritik einen Sinn erhalten und
  • Gutes stiften: damit wird sie die gute Sache stärken und kräftigen, denn
  • sie wird zeigen, wie selbst ein Mensch, dessen Geist all die
  • verschiedenartigen Glaubenssätze und alle Fragen seiner Zeit umfaßte,
  • Fragen, die noch so unklar und verworren sind, die uns so weit von
  • Christus entfernen, wie selbst solch ein Mensch in seinen besten
  • Momenten, in Augenblicken höchster Klarheit, dichterischer Erleuchtung
  • und Hellsichtigkeit die Hoheit des Christentums über alles stellte. Was
  • aber hat die Kritik jetzt für einen Sinn? frage ich. Wozu kann es gut
  • sein, daß man die Menschen irreführt, indem man Zweifel und Argwohn
  • gegen Puschkin in ihre Seelen sät? Es ist doch keine Kleinigkeit, den
  • klügsten Menschen seiner Zeit als einen Mann hinzustellen, der das
  • Christentum negiert -- einen Menschen, zu dem das geistige Rußland wie
  • zu seinem Führer emporschaut, der alle andern Menschen weit hinter sich
  • gelassen und überholt hat! Es ist noch gut, daß es ein so unbegabter und
  • unfähiger Kritiker war und daß es ihm daher nicht gelingen konnte, einer
  • solchen Lüge Eingang zu verschaffen, und daß Puschkin selbst Gedichte
  • hinterlassen, die diese Lüge widerlegen; [wäre es nicht so gewesen, was
  • hätte er anderes tun können, als Unglauben statt Glauben zu verbreiten?]
  • So Schlimmes kann man anrichten, wenn man einseitig ist! Lieber Freund,
  • Gott bewahre Sie vor Einseitigkeit; mit ihr stiftet der Mensch überall
  • nichts wie Unheil: in der Literatur, in seiner amtlichen Tätigkeit, in
  • der Gesellschaft -- kurz überall! Ein einseitiger Mensch ist von sich
  • selbst überzeugt, ein einseitiger Mensch ist dreist, ein einseitiger
  • Mensch macht sich alle zu Feinden. Ein einseitiger Mensch kann nie das
  • rechte Maß finden. Ein einseitiger Mensch kann kein wahrer Christ sein;
  • er kann bloß ein Fanatiker sein. Einseitigkeit im Denken ist nur ein
  • Zeichen dafür, daß der Mensch erst auf dem Wege zum Christentum ist, daß
  • er es noch nicht ganz erfaßt hat, weil das Christentum unserm Geist
  • Vielseitigkeit verleiht. Mit einem Wort: Gott bewahre Sie vor der
  • Einseitigkeit! Bewahren Sie sich einen besonnenen Blick für jedes Ding
  • und denken Sie immer daran, daß es zwei gänzlich entgegengesetzte Seiten
  • haben kann, von denen Ihnen eine noch nicht bekannt ist. Theater und
  • Theater -- das sind zwei verschiedene Sachen, wie es ja auch beim
  • Publikum zwei Arten der Begeisterung gibt: es ist doch was anders, ob
  • man in Entzücken gerät, wenn eine Ballettänzerin ihr Füßchen möglichst
  • hoch in die Höhe schleudert, oder ob man von Begeisterung ergriffen
  • wird, wenn ein großer Schauspieler durch seine erschütternde Rede die
  • höchsten Gefühle im Menschen zu noch reinerer Höhe steigert. Ein andres
  • sind die Tränen, die ein fremder Sänger einem Menschen entlockt, indem
  • er sein Gehör in angenehmer Weise kitzelt, Tränen, die, wie ich höre,
  • heute auch solche Leute in Petersburg vergießen, die nicht Musiker sind,
  • und ein andres sind die Tränen, die dem Auge des Zuschauers entströmen,
  • wenn er durch die lebendige Darstellung einer hohen Tat bis ins Innerste
  • erschüttert wird und dann nach Verlassen des Theaters mit neuer Kraft,
  • noch ganz unter dem Eindruck dieser Darstellung einer heroischen
  • Handlung stehend, an seine pflichtmäßige Tätigkeit geht. Mein Freund.
  • Wir sind in diese Welt berufen, nicht um zu zerstören und zu vernichten,
  • sondern um [nach dem eigenen Vorbilde Gottes] alles zum Guten zu lenken
  • -- selbst das, was die Menschen bereits verdorben und zum Bösen gewandt
  • haben. Es gibt kein Werkzeug in der Welt, das nicht dem Dienste Gottes
  • geweiht wäre. Alle diese Hörner, Pauken, Leiern und Zimbeln, mit denen
  • die Heiden ihre Götzen verherrlichten, dienten, nach dem Siege des
  • Königs David, dem wahren Gott zu Preis und Ruhme, und in Israel
  • herrschte noch größere Freude, als es vernahm, daß dieselben
  • Instrumente, die noch nie Ihm zu Ehren erklungen waren, nun zu Seinem
  • Preis und Ruhme tönten.
  • 1845.
  • XV
  • Über die Aufgaben der lyrischen Dichtung unserer Zeit
  • Zwei Briefe an N. M. Jasykow
  • I.
  • Dein Gedicht »Das Erdbeben« hat mich entzückt. Auch Schukowski war ganz
  • davon begeistert. Dies ist seiner Ansicht nach nicht nur das beste von
  • deinen Gedichten, sondern überhaupt das beste russische Gedicht. Welch
  • eine kluge und fruchtbare Idee: ein Ereignis der Vergangenheit zu nehmen
  • und in die Gegenwart zu verlegen! Auch die Anwendung auf den Dichter,
  • der seine Ode vollendet, ist so glücklich, daß jeder von uns, was auch
  • sein Beruf und seine Tätigkeit sein mag, sie in diesem furchtbaren Jahr,
  • wo die ganze Welt in ihrem Grunde erschüttert wird, und alles vor Angst
  • wegen des Kommenden vergehen will, auch für sich nutzbar machen sollte.
  • Freund! ein lebenspendender Quell springt vor dir auf. Deine an den
  • Dichter gerichteten Worte:
  • Und bring den angsterfüllten Menschen
  • Gebete mit aus Bergeshöhn
  • sind Worte, die an dich selbst gerichtet sind. Dir enthüllt sich das
  • Geheimnis deiner Muse. Die gegenwärtige Zeit bietet gerade dem lyrischen
  • Dichter die günstigste Gelegenheit zur Betätigung. Mit der Satire kann
  • man nicht viel ausrichten: mit einfachen Schilderungen und Nachbildungen
  • der Wirklichkeit, wie sie sich dem Auge moderner, weltlich gerichteter
  • Menschen darstellt, kann man niemand aus dem Schlummer wecken: die
  • heutige Zeit schläft den tiefen Schlaf des Helden. Nein, finde in der
  • Vergangenheit ein Ereignis, wie es sich auch heute ereignen könnte,
  • führe es uns plastisch vor Augen und triff es im Angesichte aller mit
  • deinem Verdammungsurteil, wie es zu seiner Zeit vom Zorne Gottes
  • getroffen ward; geißle die Gegenwart in der Vergangenheit, und eine
  • doppelte Kraft wird von deinem Worte ausgehen: die Vergangenheit wird
  • dadurch lebendiger werden, und wie ein Schrei wird dir's aus der
  • Gegenwart entgegentönen. Schlage das Alte Testament auf: du wirst jedes
  • Geschehnis, jede Tat der Gegenwart darin wiederfinden; klarer wie der
  • Tag wird's dir daraus entgegenstrahlen, worin ihr Vergehen wider Gott
  • lag, und so deutlich und überzeugend ist darin Gottes Gericht an ihr
  • geschildert, daß die Gegenwart erbeben muß. Du besitzest alle Mittel und
  • Fähigkeiten dazu: in deinem Vers liegt eine mahnende und erhebende
  • Kraft, und beides brauchen wir gerade heute. Die einen müssen erhoben
  • werden, die andern bedürfen der Ermahnung und des Tadels. Alle die
  • müssen erhoben werden, die durch die Untaten und durch alle Schrecken,
  • die sie umgeben, bestürzt und verwirrt sind, und man muß denen ins
  • Gewissen reden, die in den erhabenen Augenblicken des göttlichen Zornes
  • und der unendlichen Leiden, die keinen verschonen, noch den Mut haben,
  • sich wilden Ausschweifungen und einem schmählichen Jubel hinzugeben.
  • Deine Verse sollten allen in leuchtender Klarheit vorschweben, wie die
  • in die Luft geschriebenen Buchstaben, die während des Festmahls des
  • Belsazar aufflammten und schon alle in Schrecken versetzten, noch ehe
  • jemand ihren Sinn zu enträtseln vermochte. Wenn du jedoch wünschest, daß
  • dich alle noch besser verstehen, dann erfülle dich mit biblischem
  • Geiste, laß dir von ihm gleichwie von einer Fackel voranleuchten und
  • steige hinab bis in die tiefsten Grüfte des russischen Altertums, triff
  • in ihm die Schmach der gegenwärtigen Zeit und vertiefe damit in uns das
  • Gefühl für das, was unsere Schmach noch weit schmachvoller erscheinen
  • läßt. Dein Vers wird nicht schwächlich und matt klingen; das brauchst du
  • nicht zu fürchten; der Hauch der alten Zeit wird ihm Farben verleihen,
  • er allein wird dich in die rechte Stimmung versetzen und dich mit
  • Begeisterung erfüllen. Aus allen unseren Chroniken dringt er uns
  • förmlich wie etwas Lebendiges entgegen. Vor kurzem fiel mir ein Buch:
  • »Empfang beim Zaren« in die Hand. Hier sind schon allein die Ausdrücke
  • und die Namen der fürstlichen Kleidungsstücke, der teuren Gewebe und
  • Edelsteine ein wahrer Schatz für einen Dichter; jedes Wort schreit
  • förmlich nach dem Vers. Man staunt über die Kostbarkeiten unserer
  • Sprache, jeder Ton, jeder Laut ist ein Geschenk, da ist alles groß,
  • kernig und gleich einer Perle, und mancher Ausdruck ist noch kostbarer
  • als die Sache selbst, die er bezeichnet. Wenn es dir gelingt, deinen
  • Vers mit solchen Worten zu schmücken, -- wirst du den Leser völlig in
  • die vergangenen Zeiten zurückversetzen. Als ich drei Seiten aus diesem
  • Buche gelesen hatte, glaubte ich überall die alten Zaren jener
  • vergangenen altersgrauen Zeit in ihrem altertümlichen Zarenornat
  • andächtig zum Vespergottesdienste schreiten zu sehen.
  • 1844.
  • II.
  • Ich schreibe dir noch einmal unter dem Eindruck deines bereits erwähnten
  • Gedichts: »Das Erdbeben«. Laß das begonnene Werk um Gottes willen nicht
  • liegen! Lies die Bibel noch einmal genau durch, erfülle dich mit dem
  • Geist des russischen Altertums und suche mit seinem Lichte in die
  • Gegenwart einzudringen. Es gibt noch ungeheuer viel Gegenstände, die du
  • bearbeiten solltest, und es ist eine Sünde, wenn du sie nicht siehst.
  • Schukowski hat bisher nicht mit Unrecht von deiner Poesie gesagt, sie
  • entstamme einer Begeisterung, die kein Objekt hat. Es ist eine Schande,
  • seine lyrische Kraft in blinden Luftschüssen verpuffen zu lassen, wo sie
  • dir doch dazu verliehen ward, um Steine zu sprengen und Felsblöcke
  • wegzuwälzen. Blick' um dich! alles ist jetzt Gegenstand für den
  • lyrischen Dichter, ein jeder Mensch lechzt förmlich nach einem lyrischen
  • Mahnruf, wo du hinblickst, überall siehst du jemand, der ermahnt oder
  • ermutigt und ermuntert sein will.
  • So rede denn zuallererst in einem gewaltigen lyrischen Mahngedicht den
  • Klugen ins Gewissen, die den Mut sinken ließen. Du wirst Eindruck auf
  • sie machen, wenn du ihnen die Sache in ihrem rechten Lichte zeigst, d.
  • h. wenn du ihnen beweisest, daß ein Mensch, der sich dem Trübsinn
  • hingibt, ein ganz überflüssiges wertloses Ding ist, das zu nichts nütze
  • ist, was auch immer die Ursachen der Trübsal und der Entmutigung sein
  • mögen; denn Trübsinn und Kleinmut sind Gott verhaßt. Du wirst den echten
  • russischen Mann zum Kampf gegen Kleinherzigkeit und Mutlosigkeit
  • aufrufen und ihn über alle Schrecknisse und alle Erschütterungen der
  • Erde erheben, wie du in deinem Erdbeben den Dichter erhöht und erhoben
  • hast.
  • Richte einen machtvollen lyrischen Appell an den noch schlummernden
  • schönen Menschen. Wirf ihm ein Brett vom Ufer zu, auf daß er seine arme
  • Seele rette. Schon hat er sich weit von der Küste entfernt; schon wird
  • er ganz umklammert und mitgerissen von der höchsten Schicht der
  • Gesellschaft, dieser nichtigen hohlen Oberschicht; schon locken ihn
  • Diners, die Füßchen der Tänzerinnen, und schon sieht man ihn täglich
  • einem betäubenden einschläfernden Rausch erliegen; schon wächst ihm
  • unmerklich die fleischliche Hülle, schon ist er ganz Fleisch geworden
  • und ist kaum noch etwas wie eine Seele in ihm. Schrei auf zu ihm wie aus
  • tiefster Not; laß das Greisenalter, diese Hexe, vor ihm erstehen, wie
  • sie auf ihn zueilt, sie, die ganz Eisen ist, ja gegen die ein Stück
  • Eisen noch wie Mitleid und Erbarmen erscheint, und die uns keinen Fetzen
  • eines Gefühls wieder zurückgibt. O wenn du ihm doch das sagen könntest,
  • was mein Pljuschkin aussprechen soll, wenn ich noch dazu komme, den
  • dritten Teil meiner »Toten Seelen« zu schreiben!
  • Stell' in einem zürnenden Dithyrambus die Wucherer neuesten Schlages,
  • wie sie in unseren Tagen ihr Wesen treiben, an den Pranger: ihren
  • verfluchten Luxus, ihre schlechten Frauen, die sich und ihre Männer mit
  • ihrer Eitelkeit und ihrem Flitter zugrunde richten, die verfluchte
  • Schwelle ihrer prunkenden Paläste und die abscheuliche Luft, die sie
  • dort atmen; auf daß sie jedermann, ohne sich umzusehen, meide und
  • eilenden Fußes entfliehe, wie vor der Pest.
  • Verherrliche in einem feierlichen Hymnus den stillen bescheidenen
  • Arbeiter, der -- ein Ruhm und eine Ehre des edlen russischen Wesens --
  • mitten unter den waghalsigsten dreistesten Wucherern lebt und der in
  • seiner Unbestechlichkeit nie ein Geschenk annimmt, selbst dort nicht, wo
  • sich alles um ihn herum bestechen läßt. Verherrliche ihn, seine Familie,
  • sein edles Weib, das lieber selbst in einer altmodischen Haube
  • einhergeht und sich dem Gespött der Leute aussetzt, als zuläßt, daß ihr
  • Mann etwas Niederträchtiges oder Schlechtes begeht. Stell' ihre
  • herrliche Anmut so dar, daß sie vor allen Augen aufstrahle wie ein
  • Heiligtum, und daß einen jeden die Sehnsucht nach ihr ergreife.
  • Laß einen Hymnus zum Preis jenes Recken erklingen, wie er nur aus
  • russischen Landen hervorgehen kann, der plötzlich aus seinem
  • schmählichen Schlummer erwacht, sich gänzlich verwandelt und mit einem
  • Schlage ein anderer wird: der offen und vor aller Welt seine
  • Schlechtigkeit und seine abscheulichen Laster verflucht und der
  • gewaltigste Streiter und Vorkämpfer des Guten wird. Zeig' uns, wie sich
  • diese ungeheure gewaltige Tat in der echten russischen Seele vollzieht,
  • aber stell' es so dar, daß die russische Seele in jedem von uns
  • unwillkürlich erbebt und daß jeder, selbst der Mann der unteren Stände
  • ausrufen muß: Wackerer Mann! und von dem Gefühl ergriffen wird, daß auch
  • er dasselbe vollbringen kann.
  • Groß, gewaltig groß ist die Zahl der Gegenstände für einen lyrischen
  • Dichter -- ein ganzes Buch würde kaum genügen, um sie aufzuzählen,
  • geschweige denn ein Brief. Alle wahrhaften russischen Gefühle
  • verkümmern, und es ist niemand da, der sie zu wecken vermöchte! Es
  • schlummert unsere Kühnheit, und es schlummern unser Wagemut und unsere
  • Entschlossenheit zur Tat, es schlummert unsere unerschütterliche Kraft
  • und Stärke, es schläft unser Verstand, der völlig von den Interessen
  • eines mattherzigen, weibischen gesellschaftlichen Lebens absorbiert
  • wird, das uns unter dem Namen der Aufklärung aufgedrängt worden und als
  • Begleiterscheinung aller möglicher sinnloser und kleinlicher Neuerungen
  • bei uns eingezogen ist. Reib dir den Schlaf aus den Augen und geh hin
  • und rüttle auch die andern aus dem Schlummer auf. Wirf dich vor deinem
  • Gott auf die Knie und flehe ihn an, er solle deinem Herzen Zorn und
  • Liebe senden: Zorn wider das, was dem Menschen verderblich ist, und
  • Liebe -- für die arme Menschenseele, die alle mit Verderben bedrohen und
  • die er selbst zugrunde richtet. Die Worte und Ausdrücke wirst du schon
  • finden: nicht Worte, sondern flammende Blitze werden aus deinem Munde
  • zucken, wie aus dem der alten Propheten, wenn du die Sache nur gleich
  • ihnen zu deiner eigensten Angelegenheit, zu einer Angelegenheit deines
  • innersten Wesens machen, wenn du nur gleich ihnen Asche auf dein Haupt
  • streuen, deine Kleider zerreißen und Gott weinend darum anflehen wirst,
  • die Kraft auf dich herabzusenden, und wenn du die Errettung deines
  • Landes mit solcher Glut und Inbrunst herbeisehnen wirst, wie sie die
  • Errettung ihres von Gott erwählten Volkes herbeigesehnt haben.
  • 1844.
  • XVI
  • Ratschläge
  • An S. P. Schewyrew
  • Indem wir andre belehren, lernen wir selbst. Während dieser schweren
  • Zeit der Krankheit, zu der sich auch noch schwere seelische Leiden
  • gesellt haben, war ich genötigt, einen so regen Briefwechsel zu
  • unterhalten, wie ich ihn bisher noch nicht geführt habe. Und wie mit
  • Absicht war dies beinahe für alle, die meinem Herzen nahe stehen, eine
  • Zeit voll innerer Erlebnisse und Erschütterungen. Sie alle wandten sich,
  • wie von einem dunklen Instinkt getrieben, an mich und verlangten Rat und
  • Hilfe von mir. Jetzt erst erkannte ich, welch nahe Verwandtschaft die
  • Seelen der Menschen miteinander verbindet. Man muß nur selbst ernsthaft
  • gelitten haben, um jeden Leidenden zu verstehen und um beinahe sicher zu
  • sein, was man ihm zu sagen hat. Aber mehr noch: auch unser Verstand wird
  • klarer; die Lage der Menschen und ihre Berufstätigkeit, in die man
  • bisher keinen Einblick hatte, werden einem plötzlich deutlich und
  • verständlich, und es wird einem klar, wessen ein jeglicher bedarf.
  • Während der letzten Zeit kam es sogar vor, daß ich Briefe von Menschen
  • erhielt, die mir fast gänzlich unbekannt waren, und daß ich ihnen
  • Ratschläge erteilen konnte, die ich früher nie hätte erteilen können.
  • Und dabei bin ich doch gewiß nicht klüger als irgendein anderer Mensch.
  • Ich kenne Menschen, die weit klüger und gebildeter sind und die sehr
  • viel nützlichere Ratschläge erteilen könnten als ich, aber sie tuen es
  • dennoch nicht und wissen nicht einmal, wie man so etwas macht. Gott ist
  • groß, und Er ist es, der uns die Weisheit schenkt. Wodurch aber macht Er
  • uns weise? Durch dasselbe Leiden, dem wir zu entfliehen suchen und vor
  • dem wir uns verbergen. Es ist unsere Bestimmung, daß wir uns durch
  • Kummer und Leiden ein Körnchen von jener Weisheit erwerben sollen, die
  • wir aus keinem Buche zu lernen vermögen. Wer sich jedoch bereits ein
  • solches Körnchen erworben hat, der hat schon nicht mehr das Recht, es
  • vor den anderen zu verbergen und geheimzuhalten. Es ist nicht mehr
  • unser, sondern Gottes. Gott hat es in dir hervorgebracht; und alle Gaben
  • Gottes werden uns deshalb verliehen, damit wir mit ihrer Hilfe unseren
  • Mitbrüdern dienen können. Er hat geboten, daß wir einander fortwährend
  • belehren sollen. Nun denn, so ruhe nicht und stehe andern mit Rat und
  • Belehrung zur Seite. Wenn du jedoch willst, daß das auch dir zugleich
  • von Nutzen sei, so tue so, wie ich es für richtig halte und wie ich es
  • mir von nun ab für immer zum Gebot meines Handelns gemacht habe. Jeden
  • Ratschlag und jede Belehrung, die du jemand erteilst, sei es selbst
  • einem Menschen, der auf der niedrigsten Bildungsstufe steht und mit dem
  • du nichts gemein haben kannst, richte zugleich an dich selbst, und was
  • du dem andern geraten hast, das rate dir selbst; was du an einem andern
  • zu tadeln fandest, das mache dir sogleich auch selbst zum Vorwurf.
  • Glaube mir, alles wird auch auf dich passen, und ich weiß nicht einmal,
  • ob es einen Fehler gibt, den man sich nicht selbst vorzuwerfen hätte,
  • wenn man nur tiefer in sich selbst hineinblickt. Deine Waffe sei
  • zweischneidig. Selbst wenn du dich einmal über einen Menschen ärgerst
  • und ihm zürnst, so zürne zugleich dir selbst, wenn auch nur deswegen,
  • weil du einem andern zürnen konntest. Tue das unter allen Umständen!
  • Lasse dich selbst nie aus den Augen! In dieser Beziehung mußt du Egoist
  • sein. Der Egoismus ist gar keine so häßliche Eigenschaft. Die Menschen
  • hätten ihm bloß keine so schlimme Deutung geben sollen. Und doch liegt
  • dem Egoismus eine große Wahrheit zugrunde. Kümmere dich vor allem um
  • dich selbst und dann erst um die andern; suche zuerst selbst besser und
  • reineren Herzens zu werden und dann erst sorge dafür, daß die andern
  • besser und reiner werden.
  • 1846.
  • XVII
  • Über die Aufklärung
  • An W. A. Schukowski
  • Ich schreibe dir noch einmal von der Reise. Bruder! Ich danke dir für
  • alles. Am Grabe des Herrn will ich zu Gott beten, Er möge mir die Kraft
  • verleihen, dir auch nur einen Teil von all dem wiederzuerstatten, das du
  • in deiner Güte und Klugheit an mir getan hast. Glaube und laß dich nicht
  • irremachen in deinem Herzen. Wenn du nach Moskau kommst, wird es dir so
  • erscheinen, als ob du in den Schoß deiner eigenen lieben Familie kämest.
  • Moskau wird dir wie ein ersehnter Hafen erscheinen, und du wirst es dort
  • ruhiger haben, als hier. Weder der sinnlose Lärm des leeren
  • Weltgetriebes noch das ewige Wagengerassel wird dich beunruhigen;
  • rücksichtsvoll wird man die Straße vermeiden, in der du wohnen wirst.
  • Und selbst wenn jemand angefahren kommen sollte, um dich zu besuchen --
  • ein alter Freund, oder ein Mensch, den du bisher noch nicht kanntest, so
  • wird er dir zuvorkommen und dich bitten, ihm keinen Gegenbesuch zu
  • machen, um dir nur ja keinen Augenblick deiner Zeit zu rauben. Bei uns
  • versteht man sich darauf und weiß man sehr gut, wie man einen Menschen
  • ehrt, der seine Schuldigkeit ganz getan hat. Wer all seine Gaben so
  • einwandfrei treu und ehrlich ausgenutzt hat, ohne seine Fähigkeiten
  • einschlafen zu lassen, ohne sich sein Leben lang je einen Augenblick der
  • Trägheit hinzugeben, wer sich im Alter die Frische der Jugend erhalten
  • hat, während alle um ihn herum sie in törichten Ausschweifungen
  • ausgegeben haben und während die Jungen gebrechliche Greise geworden
  • sind, der hat Anspruch auf Achtung und Ehrfurcht. Du wirst in Moskau
  • leben wie ein Patriarch, und die Jugend wird den Worten des Greises
  • lauschen und sie hüten, wie lauteres Gold. Deine Odyssee wird von großem
  • Nutzen für die allgemeine Sache sein; das sage ich dir voraus. Sie wird
  • dem Menschen von heute, der sich durch die Verworrenheit unseres Lebens
  • und unserer Gedanken ermüdet fühlt, seine Frische wiedergeben, durch sie
  • wird er vieles in einem neuen Lichte sehen, was er als alten Plunder,
  • der keinen Wert für das Leben hat, von sich geworfen hat. Sie wird ihn
  • der Schlichtheit und Einfachheit wiedergeben. Aber nicht weniger, wenn
  • nicht noch mehr gute Früchte werden die Werke bringen, auf die dich Gott
  • selbst hingewiesen hat, und die du mit Recht noch geheimhältst. Auch sie
  • werden einem allgemeinen Bedürfnis entsprechen. So laß denn den Mut
  • nicht sinken und schaue fest und ruhig in die Zukunft! Laß dich nicht
  • schrecken durch die Mißform und die Disharmonie, der du begegnest. Es
  • gibt mitten in unserem Lande eine Macht, die mit allem versöhnt und
  • alles zur Eintracht bringt, und die bisher noch nicht alle sehen --
  • unsere Kirche. Doch schon rüstet sie sich, von ihren Rechten vollen
  • Besitz zu nehmen und ihr Licht hell über die ganze Erde erstrahlen zu
  • lassen. In ihr ist alles enthalten, dessen man für ein Leben in wahrhaft
  • russischem Sinne und Geiste, und zwar in jeder Beziehung und jeglicher
  • Rücksicht: sowohl für das staatliche wie für das gewöhnliche
  • Familienleben bedarf, sie schafft die rechte Stimmung und Disposition
  • für alles, sie weist allem die Richtung und den rechten, richtigen Weg.
  • Meiner Ansicht nach ist schon der bloße Gedanke, unter Ignorierung
  • unserer Kirche Reformen in Rußland einzuführen, ohne sich ihren Segen
  • dazu erbeten zu haben, eine Torheit. Ja, es wäre sogar unsinnig, wenn
  • wir selbst unserer Denkweise allerhand aus Europa stammende Gedanken
  • aufpfropfen wollten, ehe sie von der Kirche die Weihe erhalten und ehe
  • sie vom Licht des Christentums verklärt worden sind. Du wirst sehen, du
  • wirst Zeuge davon sein, wie das in Rußland mit einem Schlage von allen
  • -- von den Gläubigen wie von den Ungläubigen -- zugegeben werden und wie
  • unsere Kirche plötzlich, von allen erkannt und verstanden, dastehen
  • wird. Es war wohl der Wille der Vorsehung, daß so viele von einer
  • unerklärlichen Blindheit geschlagen werden sollten. Wenn ich die Fäden
  • der Weltereignisse sorgsam aneinanderzulegen versuche, dann erkenne ich
  • die ganze Weisheit Gottes, die darin liegt, daß Er zuerst eine
  • vorübergehende Spaltung innerhalb der Kirche geschehen ließ, der einen
  • gebot, unbeweglich und gleichsam in einer großen Entfernung und
  • Entfremdung von den Menschen zu verharren, und bestimmte, daß die andere
  • in ihre Unruhe und Bewegung hineingezogen werde, daß Er der einen gebot,
  • keine Reformen oder Neuerungen zuzulassen, außer denen, die von den
  • heiligen Männern der besten Zeiten des Christentums und von den ersten
  • Vätern der Kirche eingeführt wurden -- während Er die andere hieß, sich
  • in stetigem Wandel an alle Zeitumstände, den Geist und die Gewohnheiten
  • der Menschen anzupassen und alle möglichen Neuerungen durchzuführen,
  • selbst solche, die von sündhaften und lasterhaften Priestern ausgingen,
  • daß Er die eine gleichsam der Welt absterben und die andre gewissermaßen
  • die Herrschaft über die ganze Welt gewinnen ließ, daß Er die eine hieß,
  • sich gleich der bescheidenen Maria aller Sorgen um das Irdische zu
  • entschlagen und sich zu den Füßen des Herrn niederzulassen, auf daß sie
  • sich recht tief mit Seinem Worte erfülle, ehe sie hinginge, es
  • anzuwenden und es den Menschen zu verkünden, der andern dagegen gebot,
  • gleich der sorgsamen Martha, sich wie eine gastfreie Hausfrau um die
  • Menschen zu kümmern, und ihnen die noch nicht völlig durchdachten
  • Herrenworte mitzuteilen. Die erste hatte das bessere Teil erwählt; sie
  • lauschte lange und aufmerksam den Worten des Herrn und ertrug geduldig
  • die Vorwurfe der kurzsichtigen Schwester, die sich sogar erdreistete,
  • sie einen _toten_ Leichnam zu nennen, sie des Irrglaubens zu
  • beschuldigen und ihr vorzuwerfen, daß sie vom Herrn abgefallen sei. Es
  • ist nicht leicht, Christi Wort auf die Menschen anzuwenden, daher mußte
  • sie sich zuvor tief von ihm durchdringen lassen. Dafür hat sich in
  • unserer Kirche alles erhalten, dessen unsere erwachende Gesellschaft
  • bedarf. Sie ist Steuer und Richtmaß der kommenden neuen Ordnung der
  • Dinge, und je tiefer ich mich mit Herz, Verstand und Gemüt in sie
  • versenke, um so mehr wundere ich mich, welch erstaunliche Möglichkeiten
  • für eine Versöhnung der Widersprüche in ihr liegen, die die römische
  • Kirche nicht zur Aussöhnung zu bringen vermag. Die römische Kirche
  • mochte noch ausreichen für die frühere unkomplizierte Ordnung der Dinge;
  • sie konnte vielleicht zur Not die Welt lenken und sie mit Christus
  • aussöhnen, solange die Menschheit noch so unvollkommen und einseitig
  • entwickelt war. Jetzt dagegen, wo die Menschheit zu einer so
  • vollkommenen Entwicklung aller ihrer Kräfte und aller ihrer Fähigkeiten
  • -- der guten sowohl wie der bösen -- gelangt ist, jetzt kann die
  • römische Kirche die Menschen Christus nur entfremden: je mehr sie um den
  • Frieden und die Einigkeit besorgt ist, um so mehr Hader sät sie, da sie
  • mit ihrem dünnen Licht nicht imstande ist, die Dinge, so wie sie sich
  • heute darstellen, von allen Seiten zu beleuchten. Alle sind sich darüber
  • klar, daß sie mit der Aufstellung so vieler menschlicher Satzungen, die
  • von solchen Kirchenfürsten herrühren, die noch keineswegs durch die
  • Heiligkeit ihres Lebenswandels der höchsten und allumfassenden
  • christlichen Weisheit teilhaftig geworden waren, sich ihren Blick für
  • die Welt und das Leben verengt hat und diese nicht mehr zu umfassen
  • vermag. Einen allseitigen vollständigen Blick für das Leben gibt es
  • jetzt nur noch auf ihrer östlichen Hälfte, die offenbar für eine spätere
  • und höhere Entwicklungsstufe der Menschheit prädestiniert ist. In ihr
  • kann sich nicht nur Herz und Seele des Menschen, sondern auch sein
  • Verstand in seinen höchsten und edelsten Fähigkeiten frei entfalten. Sie
  • ist nur Weg und Richtung, um alle Kräfte und Vermögen der Menschen in
  • einem einmütigen Hymnus auf das höchste Wesen zusammenzuführen. Freund,
  • laß dich nicht irremachen! Und wenn die heutigen Verhältnisse noch
  • siebenmal verwickelter wären -- unsere Kirche wird sie alle entwirren
  • und zur Versöhnung bringen. Wie von einem dunklen Instinkt geleitet,
  • beginnen selbst unsere Weltleute, die sich unter uns bewegen, bereits
  • etwas davon zu ahnen, daß wir einen Schatz besitzen, in dem unsere
  • Rettung liegt, -- der sich mitten unter uns befindet und den wir nicht
  • bemerken. Dieser Schatz wird eines Tages hell aufstrahlen, und sein
  • Glanz wird auf jedes Ding fallen. Und diese Zeit ist nicht mehr fern.
  • Wir führen jetzt immer das sinnlose Wort Aufklärung im Munde, und dabei
  • haben wir es uns nicht einmal überlegt, woher dies Wort stammt und was
  • es bedeutet. Dies Wort gibt es in keiner Sprache, es existiert nur bei
  • uns. Aufklären[4] heißt nicht belehren, unterweisen, bilden oder gar
  • erleuchten, sondern den Menschen bis in sein Innerstes hinein mit all
  • seinen Kräften und Vermögen _durch_leuchten, nicht nur seinen Verstand;
  • heißt sein ganzes Ich wie durch ein reinigendes Feuer hindurchgehen
  • lassen. Dieses Wort stammt aus dem Sprachschatz unserer Kirche, die es
  • bereits gegen tausend Jahre lang gebraucht, trotz aller Finsternis und
  • trotz der Wolken und Nebel der Unwissenheit, die sie von allen Seiten
  • umwogen, und sie weiß, warum sie es braucht. Nicht umsonst hebt der
  • Oberpriester beim Hochamt den dreiarmigen Leuchter, das Sinnbild der
  • heiligen Dreieinigkeit, und den zweiarmigen Leuchter, das Sinnbild
  • Seines heiligen Wortes, das in doppelter Gestalt als Gott und Mensch zu
  • uns auf die Erde herabgestiegen ist, mit beiden Händen empor, weiht alle
  • mit ihnen und spricht: »Christi Licht erleuchtet, heiliget, verkläret
  • alle!« Und nicht umsonst ertönen während eines andern Teils der Messe in
  • kurzen Abständen, als kämen sie vom Himmel, die Worte an eines jeden
  • Ohr: »Das Licht der Aufklärung!« ohne daß etwas anderes zu ihnen
  • hinzugefügt würde.
  • 1846.
  • [Fußnote 4: Das russische Wort für Aufklärung hat noch den Nebensinn der
  • »_Durchleuchtung_«. Anm. des Herausgebers.]
  • XVIII
  • Vier Briefe an verschiedene Personen über die »Toten Seelen«
  • I.
  • Sie haben unrecht, sich so über den maßlosen Ton aufzuregen, in dem
  • manche Angriffe gegen die »Toten Seelen« geschrieben sind: das hat auch
  • seine gute Seite. Mitunter brauchen wir Menschen, die über uns empört
  • sind. Wer ganz von der Schönheit einer Sache ergriffen ist, der sieht
  • die Mängel nicht und verzeiht alles; wer uns dagegen zürnt und gegen uns
  • erbittert ist, der wird versuchen, alles Häßliche, allen Unrat in uns
  • aufzuwühlen und ihn so deutlich ans Licht zu stellen, daß wir ihn sehen
  • müssen, ob wir nun wollen oder nicht. Man bekommt so selten die Wahrheit
  • zu hören, daß man schon um eines kleinen Körnchens Wahrheit willen die
  • Kränkung verzeihen sollte, die in dem Ton liegt, in dem sie
  • ausgesprochen wird. In den Kritiken Bulgarins, Ssenkowskis und Polewois
  • steckt viel Richtiges, ja selbst in dem Rat, der mir gegeben wird, ich
  • solle zuerst einmal Russisch lernen und dann Bücher schreiben. In der
  • Tat, wenn ich mich mit der Drucklegung des Manuskripts nicht so beeilt
  • hätte und es noch ein Jahr lang liegen gelassen hätte, so hätte ich wohl
  • selbst gesehen, daß das Buch unter keinen Umständen in einem so rohen
  • und unordentlichen Zustand hätte erscheinen dürfen. Ja, selbst die
  • Epigramme und die Scherze, die gegen mich gerichtet wurden, hatte ich
  • nötig, trotzdem sie mir zuerst durchaus nicht gefielen und mir
  • keineswegs angenehm waren. O wie sehr bedürfen wir der ständigen Püffe
  • und Stöße, wie sind uns dieser beleidigende Ton und diese boshaften aufs
  • tiefste verwundenden Spöttereien vonnöten! Auf dem Grunde unserer Seele
  • liegt soviel kleinliche armselige Eitelkeit, soviel häßlicher leicht
  • verletzter Ehrgeiz verborgen, daß wir in einem fort Püffe erhalten und
  • mit allen nur möglichen Zuchtruten gezüchtigt werden sollten, ja wir
  • sollten uns stets dankbar über die Hand freuen, die uns züchtigt.
  • Indessen wünschte ich mir doch noch mehr Kritiken, die nicht von
  • Literaten, sondern von Menschen herrühren, deren eigentliches
  • Tätigkeitsfeld das Leben selbst ist. Von praktisch tätigen Leuten hat
  • sich -- abgesehen von den Literaten -- wie zum Tort für mich auch nicht
  • ein einziger geäußert. Und doch haben die »Toten Seelen« viel von sich
  • reden gemacht und viel Unwillen erregt; sie haben viele durch Spott und
  • Karikatur und die in ihnen enthaltene Wahrheit im Innersten getroffen;
  • sie haben Verhältnisse berührt, die ein jeder täglich vor Augen hat,
  • obwohl sie freilich andererseits auch wieder voller Fehler, Versehen und
  • Anachronismen sind und an einer offenbaren Unkenntnis vieler Gegenstände
  • kranken; hie und da habe ich sogar mit Vorbedacht manch Anstößiges und
  • Verletzendes aufgenommen; ich dachte mir: vielleicht wird mich jemand
  • tüchtig dafür ausschelten und mir in seinem Ärger und Zorn die Wahrheit
  • sagen, die ich hören will. Ach, wenn doch nur eine Menschenseele ihre
  • Stimme erhoben hätte! Und doch hätte jeder dies leicht gekonnt. Und
  • wieviel Gescheites hätte er sagen können! Ein Beamter hätte mir offen
  • vor allen Leuten die Unwahrscheinlichkeit der von mir geschilderten
  • Vorgänge nachweisen können, da er mir nur zwei oder drei Vorgänge hätte
  • vorzuhalten brauchen, die sich wirklich ereignet haben, und so hätte er
  • mich gründlicher widerlegt, als mit vielen Worten; und in derselben
  • Weise hätte er für die Wahrheit meiner Schilderungen eintreten und den
  • Beweis für sie erbringen können. Durch Anführung einer Begebenheit, die
  • sich wirklich ereignet hat, beweist man viel mehr, als durch leere Worte
  • und literarische Redensarten. Und das gleiche hätte der Kaufmann, der
  • Gutsbesitzer, kurz jedermann, der des Lesens und Schreibens kundig ist,
  • tun können, ob er nun ein eingefleischter Stubenhocker ist oder das
  • weite russische Land in allen Richtungen durchstreift. Hat doch ein
  • jeder Mensch, auch wenn er bereits eine eigene Ansicht über die Dinge
  • besitzt, auf der Stelle oder auf der Stufe der sozialen Ordnung, auf die
  • er durch sein Amt, seinen Beruf oder durch seine Bildung gestellt ist,
  • stets Gelegenheit, jeden Gegenstand von einer Seite kennen zu lernen,
  • von der ihn kein anderer Mensch zu sehen vermag. Über die »Toten Seelen«
  • könnte von ihrem gesamten Leserkreis ein zweites, unvergleichlich viel
  • interessanteres Buch als die »Toten Seelen« selbst geschrieben werden;
  • ein Buch, aus dem nicht nur ich, sondern auch die Leser selbst Belehrung
  • schöpfen können, weil wir ja alle -- wozu sollen wir unsere Fehler
  • verheimlichen! -- weil wir Rußland allesamt recht schlecht kennen.
  • Ach wenn doch nur _eine_ Seele ihre Stimme laut und für alle vernehmbar
  • erhoben hätte! Es ist fast so, als ob alles ausgestorben wäre, wie wenn
  • Rußland tatsächlich nicht von lebendigen, sondern nur noch von »toten
  • Seelen« bewohnt würde. Und da wirft man mir meine mangelhafte Kenntnis
  • Rußlands vor! Wie wenn ich, wie vom Heiligen Geiste erleuchtet, von
  • allem unterrichtet sein müßte, was an sämtlichen Ecken und Enden
  • Rußlands geschieht! Ich soll über alles unterrichtet sein, ohne daß mich
  • jemand unterrichtet! Woraus aber kann ich Belehrung schöpfen, ich, ein
  • Schriftsteller, der schon durch seinen Schriftstellerberuf zu einer
  • sitzenden einsiedlerischen Lebensweise verurteilt, der noch dazu krank
  • und genötigt ist, außerhalb Rußlands in der Fremde zu leben. Auf welche
  • Weise soll ich mir diese Kenntnisse verschaffen? Die Literaten und
  • Journalisten können mich doch nicht darüber belehren, denn sie sind doch
  • auch Einsiedler und Stubenhocker. Der Schriftsteller hat überhaupt nur
  • einen Lehrer: das sind die Leser selbst. Die Leser aber haben sich
  • geweigert, mich zu belehren. Ich weiß, daß ich strenge Rechenschaft vor
  • Gott werde ablegen müssen, weil ich meine Aufgabe nicht erfüllt habe,
  • wie ich sollte; aber ich weiß, daß auch andere die Verantwortung für
  • mich werden übernehmen müssen. Und das sage ich nicht ohne Grund; Gott
  • selbst weiß es, daß ich dies nicht ohne guten Grund sage.
  • 1843.
  • II.
  • Ich habe es vorausgesehen, daß alle lyrischen Episoden in meiner
  • Dichtung falsch aufgefaßt werden würden. Sie sind so unklar, haben so
  • wenig Zusammenhang mit den Gegenständen, die vor den Augen des Lesers
  • vorüberziehen, sie passen so wenig zu dem Stil und der Haltung des
  • ganzen Werkes, daß sie die Gegner wie ihre Freunde und Verteidiger
  • gleichermaßen irregeführt haben. Alle Stellen, wo ich in ganz
  • allgemeiner Weise über den Schriftsteller rede, wurden auf mich bezogen;
  • ich habe sogar über die Versuche erröten müssen, sie zu meinen Gunsten
  • auszulegen. Aber es geschieht mir ganz recht! Unter keinen Umständen
  • hätte ich ein Werk herausgeben dürfen, das zwar in seiner Anlage nicht
  • schlecht, jedoch nur flüchtig und wie mit weißen Fäden zusammengeheftet
  • war, gleich einem Anzug, den der Schneider zur Anprobe mitbringt. Ich
  • wundere mich nur, daß so wenig Ausstellungen gegen die Kunst und das
  • Prinzip des Schaffens gemacht worden sind. Daran sind einerseits der
  • Ärger und Unmut meiner Kritiker, andererseits aber der Umstand schuld,
  • daß wir nicht gewöhnt sind, tiefer nach dem Plan und dem Aufbau eines
  • Werkes zu forschen. Man hätte darauf hinweisen müssen, welche Teile im
  • Verhältnis zu den andern viel zu lang geraten sind, wo der Verfasser
  • sich selbst untreu wird und den eigenen Ton, in dem er begonnen hat,
  • nicht festhält. Ja, es hat auch nicht einer bemerkt, daß die letzte
  • Hälfte des Buches viel weniger ausgeführt ist als die erste, daß sie
  • viele Lücken enthält, daß darin die wichtigsten und bedeutsamsten
  • Momente in gedrängter Kürze dargestellt, die unwichtigen und
  • nebensächlichen weit ausgesponnen sind, daß der Geist, der das Werk
  • erfüllt, aus ihm nicht genügend hervorleuchtet, dafür aber die Buntheit
  • der Teile und das Fragmentarische des Ganzen um so mehr in die Augen
  • fällt. Kurz, man hätte weit ernstere und gediegenere Einwände machen,
  • man hätte mich weit heftiger tadeln können, als man es jetzt tut, und
  • zwar mit gutem Grunde. Aber jetzt handelt es sich nicht darum. Worum es
  • sich hier handelt, das ist die lyrische Episode, die den meisten
  • Angriffen von seiten der Journalisten ausgesetzt war und in der man
  • Anzeichen einer übertriebenen Selbsteinschätzung, Selbstbeweihräucherung
  • und einen Hochmut hat finden wollen, wie er bisher bei keinem
  • Schriftsteller zu finden war. Ich habe hier jene Stelle aus dem letzten
  • Kapitel im Auge, wo der Verfasser von Tschitschikows Abreise aus der
  • Stadt erzählt, seinen Helden für eine Weile allein auf der Landstraße
  • läßt, sich selbst an seine Stelle versetzt und sich unter dem Eindruck
  • der Monotonie und der Einförmigkeit seiner Umgebung, der öden und kalten
  • Ungastlichkeit des grenzenlosen Raumes und des traurigen Liedes, das von
  • einem Meer zum andern durch das ganze weite russische Land tönt, in
  • einer lyrischen Apostrophe an Rußland selbst wendet, es um eine
  • Erklärung für das unbegreifliche Gefühl bittet, das sich des Dichters
  • bemächtigt hat, und fragt: warum es ihm so erscheint, als heftete alles,
  • jeder beseelte und jeder seelenlose Gegenstand seinen Blick auf ihn und
  • als erwarte er etwas von ihm. Diese Worte wurden als Hochmut und als
  • eine bisher unerhörte Prahlerei ausgelegt, während sie doch weder das
  • eine noch das andere sind. Sie sind einfach ein ungelenker Ausdruck für
  • ein echtes Gefühl. Ich kann noch immer diese melancholischen Töne
  • unserer Lieder nicht ertragen, die durch die unendlichen, grenzenlosen
  • Räume Rußlands klingen. Diese Töne schwingen in meinem Herzen weiter,
  • und ich bin erstaunt, daß nicht ein jeder dasselbe in seinem Innern
  • empfindet. Wer beim Anblick dieser wüsten, noch unbevölkerten und
  • ungastlichen Räume nicht traurig gestimmt wird, wer aus den
  • melancholischen Klängen unserer Lieder nicht einen schmerzlichen Vorwurf
  • gegen sich selbst, jawohl, _gegen sich selbst_ heraushört, der hat
  • entweder seine Pflicht und Schuldigkeit bereits restlos getan, oder er
  • hat keine russische Seele. Betrachten wir die Sache einmal so, wie sie
  • sich wirklich verhält. Schon sind beinahe hundertundfünfzig Jahre
  • verflossen, seit Kaiser Peter I. uns mit dem reinigenden Feuer der
  • europäischen Aufklärung den Schlaf aus den Augen gescheucht und uns alle
  • Mittel und Werkzeuge in die Hand gegeben hat, damit wir zur Tat
  • schreiten sollten; noch immer aber liegt unser weites Land ebenso öde,
  • traurig und einsam da, noch ist alles um uns herum ganz ebenso
  • unfreundlich und ungastlich wie ehedem, ganz als ob wir noch immer nicht
  • bei uns zu Hause unter dem eigenen heimischen Dach weilten, sondern
  • irgendwo obdachlos auf der Landstraße lägen, noch weht uns von Rußland
  • kein warmes herzliches Gefühl entgegen, wie wenn wir von lieben Brüdern
  • empfangen würden, es erscheint uns vielmehr wie eine kalte vom
  • Schneesturm verwehte Poststation, aus der ein einsamer, gegen alles
  • gleichgültiger Stationswächter hervorschaut, der auf unsere Frage stets
  • die nüchterne trockene Antwort bereit hat: »Wir haben keine Pferde!«
  • Woher kommt das? Wer ist schuld? Wir [oder die Regierung? Aber] die
  • Regierung ist doch die ganze Zeit über unermüdlich tätig gewesen. Dafür
  • zeugen zahlreiche Bände voller Verfügungen, Gesetzesverordnungen und
  • Maßnahmen, eine gewaltige Zahl neu erbauter Häuser, eine Menge neu
  • herausgegebener Bücher, eine Unzahl von Einrichtungen und
  • Institutionen aller Art: Lehranstalten, humanitäre Einrichtungen,
  • Wohltätigkeitseinrichtungen, kurz, sogar solche Anstalten, wie sie von
  • keiner Regierung eines andern Staates gegründet werden. Die Fragen
  • kommen von oben, die Antworten von unten; und mitunter ertönten von oben
  • Fragen, die von ritterlichen und hochherzigen Regungen vieler Herrscher
  • Zeugnis ablegen, die häufig sogar gegen ihre eigenen Interessen und
  • gegen ihren eigenen Vorteil gehandelt haben. Und wie hat man von unten
  • auf dies alles geantwortet? Es kommt doch auf die Verwertung eines
  • Gedankens, auf die Kunst an, ihm eine solche Anwendung zu geben, daß man
  • sich ihn wirklich anzueignen vermag und daß er in uns Wurzeln schlägt.
  • Eine Verordnung mag noch so wohl durchdacht und noch so bestimmt sein,
  • sie ist doch nur eine Blankoanweisung, wenn es unten an dem gleichen
  • reinen Streben fehlt, sie in die Tat umzusetzen und zwar in der
  • Richtung, in der es erforderlich ist, in der dies geschehen muß und die
  • nur _der_ richtig beurteilen und bestimmen kann, dessen Geist vom
  • Begriff der göttlichen -- nicht der menschlichen Gerechtigkeit
  • erleuchtet ist. Ohne dies muß alles eine schlimme Wendung nehmen. Ein
  • Beweis dafür sind die zahlreichen abgefeimten Gauner und bestechlichen
  • Beamten, die es bei uns gibt, die es verstehen, jede Verordnung zu
  • umgehen, für die jede neue Verordnung nur eine neue Einnahmequelle, ein
  • neues Mittel ist, die Abwicklung der Geschäfte durch neue Komplikationen
  • zu belasten und zu erschweren und dem Menschen einen neuen Knüppel
  • zwischen die Beine zu werfen. Mit einem Wort, wohin ich mich wende,
  • überall sehe ich, daß _der_ die Schuld trägt, der die Verordnungen
  • durchführt, d. h. wir selbst, einer von uns: und zwar ist er entweder
  • schuld, weil er den brennenden Wunsch hat, seinen Namen berühmt zu
  • machen [oder einen Orden zu ergattern], und sich daher zu sehr beeilt,
  • oder er ist schuld, weil er gar zu hitzig vorwärtsstrebt, um nach gut
  • russischer Art seinen Opfermut zu beweisen; so einer geht nicht lange
  • mit sich zu Rate, fragt in seinem hitzigen Übereifer nicht erst viel,
  • worum es sich handelt, bemächtigt sich sofort der Sache wie ein
  • Sachverständiger und ist dann -- gleichfalls nach gut russischer Art --
  • schnell wieder abgekühlt, wenn er sich einem Mißerfolg gegenübersieht;
  • oder er ist schließlich schuld, weil er aus verletzter, kleinlicher
  • Eitelkeit gleich alles hinschmeißt und den Posten, auf dem er einen so
  • schönen Anlauf genommen hatte, dem ersten besten Gauner abtritt, [damit
  • der die Leute gründlich rupfen kann]. Kurz, selten besitzt einer von uns
  • genug Liebe zum Guten, um ihr seinen Ehrgeiz, seine Eitelkeit und all
  • die kleinen Regungen eines übermäßig empfindlichen Egoismus zum Opfer zu
  • bringen und es sich unweigerlich zum Gebot zu machen -- seinem
  • Vaterlande -- und nicht sich selbst zu dienen, ewig eingedenk, daß er
  • seinen Beruf ergriffen hat, um andre glücklich zu machen und nicht sich
  • selbst. Statt dessen scheint der Russe in der letzten Zeit es wie mit
  • Vorbedacht darauf angelegt zu haben, seine Empfindlichkeit in allen
  • Punkten und die kleinliche Reizbarkeit seines Ehrgefühls allen und
  • überall vor Augen zu führen. Ich weiß nicht, ob es viele Leute unter uns
  • gibt, die nur getan haben, was ihre Schuldigkeit war, und die offen vor
  • der ganzen Welt erklären können, daß Rußland ihnen nichts vorzuwerfen
  • habe, daß kein seelenloser Gegenstand in seinem weiten, öden Raume sie
  • vorwurfsvoll anstarre, daß alle mit ihnen zufrieden sind und nichts von
  • ihnen erwarten. Ich weiß nur, daß ich diesen Vorwurf sehr deutlich
  • vernommen habe. Auch jetzt höre ich ihn wieder. Auch in meinem
  • bescheidenen Beruf als Schriftsteller hätte sich etwas machen, etwas
  • leisten lassen, was von wirklichem und dauerndem Nutzen sein konnte. Was
  • hat es zu bedeuten, daß in meinem Herzen stets die Sehnsucht nach dem
  • Guten lebendig war und daß ich nur aus diesem Triebe heraus zur Feder
  • griff? Wie habe ich meine Sehnsucht gestillt? Hat denn zum Beispiel
  • gleich dies Werk von mir, das jetzt erschienen ist und das den Namen
  • »Die toten Seelen« trägt, hat es etwa den Eindruck gemacht, den es hätte
  • machen können, wenn es so geschrieben gewesen wäre, wie es hätte
  • geschrieben werden müssen? Ich habe meine eigenen Gedanken, -- einfache
  • und wahrhaftig nicht kopfbrecherische Gedanken, nicht auszudrücken
  • vermocht und selbst Anlaß dazu gegeben, daß sie verkehrt aufgefaßt und
  • daß ihnen ein Sinn untergelegt wurde, der eher schädlich als nützlich
  • ist. Und wer ist schuld daran? Soll ich etwa sagen, meine Freunde oder
  • die Ungeduld der Ästheten, die an leeren, schnell verrauschenden Klängen
  • ihre Freude haben, hätten mich dazu gedrängt? Soll ich etwa sagen, daß
  • ich durch schwierige und ärmliche Verhältnisse in eine peinliche Lage
  • gebracht worden sei und, da ich mir das Geld für meinen Lebensunterhalt
  • hätte erwerben müssen, genötigt gewesen wäre, mich zu beeilen und mein
  • Buch zu früh erscheinen zu lassen? Nein, wer entschlossen ist, seine
  • Pflicht redlich zu erfüllen, den können keinerlei Verhältnisse
  • schwankend machen, der wird, wenn es nicht anders geht, sogar lieber
  • seine Hand ausstrecken und um Almosen bitten, der wird sich um keinen
  • schnell verklingenden Spott und Tadel, geschweige denn um die törichten
  • Anstandsregeln der vornehmen Gesellschaft kümmern. Der, der aus
  • Rücksicht auf diese Anstandsregeln der Gesellschaft eine Sache schädigt,
  • die für sein Land ein Bedürfnis darstellt, der liebt es nicht. Ich war
  • mir der verächtlichen Schwäche meines Charakters, meines elenden
  • Kleinmuts, der Ohnmacht meiner Liebe bewußt, daher schien mich ein jedes
  • Ding in Rußland mit bitterem Vorwurf anzustarren. Aber die Kraft des
  • Höchsten hat mich aufgerichtet; es gibt kein Vergehen, das nicht wieder
  • gutzumachen wäre, und dieselben öden Strecken, die meine Seele mit
  • solcher Melancholie erfüllten, versetzten mich durch ihre gewaltige
  • freie Ausdehnung und Geräumigkeit -- dies weite Feld für einen rastlosen
  • Betätigungsdrang -- in Entzücken. Die Apostrophe an Rußland: »Sollte
  • nicht hier der Held erstehen, wo frei der Raum sich weitet, auf daß er
  • sich entfalte und ausbreite und frei dahinschwebe,« kam wirklich von
  • Herzen. Diese Worte wurden nicht dem schönen Bilde zuliebe oder aus
  • Prahlsucht und zu eitlem Selbstlob gesprochen; ich habe sie gefühlt und
  • fühle sie noch heute. In Rußland kann man jetzt bei jeder Gelegenheit
  • zum Helden werden. Jedes Amt und jeder Stand erfordert einen gewissen
  • Heldenmut. Jeder von uns hat die Heiligkeit seines Berufs und seines
  • Amtes derart befleckt und herabgezogen (denn jeder Beruf ist heilig),
  • daß es wahrhaft riesenhafter Kräfte bedarf, um ihn wieder auf seine
  • frühere Höhe zu bringen. Ich habe die große Aufgabe geschaut, die große
  • Perspektive, die heute keinem andern Volke offen steht und die sich
  • allein vor dem russischen Volke auftut, weil nur dies Volk einen so
  • freien Spielraum für die Entfaltung seiner Kräfte besitzt, und weil nur
  • der russischen Seele der echte Heldenmut eigen ist -- daher entrang sich
  • meinem Herzen der Schrei, den man für Prahlerei und Hochmut gehalten
  • hat!
  • 1843.
  • III.
  • Ich verstehe nicht, wie du, ein solcher Menschenforscher und
  • Menschenkenner, mir die gleichen törichten Fragen vorlegen kannst, auf
  • die sich alle anderen so trefflich verstehen! Die gute Hälfte von ihnen
  • bezieht sich darauf, was der Zukunft angehört. Was für einen Sinn hat
  • bloß diese Neugierde? Nur eine Frage, die du stellst, ist klug und
  • deiner würdig, und ich wünschte, daß auch andere Leute sie an mich
  • gerichtet hätten, obwohl ich nicht weiß, ob ich sie auch vernünftig
  • beantworten kann; ich meine die folgende: woher es nur komme, daß die
  • Helden meiner letzten Werke, besonders die der »Toten Seelen«, trotzdem
  • sie nichts weniger als naturgetreue Porträts von wirklichen
  • existierenden Menschen, und obwohl sie an und für sich sehr wenig
  • sympathisch und anziehend sind, unserem Herzen dennoch so nahe stehen,
  • wie wenn die Seele bei ihrer Schöpfung beteiligt gewesen wäre? Noch vor
  • einem Jahr wäre es mir peinlich gewesen, dir auf diese Frage zu
  • antworten. Heute aber will ich es offen bekennen: die Helden meiner
  • Werke stehen unserem Herzen darum so nahe, weil sie Schöpfungen der
  • Seele sind; alle meine letzten Werke sind Zeugnisse meiner seelischen
  • Entwicklung. Um mich dir besser verständlich zu machen, will ich dir
  • eine Definition von mir als Schriftsteller geben. Man hat viel über mich
  • gesprochen und geschrieben und die verschiedensten Seiten meines Wesens
  • zu ergründen gesucht, aber mein wahres Wesen hat man darum doch nicht zu
  • bestimmen vermocht. Dieses hat nur Puschkin allein erkannt. Er sagte mir
  • immer, noch nie habe es einen Schriftsteller gegeben, der in so hohem
  • Grade das Vermögen besaß, die Gemeinheit und Plattheit des Lebens in so
  • satten Farben zu schildern, die Hohlheit und Nichtigkeit eines gemeinen
  • Menschen mit einer solchen Kraft zu zeichnen, wie ich, so daß die ganze
  • Kleinheit und Armseligkeit, die den meisten Menschen entgeht, jedem
  • deutlich in die Augen springt. Das ist der Grundzug meines Wesens und er
  • fehlt in der Tat den meisten anderen Schriftstellern. Er hat sich mit
  • der Zeit in mir noch vertieft, weil sich noch andere geistige Momente
  • mit ihm verbunden haben. Aber das konnte ich damals nicht einmal
  • Puschkin mitteilen. Dieser Grundzug hat sich mit besonderer Kraft in den
  • »Toten Seelen« offenbart. Die »Toten Seelen« haben nicht darum in
  • Rußland solch ein Grauen hervorgerufen und so ein Aufsehen gemacht, weil
  • sie irgendwelche furchtbare Wunden oder innere Krankheiten an den Tag
  • gebracht, oder ein erschütterndes Bild vom Triumph des Bösen und von den
  • Leiden der Unschuld entworfen hätten. O nein. Meine Helden sind durchaus
  • keine Bösewichter; wenn ich einem jeden von ihnen nur einen einzigen
  • guten Zug verliehen hätte, der Leser hätte sich sicher mit ihnen allen
  • ausgesöhnt. Aber die Gemeinheit und Plattheit des Ganzen flößte dem
  • Leser Schrecken ein. Was ihn mit solch einem Grauen erfüllte, war
  • dieses, daß bei mir ein Mensch immer kleinlicher und elender war, als
  • der andere, daß es unter ihnen auch nicht eine tröstliche Erscheinung,
  • keinen einzigen Ruhepunkt gab, an dem der arme Leser hätte aufatmen und
  • Mut schöpfen können, und daß es einem, wenn man das ganze Buch gelesen
  • hatte, so vorkam, als trete man aus einem dumpfigen Kellergewölbe wieder
  • in Gottes freie Welt hinaus. Man hätte es mir eher vergeben, wenn ich
  • lauter malerische Ungeheuer gezeichnet hätte -- die Jämmerlichkeit und
  • Gemeinheit hat man mir nicht verziehen. Das, wovor der Russe erschrak,
  • das war seine Nichtigkeit, sie war ihm weit schrecklicher als all seine
  • Mängel und Laster! Ist das nicht eine außerordentliche Erscheinung?
  • Fürwahr, dieser Schrecken ist etwas Herrliches! Wer einen solchen Ekel
  • und Widerwillen vor dem Kleinen und Nichtigen empfindet, in dem liegt
  • sicherlich das Gegenteil von aller Kleinheit und Nichtigkeit verborgen.
  • Dies also ist mein größter Vorzug und ich wiederhole, er hätte sich
  • nicht mit einer solchen Kraft in mir entwickelt, wenn nicht meine eigene
  • geistige Stimmung und meine inneren Erlebnisse hinzugekommen wären.
  • Keiner meiner Leser wußte, daß er über mich selbst lachte, während er
  • über meine Helden lachte.
  • Ich hatte kein einzelnes großes Laster, das all meine übrigen Untugenden
  • um Haupteslänge überragte, ebensowenig wie ich irgendeine markante
  • Tugend besaß, die mir ein besonders interessantes Äußere verliehen
  • hätte, dafür aber vereinigte ich in mir alle Scheußlichkeiten, die es
  • nur gibt, ich besaß zwar von jeder nur ein wenig; aber sie waren in mir
  • in einer solchen Menge vertreten, wie ich es noch nie zuvor bei einem
  • Menschen gesehen habe. Gott hat mir eine vielseitige Natur gegeben. Er
  • hat mir bei meiner Geburt auch manche gute Keime eingepflanzt, der beste
  • jedoch, für den ich ihm nicht genug zu danken vermag, ist der Wunsch,
  • _besser zu werden_. Ich habe meine schlechten Seiten nie geliebt, und
  • wenn es die himmlische Liebe Gottes nicht so gefügt hätte, daß sie sich
  • nur langsam und allmählich vor mir enthüllten, statt sich mir plötzlich
  • und mit einem Schlage zu offenbaren, als ich noch keine Vorstellung von
  • Seinem unendlichen Mitleid besaß, -- dann hätte ich mich sicherlich
  • erhängt. Aber in dem Maße, als ich sie in mir entdeckte, verstärkte sich
  • durch eine wunderbare höhere Eingebung der Wunsch in mir, mich von ihnen
  • zu befreien; es war ein außergewöhnliches seelisches Erlebnis, das mich
  • dazu führte, sie meinen Helden mitzuteilen. Was dies für ein Erlebnis
  • war, darfst du nicht erfahren; wenn ich geglaubt hätte, daß es jemand
  • nützen könnte, hätte ich es schon längst bekanntgemacht. Von diesem
  • Augenblick an begann ich meine Helden über ihre Gemeinheit hinaus auch
  • noch mit meinen persönlichen Scheußlichkeiten auszustatten. Das geschah
  • folgendermaßen: ich nahm eine schlechte Eigenschaft, die ich bei mir
  • selbst fand, untersuchte, welche Formen sie in einem anderen Berufe,
  • Stand oder Lebenskreise annimmt, versuchte es, sie als meine Todfeindin
  • darzustellen, die mich aufs empfindlichste beleidigt hat, und verfolgte
  • sie mit Haß, Spott und allem, dessen ich noch sonst fähig war. Wenn
  • jemand all die Ungeheuer gesehen hätte, die meine Feder im Anfang für
  • mich selbst erschuf, er hätte vor Entsetzen gezittert. Ich brauche dir
  • nur zu erzählen, daß Puschkin, als ich ihm die ersten Kapitel der »Toten
  • Seelen« vorlas (er hatte sonst stets gelacht, wenn ich ihm etwas
  • vortrug, denn er lachte gern und von Herzen), immer finsterer und
  • finsterer wurde, bis sich sein Gesicht zuletzt vollkommen verdüsterte.
  • Als ich geendigt hatte, sagte er mit einem tiefen Schmerz in der Stimme:
  • »Gott, wie grauenhaft trostlos und traurig ist doch unser Rußland.«
  • Dieser Ausspruch überraschte mich. Puschkin, der Rußland so gut kannte,
  • hatte nicht bemerkt, daß dies alles nur eine Karikatur, ein Produkt
  • meiner Phantasie war. Und jetzt erst erkannte ich, was eine Sache
  • bedeutet, die einem aus dem Herzen geflossen ist, was geistige Wahrheit
  • ist und in was für einer erschreckenden Gestalt man dem Menschen die
  • Finsternis und den furchtbaren _Mangel an Licht_ darstellen kann. Seit
  • dieser Zeit dachte ich nur noch daran, wie ich den niederschmetternden
  • Eindruck mildern könnte, den die »Toten Seelen« hervorrufen konnten. Ich
  • sah, daß vieles Schlechte des Hasses nicht wert und daß es besser ist,
  • es in seiner Nichtigkeit und Armseligkeit darzustellen, die in alle
  • Ewigkeit sein Teil ist. Ferner wollte ich sehen, was die Russen sagen
  • würden, wenn man ihnen ihre eigene Häßlichkeit und Gemeinheit vor Augen
  • führte. Nach einem Plan, der mir schon lange vorschwebte, brauchte ich
  • für meinen ersten Teil lauter kleine und armselige Menschen. Diese
  • elenden Menschen sind jedoch keineswegs Porträts nach lebendigen
  • Personen, ich habe vielmehr in ihnen die Züge der Leute gesammelt, die
  • sich für besser halten, als die anderen; allerdings habe ich sie aus
  • Generälen zu gemeinen Soldaten gemacht. Hier finden sich außer Zügen von
  • mir selbst noch viele solche von meinen Freunden und sogar einige von
  • dir. Ich werde dir das später beweisen, wenn die Zeit für dich gekommen
  • sein wird, bis jetzt bleibt das noch mein persönliches Geheimnis. Ich
  • mußte allen guten Menschen, die ich kannte, alles Häßliche und Gemeine
  • nehmen, das sie sich zufällig erworben hatten und es ihren rechtmäßigen
  • Besitzern wiedergeben. Frage nicht, warum der erste Teil von nichts
  • anderem handelt als von _Elend, Armseligkeit und Gemeinheit_ und warum
  • alle handelnden Personen bis auf die letzte so trivial und gemein sein
  • müssen. Die Antwort hierauf wirst du in den folgenden Bänden finden. Das
  • ist das Ganze! Der erste Teil hat trotz all seiner Unvollkommenheiten
  • seine Aufgabe erfüllt, er hat allen Menschen einen wahren Ekel und
  • Widerwillen gegen meine Helden und gegen ihre Armseligkeit eingeflößt,
  • er hat, wie es meine Absicht war, in uns etwas wie Schmerz und Unwillen
  • gegen uns selbst erzeugt. Fürs erste genügt mir das. Mehr wollte ich
  • nicht erreichen. Dies alles wäre natürlich noch bedeutsamer geworden und
  • wäre mir viel besser gelungen, wenn ich mich nicht so sehr mit der
  • Veröffentlichung beeilt hätte und wenn ich das Ganze noch sorgfältiger
  • und gründlicher bearbeitet hätte. Meine Helden haben sich noch nicht
  • völlig von mir abgelöst und daher auch noch nicht die rechte
  • Selbständigkeit erlangt. Ich habe sie noch nicht fest genug auf den
  • Boden gestellt, auf dem sie stehen sollten, noch sind sie nicht recht
  • heimisch geworden in dem Kreis unserer Sitten, noch wurzeln sie nicht
  • tief genug in dem eigentlich russischen Leben mit all seinen
  • Einzelheiten. Noch ist das ganze Buch nicht viel mehr als eine
  • Frühgeburt, aber sein Geist hat sich doch schon unsichtbar verbreitet
  • und selbst sein verfrühtes Erscheinen kann mir dadurch nützlich werden,
  • daß es meine Leser veranlassen kann, mir all meine Fehler nachzuweisen,
  • die ich bei der Schilderung der gesellschaftlichen und privaten
  • Verhältnisse Rußlands begangen habe. Wenn du z. B., statt mir unnütze
  • Fragen zu stellen (mit denen du mehr als die Hälfte deines Briefes
  • angefüllt hast, und die zu nichts führen, als zur Befriedigung einer
  • müßigen Neugierde), wenn du alle vernünftigen und sachlichen Bemerkungen
  • und Einwände, die über mein Werk laut werden, deine eigenen sowohl, als
  • auch alle möglichen fremden, die von klugen Menschen herstammen, die
  • auch Erfahrung genug besitzen und mitten in einem tätigen Leben stehen,
  • sammeln und ihnen eine Reihe von Anekdoten und tatsächlichen
  • Begebenheiten beifügen wolltest, die in eurem Kreise oder in eurer
  • Provinz vorgefallen sind -- sei es nun, daß sie mein Buch in einem
  • seiner Teile widerlegen oder bestätigen -- zu jeder Seite könnte man ein
  • ganzes Dutzend solcher Fälle anführen -- dann würdest du ein wahrhaft
  • gutes Werk tun, und ich würde dir von Herzen dankbar sein. Wie würde
  • sich dadurch mein Horizont erweitern! Wie würde das meinen Kopf
  • erfrischen und wieviel leichter würde die Arbeit vonstatten gehen! Aber
  • das, worum ich bitte, will kein Mensch tun. Niemand hält meine Bitten
  • für ernst und wichtig genug und jeder respektiert nur seine eigenen.
  • Andere wieder verlangen Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit von mir, ohne
  • selbst zu wissen, was sie verlangen. Und was soll bloß diese müßige
  • Neugierde, diese törichte unnütze Hast, die, wie ich sehe, auch dich
  • angesteckt hat. Sieh doch, wie in der Natur alles würdig und weise nach
  • wohlgefügten Gesetzen vonstatten geht und wie vernünftig eines aus dem
  • anderen folgt! Nur wir allein machen uns, Gott weiß warum, soviel
  • unnütze Unruhe. Alles eilt und hastet wie im Fieber. Hast du dir denn
  • deine Worte auch ordentlich überlegt? »Es ist absolut notwendig, daß wir
  • den zweiten Band erhalten.« Wie? soll ich mich denn bloß deswegen, weil
  • alle Leute mit mir unzufrieden sind, mit dem zweiten Bande beeilen? Das
  • wäre doch ebenso dumm, wie das, daß ich mich mit dem ersten zu sehr
  • beeilt habe. Bin ich denn schon ganz um mein bißchen Verstand gekommen?
  • Ich brauche diesen Unwillen und diese Unzufriedenheit ja. Wenn die
  • Menschen unwillig über mich sind, werden sie mir doch wenigstens irgend
  • etwas sagen. Und woraus schließt du nur, daß der zweite Band gerade
  • jetzt ein dringendes Bedürfnis geworden ist. Hast du etwa in meinen Kopf
  • hineingeblickt? Fühlst du, was das Wesen dieses zweiten Bandes ausmacht?
  • Deiner Ansicht nach braucht man ihn jetzt, während ich glaube, daß er
  • nicht früher als nach zwei Jahren erscheinen sollte und auch dies bloß,
  • wenn man die Umstände und den Gang der Zeit berücksichtigt. Wer von uns
  • hat nun recht? Der, in dessen Kopf der zweite Band fertig dasteht, oder
  • der, der noch nicht weiß, was den Inhalt bildet. Was das jetzt für eine
  • seltsame Mode ist, die neuerdings in Rußland aufgekommen ist! Der Mensch
  • liegt selbst auf der faulen Haut, will selbst nichts Vernünftiges tun
  • und spornt die anderen zur Tätigkeit an; als ob jeder andere sich aus
  • allen Kräften anstrengen müßte, vor Freude darüber, daß sein Freund
  • müßig auf dem Rücken liegt! Kaum erfährt man, daß irgendein Mensch mit
  • einer ernsten Sache beschäftigt ist, so treibt man ihn schon überall zur
  • Eile an und dann schilt man ihn noch, wenn er es schlecht macht; dann
  • heißt es: warum hast du dich so beeilt? Aber ich schließe meine Predigt.
  • Auf deine klugen Fragen habe ich geantwortet. Ich habe dir sogar gesagt,
  • was ich bis heute noch keinem einzigen Menschen gesagt habe. Glaube
  • bitte nach diesem Bekenntnis nicht, daß ich ebenso ein Ungeheuer bin,
  • wie meine Helden. Nein, ich gleiche ihnen nicht. Ich liebe das Gute, ich
  • suche es aus allen Kräften, und meine Seele glüht für alles Schöne, ich
  • liebe meine Schändlichkeiten nicht und suche nicht, sie festzuhalten,
  • wie meine Helden; ich liebe das Gemeine in mir nicht, das mich von dem
  • Guten fernhält. Ich kämpfe gegen es an und werde gegen es ankämpfen, bis
  • ich es ganz ausgetrieben habe, und dabei wird Gott mir helfen. Es ist
  • ganz falsch, was törichte, weltlich gerichtete Menschen sich ausgedacht
  • haben, daß der Mensch nur erzogen werden könne, solange er noch in der
  • Schule sitzt, und daß er später keinen Charakterzug mehr in sich
  • verändern könne. Nur in einem törichten, weltlich gesinnten Schädel
  • konnte ein so dummer Gedanke entstehen. Ich habe mich schon von vielen
  • meiner Scheußlichkeiten befreit, indem ich sie auf meine Helden
  • übertrug, sie in ihnen verspottete und auch andere zwang, über sie zu
  • lachen. Ich bin schon manche von ihnen losgeworden, indem ich ihnen ihr
  • verlockendes Äußeres, ihre ritterliche Maske nahm, dank der jedes von
  • unseren Lastern keck durch die Welt geht. Ich habe sie neben das
  • Häßliche gestellt, das allen sichtbar ist. Wenn ich mich in der Beichte
  • vor Ihm prüfe, Der mich in die Welt gesandt hat und Der mir befahl, mich
  • von meinen Fehlern zu befreien, dann erkenne ich viele Laster in mir,
  • aber es sind nicht mehr dieselben wie im vergangenen Jahr, eine heilige
  • Kraft half mir, mich von ihnen zu befreien. Dir aber rate ich, diese
  • Worte nicht unbeachtet verhallen zu lassen, sondern wenn du meine Briefe
  • gelesen hast, einen Augenblick mit dir allein zu bleiben, alles andere
  • eine Weile beiseite zu lassen und gründlich in dich selbst
  • hineinzublicken, indem du dein ganzes Leben an dir vorüberziehen läßt,
  • und dann die Wahrheit meiner Worte einer Prüfung zu unterziehen. In
  • dieser meiner Antwort wirst du, wenn du näher zusiehst, auch eine
  • Antwort auf deine übrigen Fragen finden, und du wirst erkennen, warum
  • ich bisher dem Leser nicht auch die tröstlichen Erscheinungen gezeigt
  • und mir keine tugendhaften Menschen zu Helden erwählt habe. Solche kann
  • man nicht frei aus dem Kopfe erfinden. Solange man ihnen nicht im
  • geringsten selbst gleicht, solange man sich nicht durch Hartnäckigkeit
  • und Beständigkeit einige gute Eigenschaften erobert hat -- wird alles,
  • was die Feder niederschreibt, tot und leblos und so weit von der
  • Wahrheit entfernt bleiben, wie der Himmel von der Erde. Ich habe diese
  • Schreckgespenster nicht erfunden -- diese Schreckgespenster haben meine
  • eigene Seele gewürgt und bedrückt: nur was lebendig in meiner Seele
  • lebte, ist frei aus ihr herausgeströmt.
  • IV.
  • Ich habe den zweiten Teil der »Toten Seelen« verbrannt, weil das eine
  • Notwendigkeit war. »Das du säest, wird nicht lebendig, es sterbe denn,«
  • -- sagt der Apostel. Man muß zuvor sterben, wenn man wieder auferstehen
  • soll. Es ist mir nicht leicht geworden, die Frucht einer fünfjährigen
  • Arbeit zu verbrennen, einer Arbeit, die mich soviel schmerzliche
  • Anstrengungen, wo jede Zeile mich schwere Erschütterungen gekostet hat
  • und worin vieles enthalten war, was mein höchstes Streben ausmachte und
  • meine Seele ausfüllte. Und doch wurde alles verbrannt und noch dazu in
  • einem Augenblick, wo ich den Tod vor Augen sah und etwas hinterlassen
  • wollte, was mich bei der Nachwelt in besserem Andenken erhalten sollte.
  • Ich danke Gott, daß er mir die Kraft verliehen hat, dies zu vollbringen.
  • Sowie die Flamme die letzten Blätter meines Buches aufgezehrt hatte,
  • erstand sein Inhalt plötzlich in verklärter und geläuterter Gestalt vor
  • mir, gleich einem Phönix aus der Asche, und ich sah nun mit einem Male,
  • wie unreif und unausgegoren das noch war, was ich bereits für
  • ausgereift, harmonisch und abgerundet gehalten hatte. Wäre der zweite
  • Band in dem Zustande, in dem er sich damals befand, erschienen, er hätte
  • eher Schaden als Nutzen gestiftet. Nicht der Genuß und die Befriedigung
  • der Kunstkenner und Literaturfreunde ist es, die man anstreben muß,
  • sondern die aller Leser, für die die »Toten Seelen« geschrieben wurden.
  • Eine Anzahl edler Charaktere darzustellen, die für die vornehme
  • Gesinnung und den hohen Adel unseres Wesens zeugen, -- das kann zu
  • nichts führen. Das erregt bloß Hochmut und eitle Prahlsucht. Viele von
  • uns, besonders aber von unseren jungen Leuten, haben die Gewohnheit
  • angenommen, die Vorzüge des russischen Charakters über alles Maß zu
  • preisen und mit ihnen zu prahlen und doch denken sie gar nicht daran,
  • diese Eigenschaften zu vertiefen und an ihrer eigenen Erziehung zu
  • arbeiten, sondern sie suchen sie möglichst zur Schau zu stellen, als
  • wollten sie Europa zurufen: »Seht einmal, ihr Deutschen, wir sind doch
  • besser als ihr!« Diese Prahlsucht richtet alles zugrunde. Sie reizt die
  • andern und gereicht auch dem Renommisten selbst zum Schaden. Man kann
  • die beste Sache in den Kot ziehen, wenn man sich ihrer rühmt und sich
  • was auf sie zugute tut. Bei uns aber rühmt man sich und prahlt man
  • schon, noch ehe man etwas geleistet hat -- man prahlt mit dem, was erst
  • kommen soll! Nein, dann scheint es mir noch besser, man ist kleinmütig
  • und man grämt sich über sich selbst, als daß man hochmütig ist und sich
  • selbst zu viel zutraut. Im ersten Falle wird sich der Mensch wenigstens
  • seiner Armseligkeit, Gemeinheit und Nichtigkeit bewußt und richtet seine
  • Gedanken auf Gott, der alles aus dem tiefsten Elend und der tiefsten
  • Erniedrigung erhebt und zur Höhe emporführt; im zweiten Falle dagegen
  • flieht der Mensch sich selbst und rennt geradeswegs dem Satan, dem Vater
  • des Hochmuts, in die Arme, der den Menschen zur Überhebung verleitet,
  • indem er ihm blauen Dunst vormacht und ihn zum Tugendstolz verführt.
  • Nein, es gibt Zeiten, wo man die Gesellschaft oder sogar eine ganze
  • Generation gar nicht anders auf das Gute hinleiten und für das Gute
  • begeistern kann, als indem man ihnen den ganzen Abgrund der
  • Verkommenheit zeigt, in dem sie stecken; es gibt Zeiten, wo man
  • überhaupt nicht vom Hohen und Schönen sprechen darf, ohne zugleich einem
  • jeden die Richtung und den Weg zum Schönen zu zeigen, so daß er sie
  • taghell vor sich liegen sieht. Dieses letzte Moment ist im zweiten Bande
  • der »Toten Seelen« nur schwächlich und unvollkommen zum Ausdruck
  • gekommen, und doch hätte es eigentlich das wichtigste und wesentlichste
  • Moment sein sollen. Und darum habe ich diesen zweiten Teil verbrannt.
  • Urteilen Sie bitte nicht über mich und ziehen Sie keine Schlüsse daraus;
  • Sie werden sich ebenso täuschen, wie die unter meinen Freunden, die sich
  • aus mir ihr eigenes Ideal eines Schriftstellers zurechtgemacht hatten,
  • das ihren eigenen Begriffen von einem Dichter entsprach, und nun von mir
  • verlangten, ich solle diesem, doch nur von ihnen selbst entworfenen
  • Ideal entsprechen. Gott hat mich erschaffen und Er hat mir nicht
  • vorenthalten, was meine eigentliche Bestimmung ist. Ich bin gar nicht
  • dazu geboren, um eine Epoche in der Literaturgeschichte heraufzuführen.
  • Meine Aufgabe ist weit einfacher und näherliegend; meine Aufgabe ist
  • das, woran ein jeder Mensch und nicht nur ich allein zuallererst denken
  • sollte. Meine Aufgabe -- ist _die Seele und die große sichere ewige
  • Aufgabe des Lebens_. Darum muß auch mein Tun stark und dauerhaft sein
  • und ich muß Werke schaffen, die dauern. Ich brauche mich nicht zu
  • beeilen; mögen doch die andern hasten und sich beeilen! Ich verbrenne,
  • was verbrannt werden muß, und ich handle sicherlich richtig, denn ich
  • unternehme nichts, ohne zuvor zu Gott gebetet zu haben. Was aber Ihre
  • Befürchtungen wegen meiner zarten Gesundheit anbelangt, die es mir
  • vielleicht unmöglich machen wird, den zweiten Band niederzuschreiben, so
  • sind sie überflüssig. Meine Gesundheit ist sehr zart -- das ist freilich
  • wahr. Zuzeiten ist mir's so schlecht zumute, daß ich es ohne Gottes
  • Hilfe kaum auszuhalten vermöchte. Zu dem Verfall meiner Kräfte ist noch
  • ein so intensives Frösteln hinzugekommen, daß ich gar nicht mehr weiß,
  • wie und woran ich mich erwärmen soll: ich müßte mir Bewegung machen, und
  • doch habe ich nicht die Kraft, mich herumzubewegen. Selten kann ich mehr
  • als eine Stunde für die Arbeit erübrigen, aber selbst dann fühle ich
  • mich nicht immer frisch. Allein, meine Hoffnung sinkt darum doch nicht.
  • Der, Der durch Kummer, Leid und Hindernisse die Entwickelung meiner
  • Fähigkeiten und Gedanken, ohne die ich nie auf den Einfall gekommen
  • wäre, mein Werk zu schreiben, beschleunigt hat, Der da machte, daß die
  • größere Hälfte in meinem Kopf bereits fertig feststeht, Der wird mir
  • auch die Kraft verleihen, was noch übrig ist, zu vollenden und zu Papier
  • zu bringen. Meine Kräfte verfallen, aber nicht mein Geist. Alle meine
  • geistigen Fähigkeiten werden vielmehr stärker und kräftiger, nun denn,
  • so wird wohl auch die Körperkraft sich einstellen. Ich lebe dem Glauben,
  • daß, wenn die rechte Stunde schlägt, auch das, woran ich fünf Jahre lang
  • mit Schmerzen gearbeitet habe, in wenigen Wochen vollendet dastehen
  • wird.
  • 1846.
  • XIX
  • Liebt unser russisches Vaterland
  • Aus einem Briefe an den Grafen A. T.
  • Ohne Liebe zu Gott kann keiner gerettet werden, wir aber besitzen keine
  • rechte Gottesliebe. Im Kloster ist sie kaum zu finden, ins Kloster gehen
  • nur die, die Gott selbst dahin berufen hat. Ohne Gottes Willen kann man
  • Ihn nicht liebgewinnen. Und wie sollte man auch Den lieben, Den noch
  • niemand gesehen hat? Gibt es ein Gebet, gibt es eine Kraftanstrengung,
  • mit der wir diese Liebe von Ihm herabflehen könnten? Sehen Sie nur,
  • wieviel gute, vortreffliche Menschen es gegenwärtig auf der Welt gibt,
  • die sich glühend nach dieser Liebe sehnen und nur spröde Härte und öde
  • Kaltblütigkeit in sich finden. Es ist schwer, Den liebzugewinnen, Den
  • niemand gesehen hat. Christus allein hat uns das Geheimnis geoffenbart
  • und verkündet, daß wir in der Liebe zu unseren Brüdern der Liebe zu Gott
  • teilhaftig werden. Wir müssen sie so lieben lernen, wie Christus es uns
  • gelehrt hat, und die Liebe zu Gott wird sich von selbst daraus ergeben.
  • So gehen Sie denn in die Welt hinaus und lernen Sie erst Ihre Brüder
  • lieben.
  • Wie aber sollen wir die Brüder lieben lernen? Wie sollen wir die
  • Menschen liebgewinnen? Die Seele möchte nur das Schöne lieben, die armen
  • Menschen aber sind so unvollkommen, und es ist so wenig Schönheit in
  • ihnen. Wie also sollen wir es anfangen? Danken Sie Gott vor allem dafür,
  • daß Sie ein Russe sind. Für den Russen tut sich jetzt ein Weg auf, und
  • dieser Weg ist Rußland selbst. Wenn der Russe erst einmal Rußland lieben
  • lernen wird, so wird er bald auch alles mit Liebe umfassen, was es in
  • Rußland gibt. Gott selbst weist uns jetzt auf diese Liebe hin. Ohne die
  • Leiden und Krankheiten, von denen Rußland gegenwärtig in so hohem Maße
  • betroffen ward, und an denen wir selbst die Schuld tragen, würde niemand
  • von uns Mitleid mit dem Lande empfinden. Mitleid aber ist bereits der
  • Beginn der Liebe. Selbst in dem entrüsteten Geschrei über die
  • Mißbräuche, die Ungerechtigkeiten und die Bestechlichkeit kommt
  • keineswegs bloß die Empörung der guten und anständigen Elemente über die
  • Unanständigen und Ehrlosen zum Ausdruck, dies ist mehr, es ist der
  • Schmerzensschrei des ganzen Landes, an dessen Ohr die Nachricht drang,
  • daß zahllose Scharen fremder Feinde ins Land eingefallen, in die Häuser
  • gedrungen seien und alle Bewohner unter ihr hartes Joch gezwungen
  • hätten; schon wollen sich die, die diese Seelenfeinde freiwillig in ihr
  • Haus aufgenommen haben, selbst von ihnen befreien; sie wissen nur nicht,
  • wie sie dies anfangen sollen, und so entringt sich allen ein einziger,
  • erschütternder Schrei; selbst die Stumpfen und Gefühllosen beginnen sich
  • zu regen. Aber die wirkliche, eigentliche Liebe empfindet noch keiner,
  • auch Sie besitzen sie nicht. Sie lieben Rußland noch nicht.
  • Sie können sich immer nur grämen, klagen und sich darüber aufregen,
  • sowie Sie hören, daß etwas Böses oder Häßliches in Rußland passiert.
  • Dies erregt bei Ihnen nichts wie Ärger, Bitterkeit oder Mißmut. Nein,
  • das ist noch nicht Liebe. Sie sind noch weit entfernt von der Liebe, das
  • ist höchstens etwas wie ein schwaches Anzeichen, durch das sie sich
  • ankündigt. Nein, wenn Sie Rußland wirklich lieben werden, dann wird
  • jener kurzsichtige Gedanke, der jetzt in den Köpfen vieler ehrlicher und
  • selbst gescheiter Leute entsteht, als könnten sie heutzutage nichts für
  • Rußland tun, und als ob Rußland ihrer überhaupt nicht bedürfte, ganz von
  • selbst verschwinden. Im Gegenteil, dann werden Sie erst wirklich und mit
  • voller Stärke empfinden, daß die Liebe allmächtig ist und daß man mit
  • ihr im Bunde alles zu vollbringen vermag. Nein, wenn Sie Rußland
  • wirklich liebgewinnen werden, dann werden Sie sich förmlich dazu
  • drängen, dem Vaterland zu dienen. Und Sie werden dann nicht etwa
  • Gouverneur, sondern Polizeihauptmann werden wollen, dann werden Sie sich
  • mit dem letzten unbedeutendsten Posten, der sich Ihnen darbieten wird,
  • begnügen wollen und jedes Körnchen Tätigkeit in diesem Beruf einem
  • tatenlosen und müßigen Leben, wie Sie es jetzt führen, vorziehen. Nein,
  • Sie lieben Rußland noch nicht. Und solange Sie Rußland noch nicht
  • lieben, können Sie auch Ihre Brüder nicht lieben, ohne solche Liebe zu
  • Ihren Brüdern aber können Sie nicht in Liebe zu Gott entbrennen. Und ehe
  • Sie sich nicht mit dieser göttlichen Liebe erfüllen, gibt es keine
  • Rettung für Sie.
  • 1844.
  • XX
  • Lernt Rußland kennen!
  • Aus einem Brief an den Grafen P. T.
  • Es gibt keinen höheren Beruf als den Mönchsberuf. Gott gebe, daß es uns
  • einmal beschieden sei, die schlichte Mönchskutte anzulegen, nach der
  • sich meine Seele so sehnt! Schon der bloße Gedanke an sie ist mir eine
  • Freude. Allein aus eigener Kraft, ohne von Gott dazu berufen zu werden,
  • können wir solches nicht vollbringen. Wenn man das Recht besitzen will,
  • sich aus dieser Welt zurückzuziehen, muß man dieser Welt Lebewohl sagen
  • können. Verteile zuvor all dein Gut an die Armen und dann erst gehe ins
  • Kloster. Diese Worte gelten für alle, deren Weg dorthin führt. Sie sind
  • reich, Sie können Ihr Vermögen unter die Armen verteilen, was aber hätte
  • ich ihnen zu geben? Mein Vermögen besteht nicht in Geld. Mit Gottes
  • Hilfe ist es mir gelungen, mir ein gewisses geistiges und seelisches
  • Besitztum zu erwerben, Er hat mir einige Fähigkeiten verliehen, mit
  • denen ich andern nützen und dienen kann -- daher muß ich diese Güter
  • unter die verteilen, die keine besitzen, ehe ich ins Kloster gehe. Aber
  • auch Sie können sich dadurch, daß Sie all Ihr Geld wegschenken, noch
  • nicht das Recht dazu erwerben. Wenn Sie an Ihrem Gelde hingen und wenn
  • es Ihnen schwer würde, sich von ihm zu trennen, dann läge die Sache
  • anders. Allein Sie sind gleichgültig gegen das Geld, es bedeutet heute
  • nichts mehr für Sie. Was für eine Heldentat und welch ein Opfer wäre es,
  • sich von ihm zu trennen. Oder heißt es etwa, seinem Bruder Gutes tun,
  • wenn man ein unnützes Ding aus dem Fenster wirft, sofern wir nämlich das
  • Gute in dem hohen Sinne des Christentums verstehen? Nein, Ihnen sind die
  • Tore zu der ersehnten Klosterzelle noch ebenso verschlossen wie mir. Ihr
  • Kloster ist -- Rußland. Nun, so legen Sie das geistige Mönchsgewand an
  • -- sterben Sie sich selbst völlig ab -- sich selbst -- nicht Rußland --
  • und gehen Sie hin, um darin zu wirken und tätig zu sein. Unser Land ruft
  • heute seine Söhne lauter als je. Schon schmerzt ihm die Seele, und schon
  • ertönt sein Schrei aus tiefer Seelennot. Lieber Freund! Sie haben
  • entweder ein gefühlloses Herz oder Sie wissen nicht, was Rußland für
  • einen Russen bedeutet. Denken Sie doch daran, wie einst, wenn Not und
  • Elend über das Reich hereinbrachen, die Mönche ihre Klosterzellen
  • verließen und zu den anderen in die Reihen traten, um das Vaterland zu
  • retten. Die Mönche Oslabja und Pereswet griffen, vom Segen des Priors
  • begleitet, zum Schwert, das dem Christen ein Greuel ist, und blieben auf
  • der blutigen Walstatt, und Sie weigern sich, die Pflicht eines
  • friedlichen Bürgers -- ja, wo denn nur? -- mitten im Herzen Rußlands zu
  • erfüllen. Machen Sie keine Ausflüchte, und weisen Sie nicht auf Ihre
  • Unfähigkeit hin, Sie besitzen viele Fähigkeiten, die Rußland jetzt
  • höchst dienlich und von größtem Nutzen sein können. Sie sind Gouverneur
  • zweier Provinzen von äußerst verschiedenem Charakter gewesen. Sie haben
  • diese Stellung trotz aller Fehler und Unzulänglichkeiten, die Ihnen
  • damals noch anhafteten, weit besser ausgefüllt als mancher andere, Sie
  • haben sich aus erster Hand positive Kenntnisse über die Zustände und
  • Vorgänge im Innern Rußlands erworben und das Land in seinem wahren Wesen
  • kennen gelernt. Aber das ist noch nicht die Hauptsache, und ich würde
  • Ihnen nicht so zureden, wieder in den Staatsdienst zu treten, trotzdem
  • Sie so bedeutende Kenntnisse besitzen, wenn ich bei Ihnen nicht eine
  • bestimmte Eigenschaft entdeckt hätte, die mir weit bedeutsamer
  • erscheint, als alle übrigen. Ich meine jene Fähigkeit, ohne besondere
  • Anstrengung und ohne _selbst_ zu arbeiten, ja, während Sie selbst ein
  • bequemes müßiges Leben führen, alle andern zur Arbeit anzufeuern. Bei
  • Ihnen wickelte sich alles schnell und glatt ab, und wenn man Sie dann
  • erstaunt fragte: wie kommt das nur? pflegten Sie zu antworten: das alles
  • ist das Verdienst meiner Beamten, ich hatte das Glück, tüchtige Beamte
  • zu bekommen, die mir selbst gar keine Arbeit übrig lassen. Und wenn sich
  • dann Gelegenheit bot, jemand für eine Auszeichnung oder Belohnung
  • vorzuschlagen, dann wiesen Sie stets zuerst auf Ihre Beamten hin, indem
  • Sie ihnen alles Verdienst zuschrieben und sich selbst ganz übergingen.
  • Das ist Ihr höchster Vorzug. Ganz abgesehen von Ihrer großen Fähigkeit,
  • sich die rechten Beamten zu wählen. Kein Wunder, daß Ihre Beamten sich
  • die größte Mühe gaben, ja, einer hat sich beim Schreiben so
  • überanstrengt, daß er an der Schwindsucht erkrankte und starb, trotzdem
  • Sie aufs eifrigste bemüht waren, ihn zu bestimmen, er solle nicht so
  • viel arbeiten. Wessen ist ein Russe nicht fähig, wenn ein Vorgesetzter
  • ihn in dieser Weise behandelt! Eine solche Fähigkeit wird heute zu einem
  • wahrhaften Bedürfnis. Gerade heute, in einer so selbstsüchtigen Zeit, wo
  • ein jeder Vorgesetzter nur daran denkt, sich selbst möglichst in den
  • Vordergrund zu rücken und sich alle Verdienste zuzuschreiben. Ich sage
  • Ihnen, mit dieser Ihrer Fähigkeit sind Sie heute in Rußland völlig
  • unentbehrlich, und es ist eine Sünde, daß Sie dies nicht einmal
  • empfinden. Ich würde eine Schuld auf mich laden, wenn ich Sie nicht auf
  • diese Fähigkeit aufmerksam machte. Sie ist das Beste, was Sie besitzen.
  • Die, die sie entbehren, denen diese Eigenschaft fehlt, flehen Sie an,
  • daß Sie sie nicht brachliegen lassen mögen. Sie aber halten sie wie ein
  • Geizhals unter festem Verschluß und stellen sich taub. Es ist richtig,
  • vielleicht stünde es Ihnen heute nicht gut an, eine ähnliche Stellung
  • einzunehmen wie die, die Sie vor zehn Jahren innehatten, nicht deshalb,
  • weil Sie sie nötig haben -- Sie besitzen gottlob keinen Ehrgeiz, und in
  • Ihren Augen ist keine Stellung zu gering -- sondern deshalb, weil Ihre
  • Fähigkeiten sich noch mehr entwickelt haben, noch gewachsen sind und zu
  • ihrer Entfaltung und Nahrung eines anderen freieren Wirkungskreises
  • bedürfen. Ja, aber gibt es denn etwa so wenig Posten und Wirkungskreise
  • in Rußland? Blicken Sie um sich, sehen Sie sich ordentlich um, und Sie
  • werden einen finden. Sie sollten einmal eine Reise durch Rußland machen.
  • Sie kennen das Land, wie es vor zehn Jahren war, aber das genügt jetzt
  • nicht mehr. In zehn Jahren ereignet sich in Rußland mehr, als in einem
  • anderen Staate während eines halben Jahrhunderts. Sie haben selbst,
  • während Sie hier im Ausland wohnen, bemerkt, daß in den letzten zwei,
  • drei Jahren ganz andere Menschen aus Rußland herauskommen, Menschen, die
  • gar keine Ähnlichkeit mit denen haben, denen Sie noch vor kurzem
  • begegneten. Um zu erfahren, was das _heutige Rußland_ ist, muß man
  • unbedingt einmal eine Reise durch das Land machen. Glauben Sie nicht,
  • was man spricht und was man sich erzählt. Das eine ist freilich wahr,
  • daß es in Rußland noch niemals eine so außerordentliche Mannigfaltigkeit
  • und Verschiedenheit der Meinungen und Anschauungen gegeben hat, wie sie
  • heute unter den Leuten herrschen, und daß der Unterschied der Bildung
  • und der Erziehung die Menschen noch niemals in einen solchen Gegensatz
  • zueinander gebracht und soviel Streit und Uneinigkeit unter ihnen erregt
  • hat, wie heutzutage. Überdies ist ein Geist der Klatschsucht
  • aufgekommen, sind so viele neue törichte Ideen mit allen daraus
  • folgenden Konsequenzen zu uns importiert worden, sind so viele törichte
  • Gerüchte entstanden und einseitige nichtssagende Schlüsse gezogen
  • worden. Dies alles hat bei allen Leuten die Begriffe über Rußland so
  • sehr entstellt und verwirrt, daß man niemand mehr glauben kann. Man muß
  • selbst eine Reise durch Rußland machen und sich selbst überzeugen. Das
  • ist besonders nützlich für den, der eine Weile fern von Rußland in der
  • Fremde gelebt hat und nun mit einem frischen, noch nicht umnebelten
  • Kopfe zurückkehrt. Er wird vieles sehen, was ein anderer Mensch, der
  • sich selbst mitten in dem verwirrenden Getriebe befindet und empfindlich
  • und feinfühlig auf die brennenden Fragen des Augenblicks reagiert, nicht
  • sehen kann. Führen Sie Ihre Reise in folgender Weise aus: zunächst
  • müssen Sie alle Anschauungen, die Sie bisher über Rußland besaßen, bis
  • auf die letzte völlig aus Ihrem Kopfe verbannen und sich von all Ihren
  • eigenen Schlüssen und Folgerungen, die Sie bereits gezogen haben,
  • lossagen. Sie müssen tun, als ob Sie so gut wie gar nichts wüßten, und
  • Ihre Reise so antreten, wie wenn Sie ein neues, Ihnen noch völlig
  • unbekanntes Land kennen lernen wollten. Und wie sich ein russischer
  • Reisender jedesmal bei seinem Eintreffen in einer größeren europäischen
  • Stadt beeilt, alle ihre Denkmäler aus alter Zeit und alle
  • Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen, so müssen Sie, wenn Sie in
  • die erste beste Kreis- oder Provinzhauptstadt kommen, ja mit noch
  • größerem Interesse sich bemühen, alles Bemerkenswerte an ihr kennen zu
  • lernen. Dieses besteht nicht in ihren architektonischen Kunstwerken und
  • in ihren Altertümern, sondern in ihren Menschen. Ich möchte darauf
  • schwören, der Mensch hat mehr Anspruch darauf, daß man ihn aufmerksam
  • und mit Interesse kennen zu lernen und zu erforschen sucht, als
  • irgendeine Fabrik oder eine Ruine. Rüsten Sie sich mit einem Tropfen
  • wahrhaft brüderlicher Liebe aus und versuchen Sie es, einen Blick auf
  • den Menschen zu werfen, und Sie werden sich nicht wieder von ihm trennen
  • können, so interessant wird er Ihnen werden. Lernen Sie vor allem die
  • Menschen kennen, die den eigentlichen Kern, den Extrakt, »das Salz«
  • einer jeden Stadt oder jedes Kreises bilden. In jeder Stadt gibt es
  • immer zwei bis drei solche Menschen. Sie werden Ihnen in wenigen Zügen
  • ein Bild der ganzen Stadt vermitteln, so daß Sie sich schon selbst ein
  • Urteil darüber bilden werden, wo und an welchen Orten Sie die meisten
  • Beobachtungen über die gegenwärtige Lage der Dinge machen können. Wenn
  • Sie mit den fortgeschrittensten Repräsentanten jeden Standes reden
  • werden (mit Ihnen unterhalten sich doch alle Menschen so gern und öffnen
  • Ihnen gleich ganz weit ihr Herz), so werden Sie von ihnen erfahren, was
  • heutzutage jeder Stand bedeutet. Der flinke und gewandte Kaufmann wird
  • Ihnen sofort erklären, was die Kaufmannschaft der Stadt darstellt. Ein
  • nüchterner, tüchtiger Kleinbürger wird Ihnen einen Begriff von dem
  • Kleinbürgertum geben; von einem energischen Beamten werden Sie alles
  • Notwendige über den Geschäftsgang in den staatlichen Organen erfahren,
  • und von dem allgemeinen Geist und der Atmosphäre der Gesellschaft werden
  • Sie sich selbst ein Bild machen. Übrigens dürfen Sie sich nicht
  • allzusehr auf die fortgeschrittenen Leute, die geistige Elite verlassen.
  • Es ist schon besser, wenn Sie immer zwei oder drei Leute aus jedem
  • Stande hören. Vergessen Sie auch nicht, daß heute alle miteinander im
  • Streite liegen und einer den andern rücksichtslos verleumdet und
  • schlecht macht. Suchen Sie sofort Fühlung mit der Geistlichkeit zu
  • nehmen, weil man mit dieser leicht bekannt wird. Von ihr werden Sie
  • alles übrige erfahren. Und wenn Sie auch nur die wichtigsten Punkte und
  • Städte Rußlands besuchen werden, so wird es Ihnen sonnenklar werden, wo
  • und an welcher Stelle Sie sich nützlich machen können und um welchen
  • Posten Sie sich bewerben müssen. Inzwischen aber können Sie, wenn Sie
  • nur wollen, schon durch Ihre bloße Reise sehr viel Gutes stiften. Schon
  • während dieser Reise werden Sie Gelegenheit zu so großen wahrhaft
  • christlichen Taten finden, wie sie sich Ihnen nicht einmal im Kloster
  • bieten würde. Erstens können Sie, der Sie sich so angenehm unterhalten
  • können und der Sie allen Menschen gefallen, als ein fremder abseits
  • stehender neuer Mensch die Rolle des unparteiischen Mittlers und
  • Richters übernehmen. Sie wissen nicht, wie wichtig, wie notwendig das
  • jetzt in Rußland ist und welches Verdienst in einer solchen Tätigkeit
  • liegt. Der Heiland hat sie beinahe noch höher gestellt als jede andere
  • Art der Tätigkeit. Er nennt die Friedfertigen geradezu die Kinder
  • Gottes. Ein Vermittler und Friedensstifter aber findet bei uns überall
  • etwas zu tun. Alles liegt miteinander im Streit. Unsere Adligen leben
  • miteinander wie Hund und Katze, die Kaufleute leben wie Katze und Hund;
  • die Kleinbürger vertragen sich so schlecht wie Hund und Katze; ja selbst
  • die Bauern leben, wenn sie nicht gerade durch irgendeinen besonderen
  • Grund zu einträchtiger Arbeit veranlaßt werden, miteinander wie Hund und
  • Katze. Ja, sogar brave ehrliche Menschen leben in Zwietracht
  • miteinander. Nur unter den Gaunern kann man noch etwas wie Eintracht und
  • Freundschaft bemerken, wenn nämlich einer von ihnen heftigen
  • Verfolgungen ausgesetzt ist.
  • Ein Friedensstifter findet überall einen Wirkungskreis. Haben Sie keine
  • Furcht, es ist nicht schwer, zu vermitteln und zu versöhnen. Für die
  • Menschen selbst ist es allerdings schwierig, sich wieder zu vertragen
  • und wieder auszusöhnen. Sowie aber ein Dritter zwischen sie tritt, söhnt
  • er sie sofort miteinander aus. Daher spielt bei uns das Schiedsgericht,
  • dieses eigenste und wahrhaftigste Produkt unseres Landes, das bisher
  • weit mehr Erfolge zu verzeichnen hatte, als alle anderen Gerichte, eine
  • so große Rolle. Es gibt eine wunderbare Eigenschaft, die der
  • menschlichen Natur im allgemeinen, besonders aber dem russischen Wesen
  • eigen ist. Sowie ein Mensch merkt, daß ein anderer ihm auch nur ein
  • bißchen entgegenkommt oder nachsichtig gegen ihn ist, so ist er schon so
  • gut wie bereit, ihn deswegen um Verzeihung zu bitten. Keiner will zuerst
  • nachgeben, sowie jedoch einer sich zu einem solchen hochherzigen
  • Entgegenkommen entschließt, drängt sich der andere förmlich dazu, ihn an
  • Großmut noch zu überbieten. Daher können bei uns selbst die ältesten
  • Prozesse und Zwistigkeiten weit schneller als irgendwo sonst beigelegt
  • werden, wenn nur ein wahrhaft edler Mensch, der von allen geachtet wird
  • und überdies noch ein Kenner des menschlichen Herzens ist, zwischen die
  • Streitenden tritt. Eine solche Versöhnung aber -- dies muß ich noch
  • einmal wiederholen -- ist jetzt sehr vonnöten. Wenn nur einige wenige
  • Menschen, die sich jetzt gegenseitig entgegenarbeiten und einander
  • Schwierigkeiten machen, weil sie verschiedener Ansicht über irgendeine
  • Sache sind, sich dazu verständen, einander die Hand zu reichen, so würde
  • es den Gaunern schlecht ergehen. Da haben Sie also einen Teil der
  • Tätigkeit, zu der sich Ihnen während Ihrer Reise durch Rußland auf
  • Schritt und Tritt Gelegenheit bieten wird. Aber es gibt auch noch eine
  • andere Aufgabe für Sie, die nicht geringer ist als jene erste. Sie
  • können der Geistlichkeit der Städte, die Sie berühren werden, einen
  • großen Dienst erweisen, indem Sie sie näher mit der Gesellschaft bekannt
  • machen, in der sie lebt, indem Sie ihr eine gewisse Kenntnis der
  • Vorgänge und der Machenschaften beibringen, von denen die Menschen
  • heutzutage in der Beichte gar nicht reden, da sie annehmen, daß sie
  • nicht in die Sphäre des christlichen Lebens gehören. Dies ist sehr
  • notwendig, weil viele Geistliche, wie ich weiß, infolge der großen Menge
  • von Ungehörigkeiten und Mißbräuchen, die in der letzten Zeit
  • stattgefunden haben, mutlos geworden sind, weil sie fast der Ansicht
  • sind, daß niemand mehr auf sie hört, daß ihre Worte und Predigten in die
  • Luft gesprochen sind, daß das Übel schon so tiefe Wurzeln geschlagen hat
  • und daß an eine Entwurzelung gar nicht mehr zu denken ist. Das ist
  • unrichtig. Freilich sündigt der Mensch von heute wirklich
  • unvergleichlich viel mehr als zu irgendeiner früheren Zeit; allein er
  • sündigt nicht aus einem Übermaß von Verdorbenheit und Lasterhaftigkeit,
  • nicht aus Gefühllosigkeit und nicht deshalb, weil er den Wunsch zu
  • sündigen hat, sondern deshalb, weil er seine Sünden nicht erkennt. Noch
  • hat sich nicht allen die für unser gegenwärtiges Zeitalter so furchtbare
  • Wahrheit enthüllt, noch liegt diese Wahrheit nicht so klar vor unseren
  • Augen, daß wir nämlich heutzutage alle miteinander bis auf den Letzten
  • der Sünde verfallen sind, und daß wir bloß nicht offen und direkt,
  • sondern indirekt sündigen. Das empfinden selbst unsere Prediger noch
  • nicht recht, daher sind ihre Predigten auch in die Luft gesprochen und
  • daher bleiben die Menschen taub für ihre Worte. Wenn man heutzutage
  • erklärt: »ihr sollt nicht stehlen, nicht in Überfluß und Üppigkeit
  • leben, ihr sollt euch nicht bestechen lassen, sondern beten und den
  • Armen milde Gaben reichen«, so bedeutet das nichts und kann keine
  • Wirkung haben. Denn abgesehen davon, daß jeder sagen wird: »aber das
  • sind doch alles bekannte Dinge«, wird er sich noch vor sich selbst
  • rechtfertigen und sich womöglich gar noch für einen Heiligen halten. Er
  • wird sagen: »Stehlen? -- ja, das tue ich doch nicht. Legt eine Uhr, ein
  • paar Münzen, legt jeden beliebigen Gegenstand vor mich hin, ich werde
  • ihn nicht anrühren. Ich habe sogar meinen eigenen Diener wegen
  • Diebstahls entlassen; ich lebe natürlich auf großem Fuße, aber ich habe
  • weder Kinder noch Verwandte, ich brauche für niemand zu sparen und
  • zurückzulegen und mit meiner Verschwendung und mit meinem Überfluß
  • stifte ich noch Nutzen, denn ich gebe damit den Handwerkern, den
  • Gesellen, den Kaufleuten und Fabrikherren Gelegenheit, zu verdienen.
  • Geschenke nehme ich nur von den Reichen an, die mich selbst darum bitten
  • und für die das noch nicht den Ruin bedeutet. Ich bete immer fleißig,
  • auch jetzt bin ich doch in der Kirche, ich bekreuzige mich und mache
  • meine Kniefälle, ich helfe auch stets, kein Armer geht an mir vorüber,
  • ohne daß er eine Kupfermünze von mir erhält, auch habe ich mich niemals
  • geweigert, etwas für irgendeine Wohlfahrtseinrichtung zu geben.« Mit
  • einem Wort, er wird sich nach einer solchen Predigt nicht nur für
  • gerechtfertigt halten, sondern wohl gar noch stolz auf seine
  • Sündlosigkeit sein.
  • Aber wenn man den Vorhang vor ihm wegzieht und ihm bloß einen Teil von
  • all den furchtbaren Schrecken und Übeln zeigt, die er zwar nicht
  • unmittelbar, aber doch indirekt verursacht, dann wird er ganz anders
  • reden. Man sage einem kurzsichtigen, aber ehrenhaft denkenden reichen
  • Mann, daß er, indem er sein Haus schmückt und seine Lebensweise nach dem
  • Vorbild der vornehmen Herren einrichtet, schweren Schaden und schweres
  • Ärgernis verursacht, indem er einem andern weniger Reichen denselben
  • Wunsch einpflanzt. Denn dieser wird, um nur nicht hinter jenem
  • zurückzustehen, nicht nur sein eigenes, sondern auch fremdes Gut
  • verschwenden, die Menschen ausplündern und sie zu Bettlern machen;
  • außerdem aber sollte man eins jener furchtbaren Bilder der Hungersnot im
  • Innern Rußlands vor ihm erstehen lassen, bei der ihm die Haare zu Berge
  • stehen müssen, und die es vielleicht nicht geben würde, wenn er nicht
  • wie ein vornehmer Mann leben, nicht den Ton in der Gesellschaft angeben
  • und die Köpfe anderer Leute verwirren würde. Ebenso zeige man allen
  • Modedamen, die sich nicht gern immer in demselben Kleide sehen lassen
  • und sich ganze Haufen neuer Kleider anfertigen lassen, ohne ein einziges
  • davon wirklich abzutragen, wobei sie jeder kleinsten Laune der Mode
  • folgen, ebenso zeige man diesen, wie sie eigentlich gar nicht dadurch
  • sündigen, daß sie sich einem solchen eitlen Treiben hingeben und ihr
  • Geld verschwenden, sondern dadurch, daß sie auch andere zu einem solchen
  • Leben zwingen, daß so mancher Mann einer andern Frau aus diesem Grunde
  • Bestechungsgelder von einem Beamten, dem eigenen Kollegen, angenommen
  • hat [gewiß, dieser Beamte war reich, aber um das Geld aufzubringen,
  • mußte er einem weniger Reichen an die Kehle springen und ihn
  • ausplündern. Dieser mußte seinerseits irgendeinem Assessor oder einem
  • Landrat die Kehle zudrücken und der Landpolizeihauptmann wiederum war
  • gezwungen, die ganz Armen und Besitzlosen auszuplündern] und man lasse
  • auch vor all diesen Modedamen ein Bild der Hungersnot erstehen. Dann
  • werden sie nicht mehr an Hüte oder an ein neues, modernes Kleid denken.
  • Sie werden einsehen, daß auch das Geld, das sie den Armen hinwerfen, und
  • auch die humanen Wohlfahrtseinrichtungen, die sie in den Städten auf
  • Kosten der ausgeplünderten Provinzen errichten, sie nicht von der
  • furchtbaren Verantwortung vor Gott befreien werden. Nein, der Mensch ist
  • nicht gefühllos. Der Mensch wird im tiefsten erschüttert sein, wenn Sie
  • ihm die Sache darstellen, wie sie ist. Und er wird sich heute mehr
  • erschüttert fühlen, denn sein Herz, sein Wesen ist milder und weicher
  • geworden, und die Hälfte seiner Sünden rührt von seiner Unkenntnis und
  • nicht von seiner Lasterhaftigkeit her. Er wird den, der ihn dazu
  • anhalten wird, in sich zu gehen und seinen Blick auf sich selbst, in
  • sein Inneres zu richten, liebevoll wie seinen Retter umarmen. Der
  • Prediger braucht den Vorhang nur ein wenig zu lüften und ihm nur eins
  • von den Verbrechen zu zeigen, die er jeden Augenblick begeht, und er
  • wird nicht mehr den Mut haben, mit seiner Sündlosigkeit zu prahlen. Er
  • wird sein verschwenderisches Leben nicht mehr mit elenden, armseligen
  • Sophismen zu verteidigen suchen, wie wenn ein solches Leben notwendig
  • wäre, um den Handwerkern Brot zu verschaffen, er wird erkennen, daß der
  • Gedanke, daß man ein halbes Dorf oder einen halben Kreis zugrunde
  • richten müsse, um irgendeinem Tischler Hambs Brot zu verschaffen, nur in
  • dem traurigen Kopfe eines Nationalökonomen des 19. Jahrhunderts, nicht
  • aber in dem gesunden Gehirn eines vernünftigen Menschen entstehen
  • konnte. Wie, wenn der Prediger die ganze Kette jener unzähligen
  • indirekten Verbrechen, die der Mensch durch seine Unvorsichtigkeit,
  • seinen Stolz, sein Selbstvertrauen begeht, vor ihm aufrollen und auf
  • alle Gefahren der gegenwärtigen Zeit hinweisen würde, wo jeder von uns
  • mit einem Schlage so viele Seelen zugrunde richten kann, nicht nur seine
  • eigene, ja wo man sogar, ohne selbst unehrlich zu sein, bloß durch seine
  • Unvorsichtigkeit andere zu ehrlosen Menschen und Schurken machen kann,
  • kurz, wie wäre es wohl, wenn er nur ganz vorsichtig darauf hinweisen
  • würde, auf welch gefährlichem Wege sich alle Menschen befinden! Nein,
  • die Menschen werden nicht taub gegen seine Worte sein. Keins seiner
  • Worte wird in die Luft gesprochen sein. _Sie_ aber können viele Priester
  • hierauf aufmerksam machen, indem Sie sie auf alle die Machenschaften der
  • Menschen unserer Zeit, die Sie unterwegs kennen lernen werden,
  • aufmerksam machen. Aber Sie können sich hierdurch nicht nur den
  • Priestern, sondern auch anderen Menschen nützlich erweisen. Dies sind
  • Tatsachen, deren Kenntnis heutzutage jedem von Nutzen ist.
  • Man muß dem Menschen das Leben zeigen: das Leben, nicht wie es sich
  • unter dem Gesichtspunkt einer vergangenen, sondern unter dem aller
  • Wirrsale und Verwirrungen unserer _gegenwärtigen_ Zeit darstellt; nicht
  • wie es dem oberflächlichen Blick eines Weltmanns, sondern wie es einem
  • Manne erscheint, der es von dem höchsten Standpunkt eines Christen
  • betrachtet, in Erwägung zieht und bewertet. Die Unkenntnis Rußlands, wie
  • sie in Rußland selbst verbreitet ist, ist ganz ungeheuer. Alle Leute
  • leben in einer fremden Welt ausländischer Journale und Zeitungen, nicht
  • aber in ihrem eigenen Lande. Keine Stadt kennt die andere, kein Mensch
  • kennt seine Mitmenschen. Menschen, die innerhalb derselben vier Wände
  • wohnen, scheinen durch Meere voneinander getrennt zu sein. Sie aber
  • können sie auf Ihrer Reise miteinander bekannt machen und wie ein
  • gewandter Kaufmann einen wohltuenden gegenseitigen Verkehr und
  • Gedankenaustausch zwischen ihnen anbahnen. In _einer_ Stadt können Sie
  • Kenntnisse sammeln, um sie in einer andern mit Profit wieder an den Mann
  • zu bringen. Sie können alle reicher machen und sich zugleich selbst weit
  • mehr bereichern als alle. So Großes können Sie auf Schritt und Tritt
  • vollbringen -- und das sehen Sie nicht. Erwachen Sie doch. Eine Hülle
  • liegt über Ihren Augen. Es liegt nicht in Ihrer Macht, die Liebe
  • herbeizurufen, damit sie komme und Wohnung in Ihrem Herzen nehme. Sie
  • können die Menschen nicht anders lieben lernen, als dadurch, daß Sie es
  • lernen, ihnen zu dienen. Wie könnte ein Diener seinen Herrn
  • liebgewinnen, wenn dieser ihm beständig fernbleibt und wenn er noch nie
  • für ihn gearbeitet hat. Daher liebt ja auch eine Mutter ihr Kind so
  • innig, weil sie es so lange unter ihrem Herzen getragen, weil sie alles
  • für es hingegeben hat, weil sie so viel für es gelitten hat. Wachen Sie
  • auf! Ihre Klosterzelle ist -- Rußland.
  • 1845.
  • XXI
  • Was eine Gouverneursgattin ist
  • An Fr. A. O. S.
  • Ich freue mich, daß Ihre Gesundheit jetzt besser ist. Die meine ... aber
  • sprechen wir nicht von unserer Gesundheit. Wir sollten sie ebenso
  • vergessen wie uns selbst. Also Sie kehren wieder in Ihre
  • Gouvernementshauptstadt zurück. Sie müssen sie mit neuer Kraft lieben
  • lernen; sie gehört zu Ihnen, sie ist Ihnen anvertraut, sie muß Ihre
  • wahre Heimat werden. Sie haben unrecht, wenn Sie schon wieder meinen,
  • daß Ihre Anwesenheit für das soziale Tun und Leben daselbst ganz ohne
  • Nutzen, daß die Gesellschaft bis auf die Wurzel verderbt sei. Sie sind
  • einfach müde -- das ist alles. Die Frau eines Gouverneurs findet
  • überall, auf Schritt und Tritt ein Feld der Betätigung. Sie wirkt sogar
  • auch dann noch, wenn sie überhaupt nichts tut. Sie wissen doch selbst
  • schon, daß es sich nicht darum handelt, sich viele Unruhe, sich viel zu
  • schaffen zu machen und sich beständig voller Hitze und Eifer auf alle
  • möglichen Dinge zu werfen. Sie haben zwei lebendige Beispiele vor sich,
  • die Sie selbst erwähnt haben. Ihre Vorgängerin, Frau Sch., hat einen
  • ganzen Haufen von Wohlfahrtseinrichtungen gegründet und zugleich damit
  • alle möglichen Schreibereien, eine große Aktenwirtschaft veranlaßt,
  • allerhand Ökonomen, Sekretäre angestellt und den Grund zu Veruntreuungen
  • und einem törichten unsinnigen Getue gelegt, sie hat sich in Petersburg
  • durch ihre Wohltätigkeit berühmt gemacht und in K. eine große Verwirrung
  • angerichtet. Die Fürstin O. dagegen, die _vor_ Ihnen Gouverneurin der
  • Stadt K. war, hat keinerlei Wohlfahrtseinrichtungen und keine Asyle
  • gegründet, sie hat außerhalb der Stadt kaum von sich reden gemacht, auch
  • hatte sie gar keinen Einfluß auf ihren Mann und sie hat sich auch an der
  • eigentlichen Regierungstätigkeit und den offiziellen Geschäften gar
  • nicht beteiligt, und doch kann bis auf den heutigen Tag kein Mensch in
  • der Stadt ihrer ohne Tränen gedenken, und jedermann -- von dem Kaufmann
  • bis herab zum letzten Habenichts -- sagt auch heute noch immer: »Nein,
  • wir werden nie eine zweite Fürstin O. bekommen.« Und wer sagt so etwas?
  • Dieselbe Stadt, für die sich, wie Sie annehmen, nichts tun läßt,
  • dieselbe Gesellschaft, die Ihrer Meinung nach für alle Zeiten und
  • unwiederbringlich verdorben ist. Wie denn nun? Läßt sich denn wirklich
  • nichts machen? Sie sind müde, das ist alles, und Sie fühlen sich müde,
  • weil Sie sich gar zu eifrig ins Zeug gelegt, weil Sie Ihren eigenen
  • Kräften gar zu viel zugetraut haben. Ihr weibliches Temperament ist mit
  • Ihnen durchgegangen ... Ich wiederhole Ihnen noch einmal, was ich Ihnen
  • schon oft gesagt habe: Sie haben einen großen Einfluß. Sie sind die
  • erste Persönlichkeit in der Stadt. Dank dem äffischen Wesen der Mode und
  • der bei uns in Rußland herrschenden äffischen Nachahmungssucht im
  • allgemeinen wird man alles an Ihnen, jede kleinste Kleinigkeit,
  • nachahmen. Sie werden auf allen Gebieten tonangebend, Gesetzgeberin
  • sein. Wenn Sie nun recht für Ihre eigenen Angelegenheiten sorgen werden,
  • so werden Sie schon allein hierdurch wirken, weil Sie damit auch andere
  • veranlassen werden, sich mehr und gründlicher mit ihren Angelegenheiten
  • zu beschäftigen. Bekämpfen Sie den Luxus (solange Sie nichts anderes zu
  • tun finden), auch das ist schon eine hohe Aufgabe, die dazu nicht einmal
  • viel Arbeit und Unruhe erfordert, noch viele Kosten verursacht. Fehlen
  • Sie auf keinem Ball und in keiner Versammlung. Erscheinen Sie stets und
  • zwar nur, um sich mehrmals in ein und demselben Kleide sehen zu lassen.
  • Ziehen Sie das gleiche Kleid drei-, vier-, fünf-, sechsmal an. Loben Sie
  • an jedem Dinge nur das, was einfach und billig ist. Kurz, bekämpfen Sie
  • diesen abscheulichen nordländischen Luxus, diesen Krebsschaden Rußlands,
  • diesen Quell aller Bestechlichkeit, aller Ungesetzlichkeiten und
  • Schändlichkeiten, die es bei uns gibt. Wenn Ihnen auch nur dies _eine_
  • gelingen sollte, so werden Sie damit bereits mehr wahren Nutzen stiften,
  • als selbst die Fürstin O. Und das erfordert, wie Sie selbst sehen, nicht
  • einmal irgendwelche Opfer, ja nicht einmal viel Zeit. Liebe Freundin!
  • Sie sind müde. Aus Ihren früheren Briefen ersehe ich, daß Sie für den
  • Anfang bereits sehr viel Gutes geleistet haben (wenn Sie sich nicht
  • allzusehr beeilt hätten, hätten Sie noch mehr geleistet). Ihr Ruf ist
  • bereits über die Grenzen von K. gedrungen, und mancherlei ist auch mir
  • zu Ohren gekommen. Aber Sie sind noch gar zu hastig. Sie lassen sich
  • noch zu sehr fortreißen. Alles Häßliche und jede kleine Unannehmlichkeit
  • macht noch einen viel zu starken Eindruck auf Sie und drückt Sie zu
  • leicht nieder. Liebe Freundin! Denken Sie immer wieder an meine Worte,
  • von deren Richtigkeit Sie sich, wie Sie selbst sagen, überzeugt haben.
  • Betrachten Sie die ganze Stadt so, wie ein Arzt ein Krankenhaus
  • betrachtet. Tun Sie dies, aber tun Sie außerdem noch etwas anderes, und
  • zwar folgendes: Suchen Sie sich selbst davon zu überzeugen, daß alle
  • Kranken, die im Krankenhaus liegen, Ihre Verwandten, daß sie Menschen
  • sind, die Ihrem Herzen nahe stehen. Dann wird sich vor Ihren Augen alles
  • ändern. Sie werden sich mit den Menschen aussöhnen und nur noch gegen
  • ihre Krankheiten ankämpfen. Wer hat Ihnen gesagt, daß diese Krankheiten
  • unheilbar sind? Das haben Sie sich selbst eingeredet, weil Sie keine
  • Mittel wider sie in der Hand hatten. Wie? Sind Sie etwa ein Arzt, der
  • allwissend ist? Warum haben Sie sich denn nicht an andere Leute mit der
  • Bitte um Hilfe gewandt. Habe ich Sie denn vergeblich darum gebeten, mich
  • über alles zu unterrichten, was es in Ihrer Stadt gibt, mir dazu zu
  • verhelfen, daß ich Ihre Stadt kennen lerne, damit ich mir einen
  • vollständigen Begriff von dieser Stadt machen kann. Warum haben Sie das
  • nicht getan, um so mehr, da Sie doch selbst davon überzeugt sind, daß
  • ich in vielen Beziehungen eine größere Wirkung auszuüben vermag als Sie.
  • Um so mehr, da Sie mir selbst eine gewisse Menschenkenntnis zuschreiben,
  • wie sie nicht allen eigen ist. Um so mehr endlich, da Sie ja selbst
  • sagen, daß ich Ihnen in Ihren Herzensangelegenheiten mehr geholfen habe
  • als sonst jemand. Glauben Sie wirklich, daß ich nicht auch Ihren
  • unheilbaren Kranken zu helfen vermöchte? Sie haben wohl vergessen, daß
  • ich zu beten vermag und daß mein Gebet bis zu Gott dringen kann. Gott
  • aber kann meinem Verstande Einsicht schenken, und mein von Gott
  • erleuchteter Verstand könnte Besseres vollbringen, als ein Verstand, der
  • nicht von Ihm belehrt ist.
  • Bisher haben Sie mir in Ihren Briefen nur einen ganz allgemeinen Begriff
  • von Ihrer Stadt gegeben und ganz allgemeine Züge mitgeteilt, wie sie
  • jeder Provinzhauptstadt eigen sein können. Aber auch diese allgemeinen
  • Züge sind noch nicht vollständig. Sie haben sich darauf verlassen, daß
  • ich Rußland kenne wie meine fünf Finger. Und doch weiß ich von Rußland
  • so gut wie gar nichts. Wenn ich auch früher vielleicht etwas davon
  • gewußt habe, so ist dieses seit meiner Abreise ganz anders geworden.
  • Selbst in der Zusammensetzung der Gouvernementsverwaltung sind große
  • Veränderungen vorgegangen. Viele Instanzen und viele Beamte sind jetzt
  • nicht mehr vom Gouverneur abhängig, sondern sind andern Departements und
  • Ressorts und den Ressorts anderer Ministerien zugeteilt worden. Es sind
  • neue Posten geschaffen worden, und es gibt mancherlei neue Beamte. Kurz,
  • ein Gouvernement und eine Gouvernementshauptstadt erscheinen heute nach
  • vielen Richtungen hin in einem anderen Lichte, und ich habe Sie doch
  • gebeten, mich recht _vollständig_ mit Ihrer Situation bekannt zu machen.
  • Nicht mit irgendeiner _idealen_, sondern mit Ihrer _eigentlichen
  • wirklichen_ Situation, damit ich Ihre ganze Umgebung und alles vom
  • Kleinsten bis zum Größten zu übersehen vermag.
  • Sie sagen selbst, daß Sie während der kurzen Zeit Ihres Aufenthalts in
  • K. Rußland besser kennen gelernt haben, als während Ihres ganzen
  • früheren Lebens. Warum haben Sie denn dann Ihre Kenntnisse nicht mit mir
  • geteilt? Sie sagen, Sie wüßten nicht einmal, an welchem Ende Sie
  • anfangen sollen, Sie sagen, daß der große Haufen von Kenntnissen, die
  • Sie gesammelt haben, noch ganz ungeordnet in Ihrem Kopfe liegt
  • (Notabene: das ist die Ursache Ihrer Mißerfolge). Ich will Ihnen helfen,
  • sie zu ordnen, nur möchte ich Sie darum ersuchen, mir zunächst folgende
  • Bitte zu erfüllen und zwar so gewissenhaft, als Ihnen dies möglich ist,
  • und nicht in der Weise, wie dies eine Ihrer Geschlechtsgenossinnen -- d.
  • h. eine leidenschaftliche Frau, die von zehn Worten acht überhört und
  • nur auf zwei antwortet, weil sie ihr zufällig angenehm sind oder
  • gefallen haben, tun würde, sondern so, wie unsereiner, d. h. ein kalter,
  • leidenschaftsloser Mann oder noch besser, wie ein energischer
  • vernünftiger Beamter dies zu tun pflegt, der sich nichts besonders zu
  • Herzen nimmt, sondern gleichmäßig auf alle Punkte antwortet.
  • Sie sollten um meinetwillen noch einmal darangehen, Ihre
  • Gouvernementshauptstadt zu studieren. Erstens sollten Sie mich mit allen
  • bedeutenden Persönlichkeiten Ihrer Stadt, mit ihren Vor-, Vater- und
  • Familiennamen sowie mit allen Beamten -- vom ersten bis zum letzten --
  • bekannt machen. Dies ist ein Bedürfnis für mich. Ich muß ebenso ihr
  • Freund werden, wie Sie ausnahmslos die Freundin eines jeden sein müssen.
  • Zweitens sollten Sie mir schreiben, was ein jeder von ihnen für einen
  • Beruf hat. Dies alles sollten Sie persönlich von ihnen selbst und nicht
  • von irgendeinem andern zu erfahren suchen. Knüpfen Sie dazu mit jedem
  • ein Gespräch an und fragen Sie ihn aus, worin seine Berufstätigkeit
  • besteht, lassen Sie sich alle Gegenstände nennen, auf die sie sich
  • bezieht, sowie ihre Grenzen angeben. Das wäre die erste Frage. Bitten
  • Sie ihn dann weiter, er möge Ihnen angeben, wodurch, wie und wieviel
  • Gutes man unter den gegenwärtigen Verhältnissen in diesem Beruf zu tun
  • vermag. Das wäre die zweite Frage. Fragen Sie ihn ferner, wieviel Unheil
  • man in diesem selben Beruf anrichten könne und auf welche Weise. Das
  • wäre die dritte Frage. Wenn Sie dies alles in Erfahrung gebracht haben,
  • so begeben Sie sich auf Ihr Zimmer und schreiben Sie es sofort für mich
  • auf. Hierdurch werden Sie mit einem Schlage zwei Aufgaben erfüllen.
  • Erstens werden Sie _mir_ hierdurch die Möglichkeit geben, mich Ihnen in
  • der Zukunft einmal nützlich zu erweisen, und zweitens werden Sie aus den
  • eigenen Antworten jedes Beamten erfahren, wie er seinen Beruf auffaßt,
  • woran es ihm fehlt, kurz er wird sich mit seiner Antwort selbst
  • charakterisieren. Er kann Ihnen sogar manchen Wink geben, was sich
  • bereits gleich jetzt tun ließe ... Aber darum handelt es sich nicht.
  • Beeilen Sie sich fürs erste nicht zu sehr. Tun Sie selbst dann noch
  • nichts, wenn es Ihnen so erscheint, als ob Sie etwas tun könnten und als
  • ob Sie in der Lage wären, irgendwo zu helfen. Es ist besser, wenn Sie
  • zunächst noch einen genaueren Einblick in die Dinge zu gewinnen suchen,
  • begnügen Sie sich fürs erste damit, mir alles mitzuteilen. Außerdem
  • bitte ich Sie, mir entweder am Rande desselben Blattes oder auf einem
  • anderen Stück Papier Ihre eigenen Bemerkungen und Beobachtungen über
  • jeden einzelnen Mann mitzuteilen -- auch was die andern über ihn sagen,
  • kurz alles, was sich vom Standpunkt des äußeren Beobachters von ihm
  • sagen läßt.
  • Ferner bitte ich Sie, mir ganz ähnliche Mitteilungen über die gesamte
  • weibliche Hälfte Ihrer Stadt zukommen zu lassen. Sie sind so klug
  • gewesen und haben ihnen allen einen Besuch gemacht und sie fast alle
  • kennen gelernt. Übrigens bin ich der Überzeugung, daß Sie sie doch nicht
  • genügend kennen gelernt haben. Frauen gegenüber lassen Sie sich schon
  • durch den ersten Eindruck leiten, die, die Ihnen nicht gefällt, lassen
  • Sie fallen. Sie suchen nur immer nach der Elite und nach den
  • allerbesten. Das muß ich Ihnen zum Vorwurf machen, liebe Freundin! Sie
  • müssen alle lieben, und die ganz besonders, die viel Häßliches und
  • Schlechtes an sich haben. Vor allem sollten Sie sie gründlicher kennen
  • lernen, weil davon vieles abhängt und weil sie einen großen Einfluß auf
  • ihre Männer haben können. Übereilen Sie sich nicht, suchen Sie ihnen
  • keine guten Lehren zu erteilen, sondern fragen Sie sie zunächst einmal
  • ordentlich aus. Sie haben ja die Gabe, einen Menschen zum Reden zu
  • veranlassen. Suchen Sie sich über die Verhältnisse einer jeden zu
  • orientieren, womit sie sich beschäftigt, ja suchen Sie selbst ihre
  • Denkungsart und ihre Geschmacksrichtung kennen zu lernen: ihre
  • Neigungen, was einer jeden von ihnen gefällt und was das Steckenpferd
  • einer jeden ist. Dies muß ich alles wissen.
  • Meiner Ansicht nach muß man einen Menschen völlig und bis in sein
  • Innerstes durchschauen, um ihm helfen zu können. Ohne dies kann ich es
  • nicht einmal verstehen, wie man jemand auch nur zu raten vermag: An
  • jedem Ratschlag, den man ihm erteilt, wird er in einem solchen Fall
  • immer nur die schwierigste Seite sehen, und er wird ihm nicht leicht, ja
  • sogar unausführbar erscheinen. Mit einem Wort, suchen Sie die Frauen bis
  • auf den Grund zu durchschauen, damit ich ein vollständiges Bild von
  • Ihrer Stadt erhalte.
  • Außer den Charakteren und den Persönlichkeiten beiderlei Geschlechts
  • bitte ich Sie auch jeden Vorfall, der sich bei Ihnen ereignet, und der
  • die Menschen oder den allgemeinen Geist der Provinz auch nur nach
  • irgendeiner Seite hin zu charakterisieren geeignet ist, schlicht und
  • einfach zu verzeichnen, ganz so, wie er sich abgespielt hat oder wie er
  • Ihnen von zuverlässigen Leuten berichtet worden ist. Geben Sie mir auch
  • ein paar Stichproben von zwei oder drei Klatschgeschichten, welche Ihnen
  • gerade mitgeteilt werden, damit ich weiß, was für Klatschereien bei
  • Ihnen im Schwange sind. Sorgen Sie dafür, daß diese Aufzeichnungen Ihnen
  • zur dauernden Gewohnheit werden, und setzen Sie ein für allemal eine
  • bestimmte Stunde des Tages dafür fest. Suchen Sie sich eine
  • systematische und möglichst vollständige Vorstellung von der ganzen
  • Stadt in ihrem ganzen Umfange zu bilden, damit Sie sofort übersehen
  • können, ob Sie auch nicht vergessen haben, etwas aufzuschreiben, und
  • damit ich endlich ein möglichst vollständiges Bild von Ihrer Stadt
  • erhalte.
  • Wenn Sie mich dann auf solche Weise mit allen Personen, ihrer Tätigkeit,
  • ihrer Auffassung von ihr und ihrem Beruf und endlich auch mit dem
  • Charakter der Ereignisse, die sich bei Ihnen abspielen, bekannt gemacht
  • haben, dann will ich Ihnen etwas sagen, und Sie werden erkennen, daß
  • vieles Unmögliche doch möglich und daß vieles Unverbesserliche doch noch
  • gutzumachen ist. Bis dahin aber will ich nichts sagen, und zwar gerade
  • darum, weil ich mich irren kann, und das möchte ich nicht gern. Ich
  • möchte nur solche Worte zu Ihnen sprechen, die gerade ins Ziel treffen,
  • nicht höher und nicht tiefer, gerade in den Punkt und den Gegenstand,
  • auf den sie gerichtet sind. Ich möchte Ihnen so raten können, daß Sie
  • sofort erklären: das ist nicht schwer, das läßt sich leicht ausführen.
  • Übrigens möchte ich Ihnen hier doch schon im voraus ein paar Winke
  • geben, die allerdings nicht für Sie, sondern für Ihren Gatten bestimmt
  • sind: bitten Sie ihn vor allem darauf zu achten, daß die Räte in der
  • Gouvernementsverwaltung ehrliche Leute sind; das ist die Hauptsache.
  • Sowie diese Räte ehrlich sind, werden wir auch ehrliche
  • Polizeihauptleute, ehrliche Assessoren usw. bekommen, mit einem Wort, so
  • wird jedermann ehrlich sein. Sie müssen nämlich wissen (wenn Sie dies
  • nicht schon wissen sollten), daß die allerungefährlichste Art,
  • Bestechungsgelder anzunehmen, die ist, wenn ein Beamter auf Befehl des
  • Vorgesetzten von einem Kollegen ein Geschenk annimmt; in solch einem
  • Fall gelingt es dem Schuldigen stets, sich seiner Strafe zu entziehen.
  • Dies geht zuweilen in einer unendlichen Stufenleiter von oben nach
  • unten. Der Polizeihauptmann und die Assessoren sind häufig bloß deswegen
  • gezwungen, zu schwindeln und Geschenke anzunehmen, weil man ihnen selbst
  • was abnimmt und weil sie Geld brauchen, denn sie müssen zahlen, wenn sie
  • eine Stelle erhalten wollen. Diese Kauf- und Verkaufsgeschäfte können
  • sich offen vor aller Augen abspielen und doch von niemand bemerkt
  • werden. Aber hüten Sie sich um Gottes willen, deswegen gegen jemand
  • vorzugehen und ihn deshalb zu verfolgen. Sorgen Sie nur dafür, daß in
  • den oberen Regionen unbedingte Ehrlichkeit herrscht, dann werden auch in
  • den unteren alle von selbst ehrlich sein. Strafen Sie und verfolgen Sie
  • niemand, ehe die rechte Zeit kommt und ehe das Übel ganz zur Reife
  • gekommen ist. Suchen Sie unterdessen lieber durch Ihren moralischen
  • Einfluß zu wirken. Ihr Gedanke, daß ein Gouverneur stets Gelegenheit
  • hat, viel Unheil anzurichten, daß er nur wenig Gutes tun kann, daß er
  • kaum die Möglichkeit hat, Gutes und Heilsames zu leisten, da ihm auf
  • diesem Gebiete die Hände gebunden sind, ist nicht ganz richtig. Ein
  • Gouverneur kann immer einen _moralischen_ Einfluß ausüben, ja dieser
  • Einfluß ist sogar sehr groß, ebenso wie auch Sie einen großen
  • _moralischen_ Einfluß ausüben können, obwohl Sie über keinerlei
  • gesetzliche Vollmachten verfügen. Glauben Sie mir, wenn Ihr Gatte
  • irgendeinem Herrn keinen Besuch macht, so wird gleich die ganze Stadt
  • davon reden: man wird sich sofort fragen, warum und aus welchem Grunde
  • dies nicht geschehen ist, und derselbe Herr wird schon aus bloßer Furcht
  • davor zurückschrecken, eine Gemeinheit zu begehen, der er sich sonst
  • ohne Furcht und Zaudern schuldig gemacht und die er aus Respekt vor dem
  • Gesetz und der Obrigkeit sicher nicht unterlassen hätte. Die Art, wie
  • Sie, d. h. Sie und Ihr Gatte, gegen den Kreisrichter des N.schen Kreises
  • gehandelt haben, den Sie ausdrücklich in die Stadt kommen ließen, um ihn
  • mit dem Staatsanwalt auszusöhnen, und ihn um seiner Geradheit,
  • Anständigkeit und Ehrlichkeit willen durch eine herzliche und
  • freundliche Aufnahme und Bewirtung zu ehren, wird ihre Wirkung nicht
  • verfehlen. Dies können Sie mir glauben. Was mir hierbei besonders
  • gefallen hat, ist folgendes: daß der Richter (der, wie es sich
  • herausgestellt hat, ein äußerst gebildeter und aufgeklärter Mensch ist)
  • so angezogen war, daß man ihn, wie Sie sich ausdrücken, nicht einmal ins
  • Vorzimmer eines Petersburger Salons hineingelassen hätte. Ich hätte ihm
  • in diesem Augenblick den Schoß seines abgetragenen Fracks küssen mögen.
  • Glauben Sie mir, die beste Art, wie man heute handeln kann, besteht
  • nicht darin, sich heftig und leidenschaftlich über die Bestechlichkeit
  • und die Schlechtigkeit der Menschen zu entrüsten, und auch nicht darin,
  • gegen sie vorzugehen und sie zu verfolgen; statt dessen sollte man sich
  • lieber bemühen, jeden Zug von Ehrlichkeit öffentlich bekannt zu machen
  • und einem geraden und ehrlichen Menschen offen und vor aller Welt
  • freundschaftlich die Hand zu drücken. Glauben Sie mir, sobald es im
  • ganzen Gouvernement bekannt wird, daß der Gouverneur wirklich so
  • handelt, wird er den gesamten Adel auf seiner Seite haben. Unser Adel
  • hat einen wunderbaren Zug an sich, der mich stets in Staunen versetzt
  • hat. Es ist dies ein Gefühl für Anstand und Vornehmheit, und zwar nicht
  • für jene Vornehmheit, von der auch der Adel anderer Länder durchdrungen
  • ist, d. h. nicht für die Vornehmheit der Geburt oder der Abstammung,
  • auch nicht für den europäischen _point d'honneur_, sondern für die echte
  • sittliche Vornehmheit. Selbst in solchen Provinzen und in solchen
  • Gegenden, wo jeder Aristokrat einzeln genommen ein ganz minderwertiger
  • Mensch zu sein scheint, erheben sich alle wie ein Mann, wenn man sie nur
  • zu einer wahrhaft edlen Tat aufruft, wie elektrisiert, und Menschen, die
  • sonst nichts wie Gemeinheiten begehen, sind mit einem Male der
  • herrlichsten Taten fähig. Daher wird jede edle Handlung des Gouverneurs
  • zuallererst beim Adel Widerhall finden, und das ist sehr wichtig. Der
  • Gouverneur muß unbedingt einen moralischen Einfluß auf den Adel ausüben.
  • Nur hierdurch kann er die Aristokraten bewegen, sich auch mit
  • unbedeutenden Ämtern oder wenig verlockenden Stellungen zu begnügen. Das
  • aber ist durchaus notwendig. Denn wenn ein Adliger aus derselben Provinz
  • eine Stelle annimmt, um andern Leuten ein Vorbild zu geben, wie man
  • seine dienstlichen Verpflichtungen erfüllt, so wird er, was er auch für
  • ein Mensch sein mag, selbst wenn er träge ist und vielerlei Mängel hat,
  • seine Pflicht und Schuldigkeit tun, wie dies ein fremder, aus einem
  • andern Ort in die Provinz versetzter Beamter niemals vermag, und wenn er
  • sein ganzes Leben lang im Bureau verbracht hätte. Mit einem Wort, man
  • darf niemals aus dem Auge verlieren, daß das dieselben Beamten sind, die
  • im Jahre 1812 alles zum Opfer gebracht haben, alles, d. h. ihre ganze
  • Habe, die sie besaßen.
  • Wenn es einmal vorkommt, daß ein Beamter wegen irgendwelcher
  • unehrenhafter Handlungen vor Gericht gestellt wird, so muß dies stets
  • _unter Enthebung von seinem Amt_ geschehen. Das ist von großer
  • Bedeutung, denn wenn er vor Gericht gestellt wird, ohne daß er seines
  • Amts enthoben wird, so werden alle andern Beamten für ihn Partei nehmen.
  • Er wird noch lange Winkelzüge zu machen und Mittel zu finden suchen, um
  • alles derartig in Verwirrung zu bringen, daß es überhaupt nicht mehr
  • möglich ist, die Wahrheit ans Licht zu bringen; wird er dagegen unter
  • _Enthebung von seinem Amt_ vor Gericht gestellt, so wird er plötzlich
  • die Nase hängen lassen, niemand wird mehr Angst vor ihm haben, auf allen
  • Seiten werden sich Beweise gegen ihn häufen, alles wird plötzlich an den
  • hellen Tag kommen und die Sache wird sich völlig aufklären. Um eins aber
  • bitte ich Sie, liebe Freundin, verlassen Sie um Christi willen nie einen
  • aus dem Amt gejagten Beamten gänzlich, mag er so schlecht sein, wie er
  • will: denn er ist ein Unglücklicher. Aus den Händen Ihres Gemahls muß er
  • in Ihre Hände gelangen. Sprechen Sie nicht selbst mit ihm und empfangen
  • Sie ihn nicht, sondern behalten Sie ihn von ferne im Auge. Sie haben gut
  • daran getan, die Aufseherin an der Irrenanstalt hinauszuwerfen, weil sie
  • die Brötchen, die für diese Unglücklichen bestimmt waren, an andre Leute
  • verkauft hat -- ein Verbrechen, das um so abscheulicher ist, wenn man in
  • Betracht zieht, daß die Geisteskranken ja nicht einmal imstande waren,
  • sich deswegen zu beklagen. Daher mußte ihre Entlassung öffentlich und
  • vor aller Welt erfolgen. Aber lassen Sie nie einen Menschen völlig
  • fallen, machen Sie ihm die Rückkehr nicht ganz unmöglich und behalten
  • Sie den Ausgestoßenen im Auge. Denn mitunter kann ein solcher aus
  • Kummer, Verzweiflung und Scham noch größere Verbrechen begehen. Handeln
  • Sie entweder durch Ihren Beichtvater oder überhaupt durch irgendeinen
  • klugen Geistlichen, veranlassen Sie diesen, ihn aufzusuchen und Ihnen
  • beständig über ihn Bericht zu erstatten. Vor allem aber sorgen Sie
  • dafür, daß er nie ohne Arbeit und Tätigkeit ist. Nehmen Sie sich in
  • diesem Fall nicht das tote Gesetz, sondern den lebendigen Gott zum
  • Vorbild, der den Menschen mit allen Geißeln des Unglücks schlägt, ihn
  • aber bis an sein Lebensende nie verläßt. Ein Verbrecher mag sein, wie er
  • will, solange die Erde ihn noch trägt und Gottes Donner ihn noch nicht
  • vernichtet hat, so bedeutet das, daß er sich hier in der Welt noch
  • aufrecht zu erhalten vermag, auf daß jemand durch sein Los gerührt
  • werde, ihm helfe und ihn rette. Sollten Sie übrigens bei den
  • Aufzeichnungen, die Sie für mich machen werden, oder bei Ihren eigenen
  • Forschungen über alle möglichen Mißstände und Gebrechen allzusehr durch
  • die traurigen Seiten unseres Lebens erschüttert werden und sollte sich
  • Ihr Herz mit Empörung erfüllen -- so rate ich Ihnen in solch einem
  • Falle, sich hierüber so häufig wie möglich mit dem Erzpriester zu
  • unterhalten. Dieser ist, wie ich aus Ihren Worten ersehe, offenbar ein
  • kluger Mann und ein gütiger Priester. Führen Sie ihn durch Ihr ganzes
  • Krankenhaus und klären Sie ihn über alle Leiden Ihrer Kranken auf.
  • Selbst wenn er keine großen Kenntnisse und Erfahrungen in der Heilkunst
  • besitzen sollte, so müssen Sie ihn dennoch über alle Krankheitsanfälle,
  • alle Symptome und alle Krankheitserscheinungen unterrichten. Suchen Sie
  • ihm alles bis aufs letzte so lebendig darzustellen, daß es ihm
  • fortwährend vor Augen steht, daß er sich in Gedanken fortwährend mit
  • Ihrer Stadt beschäftigen muß, daß sie ihm immer lebendig und gegenwärtig
  • ist, wie sie auch Ihre Gedanken beständig beschäftigen muß, damit all
  • sein Denken stets ganz von selbst darauf gerichtet ist, unaufhörlich für
  • sie zu beten. Glauben Sie mir, seine Sonntagspredigt wird hierdurch den
  • Zuhörern immer mehr und mehr zu Herzen gehen, und es wird ihm gelingen,
  • in viele Dinge Licht hineinzubringen und persönlich, ohne auf jemand
  • hinzuweisen, jedem seine eigene Schlechtigkeit und Gemeinheit von
  • Angesicht zu Angesicht gegenüberzustellen, so daß sich ein jeder mit
  • Ekel von dem, was sein Eigenstes ist, abwenden wird. Achten Sie
  • gleichfalls auf die Stadtpfarrer, suchen Sie sie unbedingt alle kennen
  • zu lernen. Von ihnen hängt alles ab, und die Rettung unserer Seele liegt
  • in ihren Händen und nicht in den Händen irgendeines anderen. Achten Sie
  • trotz der Einfalt und Unwissenheit so mancher keinen von ihnen zu
  • gering. Es ist leichter, _sie_ ihrer Pflicht wiederzugeben, als
  • irgendeinen von uns. Wir weltlichen Menschen besitzen viel Stolz,
  • Ehrgeiz, Eigenliebe und vertrauen zu sehr auf unsere Vollkommenheit.
  • Infolgedessen will niemand von uns auf die Worte und die Ermahnungen
  • seiner Brüder hören, so wahr und richtig sie auch immer sein mögen. Dazu
  • kommen noch die vielen Zerstreuungen und Vergnügungen ... Ein
  • Geistlicher dagegen mag sein wie er will, er hat doch immerhin ein
  • gewisses Gefühl dafür, daß er demütiger und bescheidener sein muß, als
  • alle anderen Menschen. Außerdem wird er ja auch täglich während des
  • Gottesdienstes, den er abhält, daran erinnert, mit einem Wort, er ist
  • weit eher dazu imstande, sich auf den rechten Weg zurückzufinden, als
  • wir, und indem er selbst dahin zurückkehrt, kann er auch uns alle auf
  • ihn zurückführen. Daher müssen Sie, selbst wenn Sie ganz unfähige Leute
  • unter ihnen antreffen, diese nicht geringschätzen, sondern ordentlich
  • mit ihnen reden. Fragen Sie einen jeden, was er für eine Gemeinde hat,
  • lassen Sie sich ein vollständiges Bild von ihr entwerfen, lassen Sie
  • sich erzählen, was für Leute in seinem Pfarrdorf leben, wie er sie
  • versteht und in welchem Maße er sie kennt. Vergessen Sie niemals, daß
  • ich bisher noch gar nicht weiß, was das Bürgertum und die Kaufmannschaft
  • in Ihrer Stadt eigentlich darstellen. Daß sie auch schon anfangen, die
  • Mode mitzumachen und Zigaretten zu rauchen, das ist eine Erscheinung,
  • der man überall begegnet. Ich wünschte, Sie könnten mir einen von ihnen
  • mitten aus seinem Milieu lebendig herausgreifen, damit ich ihn vom Kopf
  • bis zu den Füßen in all seinen Einzelzügen vor mir sehen könnte. Also
  • noch einmal: suchen Sie sie möglichst vollständig und bis ins einzelne
  • kennen zu lernen. Eine Seite der Sache werden Sie von den Priestern
  • erfahren, eine andere vom Polizeimeister, wenn Sie sich nur die Mühe
  • geben, die Sache gründlich mit ihnen durchzusprechen. Einen dritten Zug
  • werden Sie von ihnen selbst erfahren, wenn Sie es nicht verschmähen, mit
  • einem von ihnen eine Unterhaltung anzuknüpfen, was Sie meinetwegen
  • Sonntags beim Verlassen der Kirche tun können. Alle Daten, die Sie so
  • sammeln werden, werden dazu dienen, das Musterbild des Bürgers und
  • Kaufmanns, wie er in Wahrheit sein soll, vor Ihnen erstehen zu lassen.
  • Selbst im Krüppel werden Sie das Ideal erkennen, dessen Karikatur dieser
  • Krüppel darstellt. Wenn Sie aber das Gefühl haben, daß Sie so weit sind,
  • dann lassen Sie den Priester holen und sprechen Sie mit ihm darüber. Sie
  • werden ihm gerade das sagen, was er wissen muß. Sie werden ihm das Wesen
  • eines jeden Berufs klarmachen, d. h. Sie werden ihm zeigen, was ein
  • jeder Beruf bei uns sein muß, und Sie werden eine Karikatur dieses
  • Berufs vor ihm erstehen lassen, d. h., Sie werden ihm zeigen, wozu er
  • durch unsere Mißbräuche geworden ist. Darüber hinaus brauchen Sie nichts
  • hinzuzufügen. Er wird schon selbst auf das Rechte kommen, wenn sein
  • eigener Lebenswandel besser werden wird. Unsere Priester bedürfen
  • solcher Gespräche, besonders mit fertigen in sich abgeschlossenen
  • Menschen, die es verstehen, die Grenzen und Pflichten eines jeden Berufs
  • und Amtes in wenigen, aber klaren und treffenden Zügen abzustecken.
  • Häufig weiß mancher von ihnen nur deshalb nicht, wie er sich gegen seine
  • Gemeinde und seine Zuhörer verhalten soll, und bringt nichts als
  • Gemeinplätze vor, die sich nach keiner Richtung hin unmittelbar auf den
  • Gegenstand beziehen. Suchen Sie sich auch in seine eigene Lage zu
  • versetzen. Helfen Sie seiner Frau und seinen Kindern, wenn seine
  • Gemeinde arm ist, und denen, die da roh und trotzig tun, drohen Sie mit
  • dem Erzpriester. Im allgemeinen aber suchen Sie vor allem durch Ihren
  • moralischen Einfluß zu wirken. Erinnern Sie sie daran, daß ihre
  • Pflichten groß und furchtbar sind, daß sie strengere Rechenschaft werden
  • ablegen müssen, als irgendein Mensch aus einem anderen Beruf, daß
  • heutzutage ja auch der Synod und selbst der Kaiser ganz besonders auf
  • den Lebenswandel der Priester achten, daß ein großes Revirement
  • bevorsteht, weil nicht nur die höhere Obrigkeit, sondern auch alle
  • Privatleute im Staate ohne Ausnahme zu merken beginnen, daß der Grund
  • alles Übels darin liegt, daß die Priester nicht mehr recht ihre Pflicht
  • und Schuldigkeit tun ... Klären Sie sie möglichst häufig über die
  • furchtbaren Wahrheiten auf, bei denen unsere Seele unwillkürlich
  • erschauert. Kurz -- vernachlässigen Sie die Stadtpfarrer unter keinen
  • Umständen: mit ihrer Hilfe kann die Frau eines Gouverneurs einen großen
  • moralischen Einfluß auf die Kaufmannschaft, das Bürgertum und die
  • niederen Stände der Stadtbewohner ausüben, einen so großen Einfluß, wie
  • Sie sich's kaum vorstellen können. Ich will nur einiges davon erwähnen,
  • was sie durchzusetzen vermag, und Sie auf die Mittel aufmerksam machen,
  • mit deren Hilfe sie dies vollbringen kann: erstens, -- aber da fällt mir
  • ein, daß ich ja gar keinen Begriff davon habe, was das Bürgertum und die
  • Kaufmannschaft in Ihrer Stadt darstellen. Meine Worte könnten Ihnen
  • vielleicht nicht recht gelegen kommen, daher ist es besser, ich
  • unterdrücke sie ganz. Ich will Ihnen nur das eine sagen, daß Sie selbst
  • einmal erstaunt sein werden, wenn Sie erkennen werden, welch große
  • Aufgaben und Taten Ihnen in diesem Wirkungskreis bevorstehen, Taten, die
  • weit mehr Nutzen bringen können, als irgendwelche Asyle und alle
  • möglichen Wohlfahrtseinrichtungen, obwohl sie mit keinerlei Geldopfern
  • und Arbeit verbunden sind, sondern einem sogar zum Vergnügen, zu einer
  • Erholung und zu einer geistigen Zerstreuung werden.
  • Versuchen Sie es auch, die Elite, d. h. die Besten unter den Bewohnern
  • der Stadt zu sozialer Tätigkeit anzuhalten: beinahe jeder von ihnen kann
  • gleich Ihnen sehr viel erreichen, und es ist möglich, sie aufzurütteln;
  • wenn Sie mir nur ein vollständiges Bild von ihrem Charakter, ihrer
  • Lebensweise und ihrer Beschäftigung geben wollen, so werde ich Ihnen
  • sagen, wie und wodurch man sie zur Tätigkeit anspornen kann: in jedem
  • Russen gibt es verborgene Saiten, die er selbst nicht kennt, die man
  • jedoch nur anzuschlagen braucht, um ihn aufzurütteln und aufzuwecken.
  • Sie haben mir schon ein paar gescheite und edle Menschen in Ihrer Stadt
  • genannt. Ich bin überzeugt, daß sich noch weit mehr finden werden. Legen
  • Sie keinen Wert auf ein abstoßendes Äußeres, legen Sie auch keinen Wert
  • auf unangenehme Manieren, auf ein grobes, plumpes und ungeschicktes
  • Benehmen, ja nicht einmal auf die Sucht, zu renommieren und sich durch
  • große Kühnheit und Bravour hervorzutun, oder auf ein allzu freies
  • ungeniertes Auftreten. Wir alle haben uns in der letzten Zeit ein etwas
  • unangenehmes hochnäsiges Benehmen angewöhnt, dennoch ist unsere Seele in
  • ihrem Innersten weit mehr guter Regungen und Gefühle fähig als jemals
  • früher, trotzdem wir sie in allerhand wertlosem Plunder erstickt oder
  • sogar einfach befleckt und in den Kot gezerrt haben.
  • Vor allem: Verachten Sie die Frauen nicht. Ich schwöre Ihnen, die Frauen
  • sind weit besser als wir Männer; sie sind viel hochherziger, haben viel
  • mehr Wagemut und sind weit fähiger zu edlen Taten als wir. Messen Sie
  • dem keine Bedeutung bei, daß sie sich von dem hohlen modischen Treiben
  • umgarnen ließen. Wenn es Ihnen gelingt, die Sprache der Seele zu ihnen
  • zu reden, wenn es Ihnen glückt, der Frau auch nur im geringsten ihre
  • hohe Aufgabe, die ihrer heute in der Welt harrt, ihre himmlische
  • Bestimmung klarzumachen: uns eine Erweckerin zu allem Edlen, zur
  • Geradheit und Ehrlichkeit zu werden und den Menschen zu edlem Tun und
  • Streben aufzurufen, so wird dieselbe Frau, die Sie noch soeben für ganz
  • hohl und nichtig gehalten haben, in edler Begeisterung aufflammen, in
  • sich gehen, erkennen, daß sie ihre Pflichten vernachlässigt hat, sich zu
  • edlen Taten aufraffen, all ihren Flitter weit von sich werfen, ihren
  • Mann zu treuer Erfüllung seiner Pflichten anhalten, und alle dazu
  • veranlassen, daß sie umkehren und sich wieder in den Dienst einer Sache
  • stellen. Ich schwöre Ihnen, unsere Frauen werden uns hochherzig ins
  • Gewissen reden und uns die Peitsche spüren lassen, sie werden uns mit
  • der Geißel der Scham und des Gewissens antreiben wie eine stumpfsinnige
  • Hammelherde, noch bevor ein jeder von uns erwachen und erkennen wird,
  • daß er schon längst von selbst hätte vorwärts laufen und nicht erst auf
  • den Schlag der Peitsche warten sollen. Sie werden die Liebe aller
  • gewinnen. Und diese Liebe wird innig und stark sein; es ist ja auch
  • nicht anders möglich, als daß alle Sie lieben, wenn sie Ihre Seele
  • kennen lernen. Bis dahin aber müssen Sie alle, bis zum letzten, lieben,
  • ohne alle Rücksicht, ob einer Sie liebt oder nicht.
  • Jedoch mein Brief ist schon zu lang geworden. Ich fühle, daß ich
  • anfange, Dinge zu sagen, die weder Ihrer Stadt noch Ihnen selbst im
  • gegenwärtigen Augenblick sehr gelegen kommen mögen. Und doch sind Sie
  • selbst schuld daran, da Sie mir über nichts ausführliche Nachrichten
  • zukommen lassen. Bisher lebe ich immer noch wie in einem einsamen Walde.
  • Ich höre fortwährend von unheilbaren Krankheiten und weiß doch nicht,
  • woran eigentlich ein jeder leidet. Ich habe jedoch die Gewohnheit, nie
  • auf ein bloßes Gerücht hin an irgendein unheilbares Leiden zu glauben,
  • und ich nenne eine Krankheit niemals unheilbar, bis ich mich nicht durch
  • eigenhändiges Befühlen und Betasten davon überzeugt habe. Also noch
  • einmal: Suchen Sie mir zuliebe die ganze Stadt gründlich kennen zu
  • lernen, beschreiben Sie mir alles und jedermann und ersparen Sie keinem
  • einzigen Menschen folgende drei unvermeidliche Fragen: Worin sein Beruf
  • besteht, wieviel Gutes und wieviel Böses man in seiner Stellung
  • vollbringen kann. Machen Sie es wie eine fleißige Schülerin, schaffen
  • Sie sich zu diesem Zwecke ein Heft an und vergessen Sie nie, daß Sie in
  • Ihren Unterhaltungen mit mir möglichst umständlich sein müssen. Denken
  • Sie stets daran, daß ich dumm, daß ich _ganz_ dumm bin, solange mich
  • nicht jemand in ausführlichster Weise über einen Gegenstand orientiert.
  • Oder stellen Sie sich lieber vor, daß ein Kind oder ein völlig
  • unwissender Mensch vor Ihnen steht, dem man alles, bis auf die kleinste
  • Kleinigkeit, erklären und auseinandersetzen muß: nur dann wird Ihr Brief
  • seinen Zweck ganz erfüllen. Ich weiß nicht, warum Sie mich für einen
  • solchen Alleswisser halten. Wenn es mir einmal gelungen ist, Ihnen etwas
  • vorauszusagen, und wenn meine Voraussagungen einmal wirklich
  • eingetroffen sind, so liegt das ausschließlich daran, daß Sie mich
  • damals in Ihre Geistes- und Gemütsverfassung eingeweiht haben. Ist denn
  • das etwas so Großes, gewisse Dinge vorauszusehen! Man muß bloß die
  • gegenwärtigen Verhältnisse recht aufmerksam beobachten, dann wird die
  • Zukunft ganz von selbst vor unserem Geiste erstehen. Ein Narr, der an
  • die Zukunft denkt, ohne die Gegenwart in Rechnung zu ziehen! Ein solcher
  • Mensch muß entweder etwas Törichtes oder Unwahres sagen, oder aber in
  • Rätseln reden. Ich muß Sie übrigens noch wegen folgender Zeilen
  • ausschelten, die ich Ihnen hier vor Augen führen will. »_Es ist traurig
  • und sogar bitter, die Zustände in Rußland aus der Nähe ansehen zu
  • müssen. Im übrigen aber sollte man nicht darüber sprechen. Wir sollten
  • hoffnungsvoll und heiteren Auges in die Zukunft schauen, die in den
  • Händen des allbarmherzigen Gottes liegt_«. In den Händen des
  • allbarmherzigen Gottes liegt alles: alles Gegenwärtige, Vergangene und
  • Zukünftige. Das ist ja unser ganzes Unglück, daß wir die Gegenwart nicht
  • sehen wollen, sondern nur in die Zukunft schauen. Daher kommt ja dies
  • ganze Unheil, daß das eine traurig und bitter und anderes wieder einfach
  • häßlich und widerwärtig ist. Und wenn es nicht so geht, wie wir es gerne
  • möchten, so lassen wir die Hände sinken, verzweifeln an allem und
  • blicken starr in die Zukunft. Darum sendet uns Gott auch keine Klarheit,
  • daher hängt ja auch die Zukunft für uns alle gleichsam in der Luft:
  • manche fühlen zwar, daß sie schön sein wird dank einigen hochstehenden
  • Menschen, die sie auch schon instinktiv vorausahnen und diesem Gefühl
  • nur noch keine streng zahlenmäßige oder arithmetische Begründung geben
  • können. Wie man jedoch diese Zukunft herbeiführen soll, das weiß kein
  • einziger. Es geht uns ähnlich damit wie mit den sauren Trauben. Dabei
  • vergißt man eine Kleinigkeit: man vergißt, daß die Straßen und Wege, die
  • in diese _heitere_ Zukunft führen, ja gerade durch diese _dunkle und
  • verworrene_ Gegenwart hindurchgehen, die niemand kennen will. Jedermann
  • hält sie für so häßlich, widerwärtig und der Beachtung nicht wert, und
  • ist sogar ärgerlich, wenn man sie allen vor Augen führt. So lehren Sie
  • mich doch wenigstens diese Gegenwart kennen. Sie dürfen sich nicht durch
  • das viele Häßliche und Schmutzige abschrecken lassen, und Sie sollen mir
  • keine Niederträchtigkeit ersparen. Das Gemeine und Schmutzige ist nichts
  • Ungewohntes für mich: ich selbst habe genug Gemeines und Schmutziges in
  • mir. Solange ich noch wenig Einblick in alles Niederträchtige und
  • Widerwärtige hatte, brachte mich alles Gemeine und Häßliche in
  • Verlegenheit, ich fühlte mich durch vieles verstimmt, und es erfaßte
  • mich ein Grauen bei dem Gedanken an Rußland. Seitdem ich aber tiefer in
  • all den Schmutz und die Niedertracht hineinzublicken versuchte, bin ich
  • zu höherer geistiger Klarheit gelangt. Vor mir taten sich Auswege auf.
  • Ich sah Mittel und Wege und erfüllte mich mit noch größerer Ehrfurcht
  • vor der Vorsehung, und jetzt danke ich Gott sogar am meisten dafür, daß
  • er es mir ermöglicht hat, die Gemeinheit und Niedertracht -- sowohl
  • meine eigene wie die meiner armen Brüder -- wenigstens teilweise kennen
  • zu lernen. Und wenn ich heute auch nur ein Fünkchen Verstand besitze,
  • wie er nicht allen Menschen eigen ist, so rührt das daher, weil ich mich
  • bemüht habe, möglichst tief in diesen Schmutz und diese Gemeinheit
  • hineinzublicken; wenn es mir gelungen sein sollte, einigen von denen,
  • die meinem Herzen nahe stehen, darunter auch Ihnen eine geistige Hilfe
  • und Stütze zu sein -- so war dies nur möglich, weil ich tiefer in diesen
  • Schmutz und diese Gemeinheit hineingeblickt habe. Und wenn ich
  • schließlich gelernt habe, die Menschen mit einer nicht bloß
  • eingebildeten, erträumten, sondern mit einer wahrhaften und wirklichen
  • Liebe zu lieben, so war mir auch dieses schließlich nur dadurch möglich,
  • daß ich recht tief in den Abgrund der Niederträchtigkeit und Gemeinheit
  • hinabgesehen habe.
  • Schrecken Sie also nicht vor Schmutz und Niedertracht zurück. Vor allem
  • aber wenden Sie sich nicht mit Ekel von den Menschen ab, die Ihnen aus
  • irgendeinem Grunde widerwärtig und gemein erscheinen. Ich versichere
  • Ihnen, es wird einmal die Zeit kommen, wo viele von den sogenannten
  • »Reinen« ihr Gesicht mit den Händen bedecken und bittere Tränen weinen
  • werden, gerade weil sie sich so rein erschienen, weil sie sich ihrer
  • Reinheit und ihres hohen Strebens nach irgendwelchen hohen Gütern
  • gerühmt und sich deshalb für bessere Menschen gehalten haben. Denken Sie
  • stets daran und gehen Sie daher, wenn Sie Ihr Gebet verrichtet haben,
  • mit neuem frischerem Mut als früher an die Arbeit. Lesen Sie meinen
  • Brief fünf- oder sechsmal durch, denn alles in ihm ist sprunghaft, und
  • es ist keine strenge logische Gedankenfolge in ihm, woran Sie übrigens
  • selbst schuld sind. Sie müssen sich den Kern, den Inhalt dieses Briefes
  • ganz zu eigen machen. Meine Fragen müssen zu Ihren Fragen und meine
  • Wünsche zu Ihren Wünschen werden, damit jedes Wort und jeder Buchstabe
  • Sie unablässig verfolgt und so lange quält, bis Sie meine Bitte erfüllen
  • und tuen, was ich verlange.
  • 1846.
  • XXII
  • Der russische Gutsbesitzer
  • An B. N. B.
  • Die Hauptsache ist, daß du bereits auf deinem Gute angelangt bist und es
  • dir zum unumstößlichen Vorsatz gemacht hast, Gutsbesitzer zu werden. Das
  • übrige wird sich schon von selbst ergeben. Laß dich nicht irremachen
  • durch den Gedanken, daß das alte Band, das ehemals den Gutsherrn mit dem
  • Bauern verknüpfte, für immer zerrissen ist. [Daß es zerrissen ist, ist
  • wahr, und daß die Gutsbesitzer selbst daran schuld sind, das ist auch
  • wahr, aber] daß es für alle Zeiten und für immer zerrissen sein sollte
  • -- das glaube doch nicht und achte du nicht auf solche Redensarten. Nur
  • ein Mensch, der nicht über seine eigene Nasenlänge hinaussieht, kann so
  • etwas behaupten. Wie? Es sollte schwer sein, sich die Liebe eines
  • Russen, der für alles Gute, das man ihm beibringt, so dankbar zu sein
  • vermag, -- es sollte schwer sein, sich die treue Liebe und
  • Anhänglichkeit eines Russen zu erwerben? Im Gegenteil, man kann den
  • Russen so an sich ketten, daß man nachher nur noch einen Gedanken hat:
  • wie man ihn wieder loswerden soll. Wenn du nur alles genau ausführst,
  • was ich dir jetzt sagen werde, dann wirst du noch am Ende dieses Jahres
  • erkennen, daß ich recht hatte. Du mußt die Aufgabe, die einem
  • Gutsbesitzer gestellt ist, in ihrem wahren und rechten Sinne erkennen
  • und in der rechten Weise in Angriff nehmen. Vor allem mußt du die Bauern
  • um dich versammeln und ihnen klarmachen, was du bist und wer sie sind.
  • Du mußt ihnen erklären, daß du nicht deshalb ihr Gutsherr geworden bist,
  • weil du befehlen oder den Gutsbesitzer spielen wolltest, sondern
  • deshalb, weil du schon vorher Gutsbesitzer warst, weil du als
  • Gutsbesitzer geboren bist und weil Gott dich zur Verantwortung ziehen
  • würde, wenn du deinen Beruf gegen einen andern vertauschen wolltest,
  • denn ein jeglicher muß Gott an _der_ Stelle, an die er gestellt wird,
  • und nicht an einer andern fremden dienen. Ebenso müßten auch sie, die
  • Bauern, da sie doch nun einmal durch ihre Geburt unter der Gewalt des
  • Gutsherrn stehen, sich dieser Obergewalt unterordnen, unter der sie
  • geboren seien, denn es gibt keine Obrigkeit ohne von Gott. Bei dieser
  • Gelegenheit mußt du ihnen die entsprechende Stelle im Neuen Testament
  • zeigen, so daß ein jeder bis auf den letzten sich davon überzeugen kann.
  • Ferner mußt du ihnen sagen, daß du sie zur Arbeit und zur Tätigkeit
  • anhältst, nicht weil du Geld für irgendwelche Genüsse und Vergnügungen
  • brauchst [um ihnen das zu beweisen, solltest du vor ihren Augen ein paar
  • Banknoten verbrennen], du mußt es vielmehr so einrichten, daß sie
  • wirklich den Eindruck gewinnen, das Geld hätte nicht den geringsten Wert
  • für dich. Sage ihnen, du ließest sie bloß darum arbeiten, weil es Gottes
  • Wille sei, daß der Mensch in schwerer Arbeit und im Schweiße seines
  • Angesichts sein Brot verdienen solle, und lies ihnen unmittelbar darauf
  • die entsprechende Stelle aus der Heiligen Schrift vor, damit sie sich
  • davon überzeugen. Sage ihnen die ganze Wahrheit, sage ihnen, Gott werde
  • wegen des letzten Lumpen im Dorfe Rechenschaft von dir fordern und
  • deswegen würdest du um so schärfer darauf achten, daß sie redlich
  • arbeiten; nicht nur für dich, sondern auch für sich selbst. Denn du
  • weißt, und sie wissen es ja auch, daß ein Bauer, der nicht arbeitet und
  • sich dem Müßiggang ergibt, zu allem fähig ist -- er kann zum Dieb, zum
  • Trunkenbold werden, er kann seine Seele zugrunde richten und dir eine
  • schwere Verantwortung vor Gott aufbürden. Bekräftige alles, was du
  • sagst, stets und ohne Verzug durch Worte der Heiligen Schrift. Weise mit
  • dem Finger auf die Buchstaben und die Zeilen, die diese Worte enthalten.
  • Halte jeden dazu an, daß er sich zuvor bekreuzige, einen Kniefall tue
  • und das Buch küsse, in dem es geschrieben steht. Kurz, sie müssen klar
  • erkennen, daß du dich bei allem, was sich auf sie bezieht, nach dem
  • Willen Gottes richtest und nicht aus irgendwelchen europäischen oder
  • anderen Launen und Einfällen heraus handelst. Der Bauer wird das
  • verstehen. Er bedarf der vielen Worte nicht. Sage ihm die ganze
  • Wahrheit: sage ihm, daß die Seele des Menschen das Wertvollste auf der
  • ganzen Welt ist und daß du vor allem darauf achten wirst, daß keiner von
  • ihnen seine Seele verderbe und sie den ewigen Qualen überantworte. Bei
  • jeglichem Tadel und jeder Rüge, die du einem Menschen erteilst, der des
  • Diebstahls, der Faulheit oder der Trunksucht überführt worden ist, mußt
  • du ihn nicht dir, sondern Gott von Angesicht zu Angesicht
  • gegenüberstellen. Zeige ihm, daß er sich gegen Gott und nicht gegen dich
  • versündigt, und tadele nicht ihn allein, sondern rufe auch sein Weib,
  • seine Familie und seine Nachbarn herbei. Rede seinem Weibe ins Gewissen,
  • frage sie, warum sie ihren Mann nicht davon abgehalten, Übles zu tun,
  • und ihm nicht mit Gottes Zorn gedroht habe. Rede auch den Nachbarn ins
  • Gewissen, weil sie es zugelassen haben, daß ihr Bruder, der doch mitten
  • unter ihnen weilt, ein Leben wie ein Hund geführt und seine Seele um
  • nichts und wieder nichts verdorben habe. Beweise ihnen, daß sie deswegen
  • vor Gott Rechenschaft ablegen müssen. Suche es zu erreichen, daß sich
  • alle miteinander dafür verantwortlich fühlen und daß alle Gegenstände,
  • die den Menschen umgeben, ihn vorwurfsvoll anzublicken scheinen und es
  • ihm nicht gestatten, sich allzusehr gehen zu lassen. Sorge dafür, daß
  • von allen musterhaften Landwirten und von den besten und tüchtigsten
  • Bauern eine mächtige Wirkung ausgehe und daß ihnen eine große
  • Verantwortlichkeit zufalle. Mache es ihnen ganz klar, daß es nicht
  • allein ihre Aufgabe ist, selbst einen guten und ehrenhaften Lebenswandel
  • zu führen, sondern daß sie auch andere lehren müssen, gut zu leben, daß
  • ein Trunkenbold keinen Trunkenbold belehren kann, und daß das ihre
  • Pflicht sei. Den Lumpen und Trunkenbolden befiehl, daß sie den braven
  • und tüchtigen Bauern die gleiche Achtung erweisen, wie dem Dorfschulzen,
  • dem Verwalter, dem Priester und sogar dir selbst. Schon wenn sie einen
  • solchen braven und musterhaften Bauern oder Landwirt aus der Ferne
  • erblicken, sollen alle Bauern ihre Mützen vom Kopfe reißen und ihm den
  • Weg freigeben. Wer es aber wagt, ihm irgendwelche Mißachtung zu erweisen
  • oder seinen klugen und gescheiten Worten kein Gehör zu schenken, den
  • mußt du in Gegenwart aller ausschelten und zu dem mußt du folgendermaßen
  • sprechen: »O du ungewaschenes Maul, du selbst lebst in Dreck und Asche,
  • daß man nicht einmal sieht, wo du deine Augen hast, und du willst dem
  • keine Ehre erweisen, dem Ehre gebührt! Beuge dich tief vor ihm und bitte
  • ihn, daß er dir den rechten Weg weise. Denn wenn er dich nicht zur
  • Vernunft bringt, mußt du zugrunde gehen wie ein Hund.« Die braven Bauern
  • aber mußt du zu dir rufen und wenn es ältere Männer sind, vor dir Platz
  • nehmen lassen und dich mit ihnen beraten, wie Sie die andern belehren
  • und sie im Rechten unterweisen und also erfüllen können, was Gott uns
  • geboten hat. Führe das bloß ein Jahr lang durch, und du wirst selbst
  • sehen, wie gut alles gehen wird. Selbst die Landwirtschaft wird
  • hierdurch nur gewinnen. Kümmere dich nur um die Hauptsache, alles andere
  • wird dir von selbst in den Schoß fallen. Christus hat nicht vergebens
  • gesagt: _Dies alles wird euch von selbst zufallen._ Wie wahr das ist,
  • dafür ist das Leben der Bauern ein noch beredteres Zeugnis als unser
  • Leben. Für den Bauern sind ein wohlhabender Bauer und ein guter Mensch
  • -- Synonyme, und wo in einem Dorfe einmal das christliche Leben Einkehr
  • gehalten hat, da tragen die Bauern das Silber mit Schaufeln fort.
  • Übrigens will ich dir auch in bezug auf Landwirtschaft einen Rat geben,
  • nur mußt du ihn ordentlich verstehen, dann wird er dir nicht zum Schaden
  • gereichen. Zwei Menschen danken es mir schon, der eine ist K., den du
  • auch kennst. Mit welchen Zweigen der Landwirtschaft du dich beschäftigen
  • mußt und wie du dies zu tun hast, darüber will ich dir nichts sagen: das
  • weißt du besser als ich. Zudem kenne ich auch dein Gut nicht so genau
  • wie meine eigene Handfläche und in bezug auf allerhand Neuerungen bist
  • du ja vernünftig und hast du ja selbst eingesehen, daß man nicht nur am
  • Alten festhalten, sondern es auch bis auf den Grund kennen lernen muß,
  • um aus ihm selbst die Mittel zu seiner Verbesserung zu gewinnen. Ich
  • will dir lieber einen Rat geben, der die Beziehungen des Gutsherrn zu
  • seinen Bauern in den landwirtschaftlichen Angelegenheiten und bei den
  • Arbeiten betrifft, was zunächst einmal von viel größerer Bedeutung ist
  • als alles übrige. Denke an das Verhältnis, das früher zwischen den
  • Gutsherren und Landwirten und ihren Bauern herrschte: du mußt ein
  • Patriarch sein, selbst den Anfang machen und in allen Dingen vorangehen.
  • Mache es dir zur Regel und vergiß nie, wenn eine gemeinsame Sache in
  • Angriff genommen wird, also bei der Aussaat, bei der Heu- oder Kornernte
  • usw. das ganze Dorf zu einem Festmahl einzuladen. An solchen Tagen muß
  • in deinem Hofe ein gemeinsamer Tisch für alle Bauern gedeckt sein, ganz
  • so wie am Ostermontag, und du selbst mußt mit ihnen speisen, mit ihnen
  • zur Arbeit hinausgehen und ihnen auch bei der Arbeit überall
  • voranschreiten, sie alle zu tüchtigem, eifrigem Schaffen anspornen, für
  • die, die sich durch ihren Mut und ihre Tüchtigkeit auszeichnen, ein Wort
  • des Lobes und für die Trägen und Faulen eine Rüge bereit halten. Und
  • wenn dann der Herbst kommt und die Feldarbeiten zu Ende gehen, mußt du
  • den Abschluß der Arbeiten durch ein ebensolches oder ein noch größeres
  • Festmahl feiern, das von einem feierlichen Dankgebet begleitet wird. Du
  • sollst den Bauer nicht schlagen; ihm einen Schlag in das Gesicht
  • versetzen, das ist noch keine große Kunst, das kann auch der Stanowoi,
  • der Assessor und selbst der Dorfschulze. Der Bauer ist daran gewöhnt, er
  • kratzt sich nur hinter den Ohren, und das ist alles. Lerne es lieber,
  • durch deine Worte Eindruck auf ihn machen. Du verstehst dich doch auf
  • treffliche Worte. Schilt ihn vor versammeltem Volke aus, aber so, daß
  • das ganze Volk ihn auslacht und verspottet. Das wird weit nützlicher für
  • ihn sein als alle möglichen Püffe und Maulschellen. Du mußt stets
  • sämtliche Synonyme von: »_braver Bursche_« für den, der ermuntert, und
  • alle Synonyme von: »altes Weib« für den, der getadelt werden muß, bereit
  • halten, damit das ganze Dorf weiß, daß ein Faulpelz und ein Trunkenbold
  • ein altes Weib und ein erbärmlicher Kerl sind. Suche womöglich ein noch
  • schlimmeres Wort hervor, kurz, du darfst ihm sagen, daß er alles ist,
  • was ein Russe nicht sein soll. Hocke nicht zu lange in der Stube,
  • sondern erscheine recht oft bei den Arbeiten der Bauern und richte es,
  • wo du auch hinkommst, stets so ein, daß bei deinem Kommen alles
  • lebhafter und heiterer wird, sich mutig und frisch betätigt und daß
  • jeder sich bei der Arbeit besonders auszuzeichnen sucht. Suche ihnen
  • allen Mut und Kraft einzuflößen, indem du ihnen zurufst: »Kommt,
  • Jungens, laßt uns einmal alle zusammen anpacken.« Nimm selbst die Axt
  • oder die Sense zur Hand, das wird dir gut tun und weit besser für deine
  • Gesundheit sein als diese Heilgymnastik, diese Motion, als Marienbad und
  • die vielen trägen und bequemen Spaziergänge.
  • Deine Bemerkungen über die Schulen sind ganz richtig. Es ist wirklich
  • ein Unsinn, dem Bauern das Lesen beizubringen, damit er die Möglichkeit
  • habe, allerhand törichte Bücher zu lesen, die europäische
  • Menschenfreunde für das Volk herausgeben. Die Hauptsache aber ist, daß
  • der Bauer ja gar keine Zeit dazu hat. Nach der schweren Arbeit wird kein
  • Buch ihm in den Kopf hinein wollen, und wenn er nach Hause kommt, sinkt
  • er wie tot hin und schläft den Schlaf des Gerechten. Dir selbst wird es
  • so ergehen, wenn du häufiger zur Arbeit gehen wirst. Der Dorfpfarrer
  • kann dem Bauer weit mehr sagen, was ihm wirklich von Nutzen sein kann,
  • als all dieser Bücherkram. Wenn einer dagegen wirklich vom Bildungsdrang
  • ergriffen wird und zwar nicht etwa darum, um ein Bureaumensch zu werden
  • sondern weil er _die_ Bücher lesen will, in denen das Gesetz, das Gott
  • den Menschen gegeben hat, geschrieben steht, dann ist das freilich eine
  • andere Sache. Einen solchen mußt du erziehen wie deinen eigenen Sohn,
  • und alle Sorgfalt und alle Mittel auf ihn verwenden, die du für eine
  • ganze Schule verwandt hättest. Unser Volk ist gar nicht so dumm, wenn es
  • vor jedem beschriebenen Stück Papier davonläuft wie vor dem Teufel. Es
  • weiß, daß dies der Quell aller menschlichen Verwirrung, aller Kabalen
  • und Haarspaltereien ist. Eigentlich sollte es überhaupt nicht wissen,
  • daß es noch andere Bücher als die heiligen Bücher gibt.
  • [Apropos: der Priester; du hast unrecht, wenn du dich darum bemühst, daß
  • er durch einen andern ersetzt wird und wenn du den Erzpriester darum
  • bitten willst, er möge dir einen erfahreneren und gebildeteren Priester
  • senden. Einen solchen wird er dir nicht verschaffen können, denn ein
  • solcher Priester ist überall unentbehrlich. Schlage es dir aus dem
  • Kopfe, daß du einen Priester finden könntest, der deinem Ideal völlig
  • entspricht. Kein Seminar und keine Schule kann einen solchen
  • heranbilden. Im Seminar wird nur der erste Grund zu seiner Bildung
  • gelegt. Die eigentliche Bildung und Erziehung dagegen erwirbt er sich
  • erst durch das Leben selbst. Du mußt selbst sein Lehrer sein, da du doch
  • eine so klare Vorstellung von den Pflichten eines Dorfpfarrers hast.
  • Wenn der Pfarrer schlecht ist, so sind meist die Gutsbesitzer selbst
  • schuld daran. Statt ihn bei sich im Hause aufzunehmen wie einen nahen
  • Verwandten, und in ihm das Bedürfnis nach einer edleren Unterhaltung zu
  • erwecken, aus der er etwas lernen könnte, überlassen sie ihn, jung und
  • unerfahren, wie er ist, den Bauern, wenn er selbst noch nicht einmal
  • weiß, was der Bauer eigentlich ist. Sie bringen ihn in eine solche Lage,
  • daß er genötigt ist, dem Bauern zu schmeicheln und sich bei ihm beliebt
  • zu machen, während er doch vielmehr von vornherein eine gewisse
  • Autorität über ihn ausüben sollte, und nachher klagt man, daß die
  • Priester schlecht sind, daß sie die Manieren der Bauern annehmen und
  • sich gar nicht mehr von den gewöhnlichen Bauern unterscheiden. Ja, da
  • möchte ich doch fragen: wer würde unter solchen Verhältnissen nicht
  • verrohen, selbst wenn er eine gute Vorbereitung und Erziehung besäße?
  • Dagegen mußt du es folgendermaßen machen. Richte es so ein, daß der
  • Priester jeden Tag mit dir zu Mittag speist. Du mußt geistliche Bücher
  • mit ihm lesen, diese Lektüre interessiert und befriedigt uns doch heute
  • weit mehr als alles andere. Was aber die Hauptsache ist, du mußt den
  • Priester überall mitnehmen, wenn du zur Arbeit gehst, damit er von
  • Anfang an als dein Gehilfe bei dir weile und sich persönlich von deinem
  • Verhalten gegen die Bauern überzeugen könne. Hierdurch wird er klar
  • erkennen, was ein Gutsbesitzer und was ein Bauer ist, und wie die
  • Beziehungen zwischen beiden sein müssen. Zugleich aber werden auch die
  • Bauern ihm mehr Achtung entgegenbringen, wenn sie sehen werden, daß er
  • Hand in Hand mit dir geht und mit dir zusammenarbeitet. Sorge dafür, daß
  • er zu Hause keine Not leide, daß sein Haushalt auf sicherem Grunde ruhe
  • und daß er dadurch die Möglichkeit habe, beständig mit dir zusammen zu
  • sein. Glaube mir, er wird sich so an dich gewöhnen, daß er sich
  • langweilen wird, wenn du nicht da bist. Hat er sich aber einmal an dich
  • gewöhnt, so wird er sich ganz unmerklich auch deine Sachkenntnis und
  • Menschenkenntnis und vieles andere Gute aneignen. Denn du besitzst ja
  • gottlob sehr viel von diesen Dingen und du hast die Gabe, dich so klar
  • und gut auszudrücken, daß ein jeder nicht nur deine Gedanken, sondern
  • selbst deine Ausdrucksweise und sogar deine Worte von dir annimmt.
  • Was nun die Predigt anbelangt, die du für notwendig hältst, so möchte
  • ich dir hierüber folgendes sagen. Ich bin eher der Meinung, daß es für
  • einen Priester, der noch nicht völlig für seine Tätigkeit ausgebildet
  • ist, und der die Leute, die ihn umgeben, noch nicht kennt, besser ist,
  • überhaupt keine Predigten zu halten. Hast du einmal darüber nachgedacht,
  • wie schwierig es ist, eine kluge Predigt zu halten, besonders vor
  • Bauern? Nein, gedulde dich lieber noch ein wenig, mindestens so lange,
  • bis der Priester und du euch ordentlich umgesehen habt. Bis zu dieser
  • Zeit aber möchte ich dir raten, was ich schon einem anderen geraten habe
  • und was ihm, wie ich glaube, von Nutzen gewesen ist. Nimm dir die
  • heiligen Kirchenväter, besonders aber den Johannes Chrysostomus vor. Ich
  • sage: besonders den Chrysostomus, denn dieser war, da er es mit dem
  • ungebildeten Volk zu tun hatte, das das Christentum nur äußerlich
  • angenommen hatte, innerlich aber noch immer dem rohen Heidentum anhing,
  • immer bemüht, sich besonders den Begriffen einfacher und roher Menschen
  • anzupassen, und er spricht so lebendig über die notwendigsten, ja häufig
  • sogar über sehr hohe Dinge, daß man ganze Partien aus seinen Predigten
  • direkt auf unsern Bauern anwenden und an ihn richten kann, denn er wird
  • sie verstehen. Nimm also den Chrysostomus vor und lies ihn zusammen mit
  • deinem Pfarrer, und zwar mit dem Bleistift in der Hand, damit du alle
  • derartigen Stellen anstreichen kannst. Solche Stellen kommen bei
  • Chrysostomus in jeder Predigt dutzendweise vor. Laß ihn dem Volke diese
  • Stellen vortragen. Sie brauchen nicht lang zu sein, es genügt, wenn sie
  • eine Seite oder selbst eine halbe Seite betragen. Je kürzer sie sind, um
  • so besser. Der Priester muß sie jedoch, bevor er sie dem Volke vorträgt,
  • mehrmals mit dir zusammen durchlesen, damit er es lernt, sie nicht nur
  • mit innerem Gefühl und Begeisterung vorzutragen, sondern seinen Worten
  • auch jenen überzeugenden Ton zu verleihen, wie wenn er für eine ihn
  • persönlich angehende Sache eintrete, von der das ganze Heil seines
  • Lebens abhängt. Du wirst sehen, dies wird viel wirksamer sein als eine
  • eigene Predigt. Man muß nur wenig, aber in möglichst treffenden Worten
  • zum Volke reden, sonst kann es sich ebenso an die Predigt gewöhnen wie
  • unsere höchsten Kreise sich an sie gewöhnt haben, die genau so
  • hinfahren, um sich irgendeinen berühmten europäischen Prediger
  • anzuhören, wie sie in die Oper oder in das Schauspiel fahren. Bei K. K.
  • predigt der Priester überhaupt nicht, sondern erwartet die Bauern, da er
  • sie von Grund aus kennt, in der Beichte. Während der Beichte aber redet
  • er jedem von ihnen derartig ins Gewissen, daß dieser die Kirche verläßt,
  • wie wenn er aus einem Schwitzbad käme. S** hat einmal absichtlich
  • dreißig Arbeiter aus seiner Fabrik, und zwar die schlimmsten Gauner und
  • Trunkenbolde, zu ihm in die Beichte geschickt und sich dann selbst in
  • der Vorhalle aufgestellt, um sich die Gesichter anzusehen, die sie
  • machen würden, wenn sie aus der Kirche kämen. Alle kamen rot wie die
  • Krebse heraus, und doch hatte er sie gar nicht einmal lange im
  • Beichtstuhl festgehalten, sondern sich vier bis fünf Mann auf einmal
  • vorgenommen. Während der folgenden zwei Monate aber soll sich, wie S**
  • selbst erzählt, keiner von ihnen in der Kneipe haben sehen lassen, so
  • daß die Gastwirte des Bezirks gar nicht begreifen konnten, was bloß
  • geschehen war.]
  • Doch nun sei es genug. Arbeite nur ein Jahr lang recht eifrig, dann wird
  • das Werk und die Arbeit schon ganz von selbst so vonstatten gehen, daß
  • du gar nicht erst Hand anzulegen brauchst. Du wirst reich werden wie ein
  • Krösus, ganz im Gegensatz zu jenen kurzsichtigen Leuten, die da
  • annehmen, daß die Interessen des Gutsbesitzers denen des Bauers
  • widersprechen. Du wirst ihnen nicht durch Worte, aber durch die Tat
  • beweisen, daß sie unrecht haben und daß ein Gutsbesitzer, wenn er seine
  • Aufgabe nur mit dem Auge des Christen anschaut, nicht allein die alten
  • Bande, von denen man sagt, daß sie für immer zerrissen seien, durch das
  • gemeinsame Band Christi zu kräftigen und zu befestigen vermag, das
  • stärker und kräftiger ist als jedes andere. Und so wirst du, der du
  • bisher in keinem Wirkungskreise eifrig und mit Hingebung gearbeitet
  • hast, als Gutsbesitzer dem Kaiser einen Dienst leisten, wie ihn kein
  • Mann in hohen Ämtern und Würden zu leisten vermag. Sage was du willst,
  • ihm achthundert Untertanen zu schenken, die allesamt wie _ein_ Mann
  • allen Menschen ihrer Umgebung durch ihren wahrhaft musterhaften
  • Lebenswandel zum Vorbild dienen können -- das ist kein unnützes Werk,
  • sondern eine durchaus berechtigte und große Tat.
  • 1846.
  • XXIII
  • Der Historienmaler Iwanow
  • An M. Ju. Weligurski
  • Ich schreibe Ihnen über Iwanow. Wie unbegreiflich ist doch das Schicksal
  • dieses Menschen! Endlich schienen sich alle über ihn klar zu sein, alle
  • waren überzeugt, daß das Bild, an dem er arbeitet, eine geradezu
  • unerhörte Erscheinung sei, nahmen Anteil an dem Künstler, alles bemühte
  • sich darum, ihm die Mittel zu verschaffen, um sein Bild zu vollenden,
  • [damit der Künstler nicht während der Arbeit sterbe -- ich meine dies
  • ganz buchstäblich: nicht vor Hunger sterbe] und noch immer bekommt man
  • nicht das geringste aus Petersburg zu hören; ich flehe Sie an: [um
  • Christi willen suchen Sie doch festzustellen, was das zu bedeuten hat.
  • Es sind so törichte Gerüchte hierher gedrungen, wie wenn die Maler und
  • alle Professoren der Akademie der Künste aus Furcht, das Bild Iwanows
  • könnte alles in Schatten stellen, was unsere Kunst bisher hervorgebracht
  • hat, und aus Neid darauf hinarbeiten, daß ihm die Mittel zur Vollendung
  • des Bildes nicht zur Verfügung gestellt werden. Das ist eine Lüge, davon
  • bin ich fest überzeugt. Unsere Künstler sind vornehme, anständige
  • Menschen und wenn sie erfahren, was der arme Iwanow durch seine
  • beispiellose Selbstentäußerung und Arbeitsliebe zu erdulden gehabt hat,
  • er, der tatsächlich Gefahr lief, vor Hunger zu sterben, so würden sie
  • ihr eigenes Geld brüderlich mit ihm teilen und nicht noch andere zu
  • einer solchen Grausamkeit verleiten. Ja, warum hätten sie Iwanow auch zu
  • fürchten,] er wandelt seine eigenen Bahnen und steht niemand im Wege. Er
  • strebt weder nach einer Professur noch nach materiellen Vorteilen. Er
  • will überhaupt nichts mehr, denn er ist der ganzen Welt abgestorben
  • außer seiner Arbeit. Er bittet bloß [um eine armselige Pension] -- um
  • eine Pension, wie sie ein Schüler und ein Anfänger erhält und nicht er,
  • der Meister, der an einem so ungeheuren Werke arbeitet, wie es bisher
  • noch niemand unternommen hat. Und dies [Hunger]gehalt, das ihm alle zu
  • verschaffen bestrebt sind, um das sich alle für ihn bemühen, kann er
  • sich trotz der Bemühungen aller nicht erbetteln. Sagen Sie, was Sie
  • wollen, ich sehe in alledem den Willen der Vorsehung, die es so bestimmt
  • hat, daß Iwanow alles erdulden, alle Leiden bis zur Neige auskosten und
  • alles ertragen sollte. Einen anderen Grund dafür kann ich nicht finden.
  • Bisher hat man ihm immer den Vorwurf gemacht, er arbeite zu langsam. Man
  • hat immer gesagt: wie? er sitzt acht Jahre lang an seinem Bilde, und
  • noch immer ist das Gemälde nicht vollendet. Jetzt beginnt dieser Vorwurf
  • endlich zu verstummen, wo man sieht, daß der Künstler auch nicht einen
  • einzigen Augenblick von seiner Zeit verloren hat, daß die Skizzen zu dem
  • Bilde, die er angefertigt hat, allein einen ganzen Saal, daß man eine
  • ganze Ausstellung mit ihnen füllen könnte, und daß die ungewöhnliche
  • Größe des Bildes, dem kein zweites an Flächenumfang gleichkommt (das
  • Bild ist größer als die Gemälde von Brjulow und Bruni), außerordentlich
  • viel Zeit und Arbeit erforderte, besonders bei den geringen Geldmitteln,
  • die es dem Maler nicht erlaubten, sich mehrere Modelle zugleich, vor
  • allem aber nicht solche, wie er sie brauchte, zu halten. Mit einem Wort
  • -- jetzt beginnen alle endlich zu erkennen, wie töricht der Vorwurf
  • einem solchen Künstler gegenüber war, der wie ein fleißiger Arbeiter
  • sein ganzes Leben lang bei der Arbeit verbracht hat, so daß er kaum noch
  • wußte, ob es in der Welt noch einen anderen Genuß gibt als die Arbeit --
  • wie töricht der Vorwurf war, er sei faul und arbeite zu langsam. Die,
  • die ihm Langsamkeit vorgeworfen haben, werden sich noch mehr schämen,
  • wenn sie erfahren, was der andere geheime Grund dieser Langsamkeit war.
  • Mit der Arbeit an diesem Gemälde verknüpfte sich der eigenste, innerste,
  • geistige Lebenszweck des Künstlers -- eine Erscheinung, wie sie in der
  • Welt nur äußerst selten vorkommt und deren Grund nicht im freien
  • Ermessen des Menschen, sondern in dem Willen Dessen zu suchen ist, der
  • über allen Menschen steht. Es war offenbar höhere Bestimmung, daß sich
  • an diesem Bilde die eigentliche Erziehung des Künstlers sowohl nach der
  • Seite manueller Kunstfertigkeit wie nach der Seite der Ideen, die die
  • Kunst ihrer wahren und höchsten Bestimmung entgegenführen, vollziehen
  • sollte. Schon der Gegenstand des Gemäldes ist, wie Sie wissen, höchst
  • bedeutend. Der Maler hat sich eine Stelle aus den Evangelien zum Vorwurf
  • gewählt, die einer Darstellung ganz besondere Schwierigkeiten bietet und
  • die bisher noch von keinem Künstler, nicht einmal von einem Meister
  • einer der uralten, von so inniger Frömmigkeit erfüllten künstlerischen
  • Epochen behandelt worden ist, nämlich -- das erste Erscheinen Christi
  • vor dem Volke. Das Bild stellt die Wüste am Ufer des Jordans dar. Im
  • Vordergrunde des Ganzen steht die Gestalt Johannes des Täufers, der vor
  • versammeltem Volke predigt und im Namen Dessen, Den noch niemand gesehen
  • hat, tauft. Er ist von einer Menge nackter oder solcher Menschen, die
  • damit beschäftigt sind, sich an- oder auszuziehen oder die bereits
  • ausgezogen sind, die aus dem Wasser hervorkommen oder im Begriff sind,
  • ins Wasser zu steigen, umgeben. Unter dieser Menge befinden sich auch
  • die künftigen Jünger des Heilands selbst. Jedermann lauscht, während er
  • mit seiner Verrichtung beschäftigt ist und verschiedene Körperbewegungen
  • ausführt, voll innerer Spannung den Reden des Propheten, als wollte er
  • ihm jedes Wort von den Lippen ablesen, alle Gesichter spiegeln die
  • verschiedensten Gefühle wider: ein Teil der Anwesenden ist bereits
  • vollkommen überzeugt, andere zweifeln noch, ein dritter Teil schwankt
  • schon, andere wieder halten ihre Häupter voll Reue und Zerknirschung
  • gesenkt. Es sind auch solche darunter, denen man anmerkt, daß die harte
  • Rinde der Gefühllosigkeit, die ihr Herz umgibt, noch nicht geborsten
  • ist. Und während nun alles von so verschiedenen Gemütsbewegungen
  • ergriffen ist, erscheint Er, in Dessen Namen die Taufe bereits vollzogen
  • ward, in der Ferne -- und das ist der eigentliche Höhepunkt des Bildes.
  • Der Künstler hat den Augenblick gewählt, wo der Vorläufer Christi mit
  • dem Finger auf den Heiland hinweist und die Worte spricht: »_Siehe, das
  • ist das Lamm, das der Welt Sünde trägt._« Die ganze Menge aber hält,
  • ohne ihren Gesichtsausdruck zu verändern, ihre Augen auf Den geheftet,
  • und richtet alle ihre Gedanken auf Ihn, auf Den der Prophet hinweist. Zu
  • dem früheren Ausdruck, der noch nicht von den Gesichtern verschwunden
  • ist, kommt nun noch ein neuer hinzu, der den neuen Eindruck
  • widerspiegelt. Die Gesichter der Auserwählten, die ganz vorne stehen,
  • leuchten von einem wunderbaren Licht, während die andern noch bemüht
  • sind, in den Sinn der unverständlichen Worte einzudringen und nicht
  • begreifen können, wie ein einziger alle Sünden der Welt auf sich nehmen
  • kann, und während die Dritten zweifelnd ihr Haupt schütteln, als wollten
  • sie sagen: »Wie könnte ein Prophet aus Nazareth kommen!« Er aber
  • schreitet mit himmlischer Ruhe und wie in eine wunderbare Ferne entrückt
  • langsamen und festen Schrittes auf die Menschen zu.
  • Wahrlich es ist keine Kleinigkeit, auf den Gesichtern diesen ganzen
  • Prozeß _der Bekehrung des Menschen zu Christus_ darzustellen! Es gibt
  • Menschen, die davon überzeugt sind, daß für einen großen Künstler alles
  • erreichbar ist: die Erde, das Meer, der Mensch [ja selbst ein Frosch,
  • eine Rauferei, ein Zechgelage oder eine Kartenpartie] wie ein an den
  • himmlischen Vater gerichtetes Gebet, mit einem Wort, daß ihm alles
  • leicht erreichbar sei, wenn er bloß ein talentvoller Künstler ist und
  • die Akademie besucht hat. Ein Künstler kann nur darstellen, was er
  • selbst _gefühlt_ und wovon er sich im Geiste eine vollständige Idee
  • gebildet hat, im andern Falle wird sein Bild ein totes akademisches
  • Gemälde bleiben. Iwanow hat alles getan, was ein anderer Künstler für
  • ausreichend gehalten hätte, um sein Gemälde zu vollenden. Die gesamte
  • materielle Seite daran, alles, was sich auf eine strenge und weise
  • Verteilung der Gruppen auf dem Bilde bezieht, ist mit höchster
  • Vollendung durchgeführt. Auch die Gesichter haben jenen typischen
  • Ausdruck, der dem Geist des Evangeliums entspricht, auch ist der
  • jüdische Typus überall festgehalten. Man erkennt sofort an den
  • Gesichtern, welches Land der Schauplatz dieser Vorgänge ist. Iwanow ist
  • ausdrücklich zu diesem Zwecke überall herumgereist, um jüdische
  • Gesichter zu studieren. Alles, was sich auf eine harmonische Verteilung
  • der Farben, der menschlichen Gewänder und die wohlüberlegte Art, wie sie
  • den menschlichen Körper umhüllen und von ihm gehalten werden, bezieht,
  • ist mit einer solchen Sorgfalt studiert, daß jede Falte die
  • Aufmerksamkeit des Kenners auf sich lenken muß. Endlich ist auch die
  • landschaftliche Seite, auf die ein Historienmaler gewöhnlich nur wenig
  • achtet, die malerische Wüste, in die die Gruppen hineingestellt sind, so
  • ausgeführt, daß selbst die Landschaftsmaler, die sich in Rom aufhalten,
  • staunen. Iwanow hat zu diesem Zwecke viele Monate in den ungesunden
  • Pontinischen Sümpfen und in den Wüsteneien Italiens zugebracht,
  • zahlreiche Skizzen von sämtlichen wilden und öden Gegenden, die sich in
  • Roms Umgebung finden, entworfen, er hat jedes Steinchen und jedes
  • Baumblatt studiert, kurz -- er hat alles getan, was er tun konnte, und
  • alles nachgezeichnet, wofür er ein Vorbild finden konnte. Wie aber
  • sollte er das darstellen, wofür bisher noch nie ein Künstler ein Modell
  • finden konnte! Wo konnte er ein Modell dafür finden, was die Hauptsache,
  • die eigentliche Aufgabe seines ganzen Gemäldes bildet? Wie konnte er den
  • Vorgang der Bekehrung der Menschheit zu Christus in seiner Gesamtheit
  • zur Darstellung bringen? Wo sollte er ihn hernehmen? Aus dem Kopfe?
  • Sollte er ihn aus seiner Phantasie erzeugen, ihn mit dem Gedanken
  • erfassen? Nein, das sind alles Torheiten. Dazu ist der Gedanke zu kalt
  • und zu frostig und die Phantasie zu arm und zu matt. Iwanow hat seine
  • Einbildungskraft so gewaltig angestrengt, als er nur vermochte, er war
  • bestrebt, aus den Gesichtern aller Menschen, denen er begegnete, die
  • hohen Gemütsbewegungen der Seele abzulesen. Er ist in die Kirchen
  • gegangen, um die Menschen während des Gebets zu beobachten, und mußte
  • schließlich erkennen, daß dies alles viel zu kraftlos, zu ohnmächtig,
  • daß es ungenügend sei und in seiner Seele nicht die volle Idee von dem,
  • was er brauchte, hervorbringen und befestigen konnte, und das wurde der
  • Anlaß zu bitteren Seelenqualen, und war der Grund, warum sein Bild so
  • langsame Fortschritte machte. Nein, solange sich die wahre Bekehrung zu
  • Christus nicht im Künstler selbst vollzogen hat, wird es ihm nie
  • gelingen, sie auf der Leinwand darzustellen. Iwanow hat inbrünstig zu
  • Gott gebetet, Er möge ihm diese volle Bekehrung zuteil werden lassen, er
  • hat stille Tränen vergossen und Ihn angefleht, Er möge ihm die Kraft
  • verleihen, die ihm von Ihm selbst eingegebene Idee auszuführen, und in
  • einem solchen Moment konnte man ihm den Vorwurf machen, daß er zu
  • langsam arbeite, und ihn zur Eile drängen! Iwanow hat Gott angefleht, Er
  • möge jene kalte Härte und Mattherzigkeit, an der heute viele von den
  • Edelsten und Besten leiden, im Feuer Seiner Gnade zerschmelzen und zu
  • Asche verbrennen und ihn mit der Begeisterung erfüllen, die ihm die
  • Kraft verleihen würde, diese Bekehrung so darzustellen, daß auch der
  • Nichtchrist beim Anblick seines Bildes gerührt und erschüttert dastünde,
  • und in solchen Augenblicken konnten sogar Leute, die ihn persönlich
  • kennen, ja selbst seine Freunde ihm Vorwürfe machen und glauben, er sei
  • träge und faul, ja sie konnten sich ernstlich fragen, ob man ihn nicht
  • durch Hunger und dadurch, daß man ihm alle Mittel entzöge, dazu zwingen
  • könne, sein Bild zu vollenden! Sogar die Mitleidigsten unter ihnen
  • sagten: »Er ist selbst schuld: das große Bild ist etwas für sich, in der
  • Zwischenzeit könnte er kleinere Bilder malen und sie verkaufen, dann
  • brauchte er nicht vor Hunger zu sterben.« So konnten die Leute reden,
  • ohne zu ahnen, daß ein Künstler, dem sein Werk nach dem Willen Gottes zu
  • einer innersten Seelen- und Herzensangelegenheit geworden ist, schon
  • nicht mehr imstande ist, sich mit irgend etwas anderem zu beschäftigen,
  • daß es für ihn keine Zwischenzeit gibt; sein Denken ist gar nicht mehr
  • fähig, sich auf andere Gegenstände zu richten, so sehr er sich auch dazu
  • zwingen und so sehr er es auch vergewaltigen mag. So ist auch ein treues
  • Weib, das ihren Mann wahrhaft liebt, nicht mehr imstande, einen andern
  • lieb zu gewinnen. Nie wird sie ihre Zärtlichkeit für Geld verkaufen,
  • nicht einmal, wenn sie sich selbst und ihren Mann hierdurch vor der
  • Armut bewahren könnte. Dies war der Seelenzustand Iwanows. Sie werden
  • sagen: »Ja warum hat er dies alles denn nicht niedergeschrieben? Warum
  • hat er seine wirkliche Lage nicht klar dargestellt. Dann hätte man ihm
  • sofort Geld geschickt? Das wäre schön, wenn's so wäre. Es soll doch
  • einmal einer von uns versuchen, der noch keinen Beweis seines Könnens
  • gegeben hat, der sich selbst noch nicht darüber klar zu werden vermag,
  • was in ihm steckt, sich mit Leuten anderer Berufe auseinanderzusetzen,
  • die aus sehr natürlichen Gründen nicht einmal zu begreifen vermögen, daß
  • es eine höchste Stufe der Kunst gibt, eine solche Stufe, die sie
  • unendlich weit über das Niveau emporhebt, auf dem die Kunst unserer
  • heutigen modesüchtigen Zeit steht. Sollte er etwa sagen: »Ich will ein
  • Werk schaffen, das euch einst in Erstaunen setzen wird, von dem ich
  • jedoch heute nicht zu euch sprechen kann, weil mir selbst heute noch
  • manches nicht ganz klar ist. Ihr aber mögt die ganze Zeit über, während
  • der ich an meiner Arbeit sitze, geduldig warten und mir das Geld zu
  • meinem Lebensunterhalt verschaffen?« Dann würden sich wahrscheinlich
  • viele Liebhaber finden, die ebenso sprechen würden, und glauben Sie
  • etwa, daß es einen so törichten Menschen gibt, der ihnen Geld geben
  • würde? Aber selbst angenommen, Iwanow hätte sich in dieser Zeit der
  • Unklarheit klar ausdrücken und sagen können: »durch höhere Eingebung
  • ward mir eine Idee zuteil, die mich unablässig verfolgt -- ich will die
  • Bekehrung des Menschen zu Christus auf der Leinwand darstellen. Ich
  • fühle, daß ich das nicht tun kann, ehe ich mich selbst wahrhaft zu ihm
  • bekehrt habe. Wartet daher, bis sich diese Bekehrung in mir selbst
  • vollzogen hat und gebt mir bis dahin das Geld, das ich zu meinem
  • Lebensunterhalt und um arbeiten zu können, brauche.« Ja, hätten wir ihm
  • nicht alle wie aus einem Munde zugerufen: »Was ist denn das für ein
  • törichtes Gerede? Hältst du uns etwa für Narren? Wie hängt denn das
  • zusammen: die Seele und ein Gemälde? Die Seele ist etwas für sich und
  • ein Gemälde ist auch eine Sache für sich. [Warum sollten wir auf deine
  • Bekehrung warten, du sollst auch ohne das ein Christ sein. Wir sind doch
  • auch alle wahrhafte Christen.«] So hätten wir alle zu Iwanow gesprochen,
  • und jeder von uns hätte eigentlich recht gehabt. Wären nicht diese
  • schwierigen Lebensverhältnisse und diese innere Seelenfolter gewesen,
  • die ihn mit Gewalt dazu getrieben haben, Gott mit innigerer, glühenderer
  • Sehnsucht zu suchen, und die ihm die Fähigkeit gaben, seine Zuflucht zu
  • Ihm zu nehmen und so in Ihm zu leben, und in Ihm aufzugehen, wie keiner
  • von den modernen profanen Künstlern in Ihm lebt, und sich durch bittre
  • Tränen die Gefühle zu erringen, die er sich ehedem durch bloßes
  • Nachdenken und bloße Überlegung zu erringen suchte, so wäre er nie
  • imstande gewesen, das darzustellen, wozu er jetzt auf der Leinwand
  • bereits den Grund gelegt hat, und er hätte sowohl sich wie die andern
  • betrogen trotz seines glühenden Wunsches, sie nicht zu täuschen. Glauben
  • Sie nicht, daß es leicht ist, sich während eines solchen inneren
  • Übergangszustandes, wenn nach Gottes Willen ein Umgestaltungsprozeß in
  • dem innersten Wesen des Menschen eingesetzt hat, sich andern Menschen
  • mitzuteilen. Ich kenne das selbst sehr gut und habe es sogar an mir
  • selbst erfahren. Meine Werke hängen in ganz wunderbarer Weise mit meinem
  • Seelenleben und meiner inneren Selbsterziehung zusammen. Mehr als sechs
  • Jahre lang vermochte ich nicht für die Welt zu schaffen. Die ganze
  • Arbeit fand in mir und für mich selbst statt. Und doch -- vergessen Sie
  • dies nicht -- und doch lebte ich damals, ausschließlich von den
  • Einkünften, die mir meine Werke brachten. Fast alle Welt wußte, daß ich
  • Not litt, und doch waren alle überzeugt, daß dies seinen Grund
  • ausschließlich in meinem Eigensinn hat, daß ich mich nur hinzusetzen und
  • irgendeine kleine Sache niederzuschreiben brauchte, um sehr viel Geld zu
  • verdienen. Allein ich war nicht imstande, auch nur eine einzige Zeile zu
  • schreiben, und als ich einmal dem Rat eines unvernünftigen Menschen
  • folgen und mich dazu zwingen wollte, ein paar kleine Aufsätze für eine
  • Zeitschrift zu schreiben, wurde mir dies so schwer, daß mich mein Kopf
  • schmerzte und mir all meine Sinne wehe taten. Ich schmierte einige
  • Seiten voll, zerriß sie wieder und ruinierte nach zwei, drei Monaten
  • einer solchen Folter meine ganze Gesundheit, die ohnedies schon schlecht
  • genug war, so daß ich mich zu Bett legen mußte. Dazu kamen noch
  • allerhand Nervenbeschwerden und Leiden, die daraus entsprangen, daß es
  • mir völlig unmöglich war, mich gegen irgendeinen Menschen in der Welt
  • über meinen Zustand und meine Lage zu äußern; dies alles brachte mich so
  • herunter, daß ich mich beinahe am Rande des Grabes befand. Und dieses
  • passierte mir zweimal nacheinander. Einmal befand ich mich zu alledem
  • noch in einer Stadt, wo ich nicht einen einzigen mir nahestehenden
  • Menschen hatte. Auch war ich völlig mittellos und lief beständig Gefahr,
  • nicht nur an meiner Krankheit und meinen seelischen Qualen, sondern
  • sogar vor Hunger zu sterben. Das ist schon sehr lange her [ich wurde
  • damals durch den Kaiser gerettet, von dem mir unerwartet Hilfe kam.
  • Hatte ihm eine innere Stimme gesagt, daß sein armer Untertan in seiner
  • unscheinbaren nichtamtlichen Stellung von dem heißen Streben beseelt
  • war, ihm ebenso treu und redlich zu dienen, wie andere ihm in ihren
  • hervorragenden amtlichen Stellungen dienten, oder war es einfach eine
  • Regung der Gnade und Güte, wie wir sie bei ihm gewohnt sind, genug,
  • diese Hilfe richtete mich plötzlich auf. Es war mir in diesem Augenblick
  • sehr angenehm, mich ihm und keinem andern verpflichtet zu fühlen. Zu den
  • Gründen, die mich veranlaßten, mit neuer Kraft an die Arbeit zu gehen,
  • kam auch noch folgender Gedanke hinzu. Wenn Gott mich für würdig halten
  • sollte, mir die Liebe und Zuneigung vieler Menschen zu erwerben und mich
  • der Liebe derer würdig zu erweisen, die mich liebten, dann wollte ich
  • ihnen sagen: »Vergeßt es niemals, ich wäre jetzt vielleicht nicht mehr
  • auf der Welt, wenn der Kaiser nicht dagewesen wäre«]. In solch eine Lage
  • kommt man mitunter. Außerdem muß ich Ihnen noch sagen, daß ich gerade zu
  • dieser Zeit oft den Vorwurf zu hören bekam, ich sei ein Egoist: Viele
  • konnten es mir nicht verzeihen, daß ich mich nicht an Unternehmungen
  • beteiligen wollte, die sie, wie sie glaubten, im Interesse der
  • Allgemeinheit planten. Meine Einwände, ich könne nicht schreiben und ich
  • dürfe nicht für Zeitschriften und Almanache arbeiten, wurden für eine
  • Laune gehalten. Selbst der Umstand, daß ich im Ausland lebte, wurde auf
  • ein sybaritisches Bedürfnis zurückgeführt, die Schönheiten Italiens zu
  • genießen. Ich konnte es nicht einmal meinen nächsten Freunden
  • klarmachen, daß mir nicht nur aus Rücksicht auf meine Krankheit eine
  • zeitweilige Trennung von ihnen selbst ein Bedürfnis war, gerade weil ich
  • nicht in ein falsches Verhältnis zu ihnen kommen und ihnen keine
  • Unannehmlichkeiten bereiten wollte -- selbst dies vermochte ich ihnen
  • nicht klarzumachen!
  • Ich hatte selbst die Empfindung, mein Seelenzustand sei so seltsam
  • geworden, daß ich ihn keinem Menschen auf der Welt in klarer und
  • verständlicher Weise hätte mitteilen können. Wenn ich mich bemühte,
  • einem Menschen wenigstens einen Teil von meinem Selbst zu enthüllen, so
  • stand es mir sofort klar vor Augen, daß ich den Menschen, zu denen ich
  • sprach, mit meinen Worten nur den Kopf verwirrte und umnebelte, und ich
  • bereute bitterlich, daß ich auch nur den Wunsch gehabt hatte, aufrichtig
  • zu sein. Ich möchte darauf schwören: es gibt Situationen von solcher
  • Schwierigkeit, die sich nur mit der Lage eines Menschen vergleichen
  • lassen, der in einem lethargischen Schlaf versunken daliegt, der selbst
  • sieht, wie er lebendig begraben wird -- und nicht einmal einen Finger
  • rühren und ein Zeichen geben kann, daß er noch lebt. Nein, Gott bewahre
  • uns vor dem bloßen Versuch, im Moment eines solchen inneren
  • Übergangszustandes einem Menschen unser Herz zu öffnen. Zu Gott allein
  • sollte man seine Zuflucht nehmen; zu niemand sonst. So kam es, daß
  • viele, selbst solche Menschen, die mir sehr nahe standen, ungerecht
  • gegen mich wurden und doch waren sie eigentlich ganz unschuldig daran:
  • ich selbst hätte genau so gehandelt, wenn ich an ihrer Stelle gewesen
  • wäre.
  • Und ebenso verhält es sich mit dem Fall Iwanow: wenn er vor Armut und
  • aus Mangel an Mitteln sterben sollte, so würden sich alle sofort empört
  • gegen die wenden, die dies zugelassen haben. Vorwürfe und Anklagen gegen
  • die andern Künstler würden laut werden, und man würde sie der
  • Gefühllosigkeit und des Neides bezichtigen. Am Ende würde gar ein
  • dramatischer Dichter ein rührsames Drama über dieses Sujet schreiben,
  • das Publikum bis zu Tränen rühren und Zorn und Abscheu wider die Feinde
  • Iwanows erregen. Und doch wäre dies alles nichts wie lauter Lüge und
  • Unwahrheit, weil in Wahrheit doch eigentlich niemand an seinem Tode
  • schuld wäre. Nur _ein_ Mensch hätte Anlaß, sich einer unehrenhaften
  • Handlungsweise anzuklagen und sich die Schuld zuzuschreiben. Dieser
  • Mensch wäre -- ich. Ich habe mich in einer ganz ähnlichen Lage befunden,
  • habe alles am eigenen Leibe erfahren und habe es doch den andern nicht
  • klarmachen können, und das ist der Grund, weswegen ich Ihnen jetzt
  • schreibe. Suchen Sie diese Sache zu arrangieren und in Ordnung zu
  • bringen, sonst nehmen Sie eine schwere Verantwortung auf Ihre Seele. Ich
  • habe sie durch diesen Brief von meinem Herzen abgewälzt. Nun liegt sie
  • auf Ihnen. [Richten Sie es so ein, daß Iwanow nicht nur jene armselige
  • Pension, um die er bittet, bewilligt wird, sondern außerdem auch noch
  • eine Prämie dafür, daß er so lange an seinem Gemälde gearbeitet hat und
  • daß er während dieser Zeit an nichts anderem arbeiten wollte, trotzdem
  • ihn die Menschen und seine eigene Not dazu drängten]. Sparen Sie nicht
  • mit dem Gelde: es wird reiche Zinsen tragen. Schon fängt man überall an,
  • den Wert des Bildes zu erkennen, schon spricht ganz Rom davon, obwohl es
  • sich doch nur nach dem jetzigen Stadium, das die Idee und Absicht des
  • Künstlers noch nicht in vollem Maße widerspiegelt, ein Urteil erlauben
  • kann, schon sagt ganz Rom, daß eine ähnliche Erscheinung seit den Zeiten
  • Raphaels und Leonardo da Vincis noch nicht dagewesen sei. Das Gemälde
  • wird vollendet werden [-- dann wird auch der ärmste Fürstenhof in Europa
  • gern soviel dafür bezahlen, wie man heute für ein neu entdecktes Gemälde
  • eines großen alten Meisters auszugeben pflegt]. Solche Gemälde erzielen
  • selten Preise unter 100000 oder 200000. [Richten Sie es so ein, daß ihm
  • die Prämie nicht für sein Gemälde, sondern für seine Selbstaufopferung
  • und seine beispiellose Liebe zur Kunst zugesprochen wird, auf daß dies
  • Beispiel allen Künstlern zur Lehre diene. Wir haben eine solche Lehre
  • nötig, damit alle erkennen, wie man die Kunst lieben soll: daß man allen
  • Lockungen des Lebens absterben müsse wie Iwanow, daß man nicht aufhören
  • dürfe, zu lernen, und sich stets für einen Schüler halten solle wie
  • Iwanow, daß man die größten Entbehrungen auf sich nehmen, ja selbst an
  • Feiertagen sich beim Mittagessen den Extragang versagen muß wie Iwanow,
  • daß man, wenn einem alle Mittel ausgegangen sind, eine einfache
  • Leinwandjacke anziehen und alle leeren Rücksichten des Anstands außer
  • acht lassen muß wie Iwanow, daß man alle Leiden auskosten und selbst bei
  • einer so hohen und feinen Seelenbildung, bei einer so außerordentlichen
  • feinsinnigen Empfindlichkeit für alles, alle bitteren Niederlagen
  • ertragen, ja selbst ruhig dulden muß, daß einzelne einen für verrückt
  • erklären und überall das Gerücht verbreiten, man sei nicht bei
  • Verstande, so daß man es auf Schritt und Tritt mit eigenen Ohren hören
  • muß, wie Iwanow dies getan hat. Für alle diese großen Verdienste sollte
  • ihm eine Prämie zugesprochen werden. Dies ist besonders ein Bedürfnis
  • für unsere jungen Künstler und für die, die ihre Künstlerlaufbahn erst
  • eben beginnen, damit sie ihre Gedanken nicht bloß darauf richten, sich
  • feine Krawatten und Röcke anzuschaffen und Schulden zu machen, um ihr
  • Ansehen in der Gesellschaft zu heben, sondern damit sie erkennen, daß
  • die Hilfe und Unterstützung der Regierung nur solchen unter ihnen zuteil
  • wird, die nicht an feine Röcke denken und von Zechgelagen mit ihren
  • Kameraden träumen, sondern die sich ganz ihrer Aufgabe widmen und in ihr
  • ganz aufgehen wie ein Mönch in der Klosterzelle. Es wäre sogar gut, wenn
  • die Summe, die Iwanow bewilligt würde, recht groß wäre, damit sich alle
  • anderen unwillkürlich hinter den Ohren kratzen. Fürchten Sie nicht, daß
  • er diese Summe nur für seinen eigenen Bedarf verwenden könnte.
  • Vielleicht wird er sich selbst nicht einmal eine Kopeke davon nehmen.
  • Diese Summe wird ganz darauf verwandt werden, um den wirklichen
  • Arbeitern auf dem Gebiete der Kunst, die der Künstler besser kennt als
  • irgendein Beamter, zur Unterstützung zu dienen, und er wird besser
  • darüber verfügen, als ein Beamter dies vermöchte. Weiß Gott, was ein
  • Beamter alles auf dem Kerbholz haben kann; er kann eine Modedame zur
  • Frau, oder er kann Freunde haben, die große Feinschmecker sind und denen
  • er ein feines Mittagessen vorsetzen muß. Ein Beamter kann einen großen
  • Aufwand machen und vielen Glanz entfalten, und wird dann womöglich noch
  • behaupten, daß dies notwendig sei, um das Ansehen der russischen Nation
  • hochzuhalten, um den Ausländern Sand in die Augen zu streuen, und Geld
  • dafür verlangen. Mit dem dagegen, der selbst auf dem Gebiet tätig ist,
  • auf dem er später anderen behilflich sein soll, der den Schrei der
  • Bedürftigkeit und keiner vorgespiegelten, sondern der wirklichen Not
  • vernommen, der selbst gelitten und gesehen hat, wie andere leiden, der
  • mit ihnen gelitten und sein letztes Hemd mit dem armen Arbeiter geteilt
  • hat, während er selbst nichts zu essen und nichts anzuziehen hatte, wie
  • dies Iwanow getan hat, -- mit dem verhält es sich ganz anders. Ihm kann
  • man dreist Millionen anvertrauen und sich ruhig schlafen legen. Von
  • dieser Million wird keine Kopeke umsonst verloren gehen]. Also seien Sie
  • billig. Meinen Brief aber zeigen Sie sowohl meinen wie Ihren Freunden,
  • besonders aber denen, denen die Verwaltung eines Ressorts anvertraut
  • ist. Denn fleißige Arbeiter wie Iwanow kommen in allen Berufen vor, und
  • man sollte doch nicht zulassen, daß solche Menschen vor Hunger sterben.
  • Wenn es einmal passieren sollte, daß einer von ihnen sich von den andern
  • zurückzieht und sich intensiver und eifriger seiner Sache widmet, ja
  • selbst in dem Falle, wenn es seine _eigene_ Sache ist und er nur sagt,
  • daß diese Sache, die scheinbar bloß seine eigene Sache ist, einem
  • allgemeinen Bedürfnis dient, müssen Sie so tun, als ob er den Menschen
  • wissentlich diente, und für seinen notwendigen Lebensunterhalt sorgen.
  • Damit Sie sich aber überzeugen, daß hierbei kein Betrug im Spiele ist,
  • weil sich unter dieser Maske leicht auch ein fauler Mensch, der nichts
  • tut, einschleichen kann, so sehen Sie zu, was für einen Lebenswandel er
  • führt. Seine Lebensweise wird Ihnen alles sagen. Wenn er ebenso wie
  • Iwanow alle Anstandsrücksichten und alle Konventionen der vornehmen Welt
  • verachtet und hintan setzt, wenn er eine einfache Jacke anzieht, jeden
  • Gedanken an Vergnügungen und Zechgelage, selbst den Gedanken, sich ein
  • Weib zu nehmen, um eine Familie oder einen Hausstand zu begründen, von
  • sich gewiesen hat und ein wahrhaft mönchisches Leben führt, Tag und
  • Nacht an seiner Arbeit sitzt und jeden Augenblick dem Gebet widmet, dann
  • sind keine langen Überlegungen am Platz, sondern dann muß man ihm die
  • Mittel zur Arbeit verschaffen. Man soll ihn auch nicht drängen und
  • anfeuern, sondern man soll ihn in Ruhe lassen: Gott wird ihn auch ohne
  • uns vorwärts treiben. Ihre Aufgabe ist es nur, dafür zu sorgen, daß er
  • nicht vor Hunger stirbt. Sie sollen ihm auch keine große Pension
  • bewilligen, setzen Sie ihm eine bescheidene, ja armselige Pension aus
  • und halten Sie die Lockungen und Verführungen der Welt von ihm fern. Es
  • gibt Menschen, die ihr ganzes Leben lang Bettler bleiben müssen. Der
  • Bettlerstand ist eine Seligkeit, die die Welt noch nicht recht begriffen
  • hat. Aber wen Gott für würdig gehalten hat, ihre Süßigkeit zu kosten,
  • und wer seinen Bettelsack wirklich lieben gelernt hat, der wird ihn für
  • keine Schätze dieser Welt verkaufen wollen.
  • 1846.
  • XXIV
  • Was die Frau ihrem Manne im häuslichen Leben des Alltags und bei
  • den heutigen Zuständen in Rußland sein kann
  • Ich habe lange darüber nachgedacht, wen von Ihnen beiden ich tüchtig
  • auszanken soll, Sie oder Ihren Mann. Schließlich aber habe ich mich
  • entschlossen, mir Sie vorzunehmen: denn eine Frau ist eher dazu fähig,
  • sich auf sich selbst zu besinnen und sich aufzuraffen. Obwohl Sie beide
  • auf dem Gipfel der Seligkeit zu schweben glauben, ist Ihre Lage meiner
  • Ansicht nach nicht nur keineswegs glücklich, sondern noch weit elender
  • als die jener Menschen, die tief im Unglück und im Elend zu stecken
  • meinen. Sie besitzen alle beide viele gute Eigenschaften, sowohl solche
  • des Gemüts als auch des Herzens, Sie besitzen auch geistige Fähigkeiten,
  • und es fehlt Ihnen nur das eine, ohne das dies alles zu nichts dienen
  • kann. Es fehlt Ihnen an der inneren Disziplin. Keiner von Ihnen ist Herr
  • über sich selbst. Es fehlt Ihnen an Charakter, wenn man unter Charakter
  • einen _starken Willen_ zu verstehen hat. Ihr Mann hat ein Gefühl für
  • diesen inneren Mangel gehabt. Er hat sich gerade deswegen verheiratet,
  • um in seiner Frau ein Wesen zu finden, das ihn zur Tätigkeit und zu
  • wirklichen Leistungen anspornt. Und _Sie_ haben ihn geheiratet, damit er
  • Ihnen in allen Angelegenheiten des Lebens ein Erwecker und Anreger
  • werde. Sie erwarten beide gerade das voneinander, was keiner von Ihnen
  • besitzt. Ich sage Ihnen, dieser Zustand ist nicht nur keineswegs
  • glücklich, sondern sogar gefährlich. Sie beide zerfließen und gehen im
  • Leben auf wie ein Stück Seife im Wasser. Alle ihre Vorzüge und ihre
  • guten Eigenschaften werden spurlos verloren gehen in der Unordnung und
  • der Zuchtlosigkeit Ihrer Handlungen, die allein Ihren Charakter
  • ausmachen werden, und so werden Sie beide die leibhaftige Ohnmacht und
  • Kraftlosigkeit darstellen. Bitten Sie Gott um _Kraft und Willensstärke_.
  • Durch Gebet kann man alles von Gott erlangen, selbst Kraft und
  • Willensstärke, die sich ein schwacher und kraftloser Mensch bekanntlich
  • auf keine Weise anzueignen vermag. Vor allem handeln Sie vernünftig:
  • _bete und rudere auf das Ufer zu_, sagt ein russisches Sprichwort.
  • Sprechen Sie jeden Morgen, mittags und abends immer wieder in Ihrem
  • Innern: Lieber Gott, fasse all meine Kräfte und mein ganzes Ich in mir
  • selbst zusammen und stärke mich!« Und dann tun Sie ein ganzes Jahr lang
  • so, wie ich es Ihnen gleich angeben werde, ohne nachzugrübeln, wozu und
  • zu welchem Zwecke Sie so handeln. Den ganzen Haushalt müssen Sie auf
  • Ihre Schultern nehmen. Alle Ausgaben und Einnahmen sollen durch Ihre
  • Hände gehen. Legen Sie sich kein allgemeines Kassenbuch an, sondern
  • machen Sie gleich zu Beginn des Jahres einen Überschlag über den
  • gesamten Haushalt. Suchen Sie sich eine Übersicht über all Ihre
  • Bedürfnisse zu verschaffen. Überlegen Sie sich im voraus, wieviel Sie
  • bei Ihrem Einkommen in einem jeden Jahr ausgeben dürfen und ausgeben
  • müssen, und rechnen Sie sich alles in runden Summen aus. Teilen Sie Ihr
  • ganzes Geld in sieben nahezu gleiche Haufen. Der erste Haufen sei zur
  • Deckung der Ausgaben für die Wohnungsmiete, die Heizung,
  • Wasserversorgung, Holz sowie alles, was sich auf die vier Wände Ihres
  • Hauses und die Sauberkeit Ihres Hofes bezieht, bestimmt. Der zweite
  • Haufen muß das Geld für die Kost und sämtliche Lebensmittel, den Gehalt
  • des Kochs und den Lebensunterhalt aller, die mit Ihnen in Ihrem Hause
  • leben, enthalten. Der dritte Haufen sei für den Stall, für den Wagen,
  • den Kutscher, die Pferde, Heu, Hafer, kurz für alles, was sich auf
  • diesen Teil des Haushalts bezieht, bestimmt. Aus dem vierten Haufen
  • müssen die Unkosten für die Garderobe, d. h. für alles, was Sie beide
  • brauchen, wenn Sie sich in der Gesellschaft sehen lassen oder wenn Sie
  • zu Hause sitzen, beglichen werden. Der fünfte Haufen enthalte Ihr
  • Taschengeld, der sechste Geld für allerhand außerordentliche Ausgaben,
  • die ja häufig vorzukommen pflegen: wie etwa bei Anschaffung neuer Möbel,
  • einer neuen Equipage, oder für die Unterstützung eines Verwandten, wenn
  • er plötzlich in die Lage kommen sollte, ihrer zu bedürfen. Der siebente
  • Haufen aber sei Gott geweiht, d. h. er diene zur Deckung der Ausgaben
  • für die Kirche und für die Armen. Sorgen Sie dafür, daß Ihnen diese
  • sieben Haufen niemals durcheinander geraten, sondern stets gesondert für
  • sich bestehen bleiben, wie sieben besondere Ministerien. Führen Sie über
  • jeden von ihnen besondere Rechnung. Unter keinem Vorwand aber machen Sie
  • eine Anleihe bei dem einen zugunsten des andern; selbst wenn sich Ihnen
  • während dieser Zeit auch noch so günstige Kaufgelegenheiten bieten
  • sollten, oder wenn ein Gegenstand Sie durch seine Wohlfeilheit noch so
  • sehr zum Kaufe reizen sollte -- dürfen Sie ihn nicht kaufen. Das können
  • Sie sich erst erlauben, wenn Sie sich innerlich genügend gefestigt und
  • gekräftigt haben. Jetzt aber dürfen Sie keinen Augenblick vergessen, daß
  • Sie dies alles nur tun, um sich einen starken Charakter zu erwerben, und
  • daß diese Erwerbung fürs erste weit wichtiger für Sie ist als jede
  • andere. Seien Sie daher in solchen Fällen geradezu eigensinnig, bitten
  • Sie Gott, er möge Sie eigensinnig machen. Selbst dann, wenn die
  • Notwendigkeit an Sie herantritt, einem Armen zu helfen, dürfen Sie doch
  • nicht mehr ausgeben, als der für diesen Zweck bestimmte Haufen enthält.
  • Ja selbst dann, wenn sich Ihnen das Bild eines herzzerreißenden Jammers
  • und Elends darbietet, dessen Zeugin Sie sein müssen, und wenn Sie sehen,
  • daß hier durch Geld etwas auszurichten und zu helfen wäre, dürfen Sie
  • dennoch unter keinen Umständen einen von den andern Haufen angreifen.
  • Fahren Sie lieber in der ganzen Stadt herum, besuchen Sie alle Ihre
  • Bekannten und suchen Sie ihr Mitleid zu erwecken; bitten Sie, flehen Sie
  • sie an, seien Sie sogar zu jeder Selbsterniedrigung bereit, damit Ihnen
  • dies eine Lehre sei, und Sie sich ewig daran erinnern, wie Sie einmal
  • vor die bittere Notwendigkeit gestellt waren, einem Unglücklichen Ihre
  • Hilfe zu versagen; wie Sie sich deswegen allen möglichen Erniedrigungen
  • aussetzen und sogar den öffentlichen Spott auf sich lenken mußten, auf
  • daß Ihnen dies nie aus dem Sinn komme, und Sie hierdurch lernen, alle
  • Ihre Ausgaben von jedem Haufen einzuschränken und im voraus daran zu
  • denken, so daß am Ende des Jahres von jedem noch etwas für die Armen
  • übrig bleibe und das Geld nicht nur gerade knapp zur Deckung der
  • Ausgaben ausreiche. Wenn Sie dieses beständig im Kopfe behalten werden,
  • werden Sie niemals ohne dringende Not in einen Kaufladen fahren und sich
  • plötzlich einen Schmuckgegenstand für Ihren Tisch oder Kamin kaufen,
  • wozu bei uns sowohl unsere Frauen wie unsere Männer so leicht geneigt
  • sind. [Die letzten sogar noch mehr, diese sind nicht einmal Frauen,
  • sondern alte Weiber.] Ihre Wünsche und Launen werden auf diese Weise
  • unwillkürlich und kaum merklich immer mehr und mehr zusammenschrumpfen,
  • und schließlich wird es so weit kommen, daß Sie selbst das Gefühl haben
  • werden, Sie brauchten nicht mehr als _einen_ Wagen und ein Paar Pferde
  • und bei der Mittagstafel nicht mehr als vier Gänge, dann werden Sie
  • erkennen, daß man seine Gäste ebensogut mit einem einfach servierten
  • Diner, mit einem einzigen Extragang und einer Flasche Wein, der ohne
  • alle Finessen in einfachen Gläsern verschenkt wird, zu befriedigen
  • vermag. Sie werden nicht vor Scham vergehen, wenn sich in der Stadt das
  • Gerücht verbreitet, bei Ihnen sei es nicht _comme il faut_, sondern Sie
  • werden selbst darüber lachen, da Sie sich aufs tiefste davon überzeugen
  • werden, das wahre _comme il faut_ sei das, das Der von dem Menschen
  • fordert, Der ihn erschaffen hat, nicht aber irgendein Mensch, der
  • allerhand Satzungen und Systeme für die Diners erfindet, nicht einmal
  • der, der Etiketten austiftelt, die jeden Tag wechseln, ja nicht einmal
  • Madame Sichler in eigener Person. Schaffen Sie sich ein besonderes
  • Kassenbuch für jeden einzelnen Geldhaufen an. Ziehen Sie jeden Monat die
  • Bilanz über die Einnahmen und Ausgaben, die sich auf die einzelnen
  • Haufen beziehen, prüfen Sie am letzten Tage jedes Monats alles nach und
  • vergleichen Sie jedes Ding mit jedem andern, damit Sie erkennen lernen,
  • um wievielmal notwendiger und nützlicher es ist als ein anderes, und
  • damit Sie sich ganz klar darüber werden, auf welchen Gegenstand Sie im
  • Fall der Not zuerst verzichten müssen, und so die Kunst lernen, zu
  • erkennen, was vom Notwendigen das Allernotwendigste ist.
  • Halten Sie sich während eines ganzen Jahres streng an diese Grundsätze.
  • Werden Sie stark, werden Sie eigensinnig und beten Sie während der
  • ganzen Zeit zu Gott, er möge Ihnen einen starken Willen verleihen --
  • dann werden Sie wirklich stark und fest werden. Worauf es ankommt, ist
  • dies: daß in dem Menschen wenigstens _etwas_ stark und unerschütterlich
  • werde. Hierdurch kommt ganz unwillkürlich auch Ordnung in alles andere.
  • Wenn Sie in Angelegenheiten materiellen Charakters stark werden, werden
  • Sie unwillkürlich in den geistigen und seelischen Angelegenheiten
  • sicheren Boden gewinnen. Machen Sie sich eine feste Zeiteinteilung,
  • setzen Sie für jedes Ding eine bestimmte Stunde fest, und gehen Sie
  • nicht von ihr ab; bleiben Sie nicht den ganzen Morgen bei Ihrem Mann,
  • sondern schicken Sie ihn ins Departement und spornen Sie ihn zur
  • Tätigkeit an. Erinnern Sie ihn jeden Augenblick daran, daß er sich ganz
  • der allgemeinen Sache und dem ganzen Staatshaushalt widmen muß -- [sein
  • eigener Haushalt dagegen sei nicht seine Sorge: dieser muß nicht auf
  • seinen, sondern auf Ihren Schultern ruhen], daß er ja gerade darum
  • geheiratet habe, um sich aller kleinen Sorgen zu entschlagen und sich
  • ganz dem Vaterlande zu widmen, und daß ihm die Frau nicht dazu geschenkt
  • ward, um ihm ein Hemmnis zu sein, durch das er in seinem Dienst
  • behindert wird, sondern gerade um ihn für den Dienst zu stärken und zu
  • kräftigen. Ein jedes von Ihnen arbeite den Morgen über für sich, jeder
  • in seinem Kreise, damit Sie sich vor dem Mittagessen in froher Stimmung
  • wieder begegnen und sich so übereinander freuen, als hätten Sie sich
  • viele Jahre lang nicht gesehen, damit Sie sich auch etwas zu erzählen
  • haben und nicht dasitzen und einander angähnen: erzählen Sie ihm alles,
  • was Sie in Ihrem Hause und in Ihrem Haushalt vollbracht haben, und
  • lassen Sie sich alles von ihm erzählen, was er in seinem Departement für
  • den allgemeinen Haushalt geleistet hat. Sie müssen unbedingt darüber
  • unterrichtet sein, worin das Wesen seiner beruflichen Tätigkeit besteht,
  • Sie müssen wissen, was sein Ressort ist, was für Angelegenheiten er an
  • jenem Tag zu erledigen hatte und worin sie bestanden. Achten Sie diese
  • Dinge nicht gering und denken Sie stets daran, daß die Frau ihrem Manne
  • eine Stütze und Helferin sein muß. Wenn Sie sich während eines Jahres
  • alles von ihm erzählen lassen und aufmerksam zuhören, so werden Sie im
  • folgenden Jahre bereits imstande sein, ihm einen Rat zu erteilen, und
  • werden wissen, wie Sie ihn trösten und ermutigen können, wenn ihm im
  • Dienst eine Unannehmlichkeit zustößt, wie Sie ihm behilflich sein
  • können, über sie hinwegzukommen und das zu ertragen, womit er sonst
  • nicht fertig geworden wäre, da ihm der Mut dazu gefehlt hätte. So werden
  • Sie ihm eine wahre Erweckerin zu allem Schönen und Guten werden.
  • Fangen Sie schon heute an und tun Sie, wie ich es Ihnen soeben gesagt
  • habe. Werden Sie stark, beten Sie, flehen Sie unablässig zu Gott, er
  • möge Ihnen helfen, sich innerlich zu sammeln und sich selbst
  • festzuhalten. Heute fängt bei uns alles an, sich zu lockern und aus den
  • Fugen zu gehen. Die Menschen sind heutzutage allzumal solch traurige
  • jämmerliche Waschlappen geworden, sie haben sich selbst zu Stützen alles
  • Gemeinen und zu Sklaven der kleinsten und törichtesten Umstände und
  • Verhältnisse gemacht, und es gibt heute nirgends etwas wie wahre
  • Freiheit im wirklichen Sinne dieses Wortes. Diese Freiheit hat einer
  • meiner Freunde, mit dem Sie nicht persönlich bekannt sind, den aber ganz
  • Rußland kennt, folgendermaßen definiert: »Die Freiheit besteht nicht
  • darin, daß man zu jeder willkürlichen Laune _Ja_ sagt, sondern darin,
  • daß man auch _Nein_ zu ihr zu sagen vermag.« Und er hat recht wie die
  • Wahrheit selbst. Heutzutage ist niemand imstande, sich selbst ein solch
  • starkes _Nein_ zuzurufen. Ich vermag nirgends einen _Mann_ zu entdecken.
  • So muß denn das schwache Weib ihn daran mahnen. Heute ist alles so
  • seltsam und so wundersam geworden, heute muß die Frau dem Manne
  • befehlen, er solle ihr Haupt und ihr Gebieter sein.
  • 1845.
  • XXV
  • Ueber ländliche Rechtspflege und Gerichtsbarkeit
  • Aus einem Briefe an M.
  • Vernachlässigen Sie die Rechtspflege und Gerichtsbarkeit unter keinen
  • Umständen. Beauftragen Sie nie einen Verwalter oder einen andern Mann
  • aus dem Dorfe mit dieser Angelegenheit. Das ist eine Sache, die noch
  • wichtiger ist als die Landwirtschaft. Halten Sie selbst Gericht. Allein
  • hierdurch können Sie das Band zwischen Gutsbesitzer und Bauer kräftigen.
  • Richten -- das ist etwas Göttliches, und ich weiß nicht, was es Höheres
  • gibt. Nicht umsonst wird im Volke _der_ so hoch geehrt, der es versteht,
  • ein gerechtes Urteil zu fällen. Nicht nur alle Bauern Ihres Gutes, sogar
  • die Bauern aus anderen umliegenden Dörfern werden zu Ihnen hinströmen,
  • wenn sie erfahren, daß Sie es verstehen, Recht zu sprechen. Achten Sie
  • keinen von denen, die zu Ihnen kommen, für zu gering und übernehmen Sie
  • das Richteramt in allen Fällen, selbst bei einem unbedeutenden Streit
  • oder bei einer Rauferei. Bei solchen Gelegenheiten können Sie dem Bauern
  • vieles sagen, was seiner Seele zu Nutz und Frommen gereichen kann und
  • was Sie ihm zu einer andern Zeit nicht zu sagen vermöchten, da Sie
  • nichts finden könnten, woran Sie anknüpfen sollen.
  • Sitzen Sie über jeden Menschen in zwiefacher Weise zu Gericht und
  • entscheiden Sie über jede Sache gleichfalls in doppelter Weise. Das
  • Gericht muß erstens ein menschliches Gericht sein. Durch ein solches
  • Gericht muß der Schuldige verurteilt und dem Unschuldigen zu seinem
  • Rechte verholfen werden. Sorgen Sie dafür, daß dies in Gegenwart von
  • Zeugen geschieht, und daß hierbei auch andere Bauern zugegen sind, damit
  • es allen klar werde wie der lichte Tag, in welchem Punkte der eine recht
  • und der andere unrecht hat. Daneben müssen Sie aber noch in anderer
  • Weise nach einem andern Rechte Gericht halten, nämlich nach göttlichem
  • Rechte: hierbei müssen Sie _beide_, den Schuldigen sowohl wie den, der
  • _recht_ hat, verurteilen. Beweisen Sie dem zweiten aufs deutlichste, daß
  • er selbst daran Schuld war, daß der andere ihn beleidigt hat, und zeigen
  • Sie dem ersten, daß er eine doppelte Schuld auf sich geladen hat: vor
  • Gott und vor den Menschen. Sprechen Sie dem einen Ihren Tadel aus, weil
  • er seinem Bruder nicht verzeihen wollte, wie Christus es uns geboten
  • hat. Dem andern aber sprechen Sie Ihre Mißbilligung aus, weil er
  • Christus selbst in seinem Bruder gekränkt hat. Beiden aber erteilen Sie
  • eine Rüge, weil sie sich nicht von selbst miteinander ausgesöhnt,
  • sondern das Gericht angerufen haben, und nehmen Sie beiden das
  • Versprechen ab, daß sie dem Priester in der Beichte alles beichten und
  • bekennen werden. [Wenn Sie in solcher Weise Recht sprechen werden,
  • werden Sie aus höchster Vollmacht richten, wie Gott selbst, denn Gott
  • wird Sie dazu bevollmächtigen.] Sie werden hieraus vielen Nutzen ziehen,
  • vieles, das Ihnen zugute kommen wird, und viel unmittelbares und
  • wahrhaftes Wissen daraus schöpfen. [Wenn viele Staatsleute nicht gleich
  • mit dem Aktenschreiben, sondern damit beginnen würden, über die
  • einfachen Leute Recht zu sprechen, so würden sie den Geist des Landes,
  • die Eigenart ihres Volkes und die menschliche Seele im allgemeinen weit
  • besser kennen lernen und nicht Neuerungen bei uns einführen, die sie
  • fremden Ländern entlehnen und die nicht zu uns passen.] Die Rechtspflege
  • könnte bei uns weit besser sein als in allen anderen Staaten, denn von
  • allen Völkern ist es allein das russische, in dem der so wahre Gedanke
  • entsprungen und lebendig ist, daß es keinen gerechten Menschen gibt und
  • daß Gott allein gerecht ist. Dieser Gedanke hat sich wie ein
  • unerschütterlicher Glaube durch unser ganzes Volk verbreitet. Von ihm
  • erfüllt, mit ihm ausgerüstet, gewinnt selbst ein einfacher und nicht
  • übermäßig gescheiter Mensch Autorität im Volke, und wird hierdurch
  • befähigt, Streitigkeiten zu schlichten. Nur wir Menschen der höheren
  • Kreise haben kein Gefühl, kein Verständnis für diesen Gedanken, weil wir
  • uns nach dem Vorbild Europas allerhand törichte ritterliche Begriffe von
  • der Gerechtigkeit zurechtgelegt haben. Wir streiten bloß darüber, wer
  • recht hat und wer schuldig ist. Wenn wir jedoch alle unsere
  • Streitigkeiten genau untersuchen, so können wir sie alle auf einen
  • Nenner bringen, nämlich auf den, daß alle beide Teile schuldig sind. Und
  • dann erkennt man, daß die Kommandantin in Puschkins Erzählung »Die
  • Hauptmannstochter« ganz recht hatte, als sie den Leutnant aussandte, um
  • den Streit des Polizeisoldaten mit dem Weibe zu schlichten, die im Bade
  • wegen einer Schöpfkelle aneinander geraten waren, und die ihm dabei
  • folgende Instruktion mitgab: »Untersuche, wer recht und wer unrecht hat,
  • und bestrafe alle beide.«
  • 1845.
  • XXVI
  • Rußlands Schrecken und Grauen
  • An die Gräfin ***
  • Auf Ihren langen Brief, den Sie mit solch innerem Grauen geschrieben
  • haben, antworte ich, obwohl Sie mich bitten, ihn, nachdem ich ihn
  • gelesen habe, sofort zu vernichten, und obwohl Sie mich darum ersuchen,
  • Ihnen die Antwort nicht anders als durch die Hand einer zuverlässigen
  • Persönlichkeit und nicht durch die Post zuzustellen, nicht nur
  • keineswegs in aller Heimlichkeit, sondern, wie Sie sehen, in einem
  • gedruckten Buche, das vielleicht von der Hälfte aller Menschen in
  • Rußland, die da lesen können, gelesen werden wird. Was mich dazu
  • veranlaßte, war der Umstand, daß mein Brief vielleicht auch manchen
  • andern als Antwort dienen wird, die sich ebenso wie Sie durch die
  • gleichen Befürchtungen und Schrecken beunruhigen lassen. Das, was Sie
  • mir im geheimen mitteilen, ist nur ein Teil der ganzen Angelegenheit.
  • Wenn ich Ihnen alles erzählen wollte, was ich weiß (und ich weiß ohne
  • Zweifel noch bei weitem nicht alles), dann würde sich Ihr Geist
  • verfinstern, es würde Ihnen dunkel vor den Augen werden, und Sie würden
  • nur noch daran denken, wie Sie aus Rußland entfliehen könnten. Wohin
  • aber soll man fliehen? Das ist die Frage. Die Lage Europas ist noch
  • schwieriger als die Rußlands. Der Unterschied ist bloß der, daß es dort
  • noch niemand einsieht. Alle, und davon sind selbst die Staatsleute nicht
  • auszunehmen, bewegen sich noch immer an der Oberfläche eines
  • oberflächlichen Wissens, d. h. sie kommen nicht aus jenem in einem
  • fehlerhaften Zirkel verlaufenden Wissen heraus, wie es von den
  • Zeitschriften in Form frühreifer Folgerungen und übereilter
  • Feststellungen angeschwemmt worden ist, die, durch das trügerische
  • Prisma aller möglicher Parteien entstellt, gar nicht in ihrem wahren und
  • wirklichen Lichte erscheinen. Warten Sie nur, bald werden gerade in
  • jenen so wohlgeordneten Staaten, deren äußerer Schein und Glanz uns in
  • solche Begeisterung versetzt, die wir uns in allem nachzuahmen bemühen
  • und deren Einrichtungen wir uns anzupassen suchen, von unten herauf,
  • solche furchtbare Schreie ertönen, daß selbst jenen berühmten
  • Staatsleuten, deren Auftreten in den Gerichten und Parlamenten Sie so
  • entzückt hat, der Kopf schwindeln wird. In Europa bereiten sich jetzt
  • überall solche Wirren vor, gegen die kein menschliches Mittel etwas wird
  • ausrichten können, wenn sie erst ausgebrochen sein werden, und gegen die
  • alle Schrecken nichts sind, die wir in Rußland vor unseren Augen sehen.
  • In Rußland schimmert doch noch hie und da etwas wie ein Lichtstrahl
  • hindurch. Es gibt doch noch Mittel und Wege zur Rettung, und diese
  • Schrecken sind, Gott sei Dank, gerade heute und nicht zu einer späteren
  • Zeit zum Vorschein gekommen. Ihre Worte: »Alle lassen den Mut sinken wie
  • in Erwartung eines unvermeidlichen Schicksals« treffen in der Tat das
  • Richtige, ebenso wie Ihre andre Bemerkung. Jeder denkt nur daran, seine
  • eigene Habe in Sicherheit zu bringen, er denkt nur an seinen eigenen
  • Vorteil, wie auf dem Schlachtfeld nach einer verlorenen Schlacht ein
  • jeder nur daran denkt, wie er sein eigenes Leben retten könne: »_sauve
  • qui peut_«. So liegen die Dinge heute wirklich, und so muß es auch sein.
  • Gott hat gewollt, daß es so sei. Jeder soll jetzt an sich selbst und
  • zwar gerade an seine eigene Rettung denken. Aber nun handelt es sich um
  • eine andere Art der Rettung. Wir sollen heute nicht etwa ein Schiff
  • besteigen, aus unserem Lande fliehen und all unsern verächtlichen
  • irdischen Besitz in Sicherheit zu bringen suchen, sondern ein jeder von
  • uns soll seine Seele retten, ohne sein Land zu verlassen. Er soll sich
  • selbst zu retten suchen, während er mitten im Herzen des eigenen Staates
  • weilt. Auf dem Schiff seines Berufs und seiner Tätigkeit soll heute ein
  • jeder von uns dem Strudel entfliehen, indem er beständig auf den
  • himmlischen Steuermann hinblickt. Selbst der, der nicht im Staatsdienst
  • steht, soll jetzt in den Dienst des Staates treten und sich an sein Amt
  • klammern, wie ein Ertrinkender nach einer Planke greift, denn ohne dies
  • kann keiner gerettet werden. Heutzutage muß ein jeder von uns den Dienst
  • auf sich nehmen, aber nicht in der Weise, wie in dem Rußland von ehedem,
  • sondern gleichsam, wie wenn er Bürger eines andern himmlischen Reiches
  • wäre, dessen Haupt Christus selbst ist, und daher müssen wir alle unsere
  • Pflichten gegen die Obrigkeit, die über uns gesetzt ist, gegen die
  • Menschen, die uns gleichgestellt sind und die sich um uns herum bewegen,
  • sowie gegen die Menschen niederen Standes, die unter uns stehen, so
  • erfüllen, wie uns kein anderer als Christus selbst dies geboten hat.
  • Daher ist es jetzt auch nicht mehr am Platze, dem eine große Bedeutung
  • beizumessen, wenn irgend jemand unserem Ehrgefühl oder unserer
  • Eigenliebe einen kleinen Stich versetzt -- wir müssen immer im Auge
  • behalten, daß wir unser Amt um Christi willen auf uns genommen haben und
  • daß wir es darum so verwalten müssen, wie kein anderer als Christus es
  • uns geboten hat. Nur auf diese Weise kann ein jeder von uns seine Seele
  • retten, und wehe dem, der nicht jetzt schon seine Gedanken darauf
  • richtet. Sein Geist wird sich verdunkeln, seine Gedanken werden sich
  • verfinstern, und er wird keinen Fleck auf der Erde finden, wohin er vor
  • seinen eigenen Schrecken und Grauen entfliehen kann. Denken Sie an die
  • _ägyptische Finsternis_, die uns König Salomon so gewaltig geschildert
  • hat, als der Herr, um einen Teil der Menschen zu strafen, unerhörte und
  • unbegreifliche Schrecken und Finsternisse auf sie herabsandte.
  • Stockfinstere Nacht umfing sie plötzlich inmitten des hellen Tages; von
  • allen Seiten starrten ihnen furchtbare Fratzen entgegen, morsche
  • klapprige Schreckgespenster mit traurigen Gesichtern schwebten ihnen
  • unaufhörlich vor Augen, ohne stählerne Ketten fesselte sie alle eine
  • furchtbare Angst und raubte ihnen alles: Alle Gefühle, alle Regungen,
  • alle Kräfte schwanden ihnen dahin außer der einen einzigen Furcht, und
  • dies alles geschah nur mit denen, die Gott strafen wollte. Die andern
  • sahen während derselben Zeit keinerlei Schreckbilder, sondern wandelten
  • im Licht und im Tage.
  • Sehen Sie zu, daß mit Ihnen nichts Ähnliches geschehe. Beten Sie lieber
  • und bitten Sie Gott, daß er Sie erleuchten möge, wie Sie sich in Ihrer
  • Stellung zu verhalten haben und wie sie in ihr alles so erfüllen können,
  • wie Christus es uns geboten hat. Jetzt ist kein Platz mehr für Scherze.
  • Jetzt wird die Sache ernst. Statt sich durch die Unordnung um uns herum
  • erschrecken zu lassen, sollten wir lieber zuvor Einkehr in uns selbst
  • halten. So blicken denn auch Sie in Ihre Seele hinein, weiß Gott,
  • vielleicht werden Sie in ihr dieselbe Unordnung entdecken, um deren
  • willen Sie die andern schelten. Vielleicht nistet darin ein häßlicher,
  • zuchtloser Zorn, der sich jeden Augenblick zur Freude des Feindes
  • Christi Ihrer Seele bemächtigen kann. Vielleicht ist sie von jener
  • schwächlichen Neigung beherrscht, sich bei jeder Gelegenheit dem
  • Kleinmut und der Mutlosigkeit dieser traurigen Tochter des Unglaubens zu
  • ergeben. Vielleicht lebt in ihr der eitle Wunsch, allem nachzujagen, was
  • glänzt und was Ruhm und Ansehen in der Welt genießt. Vielleicht birgt
  • sie Hochmut und Stolz auf die besten Eigenschaften Ihrer Seele, ein
  • Stolz, der alles Gute, alle Güter, die wir besitzen, zu vernichten
  • vermag. Es ist unvergleichlich viel besser, darüber zu erschrecken, was
  • in uns selbst, als darüber, was außer uns und um uns herum vorgeht. Was
  • aber die Schrecken und Grauen Rußlands anbelangt, so sind auch sie nicht
  • ohne Nutzen. Sie waren für viele ein Erziehungsmittel, wie sie keine
  • Schule uns darzubieten vermag. Selbst die Schwierigkeit der
  • Verhältnisse, die dem Verstande neue Schleichwege eröffnet hat, hat bei
  • vielen schlummernde Fähigkeiten geweckt, und zur selben Zeit, wo an dem
  • einen Ende Rußlands noch weiter Polka getanzt und weiter Preference
  • gespielt wird, erstehen, ohne das man es merkt, in den verschiedensten
  • Wirkungskreisen Männer von echter Lebensweisheit und wahre Helden des
  • Lebens. Lassen Sie noch einige zehn Jahre vergehen, und Sie werden
  • sehen, wie Europa zu uns kommen wird, nicht mehr um Hanf und Talg,
  • sondern um Weisheit bei uns einzukaufen, die heute auf den europäischen
  • Märkten nicht mehr feilgeboten wird. Ich könnte Ihnen viele Leute
  • nennen, die einstmals die Zierde Rußlands sein und ihm zu
  • unvergänglichem Heil gereichen werden. Aber zur Ehre Ihres Geschlechts
  • sei es gesagt, daß die Zahl solcher _Frauen_ größer ist als die der
  • Männer. Eine ganze Perlenschnur solcher Frauen halte ich in dem Fach
  • meines Gedächtnisses verschlossen. Sie alle, um mit Ihren Töchtern zu
  • beginnen, die es mir so lebendig zum Bewußtsein gebracht haben, wieviel
  • mächtiger die Seelenverwandtschaft ist als jede Blutsverwandtschaft
  • (Gott gebe, daß die beste Schwester die Bitte Ihres Bruders mit solcher
  • Bereitwilligkeit erfüllen möge, wie Sie jeden kleinsten Wunsch meiner
  • Seele erfüllt haben) -- Sie, Ihre Töchter, ferner alle die, von denen
  • Sie kaum etwas gehört haben, und endlich die, von denen Sie vielleicht
  • nie etwas hören werden, die aber noch weit vollkommener sind als die,
  • von denen Sie etwas gehört haben -- Sie alle gleichen einander kaum, und
  • jede von ihnen ist für sich genommen eine außergewöhnliche Erscheinung.
  • Nur Rußland allein konnte eine solche Mannigfaltigkeit von Charakteren
  • hervorbringen, und nur in unserer heutigen Zeit mit all ihren
  • schwierigen Verhältnissen, ihrer Entnervung, ihrer allgemeinen
  • Korruption und bei der allgemeinen Nichtigkeit und Armseligkeit unserer
  • Gesellschaft konnten sie erstehen. Sie alle aber werden überragt von
  • einer, die ich nicht persönlich kenne und nicht gesehen habe, und von
  • der nur ein dunkles Gerücht bis zu mir gedrungen ist. Ich habe nie
  • geglaubt, daß es auf der Erde etwas derart Vollkommenes geben kann. Eine
  • so kluge und großmütige Tat zu vollbringen und sie so zu vollbringen,
  • wie sie dies verstanden hat: es so einzurichten, daß nicht einmal der
  • Verdacht, sie könne an dieser Sache beteiligt sein, auf sie falle, und
  • das ganze Verdienst auf die andern abzuwälzen, so daß diese sich des von
  • jener vollbrachten Werks rühmen, als ob es ihr eigenes wäre, in der
  • festen Überzeugung, daß sie selbst es vollbracht haben, -- es sich so
  • klug im voraus zu überlegen, wie man dem entgehen könne, daß der Name
  • der Urheberin bekannt wird, während die Sache selbst notwendig laut von
  • sich künden und sie bekanntmachen mußte, und dies alles dennoch zu
  • vollbringen und unbekannt zu bleiben, nein, eine ähnliche hohe Weisheit
  • habe ich noch nie kennen gelernt, bei keinem von unsereinem, d. h. bei
  • keinem Mann, ja mir erschienen in diesem Augenblick alle idealen
  • Frauengestalten, die je von einem Dichter geschaffen wurden, als blaß
  • und matt; im Vergleich zu dieser Wirklichkeit erscheinen sie wie der
  • Fiebertraum der Phantasie gegenüber der vollen Klarheit des Verstandes.
  • Wie armselig erschienen mir in diesem Augenblick auch alle die Frauen,
  • die dem Glanz und Ruhm nachjagen. Und wo konnte ein solches Wunder
  • erstehen? In einem unscheinbaren Flecken, in einem Winkel Rußlands und
  • gerade zu einer Zeit, wo es für den Menschen besonders schwierig
  • geworden ist, sich durchzuwinden und durchzusetzen, wo sich alle unsere
  • Verhältnisse so verwirrt und so verwickelt haben und wo solche Schrecken
  • und Grauen in Rußland erstanden sind, die sie so sehr in Angst und
  • Unruhe versetzen.
  • 1846.
  • XXVII
  • An einen kurzsichtigen Freund
  • Du hast dich mit dem kurzsichtigen Auge der heutigen Menschen bewaffnet
  • und glaubst nun, ein richtiges Urteil über die Ereignisse zu haben.
  • Deine Schlüsse sind morsch und hinfällig, deine Rechnung ist ohne Gott
  • gemacht. Was berufst du dich auf die Geschichte? Die Geschichte ist tot,
  • sie ist nur ein verschlossenes Buch für dich; ohne Gott in Rechnung zu
  • stellen, wirst du nie einen großen tiefen Sinn in ihr finden, sondern
  • nur armselige kleine und nichtige Ergebnisse. [Rußland ist nicht
  • Frankreich, das französische Element ist nicht das russische Element.]
  • Du hast es sogar vergessen, die Eigenart eines jeden Volkes in Betracht
  • zu ziehen, und glaubst nun, daß ein und dieselben Ereignisse die gleiche
  • Wirkung auf jedes Volk ausüben müssen. Der Hammer, der auf ein Stück
  • Glas herabfällt und es in Stücke schlägt, schmiedet das Eisen, auf das
  • er herniedersaust. Deine Gedanken [über die Finanzen] beruhen auf der
  • Lektüre ausländischer Bücher und englischer Zeitschriften und sind darum
  • tote Gedanken. Du solltest dich schämen, daß du, ein so kluger Mensch,
  • dich noch immer nicht selbst gefunden hast und es noch nicht gelernt
  • hast, mit deinem eigenen Verstande, der sich doch so frei und urwüchsig
  • entfalten könnte, zu denken, sondern daß du ihn mit allerhand
  • fremdländischem Plunder verstopft und verunreinigt hast. Ich sehe auch
  • nicht, daß du bei deinen Projekten mit Gott rechnest. Auch aus den
  • Worten deines Briefes kann ich trotz des Geistes und des blendenden
  • Witzes nicht erkennen, daß du an Gott gedacht hast, während du den Brief
  • schriebst. Ich vermisse die himmlische Erleuchtung und Weihe in deinen
  • Gedanken. Nein, du wirst [in deiner Stellung] nichts Gutes vollbringen,
  • obwohl du dies gerne möchtest, und deine Taten werden nicht die Früchte
  • tragen, die du von ihnen erwartest. Mit den schönsten Absichten kann man
  • Böses vollbringen, wie dies schon vielen passiert ist. In der letzten
  • Zeit haben nicht etwa die Dummen, sondern gerade die klugen Leute viel
  • Verwirrung angerichtet, und dies alles kam nur daher, weil sie ihren
  • Kräften und ihrem Verstande zu sehr vertrauten. Du bist stolz, aber
  • worauf bist du stolz? Wenn du noch stolz auf deinen Verstand wärest,
  • aber nein, du hast deinen wahrhaft bedeutenden und großen Verstand mit
  • allerhand Plunder verunreinigt und ihn zu einem Fremdling gemacht, der
  • dir selbst fremd ist. Du bist stolz auf einen fremden, toten Verstand
  • und gibst ihn für deinen eigenen aus. Gib acht auf dich; du gehst einen
  • gefährlichen Weg. Du hast den Ehrgeiz, ein Staatsmann zu werden, und du
  • wirst auch Staatsmann werden, weil du tatsächlich die Fähigkeiten dazu
  • besitzt. Aber um so strenger mußt du jetzt über dich wachen. Führe die
  • Neuerungen nicht ein, von denen dein Kopf schon ganz voll war [noch ehe
  • du deine Stellung angetreten hattest], und denke stets daran, daß man
  • heute durch eine unvorsichtige Handlung unendlich viel Böses anrichten
  • kann. Schon aus deinen gegenwärtigen Projekten spricht mehr
  • Ängstlichkeit als Vorsicht. Alle deine Gedanken sind darauf gerichtet,
  • in der Zukunft einer großen drohenden Gefahr zu entgehen. Statt dessen
  • solltest du lieber nicht um die Zukunft, sondern um die Gegenwart
  • besorgt sein. Gott will es, daß wir für die Gegenwart sorgen sollen. Von
  • dem, dessen Seele durch die Angst um die Zukunft verdunkelt wird, hat
  • die heilige Kraft bereits ihre Hand abgezogen. Wer mit Gott im Bunde
  • ist, der schaut heiter in die Zukunft und ist schon in der Gegenwart der
  • Schöpfer einer glänzenden Zukunft. Du aber bist stolz: du willst auch
  • jetzt noch nichts sehen, du hast ein zu großes Selbstvertrauen: du
  • glaubst schon alles zu wissen, du meinst, daß alle Zustände und
  • Verhältnisse [in Rußland] dir bekannt sind. Du glaubst, daß es niemand
  • gibt, von dem du etwas lernen könntest. Du bist aus allen Kräften darum
  • bemüht, jenen (Staats)-Leuten ähnlich zu sein, die sich durch eine kurze
  • glänzende Laufbahn berühmt gemacht haben und ebenso schnell wieder
  • verschwanden, die alle Mittel dazu besaßen, um sehr viel Gutes zu
  • vollbringen, ja die sogar von dem glühenden Wunsche durchdrungen waren,
  • Gutes zu wirken, und sogar ihr ganzes Leben lang wie die Ameisen
  • arbeiteten und doch trotz alledem keine Spur von sich hinterlassen
  • haben, ja deren Namen bereits völlig vergessen ist: wie ein Ring auf dem
  • Wasser, so ist die Spur von ihrem Leben inmitten Rußlands verschwunden,
  • und noch immer weisen uns die Europäer zu unserer Beschämung auf ihre
  • großen Männer hin, obwohl manch einer von uns, der keineswegs ein großer
  • Mann ist, klüger ist als sie. Sie aber haben doch wenigstens etwas
  • _Dauerndes_ hinterlassen, wir aber schichten einen ganzen Haufen von
  • Taten übereinander auf -- die doch zugleich mit uns wie Staub vom
  • Angesicht der Erde hinweggeweht werden. »Du bist stolz,« sage ich dir,
  • und muß es dir immer wieder sagen: »du bist stolz.« Wache über dich und
  • rette dich noch rechtzeitig vor deinem Stolz. Beginne damit, daß du dich
  • zu allererst davon zu überzeugen suchst, daß du der dümmste von allen
  • bist und daß du von nun ab erst ernsthaft daran gehen mußt, klüger zu
  • werden. Höre jeden Mann der Tat so aufmerksam an, wie wenn du überhaupt
  • nichts wüßtest und alles von ihm lernen wolltest. Aber meine Worte sind
  • noch ein Rätsel für dich. Sie werden keinen Eindruck auf dich machen.
  • Dann wäre es nötig, daß dich irgendein Unglück trifft oder daß du von
  • einer schweren Erschütterung heimgesucht wirst. Bete zu Gott, er möge
  • dir diese Erschütterung senden, daß dir irgendeine unerträgliche
  • Unannehmlichkeit [im Dienste] zustoßen möge, daß sich ein Mensch finden
  • möge, der dich aufs tiefste beleidigt und in Gegenwart aller beschimpft,
  • so daß du nicht weißt, wo du dich vor Scham verstecken sollst und mit
  • einem Schlage die zartesten und empfindlichsten Saiten deiner Eitelkeit
  • entzweireißest. Er wird dir ein wahrhafter Bruder und Retter sein. O wie
  • sehr haben wir es nötig, einmal öffentlich und in Gegenwart aller eine
  • Ohrfeige zu empfangen.
  • 1844.
  • XXVIII
  • An einen hochgestellten Mann
  • Nehmen Sie um Gottes willen jede Stellung an, die man Ihnen anbietet,
  • und lassen Sie sich nicht irre machen. Ob Sie nun in den Kaukasus zu den
  • Tscherkessen fahren, oder, auch weiterhin die Stellung eines
  • Generalgouverneurs bekleiden werden, Sie sind jetzt überall notwendig.
  • Was aber die Schwierigkeiten anbetrifft, von denen Sie reden, so ist
  • jetzt alles schwierig. Heute ist alles so kompliziert geworden, es gibt
  • überall so viel Arbeit. Je tiefer ich mit meinem Verstande in das Wesen
  • der gegenwärtigen Verhältnisse eindringe, um so weniger vermag ich zu
  • entscheiden, welches Amt, welcher Beruf heute der schwierigste und
  • welcher der leichteste ist. Für einen Menschen, der kein Christ ist, ist
  • heutzutage alles schwierig; für einen solchen dagegen, der Christus in
  • all seine Angelegenheiten und in alle Taten seines Lebens hineinträgt,
  • ist alles leicht. Ich will nicht sagen, daß Sie schon im vollen Sinne
  • des Wortes ein Christ sind, aber Sie sind doch nahe daran, es zu sein.
  • Sie werden nicht mehr von Ehrgeiz gestachelt. Weder die Aussicht auf
  • Titel, Ehren und Auszeichnungen treibt Sie vorwärts. Sie denken nicht
  • mehr daran, sich vor Europa auszuzeichnen und in Szene zu setzen und
  • eine historische Persönlichkeit aus sich zu machen. Kurz, Sie haben
  • bereits jene Stufe, jenen Seelenzustand erreicht, in dem sich ein Mensch
  • befinden muß, der heute Rußland von Nutzen sein will. Was also brauchen
  • Sie zu fürchten? Ich verstehe nicht einmal, wie ein Mensch sich vor
  • etwas fürchten kann, der bereits erkannt hat, daß man überall als Christ
  • handeln muß. Ein solcher Mann ist an jeder Stelle ein Weiser und ist in
  • allen Dingen sachkundig. Wenn Sie in den Kaukasus reisen -- so sehen Sie
  • sich dort zunächst einmal gründlich und aufmerksam um. Ihre christliche
  • Demut und Bescheidenheit wird Sie vor jeder Hastigkeit und Übereilung
  • bewahren. Sie werden vor allem lernen wie ein Schüler. Sie werden keinen
  • alten Offizier an sich vorüber gehen lassen, ohne ihn über seine
  • persönlichen Zusammenstöße mit dem Feinde ausgefragt zu haben, denn Sie
  • wissen, daß nur aus der Kenntnis der Einzelheiten die Kenntnis des
  • Ganzen gewonnen werden kann. Sie werden sich von jedem von ihnen ihre
  • Taten und Erlebnisse während des Kriegs- und Biwaklebens erzählen
  • lassen, Sie werden die Tsitsianower und die Jermolower ausfragen ebenso
  • wie die Offiziere der heutigen Epoche, und wenn Sie alle Daten, die Sie
  • brauchen, gesammelt, wenn Sie alle Details kennen gelernt haben werden,
  • werden Sie die einzelnen Ziffern und Posten zusammenfassen und die Summe
  • daraus ziehen. Aus dieser wird sich ganz von selbst ein Feldzugsplan für
  • den Feldherrn ergeben. Sie werden sich nicht erst den Kopf zu zerbrechen
  • brauchen, es wird Ihnen klar sein, wie der lichte Tag, wie Sie zu
  • handeln haben. Und wenn Sie den ganzen Plan in Ihrem Kopfe haben werden,
  • so werden Sie sich auch dann noch nicht übereilen. Ihre christliche
  • Demut wird Ihnen dies nicht erlauben. Sie werden ihn niemand mitteilen,
  • werden alle bedeutenden Offiziere um Rat fragen, wie sie an Ihrer Stelle
  • handeln würden, werden keine Meinung und keinen Rat gering achten, von
  • wem er auch kommen möge, selbst wenn er von einem Menschen in niedriger
  • Stellung herrührt, denn Sie wissen, daß Gott zuweilen auch einem
  • einfachen Manne einen klugen Gedanken eingeben kann. Zu diesem Zwecke
  • werden Sie jedoch keinen Kriegsrat einberufen, da Sie wissen, daß es ja
  • nicht auf Debatten und Streitereien ankommt, sondern Sie werden der
  • Meinung jedes einzelnen, der mit Ihnen reden will, Gehör schenken. Kurz,
  • Sie werden jeden anhören, dann aber so handeln, wie es Ihnen Ihr eigener
  • Verstand gebietet. Ihre eigene Vernunft aber wird Ihnen sicherlich klug
  • raten, denn Sie werden alle anhören. Sie werden nicht einmal imstande
  • sein, unvernünftig zu handeln, denn unvernünftige Handlungen entspringen
  • nur aus Hochmut und übermäßigem Selbstvertrauen, aber die christliche
  • Demut wird Sie überall retten und Sie vor Verblendung bewahren, der
  • sogar viele sehr kluge Menschen zum Opfer fallen, die, wenn sie nur eine
  • Hälfte einer Sache kennen gelernt haben, bereits glauben, die ganze
  • Sache zu kennen und voller Hast und Übereilung zur Tat drängen, während
  • doch selbst von einer Sache, die wir scheinbar von Grund aus zu kennen
  • glauben, uns die gute Hälfte unbekannt und verborgen sein kann. Nein,
  • Gott wird Sie vor dieser groben Verblendung bewahren. Weswegen also
  • brauchen Sie sich vor dem Kaukasus zu fürchten?
  • Oder nehmen wir an, Sie würden auch weiterhin irgendwo in Rußland
  • Generalgouverneur bleiben, so wird Sie auch hier die gleiche christliche
  • Weisheit erleuchten. Ich weiß sehr wohl, daß es jetzt äußerst schwierig
  • ist, in Rußland den Vorgesetzten zu spielen, -- weit schwieriger als
  • jemals und vielleicht auch schwieriger als im Kaukasus: es kommen soviel
  • Mißbräuche vor, die Durchstechereien und die Bestechlichkeit haben so
  • überhand genommen, daß ihre Beseitigung unsere menschliche Kraft
  • übersteigt. Ich weiß auch, daß heutzutage eine besondere Art
  • ungesetzlicher Geschäftspraxis unter Umgehung der Gesetze üblich
  • geworden ist und sich bereits beinahe gesetzliche Geltung verschafft
  • hat, so daß die Gesetze nur noch zum Scheine da sind, und wenn man sich
  • die Dinge, über die andere oberflächlich hinwegsehen, ohne etwas Böses
  • zu ahnen, bloß aufmerksam anschaut, so muß auch dem gescheitesten
  • Menschen der Kopf schwindeln. Aber Sie werden auch hier klug zu handeln
  • verstehen. Die christliche Demut und Bescheidenheit wird Sie auch in
  • solchen Fällen lehren, nicht den Schlüssen des stolzen Verstandes Folge
  • zu leisten, sondern sich geduldig umzusehen und auf Ihrer Hut zu sein.
  • Sie wissen, wie vielen fremden Einflüssen ein jeder Mensch heutzutage
  • ausgesetzt ist und wie sie alle auf seine Berufstätigkeit zurückwirken,
  • und daher werden Sie sich dafür interessieren, die Männer, die die
  • wichtigsten Ämter bekleiden, alle kennen zu lernen und zwar sie nach
  • allen Richtungen kennen zu lernen: in ihrem häuslichen und in ihrem
  • Familienleben, in ihrer Art, zu denken, in ihren Neigungen und ihren
  • Gewohnheiten. Zu diesem Zwecke werden Sie sich jedoch keiner Spitzel
  • bedienen. Nein, Sie werden sie selbst ausfragen, und sie werden Ihnen
  • alles sagen, und sich Ihnen offen mitteilen, denn in Ihrem Wesen liegt
  • etwas, was allen Vertrauen einflößt. Hierdurch werden Sie alles
  • erfahren, was ein Schreier oder ein sogenannter Polterer niemals
  • erfahren würde. Sie werden nie einen einzelnen wegen einer
  • ungesetzlichen Handlung verfolgen, ehe Ihnen nicht die ganze Kette vor
  • Augen liegt, innerhalb deren der von Ihnen ins Auge gefaßte Beamte nur
  • ein notwendiges Glied ist. Sie wissen bereits, daß sich die Schuld
  • heutzutage auf alle verteilt, daß man unmöglich gleich zu Anfang sagen
  • kann, wer mehr Schuld trägt als die andern: es gibt Schuldige, die
  • unschuldig und es gibt Schuldige, die schuldig sind. Aus diesem Grunde
  • werden Sie jetzt weit vorsichtiger und bedächtiger sein, als Sie es
  • jemals gewesen sind. Sie werden tiefer und genauer in die Seele des
  • Menschen hineinzublicken suchen, da Sie wissen, daß _sie_ der Schlüssel
  • zu allem ist. _Die Seele_ muß man heute kennen lernen, immer wieder die
  • Seele, denn ohne dies kann man nichts ausrichten. Die Seele aber kann
  • nur ein Mensch kennen lernen, der bereits begonnen hat, an seiner
  • eigenen Seele zu arbeiten, wie Sie dies jetzt tun. Wenn Sie in dem
  • Gauner nicht nur den Gauner, sondern zugleich den Menschen sehen, wenn
  • sie alle seine geistigen Kräfte und Fähigkeiten, die ihm dazu gegeben
  • wurden, um Gutes zu vollbringen und die er angewandt hat, um Übles zu
  • tun, oder überhaupt hat brachliegen lassen, erkennen werden, dann wird
  • es Ihnen gelingen, ihm so ins Gewissen zu reden und ihn gegen sich
  • selbst auszuspielen, daß er nicht wissen wird, wo er sich vor sich
  • selbst verbergen soll. Die Sache wird plötzlich eine ganz andere Wendung
  • nehmen, wenn man dem Menschen zeigen wird, worin er sich nicht gegen die
  • andern, sondern gegen sich selbst vergangen hat. Hierdurch kann man ihn
  • so sehr in seinem ganzen Wesen erschüttern, daß er plötzlich Mut und
  • Lust bekommen wird, ein anderer zu werden, und dann erst werden Sie
  • erkennen, wie dankbar die Natur eines Russen selbst noch im Gauner sein
  • kann. Ihre gegenwärtige Tätigkeit als Generalgouverneur wird etwas
  • gänzlich anderes darstellen als Ihre ehemalige Tätigkeit. Der
  • Hauptfehler in Ihrer ehemaligen Regierungstätigkeit (die indessen sehr
  • viel Nutzen gebracht hat, obwohl Sie sie jetzt verurteilen und lästern),
  • bestand meiner Ansicht nach gerade darin, daß Sie das Wesen Ihres Berufs
  • nicht ganz richtig bestimmt hatten. Sie hielten den Generalgouverneur
  • für den dauernden Vorgesetzten und den eigentlichen wirtschaftlichen
  • Verwalter und Regenten der Provinz, dessen wohltätiger Einfluß nur bei
  • einem längeren Aufenthalt an ein und demselben Orte der Provinz spürbar
  • werden kann. Einer unser Staatsmänner hat dieses Amt folgendermaßen
  • definiert: »Der Generalgouverneur ist der Minister des Innern, der sich
  • auf der Durchreise befindet.« Diese Definition ist genauer und
  • entspricht mehr dem, was die Regierung selbst von den Vertretern dieses
  • Amtes verlangt. Dieses Amt ist mehr ein provisorisches als ein
  • dauerndes. Der Generalgouverneur wird darum in die Provinz entsandt, um
  • den Pulsschlag des Staats innerhalb der Provinz zu beschleunigen, in den
  • Gouvernements den ganzen Regierungsapparat in schnellste Bewegung zu
  • setzen, und zwar sowohl in den Instanzen der Provinz, die miteinander in
  • Verbindung stehen, wie in denen, die unabhängig sind und unter der
  • Verwaltung der einzelnen Ministerien stehen; allen einen Anstoß zu
  • geben, durch seine unumschränkte Macht die schwierige Situation vieler
  • Instanzen in ihrem Verkehr mit den weit entfernten Ministerien zu
  • erleichtern, und ohne neue Prinzipien und ohne von sich selbst aus etwas
  • Eigenes einzuführen, alles innerhalb der gesetzlichen Grenzen, die
  • bereits vorgeschrieben und ein für allemal gezogen sind, in eine
  • schnellere Bewegung zu bringen. Diese Gewalt, die in der höchsten
  • Kontrolle und Überwachung alles dessen besteht, was schon vorhanden und
  • bereits eingeführt ist, haben Sie mit der mühevollen Pflicht des
  • Regenten verwechselt, der sich selbst in dem ganzen Haushalt
  • zurechtfinden und mit ihm fertig werden muß und der alle kleinen
  • Ausgaben auf sich zu nehmen hat. Sie haben einen Teil davon, was zu den
  • Obliegenheiten des Gouverneurs und nicht zu denen des Generalgouverneurs
  • gehört, an sich gerissen, und haben damit die Bedeutung Ihres höchsten
  • Amtes verringert, Sie haben Ihre Stellung für eine lebenslängliche
  • gehalten. Sie wollten in Ihren eigenen Schöpfungen und Einrichtungen ein
  • Denkmal, ein Erinnerungszeichen an Ihren Aufenthalt hinterlassen. Ein
  • edles Streben. Aber wenn Sie schon damals das gewesen wären, was Sie
  • jetzt sind, d. h. wenn Sie mehr Christ gewesen wären, dann hätten Sie
  • für ein anderes Denkmal Sorge getragen. Wege, Brücken und allerhand
  • Verkehrsmittel zu schaffen und sie so klug anzulegen, wie Sie dies getan
  • haben, ist in der Tat eine notwendige Sache, aber manchen inneren Weg zu
  • ebnen, auf dem der Russe bei seinem Streben nach voller Entfaltung
  • seiner Kräfte bisher noch aufgehalten und daran gehindert wird, aus den
  • Landstraßen wie aus allen anderen Äußerlichkeiten der Bildung, um die
  • wir heute so eifrig bemüht sind, Nutzen zu ziehen, ist eine noch
  • notwendigere Sache. Wenn Puschkin sah, daß man sich nicht um das Wesen
  • einer Sache, sondern um etwas bemühte, was nur eine Folge der
  • eigentlichen, der Hauptsache war, pflegte er sich gewöhnlich des
  • russischen Sprichworts zu bedienen: »Wenn nur erst der Zuber da ist, an
  • den Schweinen wird es nicht fehlen.« Die Brücken, die Wege und all diese
  • Verkehrsmittel, das sind die Schweine und nichts anderes: wenn nur erst
  • Städte da sind, dann werden sie schon von selbst kommen. In Europa hat
  • man sich viel um sie bemüht und viel Sorgen um sie gemacht. Als jedoch
  • die Städte entstanden, entstanden auch die Verkehrswege von selbst:
  • Privatleute haben sie erbaut ohne jede Unterstützung der Regierung, und
  • jetzt haben sie sich in solch ungeheurem Maße vermehrt, daß man sich
  • schon ernstlich die Frage vorzulegen beginnt: Wozu brauchen wir nur so
  • schnelle Verkehrsmittel? Was hat die Menschheit durch all diese
  • Eisenbahnen und andere Bahnen gewonnen, was hat sie auf allen Gebieten
  • ihrer Kulturentwicklung gewonnen, und was hat es für einen Wert, daß
  • heute eine Stadt verarmt, und eine andere dafür zu einem Trödelmarkt
  • wird und daß die Zahl der Müßiggänger auf der ganzen Welt so zunimmt. In
  • Rußland wäre dieser ganze Plunder schon längst von selbst entstanden und
  • zwar mit all dem Zubehör von Bequemlichkeiten, wie sie selbst in Europa
  • nicht vorhanden sind, wenn sich nur viele von uns zuerst, wie es sich
  • gehört, um ihre inneren Angelegenheiten bekümmert hätten. »Denket zuerst
  • daran,« sagt der Heiland, »alles andere wird euch von selbst zufallen.«
  • Ihre Leistungen auf moralischem Gebiete waren viel bedeutender. Wen ich
  • auch gehört habe, alle urteilen mit großer Achtung über Ihre
  • Verfügungen, alle sagen, Sie hätten viele Mißbräuche ausgerottet und
  • sehr viel wahrhaft edle und vorzügliche Beamte angestellt. Ich habe
  • davon gehört, obwohl Sie es mir aus Bescheidenheit nicht mitgeteilt
  • haben. Aber Sie hätten noch mehr geleistet, wenn Sie damals in Betracht
  • gezogen hätten, daß Ihre Tätigkeit nur provisorischer Art ist und daß
  • Sie nicht nur dafür hätten sorgen sollen, daß alles gut steht, solange
  • Sie da sind, sondern vielmehr dafür, daß auch nach Ihrem Scheiden alles
  • in bester Ordnung sei. Sie hätten sich fortwährend vorstellen sollen,
  • daß Ihr Amt nach Ihnen von einem schwachen und unfähigen Nachfolger
  • besetzt werden wird, der die von Ihnen eingeführte Ordnung nicht nur
  • nicht aufrechterhalten, sondern Sie auch in Verfall kommen lassen wird,
  • und daher hätten Sie von vornherein daran denken müssen, etwas so
  • Starkes und Dauerndes zu schaffen und das Geschaffene so zu befestigen
  • und so stark zu verwurzeln, daß nach Ihnen schon niemand mehr imstande
  • wäre, umzustoßen, was Sie einmal in Gang gebracht haben. Sie hätten die
  • Axt an die Wurzel des Übels legen sollen und nicht an die Stämme und
  • Zweige, und Sie hätten dem allgemeinen Getriebe einen solchen Impuls
  • geben sollen, daß die Maschine nach Ihrem Fortgang von selbst arbeitet
  • und daß kein Aufseher es mehr nötig hätte, neben ihr zu stehen, um sie
  • zu beaufsichtigen, und hierdurch erst hätten Sie sich ein ewiges Denkmal
  • Ihrer Generalgouverneurschaft errichtet. Jetzt weiß ich, daß Sie ganz
  • anders handeln werden, aber darum dürfen Sie dieses Amt nicht gering
  • achten, wenn es Ihnen aufs neue angeboten wird. Noch niemals war ein
  • Generalgouverneur eine so wichtige und notwendige Persönlichkeit wie in
  • unserer Zeit. Ich will Ihnen einige Leistungen nennen, zu denen
  • heutzutage niemand fähig ist außer dem Generalgouverneur.
  • Die erste ist folgende: Alle Stände und Berufe in ihre gesetzlichen
  • Grenzen zurückzuführen und einem jeden Provinzbeamten die Pflichten, die
  • sein Beruf ihm auferlegt, zu vollem Bewußtsein zu bringen; das ist
  • keineswegs unnütz. In der letzten Zeit sind alle Berufe und Ämter der
  • Provinz in ganz unmerklicher Weise aus ihren Grenzen und Schranken
  • getreten, die ihnen vom Gesetze vorgeschrieben werden. Die Kompetenzen
  • der einen sind viel zu sehr beschnitten und begrenzt, andere wieder in
  • ihrer Bewegungsfreiheit auf Kosten der Übrigen allzusehr erweitert
  • worden. Die eigentlichen Hauptinstanzen haben durch die Schaffung einer
  • großen Zahl abhängiger und provisorischer Stellungen an Macht und Kraft
  • verloren. In der letzten Zeit hat es sich besonders fühlbar gemacht, daß
  • gerade dort, wo man hemmend eingreifen sollte, die Macht und die
  • Kompetenzen viel zu unbeschränkt waren und die Handlungsfreiheit zu groß
  • war, und andererseits machte sich wiederum der Umstand bemerkbar, daß
  • einem die Hände gebunden waren, wo man fördernd eingreifen mußte. Es ist
  • jetzt soviel schwieriger geworden, jeden Beruf in den ihm durch das
  • Gesetz angewiesenen Wirkungskreis zurückzuführen, weil die Beamten
  • selbst an ihren Begriffen von ihrem Beruf irre geworden sind. Sie
  • übernehmen ihn als Erbschaft von ihrem Vorgänger und zwar genau in der
  • Gestalt, die ihm von jenem gegeben worden ist. Sie nehmen mehr oder
  • weniger Rücksicht auf diese Form und Gestalt und nicht auf das
  • eigentliche Urbild, das ihnen schon völlig aus dem Bewußtsein
  • entschwunden ist. Aus diesem Grunde haben schon viele wohlmeinende und
  • sogar kluge Vorgesetzte die Ämter, die man bloß sich selbst
  • wiederzugeben brauchte, gänzlich aufgehoben oder doch von Grund aus
  • umgestaltet. Das aber kann nur von dem höchsten und souveränen
  • Vorgesetzten ausgehen, wenn er es nicht verschmäht, sich selbst
  • gründlich über das Wesen eines jedes Berufes zu unterrichten. Alle
  • unsere Ämter und Berufe stellen in ihrer ursprünglichen Form wirklich
  • gute und schöne Einrichtungen dar und sind geradezu wie geschaffen für
  • unser Land. Sehen wir uns zu diesem Zwecke einmal den ganzen Organismus
  • eines Gouvernements etwas näher an.
  • Die erste Person ist der Gouverneur. Seine Kompetenzen sind sehr
  • umfangreich. Er ist der Vorgesetzte und der unumschränkte Regent und
  • Leiter von allem, was mit der wirtschaftlichen und polizeilichen
  • Verwaltung des ganzen Gouvernements, d. h. sowohl mit der städtischen
  • (hierunter verstehe ich alles, was sich auf die inneren Einrichtungen
  • der Städte und die Aufrechterhaltung der Ordnung in ihnen bezieht) als
  • auch mit der Verwaltung der Landschaften zusammenhängt, wozu ich alles
  • rechne, was in den Gegenden, die außerhalb des Stadtbildes liegen,
  • geschieht: die Erhebung der Steuern, die Verteilung der Lasten, die
  • Anlage von Straßen und allerhand Bauangelegenheiten und Reparaturen. Im
  • ersten Falle hängen der Polizeimeister der Provinz und die Bürgermeister
  • aller Städte völlig von ihm ab und stehen ihm gänzlich zur Verfügung; im
  • zweiten Falle kann er über den Hauptmann der Landpolizei
  • und die Assessoren der Landschaft verfügen, die durch die
  • Gouvernementsverwaltung, welche nach der Art der Kollegialverwaltungen
  • aus Räten zusammengesetzt ist und kein eigenes Bureau mit einem Sekretär
  • darstellt, mit ihm verkehren, so daß die Verantwortlichkeit bei jedem
  • schweren Mißbrauch, den sich der Gouverneur zuschulden kommen läßt,
  • unbedingt auf die Räte und die Beamten fällt und daß er trotz all seiner
  • unumschränkten Gewalt dennoch in gewissem Sinne beschränkt ist. Er ist
  • mehr als ein bloßes Mitglied der Verwaltung und ein Zeuge des
  • Geschäftsganges in den andern staatlichen Organen, die gar nicht von ihm
  • abhängen und unter ihren eigenen besonderen Ministerien stehen. Wenn
  • diese Instanzen irgendwelche Abmachungen treffen oder Verträge
  • schließen, die sich auf die Verpachtung oder den Rückkauf von
  • Staatsländereien, Seen oder überhaupt über irgendwelche Ein- oder
  • Verkäufe beziehen und irgendwelche Abkommen hierüber eingehen, so muß er
  • schon zugegen sein. Es darf kein staatlicher Auftrag vergeben und kein
  • Vertrag geschlossen werden, ohne daß _er_ anwesend ist. Demnach werden
  • auch die Instanzen, die hinsichtlich ihrer inneren Geschäftsführung gar
  • nicht von ihm abhängen, doch durch seine Anwesenheit daran gehindert,
  • irgendwelche Mißbräuche zu begehen.
  • Der ganze Apparat der Justiz, wie z. B alle Kreisgerichte und ihre
  • höchste Instanz, das Zivilgericht, scheint, da dieses völlig von seinem
  • Ministerium abhängig ist, ganz unabhängig vom Gouverneur zu sein, und
  • doch werden diese Instanzen auf Schritt und Tritt durch den Gouverneur
  • daran gehindert, Mißbräuche zu begehen, da dieser während seiner
  • Inspektionsreisen durch die Provinz, die mindestens zweimal im Jahre
  • stattfinden, das Recht hat, dem Gericht einen Besuch abzustatten und zu
  • verlangen, daß ihm zwei oder drei Gerichtsentscheidungen vorgelegt
  • werden, die er auf gut Glück herausgreifen kann, um sie bei sich zu
  • Hause mit seinem Sekretär nachzuprüfen und auf diese Weise alle in
  • Schrecken zu halten. Kurz, obwohl er keinerlei Oberhoheit über die
  • Instanzen hat, die von anderen Vorgesetzten abhängen, hat er doch das
  • Recht, überall Mißbräuche zu verhindern, wo solche immer vorkommen
  • mögen. Auf den Adel kann er lediglich einen moralischen Einfluß ausüben.
  • Im übrigen ist es so eingerichtet, daß er es in seinem amtlichen Verkehr
  • mit dem Adel, mit dem eigenen Vertreter des Adels, dem Adelsmarschall
  • der Provinz zu tun hat und sich lediglich durch diesen mit dem ganzen
  • Adel in Beziehung und ins Einvernehmen setzt; an diesem Punkte tritt die
  • Weisheit des Gesetzgebers mit besonderer Deutlichkeit zutage, denn auf
  • eine andere Weise wäre es dem Generalgouverneur gänzlich unmöglich, sich
  • mit dem Adel in Beziehung und ins Einvernehmen zu setzen, wenn man
  • nämlich die große Verschiedenheit in der Erziehung, in den Sitten, der
  • Denkweise und die ungeheure Mannigfaltigkeit und Vielgestaltigkeit der
  • Charaktere in unserem Adelstande in Betracht zieht, wie sie in keinem
  • europäischen Adelsgeschlechte vorkommt und wie sie sich bei uns in
  • unserem Adel verkörpert hat. Der Rang des Adelsmarschalls ist dem des
  • Gouverneurs beinahe gleich, denn der Adelsmarschall hat nächst dem
  • Gouverneur Anspruch auf den ersten Platz in der Provinz; schon allein
  • dadurch werden beide auf die Notwendigkeit hingewiesen, gute
  • Freundschaft zu halten, da ihre gesellschaftlichen Beziehungen sonst
  • etwas Gezwungenes haben, und da sie sich in ihrem amtlichen Verhältnis
  • unfrei und beengt fühlen würden. Auch die Ämter des Polizeihauptmanns
  • und der Assessoren, die beide vom Adel gewählt werden, aber ganz von dem
  • Gouverneur abhängen, weisen darauf hin, wie notwendig es ist, daß beide
  • Teile sich gegenseitig unterstützen. Der Adelsmarschall kann auch in
  • solchen Fällen sehr viel ausrichten, wo seine eigene Macht beschränkt
  • ist, indem er sich auf den Gouverneur beruft und mit ihm droht; und
  • ebenso vermag der Gouverneur durch den Adelsmarschall weit erfolgreicher
  • und kraftvoller auf den Adel einzuwirken.
  • Fehler und Versehen können überall vorkommen, überall können sich
  • Unrecht, Lüge und Trug einschleichen; selbst der Gouverneur kann fehlen
  • und irren. Doch auch dieser Fall ist vorgesehen: dafür gibt es eine
  • besondere Persönlichkeit, die von niemand abhängt, und die allen, selbst
  • dem Gouverneur gegenüber ihre Unabhängigkeit wahren muß -- das ist der
  • Staatsanwalt, der das Auge des Gesetzes ist, ohne das kein Stück
  • Aktenpapier über die Grenzen der Provinz hinausgelangen kann. Keine
  • Angelegenheit kann vor einer Instanz des Gouvernements zur Verhandlung
  • kommen, ohne ihm vorgelegt zu werden. Es kann kein Beschluß gefaßt
  • werden, ohne daß er zuvor jede Seite mit dem Vermerk »Gelesen« versehen
  • hat. Er selbst aber hat niemand in der ganzen Provinz über sich; er hat
  • niemand Rechenschaft abzulegen außer dem Justizminister; nur mit diesem
  • steht er in unmittelbarem Verkehr, und er kann jederzeit gegen alles,
  • was in der Provinz unternommen wird, Beschwerde einlegen.
  • Mit einem Wort, es fehlt nirgends an etwas, und aus allem spricht die
  • Weisheit des Gesetzgebers; aus der Einsetzung der einzelnen staatlichen
  • Autoritäten sowohl wie aus der Art ihres Verkehrs miteinander. Ich rede
  • nicht einmal von den Institutionen, die auf einen noch größeren
  • Weitblick der Regierung schließen lassen; ich will nur an das
  • Gewissensgericht erinnern, denn etwas Ähnliches ist mir in keinem
  • anderen Staate bekannt geworden. Meiner Überzeugung nach ist das der
  • Gipfel der Menschenliebe und der Herzenskenntnis. Alle Fälle, in denen
  • ein Konflikt mit dem Gesetz als eine Last und als Härte empfunden werden
  • würde, alle Angelegenheiten, an denen Jugendliche oder Geisteskranke
  • beteiligt sind, alles, worüber nur das menschliche Gewissen zu
  • entscheiden vermag, und jene Fälle, wo selbst die Anwendung des
  • gerichtlichen Gesetzes zur Ungerechtigkeit würde; kurz alles, was im
  • höchsten Sinne des Christentums in liebevoller und friedlicher Weise und
  • unter Vermeidung aller Weiterungen vor höheren Instanzen entschieden und
  • erledigt werden muß -- fällt unter die Kompetenzen dieses Gerichts. Wie
  • weise ist doch die Einrichtung, daß die Wahl des »Gewissensrichters« vom
  • Adel abhängt, denn der Adel wählt hierzu gewöhnlich einen Mann, den die
  • allgemeine Stimme für den menschenfreundlichsten und uneigennützigsten
  • Menschen erklärt. Wie gut ist es ferner, daß er keinerlei Gehalt oder
  • Lohn für seine Mühe erhält, und daß diese Tätigkeit für den Menschen mit
  • keinerlei weltlichen Lockungen verbunden ist! Eine Zeitlang war ich von
  • dem lebhaften Wunsch beseelt, dieses Amt zu übernehmen. Wieviel
  • verwickelte Streitfälle kann man da schlichten! Die Parteien werden ihre
  • Streitigkeiten ohne Rücksicht auf ihren eigenen Vorteil dem
  • Gewissensgericht unterbreiten, so wie es bekannt wird, daß der Richter
  • tatsächlich nach bestem Wissen und Gewissen entscheidet und daß er sich
  • durch die Verwaltung seines göttlichen Richteramts berühmt gemacht hat.
  • Denn wer von uns sehnt sich nicht nach Frieden und Versöhnung?
  • Kurz, je genaueren Einblick man in den Verwaltungsorganismus unserer
  • Provinzen gewinnt, um so mehr staunt man über die Weisheit der
  • Gesetzgeber: man hat das Gefühl, Gott selbst habe die Herrscher und
  • Regenten mit unsichtbarer Hand geleitet und gelenkt. Hier fehlt es an
  • nichts, ist alles vollendet, alles ist so darauf angelegt, daß wir uns
  • gegenseitig die Hand reichen, uns zu guten Handlungen anfeuern und uns
  • gegenseitig helfen und fördern, nur die Wege zu Mißbräuchen sollen uns
  • verbaut werden. Ich kann mir nicht einmal denken, was ein besonderer
  • Beamter hier noch sollte, jede neue Person wäre hier nicht am Platze,
  • jede Neuerung wäre eine überflüssige Zutat. Und doch haben sich, wie Sie
  • ja selbst wissen, in den Provinzen Regierungsbeamte gefunden, die es
  • verstanden, diesen ganzen Mechanismus noch durch eine Schar von Beamten
  • mit besonderen Aufträgen und eine lange Reihe von provisorischen
  • Kommissionen und Untersuchungskommissionen zu belasten, die die
  • Funktionen jeder Instanz noch weiter geteilt und zerlegt und den Beamten
  • so den Kopf verwirrt haben, daß sie jeden Begriff von den genauen
  • Grenzen ihres Berufs verloren. Es ist sehr gut, daß Sie es nicht auch so
  • gemacht haben, Sie verstanden die Sache nämlich schon damals viel
  • besser, als die andern. Sie wissen zu gut: einen neuen Beamten
  • anstellen, der einem andern auf die Finger sehen soll, damit er nicht
  • soviel stiehlt, das bedeutet soviel, wie _zwei_ Diebe statt eines
  • schaffen. Überhaupt ist dies System der gegenseitigen Beschränkung und
  • Überwachung eine höchst kleinliche Methode. Man kann die Wirkungssphäre
  • eines Menschen nicht durch die eines anderen beschränken, schon im
  • folgenden Jahre wird sich die Notwendigkeit herausstellen, auch den
  • unter Aufsicht und Kontrolle zu stellen, den man angestellt hat, um die
  • Macht des ersten zu beschränken, und so würden die gegenseitigen
  • Einschränkungen kein Ende nehmen. Das ist ein trauriges und törichtes
  • System; gleich allen andern negativen Systemen konnte es sich nur in
  • Kolonialstaaten herausbilden, die sich aus allerhand zusammengelaufenen
  • Völkern zusammensetzten, kein nationales Ganzes bildeten und von keinem
  • gemeinsamen Volksgeist beseelt wurden, bei solchen Völkern gibt es weder
  • so etwas wie Selbstaufopferung noch vornehme Gesinnung, solche Nationen
  • lassen sich nur von ihrem persönlichen Eigennutz leiten. Man muß
  • Zutrauen zum Adel menschlicher Gesinnung haben, sonst kann es überhaupt
  • keinen Adel der Gesinnung geben. Wer da weiß, daß man ihn mit Mißtrauen
  • ansieht, wie einen Gauner, und ihm überall Aufseher zugesellt, die ihn
  • überwachen sollen, der läßt unwillkürlich die Hände sinken. Man muß den
  • Menschen die Hände lösen und sie nicht noch fester binden. Man muß
  • darauf dringen, daß sich jeder allein beherrschen lernt, damit er nicht
  • von andern festgehalten zu werden braucht; er muß weit strenger gegen
  • sich sein, als das Gesetz, und selbst einsehen lernen, worin er sich an
  • seinem Amte versündigt. Kurz, man muß ihm einen Begriff von dem Wesen
  • seiner höheren Aufgabe beibringen. Das aber vermag allein der
  • Generalgouverneur, wenn er es nicht verschmäht, sich selbst über das
  • wahre Wesen jedes Amts und Berufs zu unterrichten, sich an die Stelle
  • jedes Beamten zu versetzen, den er zum vollen Verständnis seiner
  • Pflichten erziehen möchte, und in Gedanken mit ihm zusammen den Dienst
  • zu verrichten. Hierdurch wird Ihr ganzer Verkehr mit den Beamten einen
  • persönlichen Charakter annehmen; Sie werden dazu keiner Sekretäre und
  • keiner Schreibereien auf totem Aktenpapier bedürfen; infolgedessen
  • werden Sie nur ein kleines eigenes Bureau haben, das keine Ähnlichkeit
  • mit jenen ungeheueren riesenhaften Kanzleien haben wird, wie sie sich
  • andere Regierungsbeamte einrichten. Diese ungeheueren Bureaus aber sind,
  • wie Sie selbst wissen, ein großer Schaden, denn sie tragen dazu bei,
  • allen Beamten ihre eigentliche Arbeit abzunehmen, eine neue Instanz und
  • folglich neue Schwierigkeiten zu schaffen, ja sie sind der Anlaß,
  • daß ganz unmerklich neue Persönlichkeiten mit wichtigen
  • Machtvollkommenheiten auftauchen, z. B. irgendein gewöhnlicher Sekretär,
  • den häufig niemand bemerkt und durch dessen Hände dennoch alle Akten
  • gehen; ein solcher Sekretär schafft sich eine Geliebte an, dies führt zu
  • Intrigen und Streitigkeiten, und bald ist der Teufel in eigener Person
  • da, der doch jederzeit auf der Lauer liegt. Das Ende vom Liede aber ist
  • dies: daß abgesehen von der Heraufbeschwörung neuer Verwirrungen und
  • Verwickelungen noch unübersehbare Summen von Staatsgeldern verschlungen
  • werden. Gott bewahre Sie davor, sich ein Bureau einzurichten. Setzen Sie
  • sich nie anders als persönlich mit jemand auseinander. Wie kann man bloß
  • gering von einem Gespräch mit einem Menschen denken, besonders wenn es
  • sich dabei um etwas, was ihm nahe liegt, um seinen Beruf und seine
  • Pflichten, und folglich um seine Seele selbst handelt? Wie kann man nur
  • ein törichtes Zeitungsgeschwätz und totes Gerede über allerhand
  • Schwindelnachrichten, wie sie aus den verlogenen europäischen
  • Zeitschriften geschöpft werden, einem solchen Gespräch vorziehen? Die
  • Pflicht der Menschen ist ein Gegenstand, über den man sich so
  • unterhalten kann, daß es beiden Teilnehmern so scheint, als sprächen sie
  • in Gottes eigener Gegenwart mit den Engeln. Nun denn, so reden auch Sie
  • auf diese Weise mit Ihren Untergebenen, d. h. reden Sie so mit ihnen,
  • daß ihre Seele Nahrung und Belehrung aus dem Gespräch schöpft! Vor allem
  • aber -- und dies dürfen Sie nie vergessen -- sprechen Sie russisch mit
  • ihnen. Damit meine ich nicht jene Sprache, der wir uns jetzt in der
  • Praxis des täglichen Lebens bedienen und die hierbei der Verhunzung
  • verfällt, auch nicht die Büchersprache oder die Sprache, die sich zu
  • einer Zeit herausgebildet hat, als bei uns noch allerhand Mißbräuche an
  • der Tagesordnung waren, sondern jene echte wahrhafte russische Sprache,
  • deren unsichtbare Schwingungen das ganze russische Land durchdringen,
  • trotz unserer Ausländerei in unserem eigenen Lande, jene Sprache, die
  • zwar noch nicht mitbeteiligt ist an dem Werke unseres Lebens und die wir
  • doch alle als die wahre russische Sprache empfinden. In dieser Sprache
  • heißt der Vorgesetzte: _Vater_. Seien auch Sie ihnen das, was ein Vater
  • seinen Kindern ist. Ein Vater aber führt keine papierene Korrespondenz
  • mit seinen Kindern, sondern verständigt sich direkt und unmittelbar mit
  • einem jeden von ihnen. Wenn Sie es so machen werden, werden Sie jedem
  • das echte Verständnis für seinen Beruf mitteilen und eine wahrhaft große
  • Leistung vollbringen.
  • Und nun will ich Ihnen noch eine Aufgabe nennen, die niemand lösen kann,
  • außer einem Generalgouverneur, und die heute nicht bloß einem Bedürfnis,
  • sondern geradezu einer dringenden Notwendigkeit entspricht; es ist dies
  • die Aufgabe, dem Adel eine richtige Auffassung von seiner Bestimmung
  • beizubringen. Der Adel in seinem wahrhaft russischen Wesenskern ist
  • etwas sehr Schönes, trotz der fremdländischen Schale, von der er
  • zeitweilig überwachsen ist. Aber unser Adel hat noch kein Gefühl dafür.
  • Vielen dämmert zwar schon eine dunkle Ahnung davon auf, andre jedoch
  • wissen noch immer nicht das Geringste davon, wiederum andere nehmen sich
  • den Adelsstand fremder Länder zum Vorbild, und schließlich gibt es noch
  • solche, die sich nicht einmal die Frage stellen, ob es überhaupt einen
  • Adel auf der Welt zu geben brauchte? Aber selbst wenn sich unter ihnen
  • einige Leute befinden, die ein Paar vernünftige und klare Gedanken über
  • diese Frage haben, so dringen diese Gedanken doch noch nicht in die
  • Massen, und die Masse hört sie noch nicht. In der letzten Zeit hat sich
  • in unserem Adelsstande zu alledem wieder ein Geist des Mißtrauens gegen
  • die Regierung verbreitet. Während der letzten europäischen Revolutionen
  • und Wirren aller Art waren einige Bösewichte besonders bemüht, in den
  • Kreisen unseres Adels das Gerücht zu verbreiten, als suche die Regierung
  • die Bedeutung des Adels herabzusetzen und ihn bis zur völligen
  • Bedeutungslosigkeit herabzudrücken. Allerhand Flüchtlinge, Emigranten
  • und Leute, die es nicht gut mit Rußland meinten, schrieben allerlei
  • Aufsätze und füllten die Spalten der ausländischen Zeitungen mit ihnen
  • an, in der Absicht, Feindschaft zwischen der Regierung und dem Adel zu
  • säen: einerseits wollte man dem russischen Kaiser beweisen, daß es eine
  • phantastische Partei von Bojaren gäbe, die an der regierenden Gewalt
  • selbst rüttelten, und andererseits wollte man dem Adel einreden, daß der
  • Kaiser ihm nicht wohlwolle und diesen Stand überhaupt nicht schätze, das
  • heißt, diese Leute wollten eine solche Suppe in Rußland einbrocken und
  • solche Wirren hervorrufen, die ihnen Gelegenheit geben sollten, selbst
  • eine Rolle zu spielen. Man spekulierte darauf, daß Furcht und
  • gegenseitiges Mißtrauen etwas Schreckliches sind und allmählig selbst
  • die heiligsten Bande zu zerreißen vermögen. Aber Gott sei Dank, die
  • Zeiten sind vorüber, wo ein paar verrückte Menschen einen ganzen Staat
  • in Aufruhr bringen konnten. Dieser Versuch blieb nichts als ein
  • phantastisches Projekt; dennoch aber haben die Funken des gegenseitigen
  • Mißtrauens und Mißverstehens gezündet, und ich kenne viele Adelige, die
  • ganz ernstlich davon überzeugt sind, daß der Kaiser den Adelstand nicht
  • liebt, und die sogar tief betrübt darüber sind. Bringen Sie diese Sache
  • ins reine und klären Sie diese Leute über die ganze Wahrheit auf, ohne
  • ihnen das Geringste vorzuenthalten. Sagen Sie ihnen, daß der Kaiser
  • diesen Stand mehr liebt als alle anderen Stände, aber freilich nur den
  • Adel in seinem echt russischen Wesen, nur jene schöne edle Form und
  • Gestalt des Adels, die dem eigentlichen Geiste unseres Landes
  • entspricht. Es kann ja auch gar nicht anders sein. Sollte er etwa die
  • Zierde, die Blüte seines Landes nicht lieben? Denn bei uns ist der Adel
  • die Blüte des eigenen Volkes und nicht ein fremdes eingewandertes
  • Element. Allein der Adel muß selbst zeigen, was er ist, und die
  • Bedeutung seines Berufs beweisen, denn so wie er jetzt ist, bei diesem
  • völligen Mangel eines einheitlichen gemeinsamen Besitzes, bei dieser
  • Verschiedenartigkeit der Anschauungen, der Erziehung, der Lebensweise
  • und der Gewohnheiten, bei dieser falschen und verworrenen Ansicht über
  • sich selbst kann der Adel niemand eine wirkliche, wahrhafte Vorstellung
  • davon mitteilen, was der Adel in unserem Lande eigentlich darstellt.
  • Daher kann auch der weiseste Mann heute nicht wissen, was er mit diesen
  • Leuten anfangen soll. Der Adel muß sich selbst seine wahre und volle
  • Bedeutung wieder erobern. Und dabei können Sie allen in wahrem Sinne
  • behilflich sein, denn Sie sind doch selbst ein russischer Edelmann, und
  • da Sie Verständnis für die Bedeutung unseres Adels besitzen, werden Sie
  • sie auch den Leuten am besten klarmachen können. Dazu bedarf es nicht
  • etwa vieler Worte, denn das, was Sie ihnen erklären werden, liegt ja
  • schon im Keim angelegt in ihrer Brust. Unser Adel ist in der Tat eine
  • ganz ungewöhnliche Erscheinung. Dieser Stand hat sich bei uns ganz
  • anders herausgebildet als in anderen Ländern. Er führt seinen Ursprung
  • nicht etwa auf eine gewaltsame Invasion eines fremden Stammes zurück, er
  • ist nicht aus Vasallen und ihrem Heeresgefolge hervorgegangen, die sich
  • in beständiger Auflehnung gegen die höchste Gewalt befinden und die
  • Bedrücker der unteren Klassen sind; unser Adel leitet seinen Ursprung
  • von Diensten her, die er dem Kaiser und dem ganzen Lande geleistet hat,
  • von Leistungen, die auf sittlichen Vorzügen und Verdiensten und nicht
  • auf roher Gewalt beruhten. Unser Adel kennt den Stolz auf irgendwelche
  • Vorzüge und Privilegien seines Standes nicht, wie man ihn wohl in
  • anderen Ländern findet, der Hochmut der deutschen Aristokraten ist ihm
  • fremd; bei uns prahlt niemand mit seinem Geschlecht oder mit dem alten
  • Ursprung seiner Familie, obwohl unsere Aristokratie die älteste ist --
  • dies tun höchstens ein paar Anglophile, die diese Gewohnheit während
  • ihrer Reisen in England angenommen haben; es mag wohl hin und wieder
  • einmal vorkommen, daß sich jemand seiner Ahnen rühmt, doch auch dann nur
  • solcher, die ihrem Kaiser und ihrem Land wirkliche treue Dienste
  • geleistet haben, dagegen soll er es nur versuchen, mit einem Ahnherrn zu
  • prahlen, der ein schlechter Kerl war, seine eigenen Standesgenossen
  • würden sofort ein Epigramm gegen ihn loslassen. Es gibt nur eine Sache,
  • der sich ein jeder zu rühmen wagt, -- das ist das Gefühl für sittlichen
  • Anstand, das ihm Gott selbst in die Brust gelegt hat. Und wenn es darauf
  • ankommt, diese höchste innere Vornehmheit durch die Tat zu beweisen, so
  • bleibt bei uns kein einziger hinter dem andern zurück, selbst wenn es
  • der schlechteste von ihnen allen ist und wenn er ganz tief in Schmutz
  • und Asche drinsteckt. Der Adel ist bei uns etwas wie ein Gefäß für
  • diesen sittlichen Anstand, der sich über das ganze russische Land
  • verbreiten muß, damit alle anderen Stände einen Begriff davon erhalten,
  • warum der höchste Stand die Blüte des Volkes genannt wird. Wenn Sie
  • ihnen annähernd das sagen werden, was ich Ihnen hier sage, und was die
  • lauterste Wahrheit ist, und wenn Sie sie auf den Wirkungskreis hinweisen
  • werden, der sich jetzt vor ihnen allen auftut: auf den Wirkungskreis, in
  • dem sie ihren Namen verewigen und ihm ein dauerndes Leben in der
  • Nachwelt sichern können, wenn Sie es ihnen völlig klarmachen werden, daß
  • das ganze russische Land um Hilfe schreit und daß man dem Lande nur
  • durch große, hochherzige Taten helfen kann, daß man aber vor allem denen
  • mit großen Taten vorangehen soll, denen Adel und Vornehmheit schon bei
  • der Geburt geschenkt wurden, so werden Sie sehen, daß ihre Herzen mit
  • dem Ihren zusammenklingen werden, wie zwei Becher bei einem Festmahl.
  • Verheimlichen Sie ihnen nichts, sondern eröffnen Sie ihnen die volle
  • Wahrheit. Sollen sie etwa dieselben Dinge aus lügenhaften Berichten
  • ausländischer Zeitungen erfahren und soll man etwa allerhand Brauseköpfe
  • ihnen den Kopf verwirren lassen? Decken Sie ihnen die ganze Wahrheit
  • auf. Sagen Sie ihnen, daß Rußland wirklich unter den räuberischen
  • Praktiken und unter den Betrügereien zu leiden hat, die heute mit einer
  • Dreistigkeit ihr Haupt erheben, wie noch nie zuvor, und daß dem Kaiser
  • das Herz so weh tut, wie niemand von ihnen es ahnt oder glaubt und auch
  • nur ahnen kann. Ja und könnte es denn anders sein beim Anblick dieses
  • Knäuels neuer Verworrenheiten und Verwickelungen, die sich zwischen den
  • Menschen aufgetürmt, sie voneinander getrennt und jedermann die
  • Möglichkeit geraubt haben, Gutes und wahrhaft Nützliches für sein
  • Vaterland zu leisten, angesichts endlich dieser allgemeinen
  • Verfinsterung und Entfremdung gegenüber dem Geist des Vaterlandes,
  • angesichts endlich all dieser Erpresser und Gauner, dieser käuflichen
  • Rechtsverdreher und Räuber, die wie die Raben von allen Seiten
  • herbeigeflogen kommen, um uns bei lebendigem Leibe zu fressen und im
  • Trüben nach ihrem elenden Vorteil zu fischen. Wenn Sie ihnen das sagen
  • und ihnen sodann beweisen werden, daß Sie jetzt vor der großen Aufgabe
  • stehen, dem Kaiser einen wahrhaft edlen und hohen Dienst zu leisten:
  • nämlich ebenso hochherzig wie ihre Väter einstmals in Reih und Glied
  • wider die Feinde des Landes traten, nunmehr in die unscheinbarsten
  • Posten und Stellungen einzurücken, selbst wenn diese von elenden
  • Pöbelmenschen entehrt und in den Kot gezerrt sein sollten, so werden Sie
  • sehen, wie unser Adel sich aufraffen wird. Man wird sich kaum retten
  • können von all den Leuten, die den Wunsch haben, sich dem Staatsdienst
  • zu widmen und die allerunbedeutendsten Stellungen einzunehmen. Und nach
  • geleisteten Diensten werden sie keinen Lohn, keine Auszeichnungen, ja
  • nicht einmal irgendwelche Vorrechte und Privilegien für sich verlangen,
  • zufrieden, daß sie ihre hohen inneren Vorzüge ans Licht stellen konnten.
  • Kurz -- machen Sie ihnen bloß die Hoheit ihrer Bestimmung klar, und Sie
  • werden sich von der Vornehmheit ihres Wesens überzeugen. Sie können sie
  • auch auf eine zweite große Aufgabe hinweisen, der sie sich widmen
  • können: auf die Erziehung der ihnen anvertrauten Bauern; sie sollen
  • Menschen aus ihnen machen, die ganz Europa zum Vorbild ihres Standes
  • werden, denn heute fangen manche Leute in Europa ernsthaft an, über die
  • alte patriarchalische Lebensordnung nachzudenken, deren Fundamente
  • überall, außer in Rußland, verschwunden sind, und man beginnt schon laut
  • über die Vorzüge unseres ländlichen Lebens zu reden, nachdem man die
  • Ohnmacht und Unfähigkeit aller heutigen Institutionen und Einrichtungen,
  • sich aus eigener Kraft zu verbessern und zu reformieren, erkannt hat.
  • Daher müssen wir den Adel dazu bewegen, das wahrhaft russische
  • Verhältnis zwischen Gutsbesitzer und Bauer zu erforschen, nicht aber den
  • verlogenen unwahren Zustand, wie er sich infolge ihrer schmählichen
  • Gleichgültigkeit gegen ihre eigenen Güter, die sie der Obhut fremder
  • Tagelöhner und Verwalter überließen, herausgebildet hat, -- wirklich und
  • wahrhaftig für die Bauern zu sorgen, wie für ihre eigenen
  • Blutsverwandten und nicht wie für fremde Leute; ja Sie sollten sie
  • lehren, ihre Bauern anzusehen wie ein Vater seine Kinder. Hierdurch
  • allein können sie diesen Stand dazu machen, was er wirklich sein soll,
  • diesen Stand, der bei uns wie mit Vorbedacht weder den Namen der Freien
  • noch der Sklaven, sondern den Namen Krestjane (Bauern), nach dem eigenen
  • Namen Christi trägt. Dies alles kann der Generalgouverneur dem Adel sehr
  • gut klarmachen, wenn er nur zur rechten Zeit daran denkt, sich's
  • überlegt und selbst zum vollen Verständnis der Bedeutung unseres Adels
  • gelangt. Und dies wird die zweite unter Ihren großen Leistungen sein.
  • Und nun zur dritten Leistung, die gleichfalls niemand außer dem
  • Generalgouverneur zu vollbringen vermag. Alle europäischen Staaten haben
  • heute unter der Kompliziertheit aller Gesetze und Verordnungen zu
  • leiden. Überall macht sich eine eigentümliche Erscheinung bemerkbar: die
  • eigentlichen bürgerlichen Gesetze sind über ihre Grenzen und Schranken
  • hinausgewachsen und sind in fremde Gebiete eingedrungen, die außer ihrem
  • Bereich liegen. Einerseits haben sie einen Einbruch in ein Gebiet
  • vollzogen, das lange Zeit unter der Herrschaft der Volkssitten stand,
  • andererseits aber sind sie in ein Bereich eingedrungen, das ewig unter
  • dem Zepter der Kirche verbleiben muß. Dieser Prozeß hat sich nicht etwa
  • gewaltsam vollzogen, dieser Austritt der bürgerlichen Gesetze aus ihrem
  • Bett geschah ganz von selbst, da sich überall leere unausgefüllte Lücken
  • darboten, die einem solchen Einbruch keinen Widerstand bereiteten. Die
  • Mode unterwühlte die alten Sitten, die Geistlichkeit wandte sich immer
  • mehr von dem geraden einfachen Leben in Christo ab und überließ so alle
  • privaten Verhältnisse der Menschen und das Privatleben ihrem Schicksal.
  • Die bürgerlichen Gesetze nahmen beide, wie verlassene Waisen unter ihre
  • Obhut, und gerade dies war der Grund, weswegen die Gesetze so verwickelt
  • wurden. Denn an und für sich sind sie gar nicht sehr zahlreich und
  • weitläufig, und wenn wir wieder dazu zurückkehren, was von Rechts wegen
  • der Herrschaft der Sitte untersteht und ein ewiges Besitztum der Kirche
  • ist, wird das ganze bürgerliche Gesetz in einem Buche Platz finden
  • können, das nur lediglich die großen Abweichungen von der sozialen
  • Ordnung und die eigentlichen staatlichen Verhältnisse enthält. Heute
  • sieht jedermann, daß eine große Menge von Fällen, von Mißbräuchen und
  • Intrigen nur dadurch entstehen konnte, daß die philosophisch gebildeten
  • Gesetzgeber Europas von vornherein sämtliche möglichen Abweichungen bis
  • in ihre feinsten Einzelheiten feststellen wollten und damit jedermann,
  • selbst den besten und vornehmsten Leuten, einen Weg zu unendlichen und
  • ganz unberechtigten Prozessen ebneten; früher hätten diese Leute es für
  • unanständig gehalten, einen solchen Prozeß zu beginnen, heute dagegen
  • wagen sie es dreist, da sie aus irgendeinem Paragraphen, oder einer
  • Verfügung die Möglichkeit oder die Hoffnung herauslesen, ein einstmals
  • verlorenes Gut wieder zu erlangen oder auch nur einem andern sein
  • Besitzrecht streitig zu machen. Und nun geht so ein Mensch gleich aufs
  • Ganze, wie ein Held sich zum Sturm rüstet, und nimmt überhaupt keine
  • Rücksicht auf seinen Gegner; mag dieser dabei auch sein letztes Hemd
  • verlieren oder mit seiner ganzen Familie betteln gehn. Ein leidlich
  • menschenfreundlicher Mensch ist heute fähig, ganz offen die größten
  • Grausamkeiten zu begehen, ja er rühmt sich ihrer noch, während er sich
  • schon des bloßen Gedankens schämen würde, wenn ein Diener der Kirche
  • beide Parteien, statt ihnen ihren persönlichen Vorteil vorzuhalten, vor
  • das Angesicht Christi stellen wollte und wenn es Sitte würde, daß, wie
  • es in der Tat die Regel sein sollte, in allen verwickelten, dunklen,
  • kasuistischen Fragen, kurz in allen Fällen, wo die Weiterungen vor den
  • Instanzen drohen, die _Kirche_ und nicht das bürgerliche Gesetz die
  • Menschen miteinander zur Versöhnung bringt. Es ist nur die Frage: wie
  • ist das zu bewerkstelligen? Wie soll man es einrichten, daß dem
  • bürgerlichen Rechte tatsächlich nur die Fälle zugewiesen werden, die
  • wirklich unter das bürgerliche Recht fallen, daß der Herrschaft der
  • Sitte wiedergegeben werde, was unter der Herrschaft der Sitte verbleiben
  • muß, und daß der Kirche wieder zurückerstattet werde, was ihr ewiglich
  • angehört? Kurz, wie soll alles wieder an seinen rechten Platz gebracht
  • werden? In Europa ist es unmöglich, solches zu vollbringen: Dazu müßten
  • Ströme von Blut vergossen werden, Europa würde in unnützen Kämpfen
  • erliegen und doch nichts erreichen. In Rußland aber ist die Möglichkeit
  • hierzu vorhanden: in Rußland könnte es sich ganz unmerklich und
  • schmerzlos vollziehen -- nicht durch irgendwelche Neuerungen,
  • Umwälzungen oder Reformen, ja nicht einmal mit Hilfe von allerhand
  • Sitzungen oder durch Bildung von Komitees, nicht durch Debatten,
  • Zeitungsgerede und Zeitungsgeschwätz, in Rußland kann ein jeder
  • Generalgouverneur eines Gebietes, das seiner Obhut anvertraut ist, den
  • Grund dazu legen; und wie einfach! -- Durch nichts andres als nur durch
  • sein eignes Leben. Durch die patriotische Schlichtheit seiner
  • Lebensweise und die einfache Art seines Umgangs mit allen Leuten kann er
  • die Herrschaft der Mode mit ihrer leeren, hohlen Etikette beseitigen und
  • die russischen Sitten befestigen, die wirklich gut sind und mit Nutzen
  • auf unser gegenwärtiges Leben angewandt werden können. Er kann eine
  • mächtige Wirkung in der Richtung ausüben, daß die Beziehungen zwischen
  • den Stadtbewohnern untereinander wie die der Gutsbesitzer unter sich
  • schlichter und einfacher werden, denn die Beseitigung dieser
  • komplizierten gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie heute bestehen,
  • muß unbedingt auch die Streitigkeiten und die Unzufriedenheit
  • beseitigen, die sich wie ein Wirbelwind zwischen den Bewohnern der
  • Städte erhoben haben. Und ebenso wie zur Einführung und Befestigung der
  • Sitten kann der Generalgouverneur dazu beitragen, daß die Kirche heute
  • ihre rechtmäßige Stellung im Leben des Russenvolkes wiedergewinnt: er
  • kann dies erstlich durch sein eigenes Beispiel, durch sein Leben, und
  • zweitens auch durch bestimmte Maßnahmen erreichen -- aber nicht etwa
  • durch erzwungene und gewaltsame Maßregeln, sondern durch solche, die
  • weit wirksamer sind als jede Gewalt. Hierüber wollen wir später einmal
  • miteinander reden, wenn Sie wirklich eine Stellung angenommen haben
  • werden; bis dahin aber will ich Ihnen nur dies sagen: wenn schon die
  • einfache Sitte mächtiger ist als jedes geschriebene Gesetz -- und was
  • ist denn übrigens die Sitte, wenn man sie ganz streng betrachtet?
  • Mitunter hat sie überhaupt keine Bedeutung für unsere Zeit, man kennt
  • den Grund nicht, weswegen sie eingeführt wurde, man weiß nicht, woher
  • sie stammt, und fühlt und merkt nichts von einer Autorität, die sie
  • eingesetzt hätte; mitunter aber ist sie sogar ein Überbleibsel aus den
  • Zeiten des Heidentums, das im absoluten Gegensatz zum Christentum und zu
  • allen Grundlagen des modernen Lebens steht -- wenn nun nach alledem
  • schon die Sitte etwas so Mächtiges ist, daß es schwierig ist, sie selbst
  • im Laufe von vielen Jahren auszurotten -- wie würden sich wohl die Dinge
  • gestalten, wenn man Sitten einführen wollte, die sich auf die Vernunft
  • gründen, die einstimmig und einmütig von allen anerkannt werden und die
  • höhere Billigung und den Segen Christi und Seiner Kirche erhalten
  • würden? Eine solche Sitte würde sich von Jahrhundert zu Jahrhundert
  • fortpflanzen, und keine Macht der Erde würde sie vernichten können, was
  • die Welt auch für Erschütterungen heimsuchen sollten. Aber das ist ein
  • gewaltiger Gegenstand, über ihn muß man vernünftig reden, und dazu bin
  • ich zu dumm. Vielleicht werde ich später einmal, wenn Gott mir hilft und
  • mich erleuchtet, etwas darüber zu sagen haben. An Arbeit wird es Ihnen
  • also nicht fehlen. Darin also suchen Sie stark zu werden; greifen Sie
  • daher mit fester Hand zu, wenn Ihnen das Amt eines Generalgouverneurs
  • angeboten werden sollte. Sie werden es jetzt so verwalten, wie es
  • verwaltet sein muß, und sich dabei im Einklang mit den Wünschen und
  • Forderungen der Regierung befinden -- d. h. Sie werden das ganze Gebiet
  • wie eine frischen Mut spendende Kraft durchziehen, alles aufrütteln,
  • alle erfrischen, Begeisterung um sich verbreiten, allem einen frischen
  • Impuls geben und dann in eine andere Provinz reisen, um dort das Gleiche
  • zu wirken. Sie werden selbst sehen, daß dieser Beruf immer nur
  • provisorisch sein kann, sonst hätte er keinen Sinn, denn der innere
  • Organismus eines Gouvernements ist etwas in sich Abgeschlossenes und
  • Vollendetes, und bedarf keines weiteren Regierungsbeamten außer dem
  • Bürgergouverneur. So gehen Sie denn mit Gott und fürchten Sie sich vor
  • nichts! Aber selbst wenn Sie ein andres Amt übernehmen sollten, halten
  • Sie sich stets an die gleichen Grundsätze. Vergessen sie niemals, daß
  • die Zeit ihres Wirkens begrenzt ist. Richten Sie alles so ein, ordnen
  • Sie alle Angelegenheiten in der Weise, daß sich alles, nicht nur so
  • lange Sie da sind, sondern auch nach Ihrem Weggang in geordneter Weise
  • abwickelt, daß Ihr Nachfolger kein Ding von seiner Stelle zu rücken
  • vermag, sondern sich unwillkürlich auch selbst innerhalb der von Ihnen
  • gezogenen Grenzen betätigen und die von Ihnen vorgezeichnete,
  • vernünftige Richtung einhalten muß. Christus wird Sie lehren, Ihr Werk
  • dauernd, für alle Zeiten zu begründen und zu befestigen. Seien Sie allen
  • Ihren Untergebenen, seien Sie Ihren Beamten im wahren Sinne des Wortes
  • ein Vater und seien Sie einem jeden dabei behilflich, seine Pflicht und
  • Schuldigkeit treu und redlich zu tun. Reichen Sie jedem freundlich die
  • Bruderhand, wenn er sich von seinen eigenen Fehlern und Lastern befreien
  • will. Suchen Sie auf alle Einfluß zu gewinnen, aber nur in der Absicht,
  • jeden zu lehren, wie er selbst auf sich Einfluß gewinnen kann. Sorgen
  • Sie ferner dafür, daß keiner sich allzusehr auf Sie verläßt und stützt
  • wie auf seinen eigenen Stab, so wie die römisch-katholischen Damen sich
  • ganz auf ihre Beichtväter stützen, ohne deren Erlaubnis sie es nicht
  • einmal wagen, aus einem Zimmer ins andere zu gehen, warten sie doch
  • stets auf die Beichtstunde, um sich beim Priester Rat einzuholen; der
  • Mensch muß vielmehr wissen, daß die Wärterin ihm nur für eine bestimmte
  • Zeit und nicht für immer beigegeben wird, und daß, wenn der Lehrer ihn
  • im Stiche läßt, der Zeitpunkt gekommen ist, wo er noch eifriger und
  • sorgfältiger auf sich acht geben muß als früher, stets eingedenk, daß es
  • nun niemand mehr gibt, der über ihn wacht, und jede Lehre, die ihm
  • gegeben ward, treu wie ein Heiligtum in seinem Gedächtnis bewahrend.
  • Sorgen Sie auch dafür, daß es beim Abschied, wenn Sie Ihr Amt
  • niederlegen sollten, keine Tränen und kein Gejammer gibt, sondern daß
  • ein jeder noch frischer und mutiger in die Zukunft sehe, und daher
  • sparen Sie sich alles, was Sie einem jeglichen zu seiner Belehrung sagen
  • möchten, sorgsam für den Tag des Abschieds auf: an diesem Tage werden
  • alle Ihre Worte ihnen heilig sein, und was sie sonst nicht anerkannt und
  • wonach sie sich sonst nicht gerichtet hätten, das werden sie jetzt
  • willig aufnehmen und danach handeln. Für mich ist die Stunde des
  • Abschieds von meinen Freunden -- der schönste Augenblick; jeder meiner
  • Freunde, der jetzt von mir Abschied nimmt, tut es frohen Mutes, und
  • seine Seele ist heiter. Das werden Ihnen alle bezeugen, die in der
  • letzten Zeit Abschied von mir genommen haben. Ich bin sogar davon
  • überzeugt, daß wenn ich einmal sterben werde, alle die mich lieb gehabt
  • haben, fröhlich und heiteren Mutes von mir Abschied nehmen werden.
  • Keiner von Ihnen wird weinen, und alle werden nach meinem Tode weit
  • fröhlicher sein als bei meinen Lebzeiten, und endlich will ich Ihnen
  • noch etwas über die Liebe und die allgemeine Sympathie für uns sagen,
  • nach der viele so sehr haschen. Sich die Liebe anderer erschmeicheln zu
  • wollen -- das ist ein falsches Streben, das den Menschen nicht
  • beschäftigen sollte. Streben Sie danach, -- die andern Menschen zu
  • lieben, und nicht danach, daß andere Menschen _Sie_ lieben. Wer einen
  • Lohn für seine Liebe verlangt, der ist ein gemeiner Mensch und noch weit
  • vom Christentum entfernt. O wie dankbar bin ich, daß Gott mir schon in
  • meiner Jugend diese merkwürdige und mir selbst kaum verständliche
  • Abneigung gegen jegliche unpassende, überflüssige Gefühlsergüsse
  • eingepflanzt hat; ich habe ihnen stets zu entfliehen gesucht, wie etwas
  • Unangenehmem und Widerwärtigem, selbst wenn sie von Verwandten oder
  • Freunden herrührten! Wie wichtig ist es doch, daß unsere ganze Liebe
  • keinem Wesen dieser Erde angehören darf! Sie sollte sich von einem
  • Vorgesetzten auf den andern übertragen, und sowie ein Vorgesetzter
  • merkt, daß sie sich ihm zuwendet, sollte er sie sofort von sich auf den
  • über ihm stehenden höheren Vorgesetzten abzulenken suchen, bis sie so
  • endlich zu ihrer rechtmäßigen Quelle gelangt und bis ein von allen
  • geliebter Kaiser sie feierlich und angesichts der ganzen Welt Gott
  • selbst darbringt.
  • 1845.
  • XXIX
  • Wessen Los auf Erden das beste ist
  • Aus einem Briefe an U--
  • Ich vermag Ihnen durchaus nicht zu sagen, wessen Los auf Erden das
  • schönere ist und wem das bessere Teil beschieden ward. Früher als ich
  • noch törichter und dümmer war, zog ich einen Beruf einem andern vor;
  • jetzt dagegen erkenne ich, daß das Los aller Menschen gleich
  • beneidenswert ist. Alle erhielten den gleichen Lohn -- sowohl der, dem
  • ein Talent anvertraut ward und der ein zweites hinzuerwarb, wie der, dem
  • fünf Talente verliehen wurden und der noch fünf weitere dafür
  • zurückbrachte. Ich glaube sogar, daß das Los des ersten noch besser ist,
  • gerade weil er auf Erden keinen Ruhm genossen und nicht von dem
  • Zaubertrank irdischer Ehren gekostet hat, wie der letzte. Wie wunderbar
  • ist doch die göttliche Gnade, die jedem den gleichen Lohn bestimmte, der
  • redlich seine Schuldigkeit getan hat, ob er nun der Zar oder der ärmste
  • Bettler ist. Dort werden sie alle gleich sein, denn sie alle werden
  • eingehen in die Freude ihres Herrn und werden alle _gleichermaßen_ in
  • Gott sein. Freilich hat Christus selbst an einer andern Stelle gesagt:
  • »_Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen_«, aber wenn ich mir diese
  • Wohnungen vorstelle, wenn ich darüber nachdenke, was die Wohnungen
  • Gottes sein mögen, kann ich mich nicht der Tränen enthalten, und ich
  • weiß, daß ich mich nie entscheiden könnte, welche ich wählen soll, wenn
  • ich wirklich einmal gewürdigt sein sollte, am himmlischen Reiche
  • teilzunehmen, und wenn die Frage an mich erginge: »welche von ihnen
  • möchtest du wählen?« Ich weiß nur das eine, daß ich antworten würde:
  • »die letzte, Herr, wenn sie nur in Deinem Hause ist.« Ich glaube, man
  • kann sich nichts Schöneres wünschen, als jenen Auserwählten zu dienen,
  • die bereite gewürdigt wurden, Seinen Ruhm in all Seiner majestätischen
  • Größe zu schauen, zu ihren heiligen Füßen liegen und sie zu küssen!
  • 1845.
  • XXX
  • Ein Geleitspruch
  • Auf deinen Brief werde ich dir jetzt nicht antworten, die Antwort
  • erhältst du später. Ich sehe und begreife alles: deine Leiden sind groß.
  • Bei einer solch zarten, feinfühligen Seele so grobe Beschuldigungen
  • anhören, mit so hohen Gefühlen unter so groben, plumpen Menschen weilen
  • zu müssen, wie die Bewohner dieses armseligen Städtchens, in dem du dich
  • niedergelassen hast und deren rohe täppische Berührung, ohne daß sie es
  • wissen, schon allein ausreicht, um die edelsten Schätze und
  • Kostbarkeiten des Herzens in Scherben zu schlagen; dulden zu müssen, daß
  • mit plumper Bärentatze auf die zarten Saiten der Seele losgeschlagen
  • wird, die dem Menschen dazu verliehen werden, um himmlische Laute
  • auszuströmen, bis sie verstimmt sind und reißen, und über dies alles
  • noch all die Gemeinheiten und Schändlichkeiten mit ansehen zu müssen,
  • die sich täglich ereignen und die Verachtung derer dulden zu müssen, die
  • selbst der Verachtung wert sind -- ich weiß wohl, daß ist alles sehr
  • bitter. Und deine physischen Leiden sind nicht weniger qualvoll. Dein
  • Nervenleiden, deine Melancholie und diese furchtbaren Ohnmachtsanfälle,
  • die dich jetzt heimsuchen -- das alles ist hart, sehr hart, ich vermag
  • dir nichts andres zu sagen, als daß es wirklich sehr hart, sehr bitter
  • ist! Aber hier hast du einen Trost. Das alles ist nur der Anfang; du
  • wirst noch mehr Kränkungen zu erdulden haben, dir stehen noch härtere
  • Kämpfe [mit der Bestechlichkeit] mit allerhand Schuften und Gaunern und
  • schamlosen Leuten bevor, Leuten, für die es nichts Heiliges gibt, die
  • nicht nur einer solchen Schändlichkeit fähig sind, von der du schreibst
  • [d. h. eine fremde Unterschrift zu fälschen] -- die den Mut haben, ein
  • so furchtbares Verbrechen auf einen Unschuldigen zu laden, mit eigenen
  • Augen anzusehen, wie das Opfer ihrer Verleumdung bestraft wird und nicht
  • mit der Wimper zu zucken -- ja die nicht nur einer solchen Niedertracht,
  • sondern noch weit niederträchtigerer Handlungen fähig sind, deren bloße
  • Beschreibung einem mitleidigen Menschen für immer den Schlaf rauben
  • könnte (o wenn doch solche Leute nie geboren würden!) Alle himmlischen
  • Heerscharen zittern vor Schrecken beim Gedanken an die furchtbaren
  • Strafen, die sie in jener Welt erwarten und vor denen sie niemand mehr
  • zu retten vermag. Unzählige neue und ganz unvorhergesehene Niederlagen
  • warten deiner. In deiner exponierten [und unscheinbaren] Stellung kann
  • alles passieren. Deine Nervenanfälle und deine Leiden werden noch
  • stärker werden, deine Melancholie wird noch zunehmen, deine Mutlosigkeit
  • wird sich bis zur Verzweiflung steigern, und deine Schmerzen und Qualen
  • werden noch furchtbarer und vernichtender werden. Allein denke stets
  • daran, daß wir nicht in diese Welt berufen werden, um Feiertage und
  • Feste zu feiern -- wir werden hierher berufen, um Schlachten zu
  • schlagen, den Sieg werden wir _dort_ feiern. Daher dürfen wir keinen
  • Augenblick vergessen, daß wir ausgezogen sind, um zu kämpfen, und hier
  • gibt es nichts zu wählen und zu überlegen, wo uns weniger Gefahren
  • drohen! Wie ein guter Soldat muß sich ein jeder von uns in den Kampf
  • stürzen, wo er am heißesten tobt. Der himmlische Feldherr schaut von
  • oben auf uns alle herab, und Seinem Blick entgeht nicht die geringste
  • von unseren Handlungen. Du darfst daher das Schlachtfeld nicht meiden,
  • sondern mußt mutig in den Kampf stürmen; auch darfst du dir nicht etwa
  • einen schwachen Feind aussuchen, sondern du mußt dir einen Starken zum
  • Gegner wählen. Der Kampf mit einem kleinen Schmerz und mit geringen
  • Leiden wird dir keine großen Ehren eintragen. [Für einen Russen ist es
  • nicht sehr rühmlich, sich mit einem friedfertigen Deutschen einzulassen,
  • wenn man im voraus weiß, daß er davonlaufen wird; es mit einem
  • Tscherkessen aufzunehmen, vor dem alle zittern, weil sie ihn für
  • unüberwindlich halten, den Kampf mit einem solchen Tscherkessen
  • aufzunehmen und ihn zu besiegen, das ist eine Leistung, deren man sich
  • rühmen kann!] Nun denn, vorwärts mein tapferer Kämpe! Gott helfe dir,
  • mein braver Kamerad! Gott voran, mein herrlicher Freund!
  • XXXI
  • Wesen und Eigenart der russischen Poesie
  • Trotz des äußeren Anscheins der Nachahmung besitzt unsere Dichtung sehr
  • viel Eigenartiges. Ihr natürlicher Quell regte sich schon in der Brust
  • des Volkes, als noch ihr Name in keines Menschen Munde war. Ein Strahl
  • dieses Quells bricht in unsern Liedern hervor, in denen zwar wenig Liebe
  • zum Leben und zu den Dingen dieser Welt, dafür aber eine mächtige
  • Sehnsucht nach einer grenzenlosen, zügellosen Freiheit, ein Streben,
  • sich von den Tönen in eine unendliche Ferne forttragen zu lassen, lebt.
  • Sein Strom bricht auch in unsern Sprichworten hervor, die von dem
  • ungewöhnlich reichen Verstande unseres Volkes zeugen, der alles in ein
  • Werkzeug für seine Zwecke zu verwandeln gewußt hat: die Ironie, den
  • Spott, die Anschaulichkeit, die Treffsicherheit eines plastischen
  • Denkens, um ein von Leben strotzendes Werk zu erschaffen, das das ganze
  • Wesen des Russen ergreift und erschüttert, indem es seine
  • empfindlichsten Stellen zu treffen weiß. Sein Strom bricht endlich auch
  • aus den Reden der Diener unserer Kirche hervor -- Reden, die so einfach,
  • so schmucklos und doch so bedeutsam sind, durch das Streben, sich bis zu
  • dem Gipfel leidenschaftsloser, heiliger Ruhe zu erheben, den zu
  • erklimmen, jedes Christen Bestimmung ist, sowie durch die Bemühung,
  • nicht etwa die Leidenschaften des Herzens zu entfachen, sondern den
  • Menschen zu höchster, geistiger Nüchternheit und Besonnenheit zu
  • erziehen. Dies alles versprach unserer Dichtung eine eigenartige und
  • urwüchsige Entwicklung, wie sie den andern Völkern unbekannt war. Aber
  • nicht von diesen drei Quellen, die bereits in uns ruhten, leitet unsere
  • wohllautende Poesie, die uns heute einen so hohen Genuß bereitet, ihren
  • Ursprung her, so wenig als die Struktur unserer gegenwärtigen
  • bürgerlichen Ordnung sich auf Elemente zurückführen läßt, die unserem
  • Lande schon früher eigen waren. Unsere bürgerliche Ordnung ist ja auch
  • nicht durch eine geregelte allmähliche Entwicklung der Dinge, nicht
  • durch eine langsame wohlüberlegte Verpflanzung europäischer Sitten in
  • unser Land entstanden -- was schon aus dem einfachen Grunde unmöglich
  • war, weil die europäische Aufklärung bereits eine viel zu hohe Stufe der
  • Reife erreicht hatte, weil ihre Wogen schon zu hoch gingen, als daß sie
  • nicht früher oder später von allen Seiten über Rußland hereinbrechen und
  • ohne einen solchen Führer, wie Peter es war, in allen Dingen eine viel
  • größere Unordnung hervorrufen mußten, als sie sich später tatsächlich
  • bemerkbar machte. Unsere bürgerliche Ordnung entsprang aus einer
  • Erschütterung, aus jener gewaltigen Erschütterung des ganzen Staates,
  • die der Zar, dieser große Reformator, hervorrief, als Gottes Wille ihm
  • den Gedanken eingab, sein junges Volk in den Kreis der europäischen
  • Staaten einzureihen und es plötzlich mit allem bekannt zu machen, was
  • sich Europa durch lange Jahre blutiger Kämpfe und Leiden errungen hatte.
  • Eine so plötzliche Umkehr war eine Notwendigkeit für das russische Volk,
  • und die europäische Aufklärung war der Feuerstahl, der diese ganze
  • Volksmasse treffen mußte, die im Begriff war, einzuschlafen. Der Stahl
  • verleiht dem Stein kein Feuer, wenn aber der Stahl den Stein nicht
  • trifft, gibt der Stein kein Feuer von sich. Und sogleich schlug aus dem
  • Volk eine Flamme empor. Diese Flamme war die Freude, die Freude über das
  • Erwachen, die im Anfang freilich noch unbewußt war. Noch hatte keiner
  • das Gefühl, daß er dazu erwacht sei, um im Licht der europäischen
  • Bildung sich selbst besser kennen zu lernen, nicht aber Europa zu
  • kopieren. Jeder fühlte nur, daß er erwacht war. Aber schon diese bloße
  • Umwälzung des ganzen Staates, die durch einen einzigen Menschen, und
  • zwar durch den Zaren selbst, bewirkt war, der zeitweilig sogar großmütig
  • auf seine Zarenwürde verzichtete, um jedes Handwerk kennen zu lernen und
  • mit der Axt in der Hand in allen Dingen voranzugehen, damit keine von
  • den Wirrungen und Verwicklungen entstünde, die selbst die
  • geringfügigsten Veränderungen der Staatsform zu begleiten pflegen --
  • schon diese Umwälzung war in der Tat eine Sache, die der Freude und der
  • Begeisterung wert war. Eine Staatsumwälzung, die gewöhnlich das in
  • Mitleidenschaft gezogene Volk auf Jahre unter Ströme von Blut setzt,
  • wenn sie die Folge innerer Parteikämpfe ist, wurde hier im Angesicht von
  • ganz Europa in so geordneter Weise vollzogen, wie das glänzende Manöver
  • eines vortrefflich geschulten Heeres. Rußland erhob sich plötzlich zur
  • Würde eines großen Staates, seine Stimme wurde dem Donner gleich, ein
  • Glanz strahlte von ihm aus: der Widerschein der europäischen Bildung.
  • Alles in dem jungen Staate geriet in Begeisterung, allen entrang sich
  • ein Schrei des Staunens, wie ihn ein Wilder angesichts neueingeführter
  • kostbarer Schätze ausstößt. Diese Begeisterung spiegelt sich in unserer
  • Poesie oder richtiger: sie hat diese Poesie erst erschaffen. Das ist der
  • Grund, warum diese Poesie mit dem ersten Gedicht, das veröffentlicht
  • wurde, einen so feierlichen Klang annimmt. Spricht doch aus ihr das
  • Bestreben, einen Ausdruck für die Begeisterung über das neue Licht, das
  • sich über Rußland ergossen hatte, für das Staunen über die große
  • Aufgabe, die dem Lande bevorstand und für den Dank zu finden, den es dem
  • Zaren für dies alles schuldete. Seit dieser Zeit wurde das Streben nach
  • dem Licht unser eigentliches Element, der sechste Sinn des Russen, und
  • es erschuf unsere gegenwärtige Poesie, indem es ihr jenes neue
  • lichtbringende Prinzip einhauchte, das wir in keiner der drei Quellen,
  • von denen zu Beginn die Rede war, entdecken konnten.
  • Was ist Lomonossow, wenn wir ihn an sich betrachten? Ein schwärmerischer
  • Jüngling, begeistert von dem Licht der Wissenschaft und der hohen
  • Aufgabe, die er vor sich sieht. Wie durch Zufall wird er Poet. Die
  • Freude über den ersten Sieg der Russen läßt ihn seine erste Ode aufs
  • Papier werfen, hastig entlehnt er bei unsern deutschen Nachbarn Form und
  • Metrum, wie sie in jener Zeit bei ihnen üblich waren, ohne zu überlegen,
  • ob sie sich für unsere russische Sprache eignen oder nicht. Seine
  • künstlichen rhetorischen Oden lassen auch nicht eine Spur schöpferischer
  • Kraft erkennen, aber die Begeisterung bricht doch schon allenthalben
  • hervor, wo er einen Gegenstand berührt, der seiner wissensdurstigen
  • Seele nahesteht. Das Nordlicht, mit dem er sich in seinen
  • wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigte, kommt ihm in Sinn, und die
  • Frucht dieses Einfalls ist die Ode: _Abendbetrachtungen über Gottes
  • Größe_, die von Anfang bis Ende eine hohe Majestät und Würde atmet und
  • die kein anderer außer Lomonossow hätte schreiben können. Ein ähnlicher
  • Einfall wird der Anlaß für die Epistel an Schuwalow: _Über den Nutzen
  • des Glases._ Jede Erwähnung Rußlands, das seinem Herzen so nahesteht und
  • das er immer durch die Perspektive seiner glänzenden Zukunft sieht,
  • erfüllt ihn mit wunderbarer Kraft. Mitten unter kalten nüchternen
  • Strophen begegnen wir Versen, die uns plötzlich in eine andere Welt
  • versetzen. Man hat das Gefühl, als ob -- um uns seiner eigenen Worte zu
  • bedienen --
  • Der Götterjüngling David leicht
  • Der Harfe heil'ge Saiten meistert
  • Und aus Jesaias Mund begeistert
  • Ein Psalm empor zum Himmel steigt.
  • Er überschaut das ganze russische Land von einem Ende bis zum andern,
  • wie von einem lichten Gipfel herab, begeistert und entzückt von seiner
  • grenzenlosen Weite und seiner jungfräulichen Natur, und es scheint, als
  • wolle sein Entzücken kein Ende nehmen. Aus seinen Schilderungen spricht
  • mehr die Ansicht eines gelehrten Naturforschers als die eines Dichters,
  • aber die treuherzige reine Kraft seiner Begeisterung verwandelt den
  • Naturforscher in einen Dichter, und was das Merkwürdigste ist, indem er
  • seine Verse in die strengen Maße des deutschen Jambus preßt, tut er der
  • Sprache durchaus keine Gewalt an; die Sprache fließt innerhalb der engen
  • Grenzen dieses Versmaßes mit der gleichen Würde und Freiheit dahin, wie
  • ein wasserreicher Fluß in seinem breiten Bette. Ja, sie klingt in seinen
  • Versen noch schöner und freier als in seiner Prosa, und Lomonossow heißt
  • daher nicht umsonst der Vater unserer Verskunst. Das Merkwürdige ist,
  • daß der Urheber unserer Sprache zugleich auch ihr Herr und Gesetzgeber
  • wird. Lomonossow steht an der Spitze unserer Dichter wie die Vorrede zu
  • einem Buche. Seine Poesie ist die aufsteigende Morgenröte: sie gleicht
  • einem Wetterleuchten, das zwar nicht allem Helligkeit verleiht, sondern
  • sein Licht nur auf einzelne Strophen wirft. Rußland erscheint bei ihm
  • nur in seinen allgemeinen geographischen Umrissen; er scheint
  • ausschließlich darum bemüht zu sein, eine Skizze von dem gewaltigen
  • Reich zu entwerfen, und seine Grenzen durch Punkte und Linien
  • abzustecken, während er die Ausmalung den andern überläßt. Er selbst ist
  • gleichsam nur ein erster prophetischer Entwurf der Dinge, die da kommen
  • sollen.
  • Durch den Einfall Lomonossows wurde bei uns die Ode eingeführt. Feste,
  • Siegesfeiern, Geburtstage hoher Persönlichkeiten, ja sogar eine
  • Illumination oder ein Feuerwerk werden Gegenstände dieser Oden. Die
  • Verfasser dieser Dichtungen brachten es jedoch bestenfalls nur zu einer
  • gewissen Bravour, ohne daß ihre Produkte von wahrer Begeisterung
  • getragen wurden. Höchstens _Petrow_ macht eine Ausnahme, dem es nicht an
  • einer gewissen Kraft und einem gewissen poetischen Feuer fehlt. Er war
  • ein wirklicher Dichter trotz der Härte und Trockenheit seiner Verse. Die
  • andern erreichten bestenfalls nur die kalte äußere Rhetorik der Oden
  • Lomonossows, und an Stelle des Wohllauts seiner Sprache tritt ein leeres
  • zuchtloses Wortgeklapper, das unser Ohr peinigt. Aber schon hatte der
  • Stahl den Feuerstein getroffen. Schon hatte der Funke der Poesie
  • gezündet. Noch hatte Lomonossow die Leier nicht aus der Hand gelegt, als
  • Dershawin seine ersten Lieder dichtete.
  • In der Epoche Katharinas, deren Regierung einer glänzenden Sammlung der
  • vorzüglichsten Werke russischer Schöpferkraft gleicht, als sich auf
  • allen Gebieten bedeutende russische Talente regten, in glorreichen
  • Schlachten ruhmgekrönte Feldherren auftraten, große Staatsmänner in der
  • inneren Organisation des Reiches tätig waren, geschickte Diplomaten sich
  • beim Abschluß von Verträgen auszeichneten, in den Akademien Gelehrte und
  • Sprachforscher eine rege Tätigkeit entfalteten, da trat auch der Dichter
  • Dershawin auf. Er hatte das gleiche malerische würdevolle Äußere wie
  • alle Männer aus der Zeit Katharinas, die in einer noch ungezügelten
  • Freiheit den Spielraum für ihre freie Entwicklung fanden. Bei ihnen
  • allen gibt es noch viel Unfertiges, und in den Details Unausgeführtes,
  • wie man es wohl in Werken findet, die allzufrüh in die Öffentlichkeit
  • gebracht werden. Die Möglichkeit einer Vergleichung Lomonossows und
  • Dershawins, die sich einem bei der ersten Bekanntschaft mit beiden
  • Dichtern aufdrängt, schwindet sofort, wenn man Dershawin eingehender
  • kennen lernt. Er bildet vielmehr in allem, selbst in seiner Erziehung,
  • den vollkommenen Gegensatz zu dem ersteren. Während sich Lomonossow
  • völlig den Wissenschaften widmet und das Dichten ausschließlich als eine
  • Zerstreuung und eine Erholung betrachtet, gibt _er_ sich gänzlich der
  • Dichtkunst hin und hält eine vielseitige wissenschaftliche Bildung für
  • unnütz und überflüssig. Rußlands Größe und Staatsmacht kommt auch bei
  • ihm zum Ausdruck, aber nun treten nicht nur die geographischen Umrisse
  • des Reiches hervor, sondern auch die Menschen und ihr Leben werden
  • sichtbar. Was ihn beschäftigt, ist nicht die abstrakte Wissenschaft:
  • sondern die Kenntnis des Lebens. Seine Oden wenden sich bereits an die
  • Menschen aller Berufe und Stände und zeugen von dem Streben, ein Gesetz
  • des richtigen Handelns aufzustellen, nach dem sich der Mensch in allem,
  • selbst in seinen Genüssen zu richten hat. Bei ihm macht sich schon eine
  • wirkliche schöpferische Kraft bemerkbar, er besitzt etwas noch
  • Gewaltigeres und Überirdischeres als Lomonossow, und man begreift nicht,
  • woher der hyperbolische Schwung seiner Rede stammt. Ist es ein Nachklang
  • unseres sagenhaften russischen Rittertums, das noch immer wie eine
  • dunkle Weissagung über unserem Lande schwebt und uns eine bessere
  • Zukunft vorhält, zu der wir bestimmt sind -- oder ist es ein Echo seines
  • alten tatarischen Ursprungs? Jener Steppen, in denen noch heute die
  • armseligen Überreste nomadisierender Horden umherirren, die ihre
  • Einbildungskraft an Erzählungen von klafterhohen Helden, die tausend
  • Jahre alt werden, entzünden? -- was es auch sein mag: dieser
  • Charakterzug Dershawins hat etwas Wunderbares! Mitunter holt er seine
  • Ausdrücke und Wendungen Gott weiß wie weit her: nur um möglichst nahe an
  • seinen Gegenstand heranzukommen. Hier ist alles kolossal und ungeheuer,
  • aber dort, wo ihn die Kraft der Begeisterung überkommt, da dienen diese
  • ungeheuerlichen Massen nur dazu, um den Gegenstand mit einer schier
  • unbegreiflichen Kraft zu beleben, so daß es uns so vorkommt, als blicke
  • er uns mit tausend Augen an. Man überlese den »_Wasserfall_«: man hat
  • den Eindruck, als wäre hier eine ganze Epopöe in eine gewaltig
  • dahinstürmende Ode zusammengedrängt. Gemessen an dieser Ode erscheinen
  • alle Dichter neben ihm wie Pygmäen, die Natur erscheint hier wie eine
  • höhere Wirklichkeit neben der, die wir mit unseren Augen sehen, die
  • Menschen gewaltiger als die, die wir kennen, und unser Dasein verglichen
  • mit dem mächtigen Leben, wie es dort dargestellt ist, wie das eines
  • fernen Ameisenhaufens. Von Dershawin kann man sagen: er ist der Sänger
  • des Erhabenen. Bei ihm ist alles erhaben: die Gestalt Katharinens und
  • Rußlands, das sich in seinen acht Meeren spiegelt; seine Feldherrn sind
  • königliche Adler, kurz, bei ihm ist alles groß und majestätisch. Man hat
  • jedoch das Gefühl: was seine Gedanken am meisten beschäftigte, was ihn
  • am meisten bewegte, war der Wunsch, einen im Kampf des Lebens gestählten
  • starken Menschen zu gestalten, bereit, es nicht nur mit seiner Zeit,
  • sondern mit allen Zeitaltern aufzunehmen, ihn so zu zeichnen, wie er
  • nach seiner Ansicht aus den ureigenen Wurzeln unserer russischen Natur
  • erwachsen müßte, genährt und groß geworden auf dem unerschütterlichen
  • Felsen unserer Kirche. Oft läßt er die Person, an die die Ode gerichtet
  • ist, beiseite, um an ihre Stelle seinen unbeugsamen wahrhaftigen Helden
  • zu setzen. Dann spricht er seine tiefen Wahrheiten mit einer Stimme aus,
  • die sich hoch über das gewöhnliche Maß erhebt. Das, was wir einen
  • Gemeinplatz zu nennen gewohnt sind, erhält seine hohe heilige Bedeutung
  • wieder, und wir lauschen seinen ewigen Worten, als wenn der Mund der
  • Kirche selbst zu uns spräche. Verglichen mit den Werken anderer Dichter
  • erscheint alles bei ihm groß und gigantisch: seinen poetischen Metaphern
  • fehlt es an der vollen plastischen Rundung, sie scheinen sich gleichsam
  • in einer Art vergeistigter Kontur zu verlieren, erhalten aber gerade
  • dadurch etwas noch Großartigeres und Erhabeneres. So schildert zum
  • Beispiel der Dichter den greisen Caspius, wie er über den Sturm empört,
  • über das Meer rast:
  • Wild springt er auf die Wellen los,
  • Schlägt mit dem Dreizack nach den Schiffen,
  • Stürmt himmelwärts, stürzt in den Schoß
  • Des Hades mit gesträubten Haaren,
  • Und durchs Gebirge hallt sein Schrei.
  • Hier schien sich ein _plastisches_ Bild des greisen Caspius gestalten zu
  • wollen, aber die Zeichnung verlor sich in abstrakt geistigen Konturen:
  • das Ohr hört nichts als den Donner des brausenden Meeres, und wie dem
  • grauköpfigen Greise, so sträuben sich auch dem Leser die Haare, der
  • erschüttert ist von der rauhen Größe des Bildes. Bei ihm ist alles
  • monumental. Sein Stil ist von einer Größe, wie bei keinem unserer
  • Dichter. Wenn wir diesen Stil mit dem Messer des Anatomen sezieren, so
  • sehen wir, daß dies in einer fremdartigen Verkuppelung pathetischer
  • Worte mit schlichten, ja trivialen begründet ist, wessen sich kein
  • anderer außer Dershawin erkühnen würde. Wer außer ihm würde es wagen,
  • sich so auszudrücken, wie er es an einer Stelle tut, wo er von seinem
  • großen Helden spricht: der nach Vollendung seiner irdischen Aufgabe
  • den Tod wie einen Gast erwartet
  • und sinnend sich den Schnurrbart streicht.
  • Wer außer Dershawin hätte es gewagt, eine so ernste Angelegenheit wie
  • die Erwartung des Todes zu einer so trivialen Geste wie das Streichen
  • des Schnurrbarts in Beziehung zu setzen? Aber wie ungeheuer gewinnt
  • hierdurch der Held an Anschaulichkeit und welch melancholisch-tiefes
  • Gefühl bleibt in unserer Seele zurück! Man muß jedoch sagen, daß sowohl
  • diese wie alle andern gigantischen Züge, die ihn weit über alle unsere
  • Dichter erheben, bei ihm etwas Zügelloses und Formloses annehmen, sowie
  • ihn die Inspiration verläßt: Alles gerät in Unordnung: Satzbau, Sprache,
  • Stil, alles knarrt wie ein schlechtgeölter Karren, und sein Vers gleicht
  • einem entseelten Leichnam. Seine Werke tragen die Spuren seiner
  • unvollkommenen geistigen und sittlichen Bildung. Der Mann, der andern
  • Selbstbeherrschung predigte, wußte sich selbst nicht zu beherrschen, hat
  • sich nie ganz selbst gefunden und hat mühsam und mit der ganzen Kraft
  • seiner Begeisterung den Weg zu seinem Ich suchen müssen, um das
  • aussprechen zu können, was sich der Seele des Dichters von selbst
  • entringen müßte. Hätte er sich die wahre Bildung zu erringen gewußt, es
  • würde keinen größeren Dichter als Dershawin gegeben haben. So aber
  • gleicht er nur einem gewaltigen unförmlichen Felsblock, vor dem zwar
  • niemand ohne Bewunderung stehen bleiben wird: jedoch kein Mensch wird
  • lange vor ihm verweilen, sondern bald zu andern reizvolleren Eindrücken
  • fortzueilen suchen.
  • Noch hatte Dershawin die Leier nicht aus der Hand gelegt, und schon
  • hatte sich alles um ihn verändert: das Zeitalter Katharinas, die
  • königlichen Feldherren, der höfische Luxus und das ganze höfische Leben
  • waren dahingeschwunden wie ein Traum, die Epoche Alexanders war
  • angebrochen: sauber, spiegelblank und manierlich. Die Menschen zogen
  • sich mehr in sich selbst zurück und wetteiferten, aus dem Gefühl heraus,
  • daß sie sich bisher allzusehr gehen gelassen hatten, ihren Handlungen
  • und Bewegungen Schönheit und edlen Anstand zu verleihen. Die Franzosen
  • galten in allen Dingen als Vorbild, und wie einst die Pariser Stutzer
  • den Ton in unserer Gesellschaft angaben, so beherrschten eine Zeitlang
  • die flinken französischen Poeten unsere Dichtung. Zur Rechtfertigung
  • unseres sicheren dichterischen Gefühls sei jedoch an dieser Stelle
  • erwähnt, daß uns nur einer dieser Dichter wirklich als Vorbild gedient
  • hat: _Lafontaine_, und zwar nur deshalb, weil er der Natur am nächsten
  • stand: _Dmitriew_, _Chemnitzer_ und _Bogdanowitsch_ dichteten in der
  • gleichen Art und behandelten ähnliche Stoffe wie er. Die russische
  • Sprache erhielt plötzlich eine gewisse Freiheit und die Fähigkeit, mit
  • angenehmer Leichtigkeit von Gegenstand zu Gegenstand überzugehen -- eine
  • Leichtigkeit, die Dershawin noch unbekannt war. Man pflegte nicht nur
  • die Ode, sondern versuchte sich in allen Arten und Formen der Poesie.
  • _Dmitriew_ bewies überall viel Talent, Geschmack, Einfachheit und
  • Anstand, und hierdurch wurde der Schwulst und das falsche Pathos
  • überwunden, das durch die talentlosen Nachahmer Dershawins und
  • Lomonossows üblich geworden war. Aber die Oberflächlichkeit der Epoche
  • vermochte unserer Dichtung keinen reicheren Inhalt darzubieten: sie
  • blieb allein auf das Gesellschaftsleben beschränkt, und man konnte sie
  • bald einem gewandten und gescheiten Weltmann vergleichen, der im Salon
  • sitzt und plaudert, nicht etwa um andern sein Herz zu öffnen oder sie zu
  • tüchtigen Handeln anzufeuern, sondern lediglich, um Konversation zu
  • machen und zu beweisen, daß er über jeden Gegenstand etwas zu sagen
  • habe. Die letzten Töne Dershawins waren verhallt wie die verklingenden
  • Töne einer Orgel und unsere Poesie schien plötzlich aus der Kirche in
  • den Ballsaal versetzt. Nur der eine _Kapnist_ ließ den Duft eines
  • wahrhaft beseelten Gefühls und eine eigenartige anthologische Anmut
  • verspüren, wie sie bisher noch nicht bekannt war. Man denke zum Beispiel
  • an sein Landhaus Obuchowka:
  • Mein liebes Häuschen, strohgedecket,
  • Ist nicht zu groß, noch ist's zu klein,
  • Der Freund wird stets willkommen sein
  • Und selbst den armen Bettler schrecket
  • Kein Türschloß fort, will er hinein.
  • Aber unsere Poesie vermochte nicht lange auf diesem Gipfel eines
  • oberflächlichen Gesellschaftslebens zu verweilen. Schon war ihre
  • Empfänglichkeit durch jenen Schlag Peters mit dem Stahl europäischer
  • Bildung geweckt, und sie erkannte plötzlich, daß sie von den Franzosen
  • nichts als eine gewisse Leichtigkeit entlehnen und für ihre Entwicklung
  • nutzbar machen konnte, und so wandte sie sich den Deutschen zu. In der
  • deutschen Literatur ging um diese Zeit etwas Merkwürdiges vor. Eine
  • unklare Sehnsucht, geheimnisvolle Überlieferungen, wunderbare
  • unerklärliche Ereignisse, dunkle Schatten aus einer unsichtbaren Welt,
  • Träume und Schrecken, wie sie die Kindheit des Menschen zu begleiten
  • pflegen, bildeten den Gegenstand der deutschen Dichtung. Man hätte eine
  • solche Poesie für die Laune eines Schulbuben halten können, wenn nicht
  • jenes kindliche Lallen in ihr vernehmbar gewesen wäre, durch das die
  • unsterbliche nach lebendiger Nahrung dürstende Seele von sich Kunde
  • gibt. Wie ein neugieriges Kind blieb unsere feinfühlige Dichtung von
  • dieser Erscheinung gebannt. Ihr nationaler Instinkt rief plötzlich in
  • ihr die Erinnerung an etwas Verwandtes wach. Bei alledem wären wir uns
  • nie mit den Deutschen begegnet, wenn nicht ein Poet in unserer Mitte
  • erstanden wäre, der uns diese neue wunderbare Welt durch den klaren
  • Kristall seines Wesens gezeigt hätte, das uns weit verständlicher war,
  • als das deutsche. Dieser Dichter ist _Shukowski_: die stärkste
  • Individualität in unserer Literatur. Durch die geheimnisvolle Fügung des
  • Höchsten war ihm von seinen Kindheitstagen an eine ihm selbst
  • unbegreifliche Sehnsucht nach dem Unsichtbaren, Mystischen in die Seele
  • gelegt. Wie der Held seiner Ballade _Wadim_ vernahm er immer einen
  • himmlischen Glockenton in seinem Herzen, der ihn in die Ferne rief.
  • Dieser Lockung folgend, stürzte er sich auf alles Unerklärliche und
  • Geheimnisvolle, wo immer es ihm begegnete, um es in Töne zu fassen, die
  • eine verwandte Saite in unserer Seele erklingen ließen. Alles dieser Art
  • entlehnt er fremden Dichtern, vor allem den Deutschen, und das Meiste
  • davon sind Übersetzungen. Aber diese Übersetzungen tragen so sehr die
  • Spur jener inneren Sehnsucht an sich, werden so heftig von ihrer Kraft
  • belebt und durchglüht, daß selbst Deutsche, die des Russischen mächtig
  • sind, zugestehen, die Originale erschienen neben ihnen wie Kopien,
  • während seine Übersetzungen den Charakter echter Originale besitzen. Man
  • weiß nicht, ob man ihn einen Übersetzer oder einen ursprünglichen
  • Dichter nennen soll; der Übersetzer gibt seine eigene Persönlichkeit
  • auf, während sie bei Shukowski stärker hervortritt als bei irgendeinem
  • unserer Dichter. Wenn wir die ganze Reihe seiner Dichtungen durchlaufen,
  • so werden wir finden, daß das eine von _Schiller_, ein anderes von
  • _Uhland_, ein drittes von _Walter Scott_, ein viertes von _Byron_
  • entlehnt ist; und alle diese Werke sind bis auf das einzelne Wort
  • getreue Abbilder ihrer Vorlagen. Die Persönlichkeit jedes Dichters ist
  • durchaus erhalten; als Übersetzer hatte Shukowski ja auch keine
  • Gelegenheit, sich vorzudrängen. Liest man jedoch mehrere Gedichte
  • nacheinander und fragt man sich, wessen Gedichte man gelesen habe, dann
  • fallen einem weder Schiller, noch Uhland, noch Walter Scott ein, sondern
  • ein Dichter, der sich von allen diesen unterscheidet, dessen Platz nicht
  • zu ihren Füßen ist, sondern der ein Recht hat, als Gleicher neben
  • Gleichen an ihrer Seite zu sitzen. Wie es jedoch möglich war, daß seine
  • eigene Persönlichkeit all diese Dichterpersönlichkeiten durchdringen
  • konnte, das bleibt ein Geheimnis, das sich jedem Leser aufdrängt. Es
  • gibt keinen Russen, der sich nicht aus den Werken Shukowskis selbst ein
  • getreues Abbild seiner geistigen Persönlichkeit bilden könnte. Man muß
  • auch sagen, daß sich in keinem der von ihm übertragenen Dichter eine so
  • starke Sehnsucht regt, in ein wolkenfernes, unsichtbares Traumland zu
  • entfliehen. Bei keinem von ihnen finden wir diesen festen Glauben an
  • übersinnliche Kräfte, die den Menschen überall schützend umschweben.
  • Wenn man Shukowski liest, so hat man beständig das Gefühl, für das
  • Dershawin die Worte gefunden hat:
  • »Dem Schutz des Himmels übergeben
  • Ward deines Lebens Sicherheit
  • Und Legionen Engel schweben
  • Ob deinem Haupte hilfsbereit.«
  • Er hat durch seine Übersetzungen eine Wirkung ausgeübt, wie ein
  • ursprünglicher urwüchsiger Dichter. Indem er unserer Dichtkunst dieses
  • ihr bis dahin ganz unbekannte Streben nach einer unsichtbaren
  • geheimnisvollen Welt einpflanzte, befreite er sie von dem Materialismus
  • nicht nur ihrer Gedanken und ihrer Sprache, sondern auch ihrer Versform,
  • die damit etwas Leichtes und Unkörperliches wie eine Vision erhielt. Mit
  • diesen Übersetzungen legte er den Grund zu allem Originalen, schuf er
  • neue Formen und Metren, die dann später auch von allen andern russischen
  • Dichtern angewandt wurden. Sein träger Geist hinderte ihn daran, vor
  • allem ein schöpferisches Talent zu sein -- es fehlte ihm nicht an
  • schöpferischer Kraft, er war nur zu träge im Erfinden. Im Beginn seiner
  • Schriftstellerlaufbahn gab er schon Beweise seiner Produktivität:
  • _Swetlana_ und _Ludmilla_ trugen zuerst die erwärmenden Klänge unserer
  • slawischen Seele durch die Lande und sie berührten uns weit verwandter
  • als die Lieder anderer Dichter -- ein Beweis dafür, daß sie zu einer
  • Zeit, als unser poetisches Empfinden noch schwach entwickelt war, einen
  • mächtigen Eindruck auf alle machten. Die Elegie ist eine Schöpfung
  • Shukowskis. Es gibt übrigens einen noch tieferliegenden Grund, auf den
  • diese Trägheit des Verstandes zurückzuführen ist: es ist seine
  • Veranlagung zur Kritik, die, nachdem sie sich einmal in seinem Geiste
  • festgesetzt hatte, ihn dazu drängte, auch noch bei jedem fertigen Werk
  • liebevoll zu verweilen. Daher sein feiner kritischer Instinkt, der
  • Puschkin so sehr in Erstaunen setzte. Puschkin zürnte ihm sehr, daß er
  • keine Kritiken schrieb. Seiner Meinung nach konnte niemand ein Kunstwerk
  • so gut zerlegen und beurteilen wie Shukowski. Diese Begabung für Kritik
  • und Analyse tritt besonders in seinen farbigen Naturschilderungen
  • hervor, die seine eigensten, selbständigsten Leistungen sind. Bezaubert
  • von einer Landschaft, bemächtigt er sich ihrer und läßt nicht eher von
  • ihr ab, als bis er wie mit dem Seziermesser noch ihr kleinstes,
  • verschwindendes Detail herausgehoben hat. Wer das Gedicht an die Sonne
  • zu schreiben vermochte, wer so das bunte Spiel der Sonnenstrahlen und
  • die Magie der Bilder, belauschen konnte, die sie zu jeder Tageszeit
  • hervorzaubert, wer in seinem »Bericht über den Mond« die magische Pracht
  • der Mondnächte und die Reihe der Bilder, die sie begleiten, so eingehend
  • und anschaulich zu schildern vermochte: der mußte natürlich im hohen
  • Maße die Begabung zur _Kritik_ besitzen. Seine »Slawin« mit ihren
  • Schilderungen von Pawlowsk ist vollkommene Malerei; die andächtige
  • träumerische Stimmung, die alle seine Bilder durchweht, verbreitet ein
  • warmes und erwärmendes Licht um sich, das den Leser mit einer
  • unbegreiflichen Ruhe erfüllt. Alle unsere Leidenschaften beruhigen sich
  • und eine geheimnisvolle Kraft scheint uns den Mund zu verschließen.
  • In der letzten Zeit trat ein Wendepunkt in Shukowskis dichterischer
  • Entwicklung ein. In dem Maße, als sich die in einem leuchtenden Dämmer
  • verschwebende Ferne, die er bis dahin nur in einer unklaren poetischen
  • Distanz erschaut hatte, zu immer reinerer Klarheit läuterte, begann er,
  • den Geschmack und die Vorliebe für die Gespenster und Phantome der
  • deutschen Balladen zu verlieren. Seine Neigung zur Träumerei machte
  • einer geistigen Heiterkeit Platz. Die Frucht dieser Stimmung war die
  • »Undine«, ein Werk, das ganz Eigentum Shukowskis war. Der deutsche
  • Dichter, der die gleiche Sage in Prosaform behandelt hatte, konnte ihm
  • nicht zum Vorbild dienen: erst Shukowski hat diesem Stoff zu seiner
  • vollen Klarheit und Heiterkeit verholfen. Von hier an wird ihm eine
  • kristallene Durchsichtigkeit der Sprache eigen, die dem Gegenstand eine
  • Klarheit verleiht, welche er nicht einmal bei dem ersten Darsteller des
  • Stoffes besitzt, dem er ihn entlehnt. Selbst sein Vers verliert das
  • Ätherische, Unbestimmte, das er früher besaß: er schreitet kräftiger und
  • sicherer einher. In Shukowski schienen sich alle Vorbedingungen zu
  • vereinigen, um mit Hilfe dieses Verses eine Dichtung von höchster
  • Vollkommenheit zu gestalten. Bei seiner Art des Schaffens, bei solchem
  • Erfülltsein des ganzen Menschen mit dem Geist der Antike und bei einer
  • so erleuchteten und hohen Lebensanschauung hätte uns ein solches Werk
  • sicherlich die ursprüngliche patriarchalische Welt des Altertums in
  • einer vertrauten und heimischen Beleuchtung näherbringen müssen -- eine
  • Leistung, die weit höher zu bewerten ist, als jede eigene Schöpfung und
  • die Shukowski eine universelle Bedeutung verleihen würde. Shukowski
  • verhält sich zu unsern andern Dichtern wie ein Goldschmied zu andern
  • Handwerksmeistern: das heißt wie ein Meister, der sich nur mit der
  • letzten Verarbeitung des Materials beschäftigt. Es ist nicht seine
  • Aufgabe, den Edelstein aus Bergestiefen ans Licht zu fördern: er hat dem
  • Diamanten lediglich die Fassung zu geben, die ihn in seinem vollen
  • Glanze erstrahlen läßt und jedem seinen ganzen Wert vor Augen führt. Ein
  • solcher Dichter konnte nur aus dem russischen Volke hervorgehen, dem
  • vielleicht nur darum eine geniale Empfänglichkeit verliehen ward, um all
  • dem, was die andern Völker noch nicht in ihrem Wert erkannt, nicht
  • verarbeitet oder übersehen hatten, eine edlere Form zu verleihen.
  • Während Shukowski noch in der ersten Periode seiner Dichtung stand,
  • während er noch bemüht war, die Poesie aus den Fesseln des Irdischen und
  • Greifbaren zu befreien und sie in die Sphäre unkörperlicher Gesichte zu
  • erheben, suchte ein anderer Dichter, Batjuschkow, wie im bewußten
  • Gegensatz zu ihm sie fester in der Erde und im Physischen zu verwurzeln,
  • indem er uns den ganzen bezaubernden Reiz einer plastischen
  • Körperlichkeit verspüren ließ. Während jener sich ganz in den ihm selbst
  • noch nicht völlig klaren Idealen verlor, tauchte dieser vollkommen in
  • der üppigen Pracht des Sichtbaren unter, das er so deutlich empfand und
  • das ihn so stark ergriff. Er suchte das Schöne in allen Gestalten und
  • Formen, selbst in den abstraktesten, in die unmittelbare lebendige Lust
  • des Genusses aufzulösen. Er empfand, um sich seiner eigenen Worte zu
  • bedienen, »des Denkens und des Dichtens Wollust«. Es schien, als ob eine
  • innere Kraft im Schoße unserer Poesie diesen Dichter erschaffen hätte,
  • um sie von einer allzuweit gehenden Übertreibung zu bewahren, damit uns
  • der eine die nordischen Klänge der europäischen Sänger brächte, während
  • der andere unser Ohr mit den süßen Tönen des Südens labte, indem er uns
  • die Bekanntschaft mit Ariost, Tasso, Petrarka, Parni und den sanften
  • Klängen des alten Hellas vermittelte, auf daß selbst der Vers, der eine
  • gewisse ätherische Unbestimmtheit anzunehmen begann, sich mit einer fast
  • skulpturhaften Plastik, wie wir sie bei den Alten finden, und mit jenem
  • klingenden Wohllaute erfüllte, der uns im neuen Europa aus den Dichtern
  • des Südens entgegentönt.
  • Zwei ganz verschieden geartete Dichter hatten zwei durchaus verschiedene
  • Prinzipien in unsere Poesie hineingetragen; aus diesen beiden Prinzipien
  • bildete sich mit einem Schlage ein drittes: Puschkin trat auf den Plan.
  • Er bildet die Mitte: ohne die abstrakte Idealität des ersten und ohne
  • die schwellend-üppige Wollust des andern. Bei ihm hat alles sein
  • Gleichgewicht gewonnen, ist alles gedrängt, konzentriert wie in dem
  • russischen Menschen, der in der Wiedergabe seiner Empfindungen sparsam
  • mit Worten ist, und sie lange in sich hegt und zusammendrängt. Durch
  • eine lange Aufspeicherung nehmen sie einen explosiven Charakter an, wenn
  • sie herausbrechen. Ich will hier ein Beispiel anführen. Der Kasbek,
  • einer der höchsten Berge des Kaukasus, machte einen starken Eindruck auf
  • den Dichter. Er entdeckte auf dem Gipfel ein Kloster, das ihm wie die in
  • der Luft schwebende Arche Noahs erschien. Ein anderer Dichter hätte bei
  • dieser Gelegenheit viele Seiten mit glühenden Versen bedeckt: Puschkin
  • aber sagt alles in zehn Zeilen und beendet sein Gedicht mit folgender
  • unerwarteter Apostrophe:
  • Ersehntes fernes Friedensreich!
  • Könnt ich zu deiner Gnadenstelle
  • Mich aus der Schluchten Haft befrein
  • Und in der ätherlichten Zelle
  • Allzeit dem Schöpfer nahe sein!
  • (Fiedler.)
  • Das und nur das durfte ein Russe sagen, während ein Franzose, ein
  • Engländer oder ein Deutscher einen langen Bericht über ihre Empfindungen
  • gegeben hätten. Noch nie haben wir einen Dichter gehabt, der so sparsam
  • in Wort und Ausdruck war wie Puschkin, der sich selbst so wenig
  • beobachtete, nur um nie etwas Überflüssiges oder Übertriebenes zu sagen,
  • da er in beiden Fällen die Banalität scheute.
  • Was war nun der Gegenstand seiner Dichtung? Das Ganze, nicht das
  • Einzelne war das Objekt seiner Dichtung. Unser Denken versagt vor der
  • ungeheuren Mannigfaltigkeit seiner Stoffe. Was hat ihn nicht ergriffen
  • und was hat ihn nicht gefesselt? Von den über den Wolken thronenden
  • Gipfeln des Kaukasus oder einem malerischen Tscherkessen, bis zu der
  • elenden Hütte des Nordens und einer Schenke mit Balaleikaspiel und
  • Trepak; -- überall und allerorten: wird ihm der Ball, die Hütte, die
  • Steppe, der Reisewagen, kurz, alles zum Objekt seiner Dichtung. Auf
  • alles, was im Innern des Menschen vorgeht, von den höchsten und
  • erhabensten Charakterzügen bis zum kleinsten Seufzer menschlicher
  • Schwäche, bis zur kleinsten Regung des Aberglaubens, die ihn beunruhigt,
  • reagiert er mit der gleichen Stärke wie auf jeden Vorgang der äußeren
  • und sichtbaren Natur. Alles formt sich ihm zu einem abgeschlossenen
  • Bilde, alles wird ihm zum Gegenstand, aus dem Größten schlägt er
  • elektrische Funken jenes poetischen Feuers, das in jeder von Gottes
  • Schöpfungen lebt: jedem Ding weiß er seine schönste Seite abzugewinnen,
  • die nur dem Dichter bekannt ist, ohne daß er dabei an eine Anwendung auf
  • das praktische Leben oder an die Befriedigung eines menschlichen
  • Bedürfnisses denkt. Er verrät niemand, warum dieser Funke aufsprühte,
  • und reicht keinen von denen, die taub für die Poesie sind, eine Leiter,
  • die dorthin führt. Er kümmerte sich um niemand, es gab für ihn nur einen
  • Wunsch: den mit poetischen Gefühl Begabten zuzurufen: »Schaut hin, wie
  • herrlich ist doch Gottes Schöpfung!«, und sich dann sogleich, ohne noch
  • etwas hinzuzufügen, dem nächsten Gegenstand zuzuwenden, um abermals
  • auszurufen: »Schaut hin, wie herrlich ist Gottes Schöpfung!« Was daher
  • an seinen Werken immer wieder in Erstaunen setzt, ist der Widerspruch
  • der Gefühle, die sie in dem Leser hervorrufen. Nach der Ansicht von
  • sonst vielleicht klugen Leuten, denen es jedoch an poetischem Empfinden
  • fehlt, sind seine Dichtungen unvollendete, leicht hingeworfene Fragmente
  • -- Kinder des Augenblicks. Nach der Ansicht dichterisch empfindender
  • Menschen dagegen stellen sie reiche, wohldurchdachte, vollendete
  • Dichtungen dar, die alle Elemente eines wirklichen Kunstwerks ich sich
  • vereinigen.
  • Puschkin gegenüber verstummten alle Fragen, die bis dahin noch an keinen
  • von unsern Dichtern gerichtet worden waren, und die von dem Geist eines
  • erwachenden Zeitalters Zeugnis ablegen. Wozu diente, welchen Sinn hatte
  • seine Poesie? Was für eine neue Richtung, welche neue Wendung hat
  • Puschkin der Welt des Geistes gegeben? Was hat er ausgesprochen, dessen
  • sein Zeitalter bedurfte, wonach es verlangte? Hat er einen heilsamen
  • oder wohl gar einen destruktiven Einfluß auf dieses Zeitalter ausgeübt?
  • Hat er, wenn auch nur durch seinen eigenen Charakter oder seine
  • Persönlichkeit auf andre Menschen gewirkt: durch die Genialität seiner
  • Verirrungen, wie z. B. Byron oder selbst viele andre Dichter zweiten
  • Ranges und minderwertige Poeten? Warum ward er der Welt geschenkt, und
  • was hat er mit seinem Auftreten bewiesen? Puschkin ward der Welt
  • geschenkt, um durch sein Dasein zu demonstrieren, was der Dichter ist,
  • und sonst nichts -- _was der Dichter ist_, sofern man ihn nicht als
  • Produkt einer bestimmten Epoche oder bestimmter Verhältnisse aber auch
  • nicht als Produkt seines eigenen persönlichen Charakters, d. h. als
  • Mensch betrachtet, sondern unabhängig von allen diesen Faktoren in
  • Betracht zieht, damit, wenn später einmal irgendein höherer Seelenanatom
  • der Sache auf den Grund gehen und sich darüber klar werden wollte, was
  • der Dichter in seinem innersten Wesen eigentlich ist: dieses zarte
  • feinnervige Geschöpf, das auf alles in der Welt reagiert, selbst ewig
  • einsam bleibt, und bei keinem Verständnis findet -- damit es ihm dann an
  • nichts fehle, da er in Puschkin alle diese Züge vereint finden würde.
  • Puschkin war der einzige, dem diese unabhängige Geistesart und eine so
  • fein gestimmte Seele beschieden ward, in der alles ein Echo fand und die
  • bei jedem Ton, der die Luft durchbebte, mitschwang. Wenn wir an einen
  • Dichter denken, stellen wir ihn uns mehr oder weniger leibhaftig vor.
  • Vor wem ersteht nicht bei dem Gedanken an Schiller sofort diese reine
  • kindliche Seele, die stets von den höchsten und letzten Idealen träumte,
  • sich eine Welt aus ihnen erschuf und damit zufrieden war, daß sie in
  • dieser poetischen Welt leben durfte? Wer denkt, wenn er Byron liest,
  • nicht an Byron selbst, diesen stolzen, mit allen Gaben des Himmels
  • begnadeten Mann, der doch der Vorsehung nie seinen geringfügigen
  • körperlichen Fehler vergeben konnte, tönt doch der Groll des Dichters
  • über dies Gebrechen bis in seine Dichtungen hinein. Selbst Goethe,
  • dieser Proteus unter den Poeten, der alles umfassen wollte, die ganze
  • Welt der Natur und die gesamte Welt der Wissenschaft, bringt gerade in
  • diesem wissenschaftlichen Streben seine Persönlichkeit zu so deutlichem
  • Ausdruck, eine Persönlichkeit, die eine echt deutsche Würde atmet und
  • nach echt deutscher Art den Anspruch erhebt, allen Zeitaltern und
  • Epochen genug zu tun. Alle unsere Dichter: Dershawin, Schukowski,
  • Batjuschkow haben ihre eigene Persönlichkeit, ihre eigene Physionomie.
  • Nur Puschkin hat keine. Was wollte man auch aus seinen Dichtungen für
  • Züge herauslesen, die für ihn persönlich charakteristisch wären? Man
  • versuche es doch einmal, seinen Charakter als Mensch zu fassen. Statt
  • seiner wird man sich immer wieder jener wunderbaren Gestalt
  • gegenübersehen: der Gestalt des Menschen, in dessen Seele alles ein Echo
  • findet, und der allein einsam und unverstanden bleibt. Alle seine Werke
  • sind ein reiches Arsenal aller Werkzeuge, Waffen und Rüstungen der
  • Dichtung. Nun denn, so tretet herein und wählet euch das Werkzeug, das
  • euch paßt, und zieht mit ihm hinaus in die Schlacht; nur der Dichter
  • selbst mischt sich nicht mit der Waffe in der Hand in den Kampf. Und
  • warum hat er das nicht getan? -- Das ist eine andre Frage. Er selbst
  • beantwortet sie mit den Versen:
  • Nicht unser Teil ist das Getümmel
  • Des Pöbels Hast und Waffenklang,
  • Uns gab zur süßen Pflicht der Himmel
  • Begeistrung, Inbrunst und Gesang.
  • (Eliasberg.)
  • Puschkin verstand seine Bedeutung besser als die, die ihm solche Fragen
  • vorlegten, und widmete sich voller Liebe seiner Aufgabe. Selbst in
  • Zeiten, wo er im Dunst der Leidenschaften versank, war die Poesie ihm
  • heilig -- wie ein Tempel. Nie betrat er unrein und ungeschmückt dies
  • Heiligtum; und er brachte nie etwas Unüberlegtes und Übereiltes aus
  • seinem Leben mit sich, wenn er ihn betrat; nie durfte sich die rohe
  • ungezügelte Wirklichkeit in ihrer Nacktheit dort hineinwagen. Und doch
  • ist alles darin -- seine eigene Geschichte. Allein das bleibt allen
  • verborgen. Der Leser atmet nichts als Wohlgeruch, was jedoch alles im
  • Busen des Dichters zu Asche verbrennen mußte, damit diese Wohlgerüche
  • aus ihm aufsteigen konnten, das ahnt keiner. Und wie hütete er sie in
  • seinem Innern; wie sorgsam hegte er sie in sich! Kein italienischer
  • Dichter hat seine Sonette so sorgfältig gefeilt, wie er an diesen
  • leichten Werken gearbeitet hat, die uns wie Kinder des Augenblicks
  • anmuten. Welche peinliche Genauigkeit liegt in jedem Wort! Wie bedeutend
  • ist jeder Ausdruck! Wie ist hier alles abgerundet, wie vollkommen und in
  • sich geschlossen. Jedes Gedicht ist eine Perle, es ist schwer, zu
  • entscheiden, welche Elegie die vorzüglichste ist -- sie gleichen alle
  • den glänzenden Zähnen des schönen Mädchens, die der König Salomo mit den
  • jungen Schafen vergleicht, welche eben aus dem Taufbecken steigen und
  • alle gleich schön sind.
  • Wie hätte er über die Dinge sprechen können, die unsere moderne
  • Gesellschaft interessieren und die für sie von Bedeutung sind, wenn er
  • für jegliches Ding dieser Welt ein offenes Ohr haben wollte, wenn alles
  • ein Echo bei ihm finden sollte und wenn jeder Gegenstand ihn in gleicher
  • Weise anzog? Er wollte in seinem »Onegin« den modernen Menschen
  • darstellen und ein modernes Problem lösen -- allein er vermochte es
  • nicht. Er stieß seine Helden von ihrem Postament herunter, trat selbst
  • an ihre Stelle und fühlte sich in ihrer Person auf's tiefste von allem
  • ergriffen, was den Poeten ergreift. So wurde dies Poem zu einer Sammlung
  • heterogenster Gefühle, zarter Elegien, boshafter Epigramme und
  • malerischer Idylle; wenn man es durchgelesen hat, behält man wiederum
  • nichts zurück als das Bild des Dichters, dessen Seele auf alles reagiert
  • und für alles Verständnis hat. Seine vollkommensten Schöpfungen: »_Boris
  • Godunow_« und die Dichtung »Poltawa« sind gleichfalls treue Spiegelungen
  • der Vergangenheit. Er hatte durchaus nicht die Absicht, durch sie zu
  • seiner Zeit zu reden; er dachte nicht daran, seinen Landleuten einen
  • Dienst zu leisten, als er sich diese beiden Stoffe auserwählte, man hat
  • auch nicht das Gefühl, daß er eine besondere Sympathie für einen der
  • hier dargestellten Helden empfunden und gerade aus diesem Grunde den
  • Plan zu diesen beiden Dichtungen gefaßt hätte, die so meisterhaft und so
  • künstlerisch gestaltet und durchgearbeitet sind. Das Staunen und die
  • Verwunderung über diese beiden historischen Ereignisse trieben ihn dazu,
  • sie zu gestalten, denn er wollte, daß auch andere Menschen über sie
  • staunen und sich über sie wundern sollten.
  • Die Lektüre der Dichter aller Zeitalter und Nationen erzeugte bei ihm
  • dieselbe Resonanz. Der spanische Held Don Juan, dies unerschöpfliche
  • Thema unzähliger dramatischer Dichtungen, gab ihm plötzlich die Idee
  • ein, den ganzen Stoff in einem kurzen dramatischen Bilde konzentriert
  • darzustellen, in dem die unwiderstehliche lockende Macht dieses
  • Verführers und die Schwäche des Weibes mit einer unerhörten
  • Seelenkenntnis geschildert ist und in dem Spanien mit ungewöhnlicher
  • Anschaulichkeit vor uns ersteht. Goethes Faust brachte ihn plötzlich auf
  • den Gedanken, die Grundidee des deutschen Dichters auf zwei oder drei
  • Seiten zusammenzudrängen, und man ist erstaunt, mit welcher
  • Treffsicherheit sie erfaßt und trotz der Unbestimmtheit und
  • Sprunghaftigkeit, die sie bei Goethe hat, zu einem festen kernhaften
  • Ganzen zusammengefaßt ist. Die strengen Terzinen Dantes legten ihm die
  • Idee nahe, im gleichen Versmaß und im Geiste Dantes die kindlichen
  • Anfänge seines dichterischen Schaffens während seines Aufenthalts in
  • Zarskoje Selo zu schildern, die Wissenschaft als strenge Frau, die die
  • Kinder in die Schule treibt, und sich selbst als Schuljungen
  • darzustellen, der aus der Klasse entronnen ist, sich in den Garten
  • geflüchtet hat, und nun vor den antiken Statuen steht, die Zirkel und
  • Lyra in der Hand tragen, und die ihm mehr zu sagen haben und eine
  • lebendigere Sprache führen, als die Wissenschaft. Das beweist wieder,
  • wie früh schon diese große Feinfühligkeit und diese Fähigkeit, auf alle
  • Dinge der Welt mit äußerster Feinheit zu reagieren, in ihm erwachten.
  • Und wie wahr und treu spiegelt er alles wieder! Wie empfindlich ist sein
  • Gehör. Man spürt förmlich den Duft, man glaubt die Farbe der Länder, der
  • Zeiten und Völker förmlich mit dem Auge zu schauen. In Spanien ist er
  • ein Spanier, unter Griechen ist er ein Grieche, im Kaukasus ist er der
  • freie Bergbewohner im vollsten Sinne des Worts; weilt er unter den
  • Menschen vergangener Epochen, so geht von ihm selbst ein Hauch der
  • versunkenen Zeit aus; blickt er in die Hütte des Bauern -- so ist er
  • jeder Zoll ein Russe; alle Züge unseres Wesens finden sich bei ihm
  • vertreten, und das alles ist häufig in ein einziges Wort, in ein
  • einziges mit wunderbarer Feinheit gewähltes, treffendes Adjektivum
  • zusammengefaßt.
  • Diese Fähigkeit entwickelte sich immer kräftiger in ihm, und er hätte
  • sicherlich noch einmal das ganze russische Leben dichterisch gestaltet,
  • wie er ja auch auf jeden einzelnen Zug dieses Lebens reagiert und ihm
  • Beachtung geschenkt hat. Der Gedanke eines Romans, in dem er die
  • schlichte kunstlose Geschichte vom einfachen ehrlichen russischen Leben
  • erzählen wollte, beschäftigte ihn während dieser Zeit unablässig. Er
  • schrieb nur deshalb keine Gedichte mehr, um sich durch nichts ablenken
  • zu lassen, um sich einen schlichteren Erzählerton anzugewöhnen, und er
  • befleißigte sich in der Prosa einer solchen Einfachheit, daß man an
  • seinen ersten Erzählungen so gar nichts zu loben fand. Puschkin freute
  • sich darüber und schrieb dann die »_Hauptmannstochter_«, sicherlich das
  • beste Werk unserer Erzählungsliteratur. Gemessen an der
  • »Hauptmannstochter« erscheinen alle unsere Romane und Erzählungen wie
  • fades Gesalbader. Die Reinheit und Kunstlosigkeit der Darstellung haben
  • hier eine solche Höhe erreicht, daß die Wirklichkeit daneben fast wie
  • gekünstelt und wie eine Karikatur erscheint. Zum erstenmal treten uns
  • hier wahrhaft russische Charakter entgegen: der einfache Kommandant der
  • Festung, die Hauptmannsgattin, der Leutnant, die Festung selbst mit
  • ihrer einzigen Kanone, die Unruhe und Verworrenheit der Epoche und die
  • schlichte Größe dieser einfachen Leute, -- das alles ist nicht nur
  • lauterste Wahrheit, sondern beinahe etwas noch Höheres als sie. Und so
  • muß es auch wirklich sein: das ist ja gerade die Bestimmung des
  • Dichters, uns selbst, unser Ich -- aus uns herauszuheben und uns unser
  • Selbst in geläuterter veredelter Gestalt zurückzugeben. In Puschkin
  • deutete alles darauf hin, daß er für diesen Beruf geboren, daß dies sein
  • Streben war. Fast zugleich mit der Hauptmannstochter entstanden die
  • wundervollen Fragmente zweier Romane, die er uns hinterlassen hat: »Die
  • Handschrift des Dorfes Gorochino« und »Der Mohr des Zaren«, sowie der
  • mit Bleistift geschriebene Entwurf zu dem großen Roman »Dubrowski«.
  • Während der letzten Jahre hatte er viel vom russischen Leben kennen
  • gelernt, und er sprach so gescheit und so klug über alle Dinge, daß man
  • jedes Wort hätte aufschreiben mögen: denn seine Worte waren mindestens
  • so bedeutend wie seine besten Verse. Was aber noch merkwürdiger war, das
  • war der Bau, der in seiner eigenen Seele emporwuchs und von dem aus sich
  • ein noch helleres Licht über das Leben verbreitet hätte. Die Anklänge
  • daran kann man in einem, erst nach seinem Tode veröffentlichten Gedicht
  • vornehmen [hier wird in fast apokolyptischen Tönen die Flucht aus einer
  • dem Untergang geweihten Stadt und zum Teil auch sein eigener
  • Seelenzustand geschildert]. Wieviel Schönes reifte in diesem Menschen
  • heran, was Rußland zum Heil und Segen hätte gereichen können. -- Aber in
  • dem Maße, als er sich dem Mannesalter näherte und von überall her Kräfte
  • zu großen Taten sammelte, dachte er um so weniger darüber nach, wie er
  • mit den kleinen und nichtigen Dingen fertig werden sollte. Ein
  • plötzlicher Tod riß ihn mit einem Schlage von uns hinweg, und jeder Mann
  • im ganzen Staate erfuhr plötzlich, daß wir einen großen Mann verloren
  • hatten. Der Einfluß des Dichters Puschkin auf die Gesellschaft war
  • äußerst geringfügig. Das Publikum beachtete ihn nur zu Beginn seiner
  • dichterischen Laufbahn, als er mit seinen ersten Jugenddichtungen noch
  • an die Töne der Byronschen Leier erinnerte; als er sich jedoch selbst
  • gefunden hatte und nun nicht mehr Byron, sondern Puschkin selbst wurde,
  • da wandte sich das Publikum von ihm ab. Allein sein Einfluß auf die
  • Dichter war sehr groß. Karamsin hat auf dem Gebiet der Prosa lange nicht
  • das geleistet, was Puschkin auf dem Gebiet des Verses gewirkt hat. Die
  • Nachahmer Karamsins lieferten traurige Karikaturen seiner Manier, und
  • ihr Stil und ihre Gedanken nahmen etwas unangenehm Süßliches an.
  • Puschkin dagegen wirkte auf alle Dichter seiner Zeit wie ein vom Himmel
  • fallendes poetisches Feuer, an dem sich alle andern Dichter, die selbst
  • Charakter und eigene Farbe hatten, entzündeten wie die Lichter. Ein
  • ganzer Sternenkreis von Dichtern scharte sich um ihn: _Delwig_, dieser
  • Sybarit unter den Poeten, der jeden Ton seiner fast hellenischen Leier
  • förmlich auszukosten schien und den Trank der Poesie nicht etwa mit
  • einem Zug hinabstürzte, sondern tropfenweise schlürfte, wie ein
  • Weinkenner seine Blume genießt und seinen Duft einsaugt. _Koslow_, eine
  • harmonische Natur, aus dessen Mund ungewohnte Töne einer zu Herzen
  • gehenden Musik, wie man sie bisher noch nie vernommen hatte, an unser
  • Ohr klangen. _Baratynski_, ein Dichter von strenger, fast finsterer
  • Eigenart, der schon früh ein tief in seinem Wesen wurzelndes Streben
  • nach innen an den Tag legte, dessen Gedanken ganz auf die Welt unserer
  • Seele gerichtet waren und der sich bereits um ihre äußere Formung
  • bemühte, noch ehe sie in ihm selbst völlig ausgereift waren. Finster und
  • noch unfertig, wie er war, trat er vor das Publikum, entfremdete sich so
  • alle Leute, und so gelang es ihm nie, jemand nahezukommen. Alle diese
  • Dichter hat Puschkin zum Dichten angeregt, während er andre geradezu
  • erst erschaffen hat. Ich meine hier unsere sogenannten anthologischen
  • Poeten, die nur wenig produziert haben, aber wenn wir unter diesen
  • duftigen Blumen eine Auswahl treffen, so ließe sich wohl ein Buch daraus
  • machen, unter das die besten Dichter ruhig ihren Namen setzen könnten.
  • Ich brauche nur die beiden Tumanski, A. Krylow, Tjutschew, Pletnjew und
  • einige andere zu nennen, die nie ihr eigenes poetisches Licht hätten
  • leuchten lassen und nie solch reiner, schöner seelischer Regungen fähig
  • gewesen wären, wenn sie ihr Feuer nicht an dem Puschkins hätten
  • entzünden können. Selbst ältere Dichter stimmten unter seinem Einfluß
  • ihre Leier um. Der bekannte Übersetzer der Odyssee, _Gneditsch_, der
  • Nachdichter der _Psalmen_, _Th. Glinka_, der Freischärler und Dichter
  • _Dawydow_ und endlich selbst Shukowski, Puschkins Lehrer und Erzieher in
  • der Dichtkunst, gingen bei ihm in die Schule, und der Lehrer lernte von
  • seinem Schüler. Selbst solche Köpfe wurden zu Poeten, die gar nicht für
  • den Dichterberuf geboren waren, sondern vor denen sich eine keineswegs
  • geringere Laufbahn eröffnete, wenn man nach den geistigen Kräften und
  • Leistungen urteilen darf, die sie mit ihren dichterischen Versuchen
  • vollbrachten, so z. B. _Wenewitinow_, der uns so früh entrissen wurde,
  • oder Chomjakow, der Gott sei Dank noch am Leben ist und dem noch eine
  • herrliche Zukunft bevorsteht, die sich ihm selbst noch nicht völlig
  • enthüllt hat. Diese anregende erweckende Kraft Puschkins ist sogar für
  • manche gefährlich geworden, besonders für Baratynski und für noch einen
  • Dichter, von dem unten die Rede sein wird; sie wurde ihnen dadurch
  • gefährlich, weil sie sie veranlaßte, gleich einen Ausdruck für ihre noch
  • gänzlich unausgereiften seelischen Regungen zu suchen, obwohl ihre
  • Seelen noch gar nicht von einer solchen Poesie erfüllt und durchdrungen
  • waren, die allen vertraut und verständlich gewesen wäre; sie hätten
  • lieber noch ein wenig an sich und an ihrem inneren Ich arbeiten und eine
  • Zeitlang schweigen sollen. Sie standen alle völlig im Bann dieser
  • unerhört künstlerischen Gestaltung und Formung dichterischer
  • Schöpfungen, deren Puschkin fähig war. Die ganze moderne Gesellschaft
  • und alle Bande, die den Menschen unserer Zeit mit ihr verbinden, alle
  • Ansprüche und Forderungen, die das Vaterland an ihn stellt, waren
  • vergessen, und alles lebte in einer Art poetischem Hellas und
  • deklamierte Puschkins Verse.
  • Nicht unser Teil ist das Getümmel,
  • Des Pöbels Hast und Waffenklang.
  • Uns gab zur süßen Pflicht der Himmel
  • Begeistrung, Inbrunst und Gesang.
  • Unter den Dichtern der Puschkinschen Epoche nimmt _Jasykow_ eine ganz
  • besondere Stelle ein. Gleich aus seinen ersten Versen dringt einem der
  • Ton einer neuen Leier entgegen, das sind ganz neue Laute, eine freie
  • wilde entfesselnde Kraft, eine Kühnheit in jedem Ausdruck, eine helle
  • jugendliche Begeisterung, wie sie in solcher Stärke und Vollendung bei
  • einer seelischen Beherrschung noch bei keinem Dichter dagewesen war. Es
  • ist kein Zufall, daß er den Namen _Jasykow_ (Herr der Zunge) trug: er
  • ist Herr über seine Zunge, wie ein Araber über sein wildes Roß, und es
  • ist fast so, als brüstete er sich mit seiner Macht über die Sprache. Er
  • mag eine Periode beginnen, wie er will: mit dem Kopf oder mit dem
  • Schwanze, sie steht in ihrer ganzen anschaulichen Bildhaftigkeit da, er
  • führt sie stets zu Ende und rundet sie ab, daß man von Staunen und
  • Bewunderung ergriffen wird. Das was die Kraft einer noch ungebrochenen
  • mächtigen, schwellenden Jugend ausmacht, einer Jugend, die noch voller
  • Zukunft ist, ist der Gegenstand seiner Dichtungen. Alles, was er
  • berührt, sprüht und strömt förmlich über von jugendlicher Frische.
  • Man denke zum Beispiel an sein Gedicht »Der Fluß«:
  • Die Hüllen fort. Mit frischem Mut
  • Streckt sich die Hand zu kräft'gen Schlägen,
  • Und nun hinab. Und aus der Flut
  • Sprüht auf ein Diamantenregen.
  • Wie sind so stark, so frisch und kühl
  • Die Elemente, die mich wiegen.
  • Welch süßes, seliges Gefühl.
  • Wenn kosend sie den Leib umschmiegen!
  • Oder man denke daran, wie er das Swaikaspiel schildert, das er geradezu
  • ein russisches Spiel genannt hat. Kraftvolle junge Burschen bilden einen
  • Kreis und
  • Durch den Ring nach seinem Ziele
  • Saust der Nagel -- er erklingt,
  • Bis bei heitrem Scherz und Spiele
  • Mild der Frühlingstag versinkt.
  • Alles, was den Jüngling zum kühnen Wagnis reizt -- das Meer, ein Sturm,
  • Festgelage und klingende Becher, ein brüderliches Bündnis voller
  • Tatkraft und Tatenlust, ein felsenfester Glaube an die Zukunft, die
  • Bereitschaft, jeden Kampf für das Vaterland zu bestehen -- dies alles
  • findet in seinen Gedichten einen Ausdruck von geradezu unerhörter Kraft.
  • Als die erste Buchausgabe seiner Gedichte erschien, sagte Puschkin
  • ärgerlich: Warum hat er das Buch: _Gedichte von Jasykow_ genannt, er
  • hätte es einfach _Rausch!_ betiteln sollen. Ein Mensch von
  • durchschnittsmäßiger Kraft wird nie etwas Ähnliches zustande bringen;
  • dazu bedurfte es einer Entfesselung aller Kräfte. Ich erinnere mich noch
  • lebhaft daran, wie begeistert er war, als er Jasykows Gedicht an Davydow
  • gelesen hatte, das gerade in einer Zeitschrift erschienen war. Damals
  • sah ich zum erstenmal eine Träne in Puschkins Auge (Puschkin pflegte nie
  • zu weinen, er sagt in der Epistel an Ovid von sich selbst: »Als rauher
  • Slawe kannt ich keine Tränen, doch ich verstehe sie.«) Ich erinnere mich
  • auch, welche Strophen ihn so bis zu Tränen rührten: es sind die beiden
  • ersten, in denen sich der Dichter an Rußland wendet, das man bereits für
  • schwach und kraftlos erklärt hatte, und in denen er ausruft
  • Hört ihr die Trompete schmettern?
  • Auf, der Feind ruft, Vaterland!
  • Denk wie du beim Kriegeswettern
  • Stets dem Gegner hieltest stand.
  • Laß zum blut'gen Kampf sich rüsten
  • Deine Recken, mutig, frei.
  • Ruf aus Steppen sie und Wüsten,
  • Von den Flüssen, von den Küsten,
  • Aus dem fernsten Land herbei.
  • Und dann folgt die Strophe, in der jene unerhörte Tat der Aufopferung
  • dargestellt wird, wo der Dichter schildert, wie die eigene Hauptstadt
  • mit allen ihren Schätzen, die dem ganzen Lande heilig und teuer sind,
  • den Flammen geweiht wird.
  • Erd' und Himmel stehn in Flammen,
  • Goldgeschmückte, heilge Stadt.
  • Moskau! Wie? Du stürzst zusammen?
  • Hörst du's, Rußland? Auf zur Tat!
  • Rase Feuer der Zerstörung!
  • Du erhöhst nur unsern Mut.
  • Diese flammende Verheerung
  • Bringt uns Rettung, bringt Verklärung,
  • Phönix schwingt sich aus der Glut.
  • Wem sollten solche Strophen nicht Tränen entlocken? Seine Verse sind wie
  • ein alle Kräfte entbindender durcheinanderrüttelnder Rausch, aber in
  • diesem Rausch liegt eine höhere Gewalt, die nach oben zieht. Für Jasykow
  • ist ein studentisches Gelage nicht so sehr eine Äußerung der Lust am
  • Zechen und am Rausch, als vielmehr die Freude über die Kraft, die die
  • jungen Arme schwellt, und über die große Zukunft, die der Jugend
  • bevorsteht, einer Freude darüber, daß die Studenten einmal fortstürmen
  • werden, um
  • Der großen Sache treu zu dienen,
  • Der Wahrheit, Ehre und dem Rechte.
  • Leider geht nur diese Rauschstimmung häufig bis ins Maßlose, und der
  • Dichter gibt sich allzusehr der Freude über die ihnen winkende Zukunft
  • hin, wie dies bei uns in Rußland so viele Leute tun, ohne über einen
  • großartigen Anlauf hinauszukommen.
  • Aller Augen waren auf Jasykow gerichtet. Alle Welt erwartete etwas
  • Außerordentliches von dem neuen Dichter, dessen Verse voll ritterlicher
  • Großsprechereien und voll Verheißungen gewaltiger Taten waren. Allein
  • die Erwartungen wurden nicht erfüllt. Es erschienen zwar noch ein paar
  • Gedichte von ihm, in denen die alten Töne noch einmal, wenn auch etwas
  • abgeschwächt, erklangen; dann aber wurde der Dichter von einer schweren
  • Krankheit heimgesucht, die nicht ohne Folgen für seine Geistesverfassung
  • blieb. In seinen letzten Versen gab es nichts mehr, was die russische
  • Seele ergriff. Sie enthielten nichts als eine Beschreibung der
  • Langenweile deutscher Städte, gleichgültige Reiseschilderungen und einen
  • Bericht über den einförmigen Verlauf peinvoller Tage. Das alles war dem
  • russischen Geiste fremd. Man achtete nicht einmal auf die
  • außerordentliche Sorgfalt, mit der in diesen späten Gedichten die Form
  • behandelt war. Allein seine Sprache, die hier noch kräftiger ist, wird
  • ihm gerade dadurch zur Verräterin: sie dient nur dazu, einen mageren
  • Gedanken und einen dürftigen Inhalt einzukleiden und gleicht so dem
  • Panzer eines Riesen, der den Leib eines Zwerges umschließt. Es wurde
  • sogar die Meinung laut, Jasykow hätte überhaupt keine Gedanken; er könne
  • nur hohle tönende Verse schmieden und sei überhaupt kein Dichter. Alles
  • begann wider ihn zu murren. Dieser Groll fand in den Zeitschriften ein
  • recht törichtes Echo, allein ihm lag wirklich ein berechtigter Kern
  • zugrunde. Jasykow hat, wenn er vom Dichter sprach, nie ausgerufen wie
  • Puschkin:
  • Nicht unser Teil ist das Getümmel,
  • Des Pöbels Hast und Waffenklang.
  • Uns gab zur süßen Pflicht der Himmel
  • Begeisterung, Inbrunst und Gesang.
  • Er läßt den Dichter vielmehr sagen:
  • Poet, ist alles in dir reif zum Werke,
  • Worin der Gott dem Menschen Gunst erweist,
  • Des feurigen Gedankens hoher Geist,
  • Der Rede Glut, des Wortes Stärke,
  • So geh und künde, daß die Welt höre.
  • Freilich ist hier von dem idealen Dichter die Rede, aber er hat doch
  • sein Ideal aus seinem eigenen Wesen geschöpft. Wenn die Elemente dazu
  • nicht in ihm selbst gelegen hätten, dann hätte er sich den Dichter auch
  • nicht so denken können. Nein, nicht die Kraft hatte ihn verlassen, nicht
  • Mangel an Talent und an Ideen sind schuld an dem dürftigen Inhalt der
  • letzten Gedichte, wie anmaßende Kritiker behauptet haben, nicht einmal
  • seine Krankheit trägt die Schuld (die Krankheiten sind immer nur dazu
  • da, die Arbeit an einem Werk zu beschleunigen -- vorausgesetzt, daß der
  • Mensch ihren Sinn richtig erkennt) -- nein, es war etwas anderes, was
  • ihm die Kraft raubte: das Licht der Liebe war in seiner Seele erloschen.
  • Das war der Grund, weswegen auch das Licht seiner Poesie so viel trüber
  • brannte.
  • Du mußt das, dessen die Seele bedarf, was ihr not tut, mit solcher Kraft
  • und Stärke lieben lernen, wie du einst den Rausch deiner Jugend liebtest
  • -- dann werden deine Gedanken denselben Höhenflug nehmen, wie deine
  • Verse, und deinem Munde werden feueratmende Worte entströmen. Du wirst
  • uns dann die große Leere deines peinvollen Lebens schildern, aber du
  • wirst sie so schildern, daß der Mensch erschauert, daß er sich der
  • stählernen Kraft, die sich plötzlich in ihm regt, bewußt wird, und Gott
  • für das Übel danken wird, das ihm seine Kraft zum Bewußtsein brachte.
  • Jasykow hätte nicht in die Fußstapfen Puschkins treten und seinen Vers
  • nach seinem Vorbilde behandeln und formen dürfen; seine Domäne ist weder
  • die Elegie, noch sind es die Formen der Anthologie, sondern die des
  • Dithyrambus und des Hymnus. Das Gefühl haben alle. Und er hätte seine
  • Fackel eher an Dershawin als an Puschkin entzünden sollen. Seine Verse
  • gehen auch nur dann zu Herzen, wenn sie sich im vollen Glanz der Lyrik
  • entfalten; ein Gegenstand gewinnt nur dann Leben, wenn er sich entweder
  • bewegt, oder tönt, oder leuchtet, und nicht, wenn er ruht. Das Los der
  • verschiedenen Dichter ist sehr ungleich. Der eine hat die Aufgabe, ein
  • treuer Spiegel und ein treues Echo des Lebens zu sein, und dazu ward ihm
  • ein vielseitiges Talent für das beschreibende Genre verliehen. Ein
  • anderer erhält die Bestimmung, eine die Gesellschaft vorwärtstreibende,
  • sie erweckende Kraft zu sein, sie zu den höchsten und hochherzigsten
  • Regungen anzufeuern -- und dazu ward ihm ein lyrisches Talent verliehen.
  • Wenn ein solches Talent seinen Weg nicht findet, so liegt es daran, daß
  • es seine geistigen Augen nicht auf sich selbst richtet. Aber die
  • Vorsehung sorgt besser für den Menschen. Sie führt ihn durch Unglück,
  • Bosheit und Krankheit mit Gewalt dahin, wohin er allein nicht den Weg
  • gefunden hätte. In der Lyrik Jasykows machte sich übrigens wieder ein
  • Streben zur Umkehr auf den rechten, ihm vorgezeichneten Weg erkennbar.
  • Erst neulich haben wir sein Gedicht »Das Erdbeben« kennen gelernt, das
  • nach der Ansicht Shukowskis unser bestes Gedicht ist.
  • Unter den Dichtern der Puschkinschen Epoche nimmt Fürst Wjasemski eine
  • besondere Stelle ein. Obwohl seine literarische Wirksamkeit lange vor
  • Puschkin begann, müssen wir ihn doch erst hier nennen, da er erst nach
  • dem Auftreten Puschkins den Höhepunkt seiner Entwicklung erreichte.
  • Fürst Wjasemski steht in diametralem Gegensatz zu Jasykow: während jener
  • durch seine Gedankenarmut auffällt, setzt dieser durch die Fülle seiner
  • Ideen in Erstaunen. Der Vers ist für ihn nur Mittel zum Zweck, das erste
  • beste Werkzeug, das sich ihm darbietet. Er verwendet nicht die geringste
  • Sorgfalt auf seine äußere Form, ebensowenig wie auf die Konzentration,
  • auf die Vollendung und Abrundung der Gedanken, um seine Idee dem Leser
  • wie ein kostbares Kleinod vor Augen zu stellen: er ist kein Künstler und
  • legt wenig Wert auf das alles. Seine Gedichte sind -- Improvisationen,
  • obwohl man freilich für derartige Improvisationen sehr große und
  • vielseitige Fähigkeiten und einen Kopf von großer Reife und Ausbildung
  • mitbringen muß. Er vereinigt in sich eine außerordentliche Menge
  • vielseitiger Talente, eine starke Anschauung, Beobachtungsgabe, eine
  • Fähigkeit für unerwartete Schlüsse und Folgerungen, Gefühl, Verstand,
  • Scharfsinn, Heiterkeit und sogar Melancholie. Jedes dieser Gedichte ist
  • ein buntes Gemisch aus all diesen Eigenschaften. Er ist kein geborener
  • Poet. Die Vorsehung, die ihn mit allen Talenten begabt hatte, hatte ihm
  • gleichsam als Zugabe auch noch die Gabe der Dichtkunst verliehen, um
  • etwas Ganzes und Vollkommenes aus ihm zu machen. In seinem Buch: Die
  • Biographie Von Wisins tritt die reiche Fülle seiner Talente, über die er
  • verfügte, mit besonderer Deutlichkeit zu Tage. Aus diesem Buche spricht
  • der Politiker, der Philosoph, der feine Kunstliebhaber und Kritiker, der
  • gediegene Staatsmann und sogar der erfahrene Kenner der praktischen
  • Seiten des Lebens -- kurz, hier finden sich alle Fähigkeiten vereinigt,
  • über die ein tiefer, ernster Historiker im höchsten Sinne dieses Wortes
  • verfügen muß. Und wenn dieselbe Feder, die die Biographie Von Wisins
  • geschrieben hat, uns die Regierungszeit Katharinas geschildert hätte,
  • die uns heute bereits durch ihren Reichtum, ihre Buntheit und durch die
  • große Zahl außerordentlicher Menschen und Charaktere, die sich hier
  • begegneten, in einem beinahe phantastischen Lichte erscheint, so könnte
  • man mit ziemlicher Bestimmtheit sagen, daß Europa wohl nie ein
  • historisches Werk von ähnlicher Bedeutung hervorgebracht hätte. Das aber
  • ist gerade der wunde Punkt im Schaffen des Fürsten Wjasemski, daß es ihm
  • an einer großen, umfassenden Aufgabe fehlt, und das macht sich sogar in
  • seinen Gedichten bemerkbar. Man hat das Gefühl, daß sich die einzelnen
  • Teile nicht zu einer harmonischen Gesamtwirkung zusammenfügen und merkt
  • ihnen einen großen, inneren Zwiespalt an. Die Worte harmonieren nicht
  • miteinander, ebensowenig wie die Verse; dicht neben einem starken
  • kraftvollen Vers, wie wir ihn in ähnlicher Schönheit bei keinem andern
  • Dichter finden, steht eine andere Zeile, die der ersten nicht im
  • mindesten gleichkommt; bald greift er uns mit einem Gefühl an die Seele,
  • das mitten aus unserem Herzen gerissen scheint; bald wieder stößt er uns
  • ab durch einen Ton, der uns innerlich fremd ist, und der dem Gegenstand
  • nicht im mindesten entspricht, man fühlt, daß ihm die innere Sammlung
  • fehlt, daß er nicht zur vollen, lebendigen Entfaltung seiner Kräfte
  • gelangen kann. Tief unten auf dem Grunde des Ganzen macht sich eine
  • gewisse Gedrücktheit und Unfreiheit bemerkbar. Das Los eines Menschen,
  • dem die reichsten und mannigfaltigsten Talente verliehen werden, und der
  • keine große Aufgabe finden kann, die alle seine Fähigkeiten bis auf die
  • letzte in Anspruch nimmt, ist schlimmer, als das des ärmsten Bettlers.
  • Nur eine solche Sache, die den Menschen in sein Inneres zurückführt und
  • ihn veranlaßt, in sich selbst einzukehren, bringt wahre Erlösung. Nur
  • bei solch einer Arbeit, sagt der Dichter, können
  • Der Seele Flügel sich entfalten,
  • Erstarkt der Wille, und das Walten
  • Des Schicksals zeichnet klar sich ab.
  • Während unsere Poesie ihren Weg unter der Führung und Leitung der
  • Dichter aller Zeiten und Völker so schnell und in so eigenartiger Weise
  • zurücklegte, während die Klänge aller Länder, in denen es eine
  • Dichtkunst gibt, ihr Ohr trafen und sie selbst sich in allen Tonarten
  • und Akkorden versuchte, stand ein Dichter einsam und abseits von allen
  • andern. Er hatte den unscheinbarsten und schmalsten Pfad gewählt und
  • schritt solange still und geräuschlos auf ihm dahin, bis er eines Tages
  • über alle andern hinausgewachsen war, wie eine starke Eiche sich hoch
  • über ein Gehölz erhebt, in dem sie sich anfänglich versteckte. Dieser
  • Dichter war -- Krylow. Er hatte die Form der Fabel gewählt, die alle
  • Welt bisher für eine alte, kaum noch verwendbare Gattung oder gar für
  • ein Kinderspielzeug gehalten und darum vernachlässigt hatte, und er
  • brachte es fertig, mit Hilfe dieser Fabel zu einem wirklichen
  • Volksdichter zu werden. Das war einer von unsern harten starken
  • russischen Köpfen, ein Geist, der dem Geist unserer Sprichwörter so nahe
  • verwandt ist; hier regt sich jener Verstand, der die Stärke des Russen
  • ausmacht, und sich in der Fähigkeit, Folgerungen zu ziehen, bekundet,
  • der sogenannte nachhinkende Verstand. Das Sprichwort stellt nicht etwa
  • eine vorgefaßte Meinung oder eine Vermutung über eine Sache dar, sondern
  • vielmehr das Fazit, die Summe des Ganzen, den Bodensatz, den
  • Niederschlag völlig durchgegorener und bereits vollendeter Tatsachen,
  • den endgültigen Extrakt, die Essenz aus der ganzen Sache, aus allen
  • ihren Faktoren und nicht bloß aus einem einzigen Faktor. Das kommt auch
  • in dem Spruch zum Ausdruck: »Bloße Reden ergeben noch kein Sprichwort.«
  • Dieser »nachhinkende« Verstand, dieses Talent für radikale endgültige
  • Folgerungen, das dem russischen Volk vor allen andern Völkern eigen ist,
  • macht, daß unsere Sprichworte so viel bedeutsamer sind, als die aller
  • andern Nationen. Nicht nur in dem reichen Gedankengehalt, sondern auch
  • in dem Ausdruck spiegeln sich viele von unseren nationalen
  • Eigentümlichkeiten. In ihnen ist alles enthalten: Spott, Ironie, eine
  • Mahnung, kurz alles, was geeignet ist, den Menschen aufzurütteln und
  • seinen wundesten Punkt zu berühren; wie ein hundertäugiger Argus blickt
  • jedes von ihnen den Menschen an. Alle großen Männer von Puschkin bis auf
  • Suworow und Peter den Großen haben unsere Sprichwörter geliebt und
  • bewundert. Die hohe Würdigung, die man ihnen angedeihen ließ, kommt in
  • vielen Aussprüchen zum Ausdruck: »Ein Sprichwort wird nicht umsonst
  • geprägt« oder »ein Sprichwort bleibt ewig bestehen.« Es ist ja bekannt,
  • daß, wenn man sich darauf versteht, seine Rede durch ein geschickt
  • gewähltes Sprichwort zu bekräftigen, man sie dadurch dem Volke mit einem
  • Schlage verständlich macht, selbst wenn sie seine Begriffe noch so sehr
  • übersteigt.
  • Das sind die Wurzeln, aus denen Krylow hervorgewachsen ist. Seine Fabeln
  • sind nicht etwa für Kinder geschrieben. Man würde sich eines groben
  • Irrtums schuldig machen, wenn man ihn einen Fabeldichter von der Art der
  • Lafontaines, Dmitriews, Chemnitzers oder gar eines Ismailow nennen
  • wollte. Seine Gleichnisse sind ein festes nationales Besitztum und
  • bilden das Buch der Weisheit unsers Volkes. Seine Tiere denken und
  • handeln nach echt russischer Weise. Die Streiche, die sie einander
  • spielen, sind ein Spiegelbild der Kniffe, der Listen, der Streiche, die
  • in Rußland üblich sind und dessen, was in unserem Lande zu passieren
  • pflegt. Abgesehen von der getreuen Erfassung des tierischen Charakters,
  • die bei ihm so genau und treffend ist, daß nicht nur der Fuchs, der Bär
  • und der Wolf, sondern sogar der Topf lebendig werden, lassen alle
  • Geschöpfe auch ihre echt russische Wesensart erkennen.
  • Selbst der Esel, der bei ihm so wunderbar typisch charakterisiert ist,
  • daß er nur seine Ohren aus irgendeiner Fabel hervorzustecken braucht,
  • damit der Leser sofort ausruft: das ist Krylows Esel, -- selbst der Esel
  • ist, trotzdem er doch den Ländern einer andern Zone angehört, bei Krylow
  • ein echter Russe. Nachdem er mehrere Jahre hindurch fremde Gemüsegärten
  • geplündert hat, wird er plötzlich von einem mächtigen Ehrgeiz erfaßt, er
  • will durchaus einen Orden haben, und tut fürchterlich wichtig, als sein
  • Herr ihm ein Glöckchen um den Hals gehängt hat, denn er kommt nicht auf
  • den Gedanken, daß ja jetzt jeder seiner Diebstähle und jeder schlechte
  • Streich, den er begehen wird, von allen bemerkt werden und daß es nun
  • bei jeder Gelegenheit kräftige Schläge auf die Lenden setzen wird. Kurz
  • -- überall befindet man sich bei ihm in Rußland, überall fühlt man sich
  • an Rußland erinnert. Überdies hat jede seiner Fabeln noch ihren
  • historischen Ursprung. Denn trotz seiner Bedachtsamkeit und seiner
  • scheinbaren Gleichgültigkeit gegen die Vorgänge und Ereignisse seiner
  • Zeit verfolgte der Dichter jede Begebenheit, die sich in seinem
  • Vaterlande abspielte mit großer Aufmerksamkeit: alles fand bei ihm eine
  • Resonanz, und in seinen Urteilen findet stets das kluge Maß, die rechte
  • Mitte ihren Ausdruck, aus ihnen spricht die versöhnende Stimme des
  • Mittlers, eine Eigentümlichkeit, die Rußlands Stärke ausmacht, wenn der
  • russische Geist sich zu seiner wirklichen Höhe emporschwingt. Durch ein
  • streng abgewogenes kräftiges Wort beleuchtet Krylow mit einem Schlage
  • den ganzen Gegenstand und bestimmt er sein wahres eigentliches Wesen.
  • Als einmal ein paar allzusehr für das militärische Wesen begeisterte
  • Leute behauptet hatten, daß der ganze Staat ausschließlich auf die
  • militärische Macht gegründet werden müsse und daß in ihr das ganze Heil
  • liege, während die Zivilbeamten sich ihrerseits über alles, was mit dem
  • Militär zusammenhing, lustig machten, bloß weil ein Paar Leute das ganze
  • Militärwesen zu einer Epauletten- und Litzenfrage gemacht hatten, da
  • schrieb er seinen berühmten Streit zwischen den Kanonen und den Segeln,
  • in dem er beide Parteien mit folgenden vier Zeilen in ihre rechtmäßigen
  • Grenzen verweist:
  • Darin besteht des Staates wahre Macht,
  • Daß alle Teile weise Frieden halten.
  • Die Waffen stehen drohend auf der Wacht,
  • Die Segel sind der Bürger -- Rechtsgewalten.
  • Wie treffend ist diese Entscheidung! Ohne Kanonen ist keine Verteidigung
  • möglich, ohne Segel aber kommt man auf der See überhaupt nicht vom
  • Flecke. Ein anderes Mal wiederum, als ein Paar Regierungsbeamte, die die
  • allerbesten Absichten hatten, sich jedoch durch eine große
  • Kurzsichtigkeit auszeichneten, auf den seltsamen Gedanken verfallen
  • waren, man müsse sich vor den gescheiten und energischen Leuten in acht
  • nehmen und sie bei der Besetzung der Ämter übergehen, bloß weil sich
  • gerade damals einzelne von ihnen einige lose Streiche hatten zuschulden
  • kommen lassen und sich an einem törichten Unternehmen beteiligt hatten,
  • da schrieb Krylow seine nicht weniger bedeutende Fabel: Die beiden
  • Rasiermesser, in der er sich gegen die Beamten wendet, die
  • Die klugen Menschen fürchten
  • Und lieber sich an einen Dummkopf halten.
  • Man merkt, daß er überall Partei für den Verstand nimmt, überall mahnt
  • er immer wieder, man solle den klugen Mann nur ja nicht unterschätzen,
  • sondern man solle ihn richtig behandeln lernen. Dieser Gedanke kommt in
  • der Fabel »_Die Musikanten_« zum Ausdruck, die mit den Worten schließt:
  • »Ich möcht dich lieber trinken sehn, tust du nur deine Sache ganz
  • verstehn.« Das sagt er nicht etwa, um das Trinken und Zechen zu
  • verherrlichen, sondern weil ihm das Herz wehe tat, wenn er mit ansehen
  • mußte, wie manche Leute sich statt tüchtiger sachverständiger Männer
  • allerhand hergelaufenes Gesindel herholten, und sich dann noch dessen
  • rühmten und erklärten, sie verständen zwar nichts von ihrer Sache,
  • hätten dafür aber ein ausgezeichnetes Benehmen. Er wußte, daß man bei
  • einem klugen Menschen alles erreichen könne und daß es nicht schwer sei,
  • ihm auch ein gutes Betragen beizubringen, wenn man es nur versteht,
  • verständig mit ihm zu sprechen, dagegen sei es sehr schwer, einem
  • Dummkopf Verstand beizubringen, selbst wenn man noch so viel auf ihn
  • einredet: »Mit einem Diebe -- ist man wie auf hoher See, mit einem
  • Dummkopf wie in einem Topf mit abgerahmter Milch.« Aber auch dem
  • Gescheiten weiß er ein kräftiges Wort zu sagen, in der Fabel »Teich und
  • Fluß« tadelt er ihn heftig, weil er seine Fähigkeiten einschlafen läßt,
  • und in der Fabel »Der Schriftsteller und der Räuber« straft er ihn, weil
  • er sie zu schlimmen und lasterhaften Zwecken mißbraucht. Überhaupt
  • beschäftigten ihn immer nur große und bedeutende Fragen. Aus einem Buch
  • kann jeder Mensch Belehrung schöpfen, alle Stände und Ränge im Staate,
  • in erster Linie das Oberhaupt, von dem er sagt:
  • Wenn ein Monarch sein Volk erfolgreich lenken will,
  • Muß er die Zügel fest, doch allzu straff nicht halten,
  • ebenso wie der letzte Tagelöhner, der in den untersten Reihen des
  • Staatskörpers steht und wirkt. Ihn weist er auf seine hohe Aufgabe hin,
  • indem er ihn an die Biene erinnert, die nie darum bemüht ist, ihrer
  • Arbeit eine besondere Würde zu verleihen.
  • Welch hoher Achtung wert ist auch der niedre Mann,
  • Der ungeehrt und im Verborgnen lebt
  • Und den für alle Sorgen, Mühn und Plagen
  • Der einzige Gedanke nur erhebt!
  • Er muß sie für das allgemeine Beste tragen.
  • Diese Worte werden ein ewiges Zeugnis für den hohen Sinn Krylows
  • bleiben. Kein Dichter hat je vermocht, seinen Gedanken eine so greifbare
  • Form zu geben, sie so allgemein verständlich auszudrücken, wie Krylow.
  • Der Dichter und der Weise sind in ihm eins geworden. Bei ihm ist alles
  • plastisch und anschaulich, seine Schilderungen der Natur in ihren hohen
  • Reizen und in ihrer drohenden Größe, ja selbst in ihrer Häßlichkeit und
  • in ihrem Schmutz, bis zu den feinsten Wendungen eines Gesprächs, die
  • eine lebendige Offenbarung der innersten seelischen Regungen sind. Alles
  • ist so treffend ausgedrückt, so richtig beobachtet, die Dinge sind mit
  • einer solchen Sicherheit erfaßt, daß es eigentlich unmöglich ist,
  • festzustellen, was das Charakterische der Krylowschen Schreibweise
  • ausmacht. Der Versuch wäre vergeblich, das Wesen seines Stils zu
  • ergründen. Der Gegenstand scheint überhaupt keine sprachliche Hülle zu
  • besitzen und ganz nackt, ganz nur er selbst, so wie die Natur ihn
  • geschaffen hat, vor unseren Augen zu stehen. Seine Verskunst spottet
  • gleichfalls jeder Definition. Es läßt sich nicht sagen, worin ihre
  • Eigenart besteht: Ist dieser Vers klangvoll, leicht, oder schwerfällig?
  • Er fängt an zu tönen, wo sein Gegenstand zu tönen beginnt, er wird
  • lebendig und beweglich, wo sich der Gegenstand bewegt, er wird kraftvoll
  • und ehern, wo der Gedanke stark und kräftig ist und er wird plötzlich
  • leicht, wo die Kraft und Schwere der Gedanken dem leichten
  • oberflächlichen Geschwätz der Toren Platz macht. Seine Sprache folgt
  • willig und gehorsam dem Gedanken, sie schwirrt hin und her wie eine
  • Fliege; bald bewegt sie sich in langen sechsfüßigen Versmaßen, bald
  • wieder in schnellen einfüßigen; in der wohlüberlegten Silbenzahl
  • offenbart sich aufs deutlichste ihre unfaßbare Geistigkeit. Man denke
  • bloß an den großartigen Schluß der Fabel »Die beiden Fässer«:
  • Den großen Mann erkennt man an der Tat
  • Und die Gedanken, die sein Hirn erfüllen,
  • Denkt er im Stillen.
  • Hier glaubt man aus der Anordnung und der Folge der Worte förmlich die
  • Größe des in sich selbst versenkten Menschen herauszufühlen.
  • Von Krylow werden wir sofort zu einer andern Gattung unserer Poesie,
  • nämlich zur satirischen Form hinübergeleitet. Wir Russen besitzen alle
  • viel Ironie. Sie kommt schon in unseren Sprichwörtern und Liedern zum
  • Vorschein und, was das Merkwürdigste ist, häufig selbst da, wo die Seele
  • ganz offenkundig leidet und wo sie gar nicht zur Heiterkeit aufgelegt
  • ist. Die Tiefe dieser urwüchsigen Ironie hat sich uns noch nicht völlig
  • erschlossen, weil wir auf allen Gebieten den Einflüssen der europäischen
  • Bildung unterlegen sind und uns auch in diesem Punkte von unserer
  • heimatlichen Wurzel losgelöst haben. Die Tendenz zur Ironie haben wir
  • uns indessen doch erhalten, wenn auch in etwas anderer Form. Es ist
  • schwer, einen Russen zu finden, in dem sich nicht einerseits die
  • Fähigkeit ehrfürchtiger Hingabe an einen Gegenstand mit der Neigung zum
  • Spott und ehrlichem Lachen vereinigt fände. Alle unsere Dichter haben
  • diese Fähigkeit besessen. Dershawin hat den größeren Teil seiner Oden
  • mit diesem kräftigen Salze gewürzt. Wir finden sie aber auch bei
  • Puschkin, bei Krylow, beim Fürsten Wjasemski, wir finden sie selbst bei
  • solchen Dichtern, deren Charakter eher zu einer sanften Melancholie
  • neigt: bei Kapnist, bei Shukowski, bei Karamsin, beim Fürsten Dolgoruki;
  • dies ist ein Zug, der uns allen gemeinsam ist. So wird es begreiflich,
  • daß unser Volk geborene Satiriker im wahren Sinn dieses Wortes
  • hervorbringen konnte. Schon zu jener Zeit, als Lomonossow sich bemühte,
  • seine Leier auf einen hohen lyrischen Ton abzustimmen, entdeckte Fürst
  • Kantemir mancherlei Stoffe für die Satire und geißelte in seinen
  • Dichtungen die Torheit unsrer noch im Werden begriffenen Gesellschaft.
  • Wir besitzen Satiren, Epigramme, boshafte karikaturistische Umdichtungen
  • der bekanntesten Dichtungen und alle möglichen Parodien voll Spott und
  • Ironie aus allen Epochen, sie alle werden wahrscheinlich ewig nur im
  • Manuskript erhalten bleiben, obwohl sie von starkem Talent zeugen. Man
  • denke nur an die Parodien des Fürsten Gortschakow, an die Satire auf die
  • Literaten von Wojeikow »Das Irrenhaus« und an die talentvollen Parodien
  • Michael Dmitrijews, in denen sich die Galle Juvenals mit einer
  • eigentümlichen slawischen Gutmütigkeit mischt. Indes die Satire brauchte
  • bald ein größeres Wirkungsfeld für ihre Entwicklung, und so drang sie
  • allmählig auch in das Drama ein. Das Theater hatte bei uns denselben
  • Ursprung wie überall; wir begannen zunächst mit Nachahmungen; bald
  • jedoch kamen auch originelle Züge zum Vorschein. In der Tragödie regten
  • sich sittliche Mächte und eine Erkenntnis des Menschen, wie er sich
  • unter dem Einfluß einer bestimmten Epoche, eines bestimmten Zeitalters
  • darstellte; in der Komödie ergossen die Dichter ihren milden Spott über
  • die lächerlichen Seiten unserer Gesellschaft, ohne sich um die Seele der
  • Menschen zu kümmern. Namen wie denen Oserows, Knjaschnins, Kapnists,
  • Fürst Schahowskois, Chmelnitzkijs, Sagoskins, A. Pissarews usw., haben
  • wir ein achtungsvolles Gedächtnis bewahrt, sie alle aber verblassen vor
  • zwei hervorragenden Werken, nämlich vor den beiden Komödien »_Der
  • Landjunker_« von Von _Wisin_ und vor Gribojedows »_Verstand bringt
  • Leiden_«, die Fürst Wjasemski geistreich zwei moderne Tragödien genannt
  • hat. Dies ist mehr als ein leichter milder Spott über die komischen und
  • lächerlichen Seiten der Gesellschaft, hier werden die Wunden und
  • Krankheiten der Gesellschaft und schwere Mißbräuche in ihrem Innern
  • aufgedeckt, die durch die Kraft einer unerbittlichen Ironie mit
  • erschütternder Deutlichkeit in ihrer ganzen Nacktheit ans Licht gestellt
  • werden. Von diesen beiden Komödien hat jede eine besondere Epoche zum
  • Gegenstand; die eine geißelt die Übel, die aus der Unbildung -- die
  • andere die, die aus einer mißverstandenen Bildung entspringen. Die
  • Komödie Von Wisins richtet sich gegen die rohe Brutalität des Menschen,
  • dies Produkt einer stumpfen unerschütterlichen Stagnation der entlegenen
  • Teile und Provinzen Rußlands. Sie schildert die Rinde von Roheit und
  • Brutalität, die die Gesellschaft umgibt, in so furchtbaren Farben, daß
  • man in diesem Stück den Russen kaum noch wiedererkennt. Wer vermag noch
  • einen russischen Zug in diesem boshaften Wesen voll tyrannischer Gelüste
  • zu entdecken: in dieser Frau Prostakowa, der Peinigerin ihrer Bauern,
  • ihres Mannes sowie aller Menschen mit der einzigen Ausnahme ihres
  • Sohnes? Und doch fühlt man deutlich, daß in keinem Lande, weder in
  • Frankreich noch in England, ein solches Wesen möglich wäre. Diese
  • unsinnige Liebe zu ihrem Kinde -- ist unsere eigene, starke russische
  • Liebe, die sich in einem Menschen, der seine Menschenwürde eingebüßt
  • hat, in so unnatürlicher Weise äußert: in dieser sonderbaren Mischung
  • mit einer tyrannischen Sinnesart; denn je mehr sie ihr Kind liebt, um so
  • mehr haßt sie alles, was nicht ihr Kind ist. Der Charakter Skotinins
  • stellt ein anderes Beispiel der Verrohung dar. Dieser plumpe
  • schwerfällige Mensch, der wiederum gar keine starken und wilden
  • Leidenschaften kennt, geht völlig in einer stillen Liebe zum Vieh auf,
  • die fast etwas Poetisches hat; statt auf den Menschen, richtet sie sich
  • auf das Tier: die Schweine bedeuten für ihn ebensoviel wie eine
  • Gemäldesammlung für einen Kunstliebhaber. Sodann der Mann der Frau
  • Prostakowa -- dies unglückliche, völlig verschüchterte Geschöpf, in dem
  • selbst die schwachen Kräfte und Regungen, die noch in ihm waren,
  • gänzlich durch die ewigen Nörgeleien seiner Gattin erstickt sind -- in
  • ihm ist alles abgestorben! Und endlich dieser Mitrophan, in dessen Natur
  • keinerlei Bosheit liegt, der niemand etwas Böses antun will, und der
  • doch ganz unmerklich, infolge der übermäßigen Verzärtelung, und weil
  • jeder seiner Wünsche erfüllt wird, zum Tyrannen seiner ganzen Umgebung,
  • am meisten jedoch der Menschen wird, die ihn am innigsten lieben, d. h.
  • seiner Mutter und seiner Wärterin, so daß es ihm geradezu ein Genuß ist,
  • sie zu kränken und zu beleidigen. Kurz, diese Menschen scheinen
  • eigentlich gar keine Russen zu sein, es ist schwierig, überhaupt noch
  • einen russischen Zug in ihnen wiederzufinden, abgesehen etwa von der
  • Jeremejewna und dem alten Soldaten. Man erfährt mit Schrecken, daß bei
  • ihnen weder der Einfluß der Kirche noch die guten alten Sitten etwas
  • auszurichten vermögen, von denen sich bei ihnen nichts als das Häßliche
  • und Gemeine erhalten hat; hier hat nur noch das eherne Gesetz zu
  • sprechen. In dieser Komödie erscheint alles wie eine monströse Karikatur
  • auf das Russentum, und doch enthält sie nichts Karikiertes, alles ist
  • mitten aus dem Leben geschöpft und mit tiefster Seelenkenntis
  • beobachtet. Dies sind ungeheuerliche schreckliche Beispiele der
  • Verrohung, wie sie nur ein Mensch, dessen Wiege in Rußland gestanden
  • hat, nie aber der Sohn eines andern Volkes erschaffen konnte.
  • Die Komödie von Gribojedow behandelt eine andere gesellschaftliche
  • Epoche, sie schildert das Übel, das durch eine schlecht verdaute
  • Aufklärung, die oberflächliche Nachäffung mondäner Äußerlichkeiten statt
  • des Kernhaften und Wesentlichen hervorgerufen wird, kurz, sie macht sich
  • die Donquichotterien unserer europäischen Bildung, die unorganische
  • Vermischung der Sitten und Bräuche, die die Russen so sehr ihrem eigenen
  • Wesen entfremdet und zu Ausländern gemacht hat, zum Vorwurf. Der Typus
  • des Famussow ist ebenso tief erfaßt, wie der der Frau Prostakowa. Mit
  • derselben Naivität, wie Frau Prostakowa sich ihrer Unwissenheit, rühmt
  • _er_ sich seiner Halbbildung, und zwar sowohl seiner eigenen wie der des
  • ganzen Standes, dem er angehört: er ist stolz darauf, daß die jungen
  • Mädchen von Moskau die höchsten Töne singen können, daß sie keine zwei
  • einfache ungezierte Worte zu sagen vermögen, daß seine Türe allen offen
  • steht, den Geladenen wie den Ungeladenen, besonders aber den Ausländern
  • und daß in seinem Bureau lauter Verwandte sitzen, die nichts zu tun
  • haben. Er ist ein Mann von gutem würdigen Benehmen und zugleich ein
  • Schwerenöter; er predigt Moral und ist ein Feinschmecker und ein Freund
  • opulenter Diners, die ihm drei Tage lang im Magen liegen. Er ist sogar
  • ein Freidenker, wenn er in Gesellschaft ähnlicher alter Herren weilt,
  • wie er selbst einer ist, und will doch keinen jungen Freigeist auf
  • Schußweite in die Stadt hineinlassen; diesen Namen hält er nämlich für
  • jeden bereit, der die Bräuche der vornehmen Welt nicht aufs strengste
  • beobachtet. Im Grunde genommen ist dies einer jener ausgebrannten
  • Menschen, die trotz all ihres weltmännischen »_comme il faut_« gänzlich
  • leer und hohl sind, deren Verweilen in der Hauptstadt und deren
  • Beschäftigung mit dienstlichen Angelegenheiten für die Gesellschaft
  • ebenso schädlich sind, wie andere Leute sie dadurch schädigen, daß sie
  • dem Dienst zu entfliehen suchen und beständig auf dem Lande sitzen, wo
  • sie vollends verrohen. Erstens leiden schon ihre Güter darunter, da sie
  • ihre Bewirtschaftung gedungenen Arbeitern und Verwaltern überlassen und
  • immer nur Geld für Bälle, sowie große und kleine Diners von ihnen
  • verlangen; damit zerstören sie das gesunde heilige Band, das einstmals
  • den Gutsherrn mit seinen Bauern einte; ferner aber leiden darunter auch
  • die dienstlichen Angelegenheiten: indem sie nämlich alle Ämter und
  • Posten ausschließlich mit ihren Verwandten besetzen, die nichts zu tun
  • haben und sich dem Müßiggang ergeben, berauben sie den Staat der
  • wirklichen tätigen Arbeiter und nehmen einem jede Lust, bei einem
  • ehrlichen Menschen in den Dienst zu treten; endlich aber diskreditieren
  • sie auch noch das Ansehen der Regierung durch ihren zweideutigen
  • Lebenswandel -- denn indem sie sich selbst den Anschein geben, als seien
  • sie wohlgesinnte Leute, die [dem Zaren] treu ergeben sind, -- verlangen
  • sie von den jungen Leuten, daß sie Tugend heucheln sollen, dabei aber
  • führen sie selbst einen lasterhaften Lebenswandel, bringen so die Jugend
  • gegen sich auf und pflanzen denen, deren Köpfe nicht allzu
  • widerstandsfähig und zu allerhand Extremen geneigt sind, -- Mißachtung
  • des Alters, wahrer Verdienste und Neigung zu wirklichem Freidenkertum
  • ein. Nicht weniger bedeutsam ist ein anderer Typus: _Sagorezki_, dieser
  • ausgesprochene Lump, über den alle schimpfen und der doch
  • wunderbarerweise überall empfangen wird, ein Lügner und Gauner, der es
  • aber versteht, sich bei allen hochgestellten und einflußreichen
  • Persönlichkeiten beliebt zu machen, indem er ihnen das zu verschaffen
  • weiß, wofür sie eine schmähliche Schwäche haben; ja er ist, wenn es
  • darauf ankommt, sogar bereit, ein Patriot und ein Vorkämpfer der
  • Sittlichkeit zu werden, einen Scheiterhaufen zu entzünden und alle
  • Bücher, die es auf der Welt gibt, und mit ihnen zugleich alle
  • Fabeldichter [wegen ihrer ewigen Scherze über die Löwen und Adler] zu
  • verbrennen, womit er übrigens verrät, daß er, der sich vor nichts
  • scheut, -- nicht einmal vor dem elendsten Geschimpf und Gezänk --
  • dennoch den Spott fürchtet, wie der Teufel das Kreuz. Nicht minder
  • hervorragend ist eine dritte Figur: der törichte Liberale _Repetilow_,
  • dieser Ritter der Hohlheit und Torheit, in welcher Gestalt sie auch
  • immer erscheinen mag. Die ganze Nacht über eilt er von Versammlung zu
  • Versammlung, und freut sich, Gott weiß wie sehr, wenn es ihm gelingt,
  • Anschluß an irgendeine Gesellschaft zu finden, in der viel Lärm gemacht
  • und laute Reden über Gegenstände geführt werden, die er nicht versteht,
  • und deren Sinn er nicht einmal wiederzugeben vermag; trotzdem aber hört
  • er sich all die verrückten Phantastereien begeistert an, und er ist
  • überzeugt, daß er sich nun endlich auf dem richtigen Wege befindet, und
  • daß hier wirklich eine große soziale Aufgabe vorliegt: ein Problem, das
  • zwar noch nicht reif ist, dessen wahre Bedeutung sich jedoch schon
  • offenbaren wird, wenn man nur gehörig Lärm macht, sich nachts recht
  • häufig versammeln und heftige Diskussionen führen wird. -- Auf derselben
  • Höhe steht ein vierter Typus: der dumme [Soldat] _Skalosub_, der seinen
  • Dienst so versteht, daß es dabei lediglich darauf ankommt, die
  • verschiedenen Abzeichen und Uniformen unterscheiden zu können, der dabei
  • aber an einer eigenartigen philosophischen [liberalen] Anschauung über
  • die Ränge und Titel festhält. Er erklärt ganz offen, er halte sie für
  • die unentbehrlichen Kanäle, die zum Generalsrang führen; und habe er
  • erst den, dann möge kommen, was da will. Sonst macht er sich keine
  • Sorgen, die Zustände seiner Epoche und seines Zeitalters machen ihm
  • nicht viel Kopfzerbrechen, er ist fest davon überzeugt, daß man Ruhe in
  • der Welt schaffen könne, wenn man ihr einen Feldwebel zum Voltaire gibt.
  • Ein prachtvoller Typus ist ferner auch die alte Chlöstowa, diese
  • traurige Mischung aus der Hohlheit und Trivialität zweier Jahrhunderte.
  • Von dem ganzen Inhalt der alten Zeiten hat sie lediglich deren Torheit
  • und Hohlheit ererbt und für diese fordert sie Achtung von der jungen
  • Generation, sie verlangt, daß dieselben Menschen, die sie verachtet, sie
  • respektieren sollen, überhäuft jeden, der ihr in den Weg läuft, mit
  • Vorwürfen, weil er sich in ihrer Gegenwart nicht richtig hingesetzt oder
  • umgedreht habe, es gibt kein Wesen, das sie liebt und achtet, dafür aber
  • protegiert sie kleine Negerjungen, Möpse und Leute von der Art einer
  • Moltschalin, kurz, sie ist ein widerwärtiges altes Weib im vollen Sinn
  • des Wortes. _Moltschalin_ ist gleichfalls ein glänzender Typus. Diese
  • stumme gemeine Kreatur ist mit außerordentlicher Treffsicherheit erfaßt.
  • Dieser Mensch arbeitet sich ganz still und geräuschlos empor, schlummert
  • doch nach Tschatzkys Worten in ihm ein künftiger Sagorezki. Ein solcher
  • Haufen von Ungeheuern, deren jedes in sich das Zerrbild einer Meinung,
  • eines Prinzips, einer Idee darstellt, ihren vernünftigen Sinn in seiner
  • Weise entstellt und in sein Gegenteil verkehrt, mußte eine Reaktion
  • hervorrufen und zu dem entgegengesetzten Extrem führen, wie es in seiner
  • ganzen Schroffheit durch Tschatzky repräsentiert wird. Tschatzky geht in
  • seinem Ärger und in gerechter Empörung gegen alle diese Leute
  • gleichfalls viel zu weit und bemerkt nicht, daß er gerade dadurch und
  • durch seine unbeherrschte Sprache unerträglich und lächerlich wird. Alle
  • Personen des Gribojedowschen Dramas sind ebensosehr Produkte der
  • Halbbildung, wie die Personen im Drama Von Wisins Produkte der
  • Unbildung, russische Ungeheuer, Krüppel, vorübergehende
  • Zeiterscheinungen sind, die aus einer durch neue Fermente
  • hervorgerufenen Gärung entsprungen sind. Kein einziger von ihnen stellt
  • einen echten, wahrhaft russischen Typus dar: in keinem von ihnen regt
  • sich der russische Bürger. Der Zuschauer bleibt gänzlich im Ungewissen,
  • wie nun ein Russe in Wahrheit sein soll. Selbst Tschatzky, diese
  • Persönlichkeit, die offenbar vorbildlich wirken soll, zeigt nur ein
  • Streben, eine Tendenz zu einem bestimmten Ziel, und äußert bloß ihre
  • Entrüstung über alles Gemeine und Verächtliche in der Gesellschaft, ohne
  • in Wirklichkeit in sich selbst der Gesellschaft ein Muster und Vorbild
  • aufzustellen.
  • Beide Komödien erfüllen die Forderungen der dramatischen Technik nur
  • schlecht, in dieser Beziehung ist ihnen jedes noch so minderwertige
  • französische Stück überlegen. Der Kern der Intrige, der Knoten des
  • Dramas wird weder straff geknüpft noch kunstvoll gelöst. Man hat den
  • Eindruck, als hätten die Komödiendichter sich hierfür nur wenig
  • interessiert, als repräsentiere ihnen der Stoff nur einen andern höheren
  • Inhalt, der allein für das Auftreten und den Abgang ihrer Person
  • maßgebend ist. Die Notwendigkeit der Nebenpersonen und Rollen steht
  • gleichfalls in keinem Zusammenhang mit der Hauptperson, mit dem Helden
  • des Stücks, sondern wird lediglich daran gemessen, inwieweit diese
  • Personen geeignet erscheinen, den Gedanken des Dichters durch ihre
  • Anwesenheit zu erläutern und zu ergänzen und das satirische Gesamtbild
  • zu vervollständigen. Wäre es anders, d. h. hätten die Dichter die
  • notwendigen Forderungen der Bühntechnik erfüllt und jede ihrer Personen,
  • die alle so außerordentlich glücklich erfaßt und gestaltet sind, sich
  • vor dem Zuschauer in einer lebensvollen Handlung und nicht in bloßen
  • Reden und Gegenreden ausleben lassen, so wären diese beiden Komödien
  • sicherlich zwei großartige Schöpfungen des russischen Genius geworden.
  • Auch jetzt kann man sie zwei echte soziale Komödien nennen; eine so
  • ausdrucksvolle und bedeutende Komödie hat es bisher, wie ich glaube,
  • noch bei keinem Volke gegeben. Bei den Griechen finden wir zwar Ansätze
  • zu einer sozialen Komödie, indessen ließ sich Aristophanes doch mehr
  • durch persönliche Sympathien leiten, er geißelte die Mißbräuche und
  • Fehler einzelner und behielt dabei nicht immer lediglich das Interesse
  • der Wahrheit im Auge: hat er es doch gewagt, was wohl ein genügender
  • Beweis dafür ist, den Sokrates zu verspotten. Unsere Komödiendichter
  • aber wurden von sozialen und nicht von persönlichen Motiven bewegt, ihre
  • Angriffe richteten sich nicht gegen einzelne Personen, sondern gegen
  • unzählige Mißbräuche, gegen Verirrungen der Gesellschaft und ihr
  • Abweichen vom geraden Wege des Rechts. Die Gesellschaft schien in ihnen
  • selbst Fleisch und Blut, schien Körper geworden zu sein; am lyrischen
  • Feuer der Entrüstung entzündete sich ihr kraftvoller schonungsloser
  • Spott. Da ist eine Fortsetzung jenes Kampfes von Licht und Finsternis,
  • den Peter in Rußland entfacht hat, und der jeden hochherzigen Russen
  • unwillkürlich zu einem Vorkämpfer des Lichts macht. Beide Komödien sind
  • keine eigentlichen Schöpfungen der Kunst, und sind nicht aus der
  • Einbildungskraft des Dichters geboren. Es mußte sich schon viel Schmutz
  • und Unrat in unserem Lande angehäuft haben, damit zwei solche Werke ganz
  • aus sich selbst entstehen und wie ein reinigendes Gewitter an uns
  • vorüberziehen konnten. Und das ist der Grund, weswegen in unserer
  • Literatur kein Werk mehr auf sie gefolgt ist, das ihnen gleichkam, und
  • daß ihnen wahrscheinlich auch lange kein gleiches mehr folgen wird.
  • Mit dem Tode Puschkins kommt die Bewegung in unserer Literatur zum
  • Stillstand. Das bedeutet jedoch noch keineswegs, daß ihr Geist erloschen
  • ist; im Gegenteil, er sammelt sich gleich einem Gewitter in der Ferne,
  • und die Trockenheit und die schwüle Luft kündigen sein Nahen an. Schon
  • heute gibt es viele talentvolle Leute unter uns. Aber noch verspüren wir
  • die Nachwirkung der harmonischen Puschkinschen Töne; noch vermag niemand
  • diesem Zauberkreis, den er um uns gezogen hat, zu entrinnen und zu
  • zeigen, was er selbst vermag. Ja niemand scheint etwas davon zu merken,
  • daß eine neue Zeit angebrochen ist, daß sich neue Lebensgrundlagen
  • herausgebildet haben, und daß neue Fragen laut zu werden beginnen, die
  • wir bisher nicht vernommen haben; daher haben sie alle noch keine eigene
  • Farbe und keine selbständige Individualität. Man tut sogar besser, diese
  • Dichter gar nicht beim Namen zu nennen, außer dem einen _Lermontow_, der
  • die andern weit überholt hat und der nicht mehr unter den Lebenden
  • weilt. Er hat Zeugnisse eines erstklassigen Talentes abgelegt; eine
  • große Zukunft hätte ihm bevorgestanden, wenn nicht ein Unstern über ihn
  • gewaltet hätte und wenn er sich's nicht in den Kopf gesetzt hätte, daß
  • dieser sein Schicksal lenke. Er war sehr früh in solche
  • Gesellschaftskreise gekommen, denen man wohl mit Recht nur eine
  • vorübergehende und zeitweilige Bedeutung beilegen kann, und die wie ein
  • armes Pflänzchen, das sich vom mütterlichen Boden losgerissen hat, dazu
  • verurteilt waren, traurig durch öde Wüsten zu irren, im sicheren Gefühl,
  • daß sie nie in einem andern Boden Wurzeln schlagen würden und daß es ihr
  • Los sei -- zu verwelken und elend zugrunde zu gehen -- daher diese
  • herzzerreißende Gleichgültigkeit gegen alles in der Welt, die bei ihm
  • schon so früh zum Durchbruch kommt und die wir bisher noch bei keinem
  • unserer Dichter antrafen. Freudlose Begegnungen, ein schmerzloser
  • Abschied, seltsame und sinnlose Liebesbündnisse, die ohne Zweck und Ziel
  • geknüpft und ebenso ziel- und zwecklos wieder gelöst werden, das sind
  • die Gegenstände seiner Gedichte, daher konnte Shukowski das Wesen
  • dieser Poesie sehr treffend mit dem Ausdruck die Poesie der
  • _Illusionslosigkeit_ kennzeichnen. Lermontows Talent machte diese
  • Stimmung für eine Weile populär und modern. Wie einst unter dem
  • anfeuernden Einfluß Schillers eine Begeisterung durch die ganze Welt
  • ging, wie es eine Zeitlang modern war, sich zu begeistern, und wie eine
  • Weile nachher unter dem deprimierenden Eindruck der Byronschen Poesie
  • die Enttäuschung, die »Entgeisterung«, die _Desillusionierung_ im
  • Schwange war, die vielleicht nur die Folge einer übermäßigen
  • Begeisterung gewesen sein mag und dann gleichfalls modern wurde, so kam
  • endlich auch die Reihe an die Illusions_losigkeit_, dieses eigenste Kind
  • der Byronschen Enttäuschung und Desillusionierung. Die Zeit, während der
  • diese Stimmung herrschte, war freilich kürzer, als die Dauer der beiden
  • andern Modeströmungen, denn die Illusionslosigkeit hat für niemand etwas
  • Verlockendes. Lermontow glaubte, daß ein Dämon der Verführung Macht über
  • ihn habe, und so hat er es mehr als einmal versucht, sein Bild zu
  • gestalten, wie wenn er sich durch die dichterische Darstellung hätte von
  • ihm befreien können. Allein dies Bild nahm keine bestimmten scharfen
  • Konturen an, ja es fehlte ihm an jener verführerischen Macht über den
  • Menschen, die der Dichter ihm verleihen wollte. Man merkt es Lermontow
  • an, daß diese Gestalt nicht ein Produkt der eigenen Kraft, sondern der
  • Müdigkeit und der Unlust der Menschen ist, den Kampf mit dem Dämon
  • aufzunehmen. In einem unvollendeten Gedicht: »Ein Märchen für Kinder«
  • hat diese Gestalt mehr plastische Schärfe gewonnen, ist sie sinnvoller
  • geworden. Vielleicht hätte sich der Dichter, wenn er diese Erzählung,
  • die sicherlich sein bestes Gedicht ist, beendigt hätte, ganz von diesem
  • Dämon und damit auch von seiner trostlosen Stimmung befreit (Anzeichen
  • einer solchen Befreiung kann man bereits im »_Engel_«, im »_Gebet_« und
  • einigen andern Gedichten bemerken), wenn er nur selbst etwas mehr
  • Achtung und Liebe für sein Talent besessen hätte. Noch nie hat jemand
  • eine _solche_ beinahe prahlerische Mißachtung für sein Können zur Schau
  • getragen, wie Lermontow. Man hat nie den Eindruck, daß er etwas wie
  • Liebe für die Kinder seiner Phantasie empfinde. Kein einziges seiner
  • Gedichte ist liebevoll ausgetragen, sorgsam und mit der Zärtlichkeit
  • einer Mutter gehegt und gepflegt. Keins ist in sich gefestigt, ins
  • Gleichgewicht gebracht und konzentriert, sogar der Vers hat keine eigene
  • feste Physionomie und mutet wie eine matte Reminiszenz an Shukowskis
  • oder Puschkins Verse an. Überall herrscht Überfluß und ein unnötiger
  • Wortreichtum. Lermontows Prosawerke dagegen sind weit bedeutender. Noch
  • nie hat jemand eine so korrekte, schöne, duftige russische Prosa
  • geschrieben. Aus ihr spricht eine echte Vertiefung in das Leben und die
  • lebendige Wirklichkeit, hier kündigt sich der künftige große Maler und
  • Darsteller russischen Lebens an .... Da aber riß der Tod ihn plötzlich
  • von uns hinweg. Das Schicksal unserer Dichter hat etwas Schreckliches.
  • Sowie einer von ihnen seine eigentliche Bestimmung, seine wahre Aufgabe
  • aus den Augen verliert, nach einer andern greift oder in dem Getriebe
  • der vornehmen Gesellschaft untertaucht, in die er nicht hingehört und in
  • der ein Dichter nicht weilen darf, reißt ihn mit einem Schlage ein
  • plötzlicher gewaltsamer Tod aus unserer Mitte. Drei erstklassige
  • Dichter: Puschkin, Gribojedow und Lermontow wurden uns einer nach dem
  • andern während eines einzigen Dezenniums in der Blüte ihres Mannesalters
  • und ihrer Kräfte durch einen gewaltsamen Tod entrissen -- und doch hat
  • das auf keinen Menschen einen tiefen Eindruck gemacht: unsere
  • leichtsinnige Generation fühlte sich nicht im geringsten erschüttert.
  • Doch es wird endlich Zeit, daß wir zum Schluß noch etwas darüber sagen,
  • was denn eigentlich unsere Poesie überhaupt darstellt, wozu sie da ist,
  • welchem Zwecke sie gedient und was sie für unser ganzes russisches
  • Vaterland geleistet hat. Hat sie zu ihrer Zeit den Geist der
  • Gesellschaft beeinflußt, hat sie jeden einzelnen je nach dem Platz, den
  • er einnahm, veredelt, hat sie zu seiner Erziehung beigetragen, hat sie
  • der Gesamtheit, gemäß dem Geist des Landes und den wurzelhaften Kräften
  • des Volkes, die die treibenden Mächte des Staates sein müssen, höhere
  • Begriffe eingepflanzt? Oder war sie lediglich ein treues Abbild unserer
  • Gesellschaft -- eine vollständige detaillierte Kopie, ein klarer Spiegel
  • unseres Lebens? -- Sie ist weder das eine noch das andere gewesen und
  • hat weder das eine noch das andere getan. Sie ist fast völlig unbekannt
  • geblieben, unsere Gesellschaft wußte so gut wie nichts von ihr; unser
  • Publikum genoß damals eine andere Erziehung unter der Leitung
  • französischer, deutscher und englischer Gouverneure, fremder Auswanderer
  • aus aller Herren Länder, aus allen Ständen und Berufen, von Menschen
  • ganz verschiedener Sinnesart, ganz verschiedener Grundsätze und
  • Anschauungen. -- Unsere Gesellschaft wurde -- was bisher noch mit keinem
  • Volke geschehen ist, mitten im eigenen Vaterlande in der Unkenntnis
  • ihres eigenen Landes -- erzogen. Selbst die eigene Sprache war
  • vergessen, so daß unserer Poesie alle Mittel und Wege abgeschnitten
  • waren, um bis ans Ohr unseres Publikums zu gelangen. Wenn es ihr aber
  • doch einmal glückte, bis zur Gesellschaft durchzudringen, so geschah
  • dies stets auf unnatürlichen Seitenwegen: entweder eine glücklich
  • erfundene Musik trug ein Gedicht bis in die Salons der vornehmen
  • Gesellschaft, oder die unreife Frucht eines jugendlichen Dichters, ein
  • minderwertiges Gedicht, das den fremdländischen -- freigeistigen Ideen,
  • die unserer Gesellschaft von irgendeinem fremden Gouverneur beigebracht
  • worden waren, nicht entsprach, wurde der Anlaß, daß das Publikum etwas
  • von der Existenz eines Dichters erfuhr, der sich in seiner Mitte
  • aufhielt.
  • Kurz -- unsere Poesie hat weder zur Belehrung und Erziehung unserer
  • Gesellschaft beigetragen, noch war sie ein Ausdruck dieser Gesellschaft.
  • Sie schwebte die ganze Zeit über gleichsam hoch _über_ der Gesellschaft,
  • wie im Gefühl, daß ihre Bestimmung nicht innerhalb der modernen
  • Gesellschaft liege, und wenn sie sich einmal bis zu ihr herabließ, so
  • nur zu dem Zwecke, um sie mit der Geißel der Satire zu treffen, nicht
  • aber, um den Nachkommen durch die Darstellung des gesellschaftlichen
  • Lebens ein Vorbild aufzustellen. Es ist höchst merkwürdig: trotz alledem
  • waren wir selbst Gegenstand unserer Dichtkunst, und doch erkennen wir
  • uns in ihr nicht wieder. Wenn uns ein Dichter unsere besten Seiten vor
  • Augen stellt, scheint er uns zu übertreiben und wir wollen nicht recht
  • daran glauben, was Dershawin uns über uns selbst sagt. Wenn aber ein
  • Schriftsteller die häßlichen und unwürdigen Züge unseres Wesens
  • schildert, so glauben wir ihm gleichfalls nicht, und wir halten das
  • Bild, das er von uns entwirft, für eine Karikatur. In der Tat, in beiden
  • Fällen ist irgendwo eine übertriebene, übersteigerte Kraft oder Potenz
  • vorhanden, und doch ist tatsächlich nichts übertrieben. Der Grund für
  • die erstere ist der, daß unsere lyrischen Dichter die Gabe haben, schon
  • in dem Keim, der dem gewöhnlichen Auge fast verborgen bleibt, die
  • künftige herrliche Frucht zu ahnen, und daher jeden Zug unseres Wesens
  • in gereinigter, geläuterter Gestalt vor uns erstehen lassen. Der Grund
  • der zweiten Erscheinung ist der, daß unsere satirischen Schriftsteller,
  • wenn auch in verschwommenen Umrissen, das Ideal des besseren russischen
  • Menschen in der Seele trugen und gerade deswegen alles Häßliche und
  • Gemeine in den wirklich existierenden Repräsentanten des Russentums nur
  • um so deutlicher sahen. Die Kraft einer edlen Empörung verlieh ihnen die
  • Fähigkeit, eine Sache weit klarer und schärfer zu beleuchten, als sie
  • dem gewöhnlichen Menschen erscheint. Das ist der Grund, weshalb sich in
  • der letzten Zeit von allen unseren Charakterzügen -- die Spottlust am
  • allerstärksten entwickelt hat. Bei uns lacht und spottet ein jeder über
  • seine Mitmenschen; ja im innersten Wesen unseres Landes liegt etwas,
  • eine Neigung, über alles zu spotten: über das Alte wie über das Neue,
  • und nur dem Achtung und Ehrfurcht zu bezeugen, was nie veraltet und was
  • ewig ist. So also hat unsere Dichtkunst nie den russischen Menschen in
  • seiner Vollständigkeit dargestellt, weder in dem _Ideal_, das er
  • erreichen _soll_, noch in seinem wirklichen _Dasein_, wie er heute in
  • Wirklichkeit _ist_. Sie hat lediglich eine schier unendliche Zahl von
  • Nuancen unserer verschiedensten Charaktereigenschaften aufgehäuft, sie
  • hat nur alle einzelnen Züge unserer vielseitigen Natur wie in einer
  • Schatzkammer vereinigt. Unsere Dichter hatten das Gefühl, daß die Zeit
  • noch nicht gekommen sei, uns vollständig und allseitig darzustellen, uns
  • unserer Eigenart zu rühmen, daß wir uns vielmehr erst organisieren, uns
  • selbst finden und Russen werden mußten. Unsere russische Natur ist heute
  • erst soweit erweicht und vorbereitet, um die ihr entsprechende Form
  • annehmen zu können; noch haben wir nicht Zeit gehabt, die Summe aller
  • Elemente und Prinzipien zu ziehen, die von überall her in unser Land
  • verpflanzt wurden; noch ist jeder von uns der Schauplatz, auf dem sich
  • Fremdes und Eigenes in bunter sinnloser Mischung begegnen, noch sind wir
  • nur ein unreifes unvernünftiges Resultat, um dessentwillen Gott diese
  • Mischung, dieses Zusammentreffen der Elemente angeordnet hat. Das haben
  • unsere Dichter gefühlt; aus diesem Gefühl heraus war es gleichsam ihre
  • stete Sorge, in diesem Kampfe die besten Züge unseres Wesens nicht
  • untergehen zu lassen. Sie nahmen dies Beste überall, wo sie es fanden,
  • und beeilten sich, es ans Tageslicht zu bringen, ohne viel danach zu
  • fragen, welchen Platz sie ihm anweisen sollten. So sucht der arme
  • Besitzer eines Hauses, das ein Raub der Flammen wird, alles Wertvolle,
  • was es birgt, zu retten, ohne sich viel um das übrige zu kümmern. Unsere
  • Poesie hat nicht für ihr Zeitalter getönt, sie ließ ihre Stimme
  • erschallen, damit wir, wenn die herrliche Zeit endlich anbrechen würde,
  • wo der Gedanke einer inneren Erbauung und Verkörperung des Menschen im
  • Bilde, für das ihn Gott erschaffen und das er auf sein Geheiß aus den
  • eigenen urwüchsigen Materialien unseres Landes errichten sollte, ganz
  • Rußland ergreifen und zum sehnlichsten Wünsche aller Russen werden würde
  • -- damit wir uns dann darüber klar wären, was alles an Gutem und Schönem
  • und Eigenem in uns verborgen liegt, und nicht vergessen, es bei diesem
  • Bau zu verwenden. Unsere eigenen Schätze werden sich uns immer mehr
  • enthüllen, je aufmerksamer wir uns in unsere Dichter hineinlesen werden.
  • In dem Maße, als wir sie mehr und besser kennen lernen werden, werden
  • wir auch ihre anderen höheren Eigenschaften verstehen lernen, die bisher
  • noch kein Mensch bemerkt hat: wir werden erkennen, daß sie nicht bloß
  • die Hüter unserer Schätze und Kostbarkeiten, sondern zum Teil auch
  • unsere Baumeister waren, sei es nun, daß sie sich dessen bewußt waren
  • oder nicht; jedenfalls aber haben sie in ihrer im Vergleich zu uns so
  • viel höheren Natur und Veranlagung einen unserer nationalen
  • Charakterzüge zur Darstellung gebracht, der in ihnen zu weit
  • kraftvollerer, deutlicherer Entwicklung gekommen ist, um sich uns in
  • seinem ganzen Glanz und in seiner ganzen Herrlichkeit zu enthüllen.
  • Dieses Streben Dershawins, das Bild eines starken, unbeugsamen Mannes
  • von einer ungeheuren, fast biblischen Größe zu zeichnen, hatte nichts
  • Willkürliches: den Keim dazu fand er in unserem Volke selbst. Die
  • mächtigen Züge eines großen und gewaltigen Menschen sind in ganz Rußland
  • überall so lebendig, daß selbst Ausländer, die etwas von Rußland kennen
  • gelernt haben, darüber erstaunt sind, noch ehe sie sich mit den Sitten
  • und Gebräuchen unseres Landes vertraut gemacht haben. Vor kurzem erst
  • hat einer von ihnen seine Memoiren herausgegeben, um Rußland Europa von
  • einer recht abschreckenden Seite zu zeigen, aber auch er vermag seine
  • Verwunderung über die schlichten Bewohner unserer Bauernhütten nicht zu
  • verhehlen[5]. Mit Staunen betrachtete er unsere ehrwürdigen weißhaarigen
  • Greise, die an der Schwelle der Hütten sitzen; erschienen sie ihm doch
  • wie die gewaltigen Patriarchen der alten biblischen Zeiten. Mehr als
  • einmal mußte er gestehen, daß ihm in keinem Lande Europas, das er
  • bereist hatte, das Bildnis des Menschen in solch einer an die
  • patriarchalisch biblische Größe gemahnenden Erhabenheit erschienen war.
  • Und dieser Gedanke kehrt in seinem Buch, das von einem mächtigen Haß
  • gegen unser Volk erfüllt ist, mehrfach wieder. Dieser Zug, d. h. diese
  • Feinfühligkeit, dieser scharfe _Instinkt_, der sich besonders bei
  • Puschkin mit solcher Stärke äußert, ist eine unserer nationalen
  • Eigentümlichkeiten. Man denke bloß an die Ausdrücke, mit denen das Volk
  • selbst diesen eigentümlichen Zug eines Charakters kennzeichnet, z. B. an
  • den Spitznamen _Ohr_, den man einem Menschen beilegt, in dem jede Fiber
  • zittert und zu sprechen scheint und der keinen Augenblick untätig sein
  • kann. Oder man denke an die Bezeichnung _Allerweltskerl_ für einen
  • Menschen, dem alles gelingt, und der mit allem fertig wird, und die Zahl
  • derartiger Ausdrücke, die die verschiedensten Nuancen und Schattierungen
  • dieses Charakterzugs bezeichnen, ist ganz außerordentlich groß.
  • [Fußnote 5: Der Marquis Custin.]
  • Das ist ein großer Zug in unserem Wesen: das Bild des russischen Mannes,
  • das Dershawin gezeichnet hat, wäre noch nicht vollständig und würde noch
  • nicht die ganze herbe Größe atmen, wenn es diesem Manne an dem feinen
  • Gefühl, an der Fähigkeit fehlte, lebhaft auf jeden Naturgegenstand zu
  • reagieren und bei jedem Schritte voll Staunen über die Schönheit der
  • Schöpfungen Gottes zu verharren. Dieser Verstand, der die richtige
  • Mitte, das Maß eines jeden Dinges zu finden weiß, wie wir ihn besonders
  • bei Krylow finden, das ist der echt russische Verstand. Nur in Krylow
  • äußert sich dieser sichere Takt des russischen Geistes, der es versteht,
  • das wahre Wesen einer Sache zum Ausdruck zu bringen, und es auszudrücken
  • vermag, ohne jemand durch ein Wort zu verletzen und Menschen von anderer
  • Sinnesart gegen sich und seinen Gedanken aufzubringen, kurz jener
  • sichere Takt, den wir durch unsere weltmännische Erziehung und Bildung
  • verloren haben und den sich nur noch unsere Bauern erhalten haben. Unser
  • Bauer versteht es, so freimütig mit allen Höhergestellten und über ihm
  • Stehenden zu sprechen [selbst mit dem Zaren], wie keiner von uns, und
  • dabei verletzt er mit keinem Worte den Anstand, während wir es häufig
  • nicht einmal verstehen, mit einem Gleichgestellten zu reden, ohne ihn
  • durch einen Ausdruck zu verletzen. Wenn dafür aber einmal in einem von
  • uns dieser innere sichere, echt russische geistige Takt wirklich
  • vorhanden ist, dann genießt er bei uns die Achtung aller Leute, ihm wird
  • kein Mensch es verwehren, etwas zu sagen, was man einem andern nie
  • gestatten würde, ihm nimmt niemand etwas übel. Alle unsere
  • Schriftsteller haben Feinde gehabt, selbst die gutmütigsten unter ihnen
  • und die, die das beste Herz hatten. (Man denke nur an Karamsin und
  • Shukowski.) Krylow aber hatte nie einen Feind. Dieser _jugendliche
  • Wagemut_ und dieser stürmische Drang, seine Kräfte für alles Hohe und
  • Gute einzusetzen, der in den Versen Jasykows pulsiert, das ist die
  • überschäumende Kraft unseres russischen Volkes, jene herrliche
  • Eigenschaft, die nur ihm allein eigen ist und die uns Alten und Jungen
  • ein jugendliches Feuer einhaucht, sowie sich eine Gelegenheit bietet,
  • sich für eine große Sache, deren kein andres Volk fähig ist, einzusetzen
  • -- solch eine Aufgabe schmilzt plötzlich die ganze bunte, mit sich im
  • Streit liegende Masse in einem mächtigen Gefühl zusammen; jeglicher
  • Streit, alle engherzigen persönlichen Interessen -- alles ist vergessen,
  • und ganz Rußland steht plötzlich da wie ein einziger Mann. Alle diese
  • Eigenschaften, die unsere Dichter uns offenbart haben, sind nationale
  • Eigentümlichkeiten unseres Volks, die in ihnen bloß schärfer und
  • deutlicher zur Ausprägung gekommen sind; die Dichter tauchen ja nicht
  • plötzlich wie aus dem Wasser empor, sie gehen aus ihrem Volke hervor.
  • Sie sind Funken, die von ihm selbst ausgehen, die ersten Herolde, die
  • von seiner Kraft zeugen. Daneben aber haben unsere Dichter auch schon
  • dadurch viel Gutes geleistet, daß sie einen bisher noch nie bekannten
  • Wohllaut verbreitet haben. Ich weiß nicht, ob die Dichter irgendeiner
  • andern Literatur eine so unendliche Mannigfaltigkeit von Klangnuancen
  • hervorgebracht haben, wozu ja freilich auch unsere poetische Sprache
  • manches beigetragen hat. Jeder von ihnen hat sein eigenes Versmaß und
  • seinen Eigenton. Dieser eherne metallische Vers Dershawins, den unser
  • Ohr noch bis auf den heutigen Tag nicht vergessen kann; dieser Vers
  • Puschkins, der da tropft wie schweres Harz oder wie ein Strahl alten,
  • hundertjährigen Tokaiers, dieser leuchtende festliche Vers Jasykows, der
  • wie ein Lichtstrahl in die Seele dringt und ganz aus Licht gewebt zu
  • sein scheint, dieser mit allen Düften des Mittags gesalbte Vers
  • Batjuschkows, süß wie der Honig aus Bergschlüchten, dieser leichte
  • ätherische Vers Shukowskis, der wie der kaum vernehmbare Ton einer
  • Äolsharfe verschwebt, dieser schwere, uns zur Erde herabziehende Vers
  • und häufig von einer bitteren, quälenden russischen Schwermut
  • durchdrungene Vers Wjasemskis -- sie alle haben wie verschieden
  • abgestimmte Glocken, oder wie die vielen Flöten einer herrlichen Orgel
  • einen wundervollen Wohllaut durch das ganze russische Land getragen.
  • Dieser Wohllaut ist wahrlich nichts Geringes, wie _die_ glauben mögen,
  • die keinen Begriff von der Poesie haben. Dieser Wohllaut lullt das Volk
  • in seinen Kinderjahren ebenso ein wie das herrliche Wiegenlied einer
  • Mutter, noch ehe es den Sinn des Liedes verstehen lernt, und seine
  • wilden Leidenschaften legen sich und kommen von selbst zur Ruhe. Dieser
  • Wohllaut ist ebenso notwendig, wie der Weihrauch im Tempel, der unsere
  • Seele unmerklich, noch ehe der Gottesdienst begonnen hat, zur Aufnahme
  • von etwas Höheren stimmt und vorbereitet. Unsere Poesie hat alle Akkorde
  • auserprobt, hat die Einflüsse der Literatur aller Völker erfahren, hat
  • der Leier aller Dichter gelauscht, hat sich eine Art von Weltsprache
  • geschaffen, um alle Menschen für eine größere Aufgabe vorzubereiten.
  • Jetzt kann man nicht mehr von den Torheiten reden, die unsere heutige,
  • sich ihrer Verantwortlichkeit noch nicht bewußte junge Dichtergeneration
  • leichtsinnig weiterplappert; man kann auch der Kunst nicht mehr dienen
  • -- so schön und beglückend ein solcher Dienst auch sein mag --, ohne
  • ihre höhere Bestimmung zu verstehen und ohne sich darüber klar zu sein,
  • wozu uns die Kunst verliehen ward; ein Puschkin läßt sich nicht
  • wiederholen. Nein, weder Puschkin noch irgendein anderer darf uns jetzt
  • zum Vorbilde dienen; nun sind andre Zeiten gekommen. Heute kann man uns
  • mit nichts mehr imponieren: weder durch die Eigenart und Eigenwilligkeit
  • des Verstandes, noch durch die plastische Kraft des Charakters, noch
  • durch die stolze Selbstbewußtheit der Geste: heute muß der Dichter eine
  • höhere christliche Bildung erhalten. Andere Aufgaben erwachsen der
  • Poesie. Wie sie während der Kindheit der Völker dazu diente, die
  • Nationen zum Kampf anzufeuern und ihren kriegerischen Geist zu wecken,
  • so ist es jetzt ihre Bestimmung, den Menschen zu einem andern, höheren
  • Kampf aufzurufen -- zu einem Kampf, in dem es sich schon nicht mehr um
  • unsere zeitlichen Güter und unsere zeitliche Freiheit [unsere Rechte und
  • Privilegien], sondern um unsere Seele handelt, die unser himmlischer
  • Schöpfer selbst für die Perle Seiner Schöpfungen hält. Zahlreiche
  • Aufgaben stehen heute der Dichtkunst bevor: sie muß der Gesellschaft
  • alles wahrhaft Schöne wieder zurückerstatten, was ihr durch das sinnlose
  • Leben von heute geraubt ward. Nein, diese künftigen Dichter werden
  • keinem von unseren früheren Poeten ähnlich sehen. Sogar ihre Sprache
  • wird anders klingen; sie wird unserer russischen Seele verwandter und
  • vertrauter erscheinen, und unsere nationalen Elemente werden viel
  • lebendiger und kräftiger in ihr zum Ausdruck kommen. Noch sprudelt jener
  • eigene urwüchsige Quell unserer Poesie nicht kräftig und hoch genug, der
  • schon zu einer Zeit im Innern unseres Busens kochte und strömte, als
  • selbst das Wort _Poesie_ noch in keines Menschen Munde war. Noch immer
  • erscheint dieser unerklärliche Freiheitsdrang, der uns aus unseren
  • Liedern entgegentönt, und über das Leben und sogar über das Lied selbst
  • hinweg in unbekannte Fernen stürmt, noch erscheint uns dieser glühende,
  • verzehrende Wunsch nach einem besseren Vaterland, nach dem sich der
  • Mensch seit dem Tage seiner Geburt so schmerzlich sehnt -- wie ein
  • Rätsel. Noch ist in keinem einzigen Wesen jene vielseitige, poetische
  • Harmonie und das Geschlossene unseres Geistes, die in unseren
  • vieläugigen Sprichwörtern verborgen ist, völlig Fleisch und Blut
  • geworden; haben sie es doch verstanden, in einem so armseligen und
  • traurigen Zeitalter so große und bedeutsame Folgerungen und Schlüsse zu
  • ziehen, als dem Menschen in Rußland noch so enge Grenzen gezogen waren,
  • als er noch gezwungen war, in einem so trüben Sumpfe zu leben; so sind
  • sie uns eine lebendige Mahnung, was für gewaltige Folgerungen der
  • moderne Mensch in Rußland aus unseren heutigen machtvollen Zeiten ziehen
  • kann, in denen die Ergebnisse aller Zeitalter aufgespeichert und wie
  • allerhand ungesiebter Plunder ungeordnet in einem Haufen zusammenliegen.
  • Noch ist vielen diese Lyrik -- dies Produkt einer höchsten
  • Verstandsreife und Nüchternheit -- ein Geheimnis! diese Lyrik, die aus
  • unseren Kirchenliedern und kanonischen Gesängen herstammt und die Seele
  • unserer Dichter noch unbewußt begeistert, wie ihm die heimatlichen
  • Klänge unserer Lieder unbewußt ans Herz greifen. Und endlich ist uns
  • auch unsere merkwürdige Sprache noch ein Geheimnis. Sie enthält
  • sämtliche Töne und Farben, alle Klangnuancen, von den kräftigsten bis
  • herab zu den zartesten und weichsten. Sie ist unendlich und grenzenlos
  • und vermag sich, lebendig wie das Leben selbst, in jedem Augenblick zu
  • bereichern, indem sie einerseits die hohen gewaltigen Worte aus der
  • biblischen Kirchensprache schöpft und sich andererseits die treffendsten
  • Ausdrücke aus den zahllosen Dialekten, die es in unseren Provinzen gibt,
  • aneignet; so gewinnt sie die Möglichkeit, sich in ein und derselben Rede
  • bis zu einer Höhe emporzuschwingen, die keiner andern Sprache
  • erreichbar, und andererseits bis zu einer Einfachheit herabzusteigen,
  • die selbst dem Sinn des unbegabtesten Menschen verständlich ist; -- eine
  • Sprache, die selbst und an und für sich schon dichtet, und die nicht
  • umsonst für eine geraume Zeit von den vornehmen Ständen vergessen worden
  • war. Es war eine Notwendigkeit, daß wir alles Häßliche und
  • Minderwertige, das wir uns zugleich mit der fremdländischen Bildung
  • angeeignet hatten, in den fremden Mundarten ausschwatzten und
  • ausplauderten, damit alle die unklaren Töne und die ungenauen
  • Bezeichnungen für die Dinge -- diese Produkte ungeklärter und
  • verworrener Gedanken, die die Sprachen dunkel machen -- die kindliche
  • Klarheit unserer Sprache nicht mehr trüben, und daß wir nunmehr mit dem
  • Drang zum Nachdenken und von dem Wunsche beseelt, unserem eigenen und
  • nicht mehr einem fremdem Verstande zu folgen, zu ihr zurückkehren
  • konnten. Das alles sind vorerst nur noch Werkzeuge, Material, noch
  • Felsblöcke oder ein in der Erzader steckendes Edelmetall, aus dem einmal
  • eine andre machtvolle Sprache geschmiedet werden wird. Und diese Sprache
  • wird bis tief auf den Grund der Seele dringen und nicht auf
  • unfruchtbaren Boden fallen. Ein Schmerz und eine Trauer, wie sie wohl
  • Engel empfinden mögen, wird unserer Poesie einen mächtigen Impuls
  • verleihen; sie wird tief in alle Saiten greifen, die in dem Russen
  • anklingen, und selbst die rohesten Gemüter mit jenem heiligen Gefühl der
  • Ehrfurcht erfüllen, das keine Kraft und kein Werkzeug dem Menschen
  • einzupflanzen vermögen; sie wird unser Rußland ans Licht rufen -- unser
  • russisches Rußland, nicht das, von dem uns irgendwelche Hurrapatrioten
  • ein rohes Bild entwerfen und auch nicht das, das uns einzelne ihrem
  • Vaterland entfremdete Russen übers Meer herüberbringen wollen, nein, das
  • Rußland, das unsere Dichtung aus uns selbst heraufholen und so vor uns
  • hinstellen wird, daß alle bis auf den letzten, so verschieden ihre
  • Sinnesart, ihre Erziehung und ihre Anschauungen auch sein mögen,
  • einstimmig ausrufen werden: »Ja, das ist _unser_ Rußland; hier fühlen
  • wir uns behaglich und heimisch, jetzt sind wir wirklich zu Hause unter
  • unserem heimatlichen Dach und nicht irgendwo draußen in der Fremde!«
  • XXXII
  • Auferstehungstag
  • Der Russe nimmt einen besonders warmen Anteil an der Feier des
  • Auferstehungstages. Das empfindet er mit besonderer Lebhaftigkeit, wenn
  • er um diese Zeit in einem fremden Lande weilt. Wenn er sieht, wie dieser
  • Tag sich überall in allen andern Ländern kaum von den andern Tagen
  • unterscheidet -- alles geht seiner gewohnten Tätigkeit nach, das Leben
  • nimmt seinen gewöhnlichen Lauf, auf allen Gesichtern ruht der gleiche
  • alltägliche Ausdruck -- wenn der Russe das sieht, so wird er traurig und
  • seine Gedanken schweifen unwillkürlich nach Rußland hinüber. Es will ihm
  • so dünken, als ob dieser Tag dort schöner gefeiert wird, als ob dort der
  • Mensch heiterer und besser sei, als an anderen Tagen und als ob auch das
  • Leben dort ein anderes und nicht so alltägliches Gewand trage. Er denkt
  • an die feierliche Mitternacht, an das Glockengeläute, das das ganze Land
  • durchhallt und alle Stimmen der Erde gleichsam in einem dumpfen Ton
  • verschmelzen läßt, er denkt an den Ruf »Christ ist erstanden«, der an
  • diesem Tage an die Stelle aller andern Grüße tritt, an diesen Kuß, den
  • man nur bei uns vernimmt, und er ist beinahe so weit, daß er ausrufen
  • möchte. »Nur in Rußland wird dieser Tag so gefeiert, wie er in Wahrheit
  • gefeiert werden sollte!«
  • Freilich ist das nur ein Traum, der sofort verschwindet, wenn er
  • tatsächlich nach Rußland versetzt wird, und sich bloß daran erinnert,
  • daß dies ein Tag voll schläfrigen Hin- und Herrennens, voll törichten
  • Getriebes, sinnloser Besuche, bewußten Nichtzuhausetreffens, statt eines
  • Tages voll froher Begegnungen ist -- wenn man sich an diesem Tage
  • wirklich einmal trifft, so hat das stets einen recht eigennützigen
  • Grund; man braucht nur daran zu denken, daß sich der Ehrgeiz an diesem
  • Tage weit lebhafter regt, als an allen anderen Tagen und daß nicht etwa
  • von der Auferstehung Christi, sondern davon geredet wird, was für eine
  • Belohnung einen jeden erwartet und was ein jeder wohl für ein Geschenk
  • erhalten wird; ja daß selbst das Volk, das doch in dem Rufe steht, sich
  • an diesem Tage am meisten zu freuen, sofort nach Beendigung der
  • Festmesse und noch ehe die Sonne über der Erde aufgegangen ist, trunken
  • über die Straße schwankt. Ein Seufzer entringt sich der Brust des armen
  • Russen, wenn er an all dieses denkt [und erkennt, daß das höchstens eine
  • Karikatur und ein Hohn auf diesen Festtag ist und daß es einen solchen
  • Festtag gar nicht gibt]. Im besten Fall gibt ein Vorgesetzter einem
  • Invaliden, um die Form zu wahren, einen schmatzenden Kuß auf die Backe,
  • um den unter ihm stehenden Beamten zu beweisen, wie man seinen Bruder
  • lieben muß, oder ruft irgendein [rückständiger] Patriot voll Empörung
  • über unsere Jugend, die unsere alten russischen Volkssitten schlecht
  • macht und behauptet, bei uns gäbe es überhaupt nichts Ordentliches,
  • wütend aus: »Wir haben alles: ein schönes Familienleben, schöne
  • Familientugenden, die Sitten werden bei uns heilig gehalten, wir
  • erfüllen auch unsere Pflicht und Schuldigkeit, so wie dies nirgends in
  • Europa geschieht, kurz, wir sind ein Volk, das die Bewunderung aller
  • Menschen verdient.«
  • Nein, es kommt nicht auf diese sichtbaren Zeichen und Äußerlichkeiten,
  • nicht auf das patriotische Geschrei [ebensowenig wie auf den Kuß, der
  • dem Invaliden verabreicht wird], sondern lediglich darauf an, daß wir an
  • diesem Tage den Menschen tatsächlich wie unser höchstes Kleinod ansehen
  • lernen -- und ihn so in unsere Arme schließen und an unser Herz drücken,
  • wie einen unserem Herzen nahestehenden Bruder, daß wir uns so über ihn
  • freuen, wie über den unerwarteten Besuch unseres liebsten Freundes, den
  • wir viele Jahre lang nicht gesehen haben. Ja, noch inniger, noch stärker
  • sollte unsere Freude sein. Denn die Bande, die uns mit ihm vereinigen,
  • sind stärker als die irdische Blutsverwandtschaft; sind wir doch mit ihm
  • durch unseren herrlichen himmlischen Vater verwandt, der uns weit näher
  • steht, als unser irdischer Vater, und weilen wir doch an diesem Tage --
  • in unserer wahren Familie, d. h. in Seinem Hause. Dieser Tag ist der Tag
  • jenes heiligen Festes, an dem die ganze Menschheit bis auf den letzten
  • unserer Brüder eine himmlische Verbrüderung feiert, und davon ist kein
  • einziger Mensch ausgeschlossen.
  • Wie gelegen müßte dieser Tag eigentlich unserem neunzehnten Jahrhundert
  • kommen, wo der Traum vom allgemeinen Menschenglück der Lieblingsgedanke
  • fast aller Menschen geworden; wo es der Lieblingswunsch des jungen
  • Menschen geworden ist, die ganze Menschheit wie einen lieben Bruder zu
  • umarmen, wo viele beständig davon träumen, den inneren Wert und die
  • Würde des Menschen zu heben, wo die gute Hälfte der Menschen bereits
  • feierlich anerkannt hat, daß nur das Christentum das vermag, wo man
  • bereits fordert, daß das Gesetz Christi weit inniger mit unserem
  • Familien- und Staatsleben verwachsen müsse [ja wo bereits davon
  • gesprochen wird, daß alles Gemeingut werden soll: unser Haus und unser
  • Grund und Boden], wo die hohen Taten des Mitleids und die den Armen und
  • Unglücklichen erwiesene Hilfe bereits ein beliebter Gesprächsstoff
  • unserer Salons geworden sind, ja wo uns infolge all dieser humanitären
  • Anstalten [all dieser Hospize und Asyle für Obdachlose] die Erde schon
  • zu eng zu werden beginnt. Wie freudig müßte eigentlich das neunzehnte
  • Jahrhundert diesen Festtag begehen, der all seinen hochherzigen und
  • ehrgeizigen Regungen so sehr entspricht! Aber gerade dieser Tag wird zum
  • Probierstein dafür, wie matt all diese christlichen Bestrebungen, wie
  • sie lediglich [schöne Träume und] bloße Ideen sind, die zu keinen Taten
  • führen. Und wenn wir an diesem Tage wirklich Gelegenheit haben, einen
  • unserer Brüder wie einen Bruder zu umarmen -- so tuen wir es nicht. Wir
  • sehnen uns danach, die ganze Menschheit brüderlich an unseren Busen zu
  • drücken, unsern Bruder aber wollen wir nicht umarmen. Es braucht sich
  • nur irgendein einzelner Mensch, der uns beleidigt hat, von dieser
  • Menschheit abzulösen, dem wir unsere Arme so hochherzig entgegenbreiten,
  • und dem wir laut Christi Gebot sofort vergeben sollen, -- so werden wir
  • ihn nicht mehr umarmen. Oder es brauchte sich von dieser Menschheit nur
  • ein einzelner Mensch abzulösen, der in irgendeinem unwesentlichen Punkt,
  • in irgendeiner unserer menschlich bedingten Meinungen nicht mit uns
  • überstimmt -- so werden wir ihn schon nicht mehr umarmen. Oder es
  • braucht sich endlich nur ein einziger Mensch von dieser Menschheit
  • abzulösen, der mehr und erkennbarer als die andern an den schweren
  • Schäden geistiger Fehler und Gebrechen krankt und daher weit mehr
  • Anspruch auf unser Mitleid hat als sie -- so werden wir ihn von uns
  • stoßen und ihn nicht umarmen wollen. Wir werden nur die in unsere Arme
  • schließen, die uns noch nie beleidigt haben, mit denen wir noch nie
  • zusammengestoßen sind, die wir noch nicht kennen und noch nie mit Augen
  • gesehen haben. Das sind die Umarmungen, mit denen der Mensch unseres
  • Jahrhunderts die ganze Menschheit beglücken will, und das sind häufig
  • gerade die Menschen, die von sich glauben, daß sie wahre Menschenfreunde
  • und echte Christen sind. [Christen! Sie haben Christus auf die Straße
  • hinausgejagt und in die Lazarette und Krankenhäuser getrieben, statt Ihn
  • bei sich in ihrem Hause, unter ihr heimatliches Dach aufzunehmen, und da
  • glauben sie noch, sie seien Christen!]
  • Nein, unser Jahrhundert vermag den Auferstehungstag nicht würdig, nicht
  • so zu feiern, wie er gefeiert werden sollte. Dem steht ein
  • schreckliches, unüberwindliches Hindernis entgegen: es heißt: _Hochmut_.
  • Dieser Hochmut war auch den früheren Zeitaltern bekannt, aber jener
  • Hochmut war mehr ein kindischer Stolz auf die physische Kraft, auf
  • unseren Reichtum, ein Stolz auf unsere Abstammung und unsere Titel, und
  • er erreichte nie diesen schrecklichen geistigen Grad wie heutzutage.
  • Heute tritt er in doppelter Gestalt auf. Die erste Art dieses Hochmuts
  • ist der Stolz auf unsere Reinheit.
  • Hocherfreut darüber, daß sie ihre Vorfahren in vielen Beziehungen
  • überholt und übertroffen hat, hat sich die Menschheit unserer Zeit
  • völlig in ihre Reinheit und Schönheit verliebt. Niemand schämt sich
  • mehr, sich öffentlich der Schönheit seiner Seele zu rühmen und sich für
  • etwas Besseres zu halten, als die anderen Menschen. Man braucht nur
  • darauf zu achten, wie sich heutzutage jeder Mensch für einen wahren
  • Heros an Hochherzigkeit und Edelmut hält, wie schonungslos und mit
  • welcher Schärfe er über andere Leute urteilt. Man muß nur einmal hören,
  • mit was für Gründen er sich dafür rechtfertigt, daß er seinen Bruder
  • nicht einmal am Auferstehungstage umarmt hat. Ohne jede Scham und ohne
  • innerlich zu erbeben, erklärt er: »Ich kann diesen Menschen nicht
  • umarmen, er ist schmutzig, er hat eine gemeine Seele, er hat sich durch
  • ehrlose Handlungen befleckt; ich kann diesen Menschen nicht einmal in
  • mein Vorzimmer hineinlassen; ich kann die Luft nicht atmen, die er
  • atmet, ich mache einen großen Bogen um ihn, um ihm aus dem Wege zu gehen
  • und um ihm nicht zu begegnen. -- Ich kann nicht mit gemeinen und
  • verächtlichen Leuten zusammen leben -- und da sollte ich einen solchen
  • Menschen wie meinen Bruder umarmen?« Ach! der arme Mensch des
  • neunzehnten Jahrhunderts hat leider vergessen, daß es an diesem Tage
  • weder gemeine noch verächtliche Menschen gibt und daß alle Menschen --
  • Brüder, Kinder derselben Familie sind und daß jeder Mensch keinen andern
  • Namen als den: _Bruder_ trägt. Er hat alles mit einem Male vergessen. Er
  • hat vergessen, daß er vielleicht gerade deshalb von diesen gemeinen und
  • verächtlichen Menschen umgeben ist, damit er durch ihren Anblick
  • veranlaßt werde, einen Blick in sein eigenes Innere zu werfen, und
  • nachzusehen, ob er nicht auf dem Grunde seiner Seele gerade das findet,
  • was ihn an dem andern so sehr erschreckt hat. Er hat vergessen, daß er
  • auf Schritt und Tritt und ohne es selbst zu merken, wenn auch in einer
  • etwas anderen Art, eine genau so scheußliche Handlung begehen kann, die
  • in den Augen der Gesellschaft nicht als schmachvoll gilt, die jedoch auf
  • dasselbe hinauskommt oder wie ein russisches Sprichwort es ausdrückt,
  • _derselbe Eierkuchen ist, nur auf einer andern Schüssel serviert_. Es
  • ist alles vergessen! Er hat vergessen, daß die Zahl der gemeinen und
  • verächtlichen Menschen vielleicht nur deshalb sehr zugenommen hat, weil
  • die besten und edelsten Menschen sie in so rauher Weise von sich
  • gestoßen und so dazu beigetragen haben, daß sie ihr Herz noch mehr
  • verhärteten und noch verstockter wurden. Als ob es so leicht ist, die
  • Verachtung anderer Menschen zu ertragen! Weiß Gott, vielleicht wird
  • mancher gar nicht als ein so ehrloser Mensch geboren; vielleicht hat
  • seine arme Seele, die nicht stark genug war, um den Kampf mit den
  • Versuchungen aufzunehmen, um Hilfe gefleht und gerufen, vielleicht hätte
  • er freudig jedem Hände und Füße geküßt, dessen Seele von Mitleid für ihn
  • ergriffen, ihn daran verhindert hätte, in den Abgrund zu stürzen;
  • vielleicht hätte ein einziger Tropfen Liebe ihm genügt, um ihn auf den
  • rechten Weg zurückzuführen. Wie wenn es so schwer gewesen wäre, auf dem
  • Wege der Liebe bis zu seinem Herzen vorzudringen! Als ob sich sein
  • Inneres schon so sehr verhärtet hätte, als ob er schon so ganz zu Stein
  • geworden, daß er keiner warmen Regung mehr fähig gewesen wäre, wo doch
  • selbst der Räuber noch dankbar ist für ein Zeichen der Liebe und selbst
  • das wilde Tier sich freundlich der Hand erinnert, die es geliebkost hat.
  • Allein der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts hat alles vergessen, er
  • stößt seinen Bruder von sich, wie ein Reicher einen aussätzigen Bettler
  • von der Schwelle seines Hauses jagt. Was kümmern ihn die Leiden des
  • andern, er will bloß seine eiternden Schwären nicht sehen. Er will nicht
  • einmal sein Klagelied hören, damit seine Nase den übelduftenden Hauch,
  • der aus dem Munde des Unglücklichen kommt, nicht einzuatmen braucht, er,
  • der so stolz auf den Wohlgeruch seiner Reinheit ist. Und ein solcher
  • Mensch sollte das Fest der himmlischen Liebe feiern können?
  • Aber es gibt noch eine andere Art des Hochmuts, die noch mächtiger ist
  • als die erste, -- das ist der _geistige_ Hochmut. Nie noch hat er solche
  • Dimensionen erreicht, wie im neunzehnten Jahrhundert. Er kommt vor allem
  • in der Furcht zum Ausdruck, für einen Dummkopf gehalten zu werden, einer
  • Furcht, von der heute jeder Mensch beseelt ist. Der Mensch unserer Zeit
  • kann alles ertragen: er kann es ertragen, daß man ihn einen Lumpen oder
  • einen Gauner nennt; gebt ihm jeden beliebigen Namen -- es läßt ihn kalt
  • -- nur den Namen Dummkopf wird er nicht dulden. Er kann jeden Spott
  • ertragen, nur eins kann er nicht ertragen, daß man sich über seinen
  • Verstand lustig macht. Sein Verstand ist ihm heilig. Jeder noch so
  • leichte Spott über seinen Verstand genügt ihm, um seinen Bruder, wie es
  • der Anstand erfordert, sich in einer gewissen Entfernung aufstellen zu
  • lassen und ihm sodann, ohne mit der Wimper zu zucken, eine Kugel in den
  • Kopf zu jagen. Er glaubt an nichts, das einzige, woran er glaubt, ist
  • sein Verstand. Was sein Verstand nicht sieht, das existiert nicht für
  • ihn. Er hat sogar vergessen, daß auch der Verstand erst fortschreitet,
  • wenn alle sittlichen Kräfte des Menschen fortschreiten und sich
  • entwickeln, und daß er sich sogar zurückentwickelt, wenn die sittlichen
  • Kräfte sich nicht heben. Er hat ferner vergessen, daß kein Mensch
  • sämtliche Verstandeskräfte in sich vereinigt, daß ein anderer Mensch
  • gerade die Seele einer Sache sehen kann, die er selbst nicht sieht, und
  • folglich etwas wissen kann, was er nicht zu wissen vermag. Aber das
  • glaubt er nicht und alles, was er nicht selbst sieht, das ist für ihn
  • eine Lüge. Sein Vernunftstolz hält jeden Schatten christlicher Demut von
  • ihm fern. An allem zweifelt er: an dem Herzen eines Menschen, den er
  • viele Jahre lang kennt, an der Wahrheit, ja selbst an Gott, nur an
  • seinem Verstande zweifelt er nicht. Schon streitet man sich und kämpft
  • man nicht mehr um irgendwelche wirkliche Rechte und auch nicht aus
  • persönlichem Haß oder Feindschaft, nein, heute sind es nicht mehr die
  • sinnlichen Leidenschaften, die uns beherrschen, sondern die
  • Leidenschaften des Verstandes: heute bekämpft man sich und streitet man
  • sich miteinander, weil man verschiedener Meinung ist, und wegen der
  • Widersprüche in der Welt der Gedanken. Schon haben sich ganze Parteien
  • gebildet, die sich gegenseitig verabscheuen, die persönlich noch nie
  • etwas miteinander zu tun hatten, und sich dennoch glühend hassen. Ist es
  • nicht merkwürdig! Schon glaubten die Menschen, mit Hilfe der Bildung Haß
  • und Bosheit aus der Welt verbannt zu haben, da dringen Haß und Bosheit
  • von der andern Seite wieder in die Welt ein, kommen auf den Flügeln der
  • Zeitungsblätter herangeflogen und fallen wie ein verheerender
  • Heuschreckenschwarm von allen Seiten über die Herzen der Menschen her.
  • Schon hört man kaum noch die Stimme der Vernunft. Schon beginnen selbst
  • die gescheiten Leute sogar gegen ihre eigene Überzeugung zu reden, nur
  • um der gegnerischen Partei nicht das Feld zu räumen, und nur weil ihr
  • Stolz es ihnen nicht erlaubt, ihren Fehler vor der Welt einzugestehen --
  • schon hat die reine Bosheit statt des Verstandes die Oberhand gewonnen.
  • Und der Mensch einer solchen Zeit sollte der Liebe, der christlichen
  • Liebe zum Menschen fähig sein? Er sollte sich mit jener reinen
  • Treuherzigkeit und Einfalt, mit jener engelhaften kindlichen Naivität
  • erfüllen können, die alle Menschen zu einer großen Familie macht? Er
  • sollte etwas von der Süßigkeit und Schönheit unserer himmlischen
  • Brüderschaft empfinden können? Er sollte diesen Tag feiern können? Ist
  • doch selbst jene äußere gütige Geste, jener Ausdruck der Güte
  • verschwunden, der den alten schlichten Zeiten eigen war, und dem
  • gegenüber man das Gefühl hat, als hätte der Mensch damals dem Menschen
  • viel nähergestanden. Der stolze Verstand des neunzehnten Jahrhunderts
  • hat ihn vernichtet und zerstört. Ohne jede Maske ist der Teufel in der
  • Welt erschienen. Der Geist des Hochmuts kommt heute nicht mehr in
  • verschiedenen Gestalten und schreckt keine abergläubischen Menschen
  • mehr: er kommt in seiner eigenen Gestalt zu uns. Er fühlt, daß man seine
  • Herrschaft anerkennt, und darum macht er nicht mehr viel Umstände mit
  • den Menschen. Dreist und schamlos lacht er denen ins Gesicht, die sich
  • vor ihm beugen; die törichtesten Gesetze gibt er der Welt, Gesetze, wie
  • sie bisher noch nie gegeben worden sind -- und die Welt sieht es und
  • wagt es nicht, sich zu widersetzen! Was bedeutet diese armselige
  • sinnlose Mode, die der Mensch sich erst als eine Bagatelle, als eine
  • harmlose Spielerei gefallen ließ und die jetzt als absolute Herrin und
  • Herrscherin in seinem Hause gebietet und alles Gute und Wesenhafte im
  • Menschen austreibt. Kein Mensch fürchtet sich noch, die wahrsten und
  • heiligsten Gebote Christi zu übertreten, wohl aber fürchtet er sich, die
  • unsinnigste Anordnung der Mode unerfüllt zu lassen, und er zittert vor
  • ihr wie ein furchtsamer Knabe. Was hat das zu bedeuten, daß selbst die,
  • die sich über sie lustig machen, wie leichtsinnige windige Gesellen nach
  • ihrer Pfeife tanzen? Was bedeuten all diese sogenannten Anstandsregeln,
  • die uns weit stärker binden, als die grundlegendsten fundamentalsten
  • Gebote? Was bedeuten alle diese seltsamen Autoritäten, die sich neben
  • den gesetzmäßigen rechtmäßigen Autoritäten installiert haben -- was
  • bedeuten diese Nebenwirkungen und Nebeneinflüsse? Was hat es zu
  • bedeuten, daß heute nur noch Näherinnen, Schneider und alle möglichen
  • Handwerker die Welt regieren, während die Gesalbten Gottes abseits
  • stehen? Namenlose unbekannte Menschen, ohne Ideen und ohne ehrliche
  • Überzeugungen beherrschen die Anschauungen und die Meinungen gescheiter
  • Leute, und ein Zeitungsblättchen, von dem jedermann weiß, daß es nichts
  • wie Lügen verbreitet, schwingt sich unmerklich zum Gesetzgeber über die
  • Menschen auf, die es verachten! Was bedeuten all die gesetzwidrigen
  • Gesetze, die die unreine Macht aus der Tiefe offen und vor aller Welt
  • aufrichtet? Und die ganze Welt sieht es, steht wie verzaubert da, und
  • wagt's nicht, sich zu rühren? Welch furchtbarer Hohn auf die Menschheit!
  • [Wozu sucht man bei diesem Lauf der Dinge überhaupt noch die heiligen
  • Sitten und Zeremonien der Kirche aufrecht zu erhalten, deren himmlischer
  • Beherrscher keine Macht mehr über uns hat? Oder ist das etwa ein neuer
  • Streich des Geistes der Finsternis.] Wozu dieser Feiertag [der jede
  • Bedeutung verloren hat.] Warum kehrt er immer [aufs neue] wieder, um die
  • auseinanderstrebenden Menschen [immer dumpfer und schwächer]
  • zusammenzurufen, um sie in einer Familie zu vereinigen [und, nachdem er
  • sie mit einem traurigen Blick gestreift, wie ein unbekannter Fremdling
  • wieder von dannen zu gehen? Ist er denn wirklich für alle ein
  • unbekannter Fremdling? Aber] warum gibt es denn noch [hie und da]
  • Menschen, denen es so vorkommt, als würde es an diesem Tage heller in
  • ihrer Seele, und die an diesem Tage das Fest ihrer Kindheit begehen,
  • jener Kindheit, von der eine himmlische Liebkosung, gleich dem Kosen
  • eines ewigen Frühlings, in ihre Seele hinüberströmt, jener herrlichen
  • Kindheit, die dem stolzen Menschen von heute ganz verloren gegangen ist?
  • Warum hat der Mensch diese Kindheit noch nicht für immer vergessen und
  • warum bewegt sie noch immer unsere Herzen gleich einem fernen Traumbild?
  • Wie kommt das nur, und was hat das alles für einen Zweck? Als ob man
  • wirklich nicht wüßte, was es für einen Sinn und Zweck hat? Sieht man
  • denn etwa nicht, wozu das geschieht? Damit es zum mindesten den wenigen,
  • die noch etwas von dem Frühlingshauch dieses Festtags verspüren,
  • plötzlich so traurig ums Herz wird, auf daß sie von einer Trauer
  • befallen werden, wie sie nur ein Engel des Himmels empfindet, und auf
  • daß sie ihren Brüdern mit einem herzzerreißenden Aufschrei zu Füßen
  • fallen, und sie anflehen, wenigstens diesen einen Tag der langen öden
  • Reihe der übrigen Tage zu entreißen und nur diesen einzigen Tag nicht
  • nach der Weise des neunzehnten Jahrhunderts, sondern im Geiste jenes
  • ewigen Zeitalters zu verbringen, den Menschen nur ein einziges Mal zu
  • umfassen und in die Arme zu schließen wie ein Freund, der sich schuldig
  • fühlt, den hochherzigen alles verzeihenden Freund umarmt, selbst wenn er
  • ihn schon morgen wieder von sich stoßen und ihm erklären sollte, er sei
  • ihm fremd und unbekannt. Wenn auch nur, um _einmal_ diesen Wunsch zu
  • fassen, wenn auch nur, um sich mit Gewalt dazu zu zwingen und sich daran
  • zu klammern, wie ein Ertrinkender an eine Planke! Gott weiß, vielleicht
  • wird sich schon um dieses einzigen Wunsches willen eine Leiter vom
  • Himmel herabsenken und sich uns eine Hand entgegenstrecken, die uns
  • hilft, an ihr emporzuklimmen.
  • Aber nicht einmal diesen einen Tag will der Mensch des neunzehnten
  • Jahrhunderts so verbringen. Schon ist die Erde von einem unnennbaren Weh
  • und einer Trostlosigkeit ergriffen; immer bitterer, trostloser und
  • nüchterner wird das Leben; alles wird kleinlich und flach, bloß das
  • Riesengespenst der Langenweile wächst von Tag zu Tag bis ins Ungeheure.
  • Alles ist wüst, alles ist wie ein einziges Grab. Mein Gott! Wie öde und
  • schrecklich wird Deine Welt!
  • Warum kommt es denn aber nur dem Russen so vor, als ob dieses Fest nur
  • in seinem Vaterlande würdig gefeiert werde? Ist das etwa nur ein Traum?
  • Warum sucht denn dieser Traum keinen andern auf als den Russen?
  • Wirklich, was hat es zu bedeuten, daß [dieser Festtag selbst
  • verschwunden ist und daß] seine sichtbaren Kennzeichen so deutlich im
  • Angesicht unseres Landes erkennbar sind. Man hört die von Küssen
  • begleiteten Worte: _Christ ist erstanden_; mit der gleichen
  • Feierlichkeit bricht immer wieder die heilige Mitternacht an, und der
  • dumpfe Ton der ewigen Glocken hallt unaufhörlich über das ganze Land
  • dahin, als wollten sie uns aus dem Schlummer wecken! Wo die Geister in
  • so greifbarer Deutlichkeit erscheinen, da erscheinen sie nicht
  • vergebens. Wo jemand geweckt wird, da gibt es auch ein Erwachen. Die
  • Sitten und Bräuche, die ewig währen sollen, können nicht vergehen. Der
  • Buchstabe stirbt, aber ihr Geist lebt wieder auf. Sie können wohl
  • zeitweilig verblassen, sie können zugrunde gehen und absterben für eine
  • geist- und herzlose, für eine abgestumpfte Menge, aber sie erstehen neu
  • gekräftigt auf in den Auserwählten, um in ihnen in hellem Lichte
  • aufzustrahlen und sich über die ganze Welt zu ergießen. Kein Titelchen
  • von unseren alten Sitten und Bräuchen, nichts, was an ihnen wahrhaft
  • russisch ist und was von Christus selbst geheiligt ward, wird untergehn.
  • Die helltönenden Saiten der Dichter werden es weiter tragen, der
  • Wohllaut ausströmende Mund unserer Priester wird es weithin verkünden;
  • das schon erloschene Licht wird wieder aufflammen -- und der heilige
  • Auferstehungstag wird würdig gefeiert werden --, weit früher, denn von
  • einem andern Volke.
  • Worauf aber, auf welche fest in unseren Herzen verschlossene Tatsachen
  • können wir unsere Behauptung gründen? Sind wir etwa besser als andre
  • Völker? [Sind wir in unserem Lebenswandel Christus nähergekommen als
  • sie? Nein, wir sind nicht bessere Menschen, und unser Leben ist noch
  • weniger geordnet und geregelt als das der andern Nationen. »Wir sind
  • schlimmer als alle anderen« -- so müssen wir stets von uns sagen.] Aber
  • es liegt etwas in unserem Wesen, das uns solches verheißt. Gerade die
  • Unordnung, die bei uns herrscht, ist eine Verheißung. Wir sind noch ein
  • flüssiges Metall, das noch nicht in seine nationale Form abgegossen ist;
  • wir haben noch die Möglichkeit, das, was nicht zu uns paßt, abzustoßen
  • und alles in uns aufzunehmen, wozu die anderen Völker schon nicht mehr
  • fähig sind, die bereits ihre eigene feste Form angenommen haben und in
  • ihr erstarrt sind. Daß in unserem innersten wahren Wesen, das wir
  • vergessen haben, vieles liegt, was dem Geiste des Christentums verwandt
  • ist -- dafür ist schon allein das ein Beweis, daß Christus nicht mit dem
  • Schwert in der Hand zu uns gekommen ist, und daß der aufgepflügte und
  • wohlvorbereitete Grund unseres Herzens sich von selbst Seinem Worte
  • entgegenstreckte, daß das Prinzip der christlichen Brüderlichkeit tief
  • in unserer slawischen Natur begründet ist, und daß die Verbrüderung der
  • Menschen untereinander uns näher am Herzen liegt, als unser heimatliches
  • Dach und die Blutsverwandtschaft, daß bei uns noch nichts von jenem
  • unversöhnlichen Haß der Stände und jenen gehässigen Parteiungen bekannt
  • ist, die wir in Europa finden und die ein unüberwindliches Hemmnis für
  • die Eintracht der Menschen und die brüderliche Liebe bilden, daß wir
  • endlich Mut und Kühnheit besitzen, wie sie kein andres Volk in ähnlicher
  • Stärke besitzt und daß, wenn wir uns vor eine Aufgabe gestellt sehen,
  • die kein andres Volk zu lösen vermöchte, wie etwa folgende: mit einem
  • Schlage alle unsere Fehler und Mängel und alles, was den hohen Sinn der
  • Menschheit schändet, abzuwerfen, -- daß wir uns dann, alle unsere
  • körperlichen Schmerzen und Qualen vergessend und ohne uns im geringsten
  • zu schonen, aufraffen und alles, was uns befleckt und schändet, von uns
  • stoßen werden, so wie die Menschen einst im Jahre 1812 schonungslos ihre
  • ganze Habe, ihre Häuser und ihre irdischen Besitztümer verbrannten; dann
  • wird kein einziger Mensch hinter dem andern zurückbleiben wollen; in
  • solchen Augenblicken ist jeder Haß und Streit, jede Feindseligkeit
  • vergessen, der Bruder drückt den Bruder an den Busen, und ganz Rußland
  • ist nur ein einziger Mensch. Das ist's, worauf wir die Behauptung
  • gründen können, daß der Auferstehungstag von uns früher gefeiert werden
  • wird, als von den andern Völkern. Das sagt mir deutlich meine innere
  • Stimme, und das ist kein bloßer Gedanke, der meiner Phantasie
  • entsprungen ist. Solche Gedanken lassen sich nicht erfinden. Durch eine
  • göttliche Eingebung werden sie mit einem Schlage im Herzen vieler
  • Menschen zugleich geboren, die einander noch nie gesehen haben, die in
  • den entlegensten Provinzen des Landes wohnen, und zu ein und derselben
  • Zeit werden sie wie aus _einem_ Munde verkündet. Ich weiß es bestimmt,
  • daß, obwohl ich sie nicht alle kenne, in Rußland mehr als ein Mensch
  • fest daran glaubt und schon heute spricht: »Früher denn in irgendeinem
  • andern Lande wird bei uns der heilige Auferstehungstag Christi gefeiert
  • werden.«
  • Druck von Mänicke und Jahn, Rudolstadt.
  • Anmerkungen zur Transkription
  • Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten. Auch
  • Variationen in der Transliteration der russischen Namen wurden nicht
  • verändert.
  • Offensichtliche Fehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt,
  • teilweise unter Verwendung des russischen Originales (vorher/nachher):
  • [S. 18]:
  • ... den Weg geben, und dann den Gutsherren über alles ...
  • ... den Weg geben, und dann dem Gutsherren über alles ...
  • [S. 25]:
  • ... ich nicht Mutter eine Familie; dann könnten Sie Ihren ...
  • ... ich nicht Mutter einer Familie; dann könnten Sie Ihren ...
  • [S. 71]:
  • ... Menschen, von Kopf bis zu den Füßen, ja bis zu ...
  • ... Menschen, vom Kopf bis zu den Füßen, ja bis zu ...
  • [S. 125]:
  • ... der der äußeren Form nach: seine gewöhnlichen groben und
  • plumpen ...
  • ... der äußeren Form nach: seine gewöhnlichen groben und plumpen ...
  • [S. 186]:
  • ... Ich weiß nur, daß ich diesen Vorwurf sehr deulich vernommen ...
  • ... Ich weiß nur, daß ich diesen Vorwurf sehr deutlich vernommen ...
  • [S. 206]:
  • ... besitzen Sie nicht. Sie lieben Rußland noch nicht. ...
  • ... besitzen sie nicht. Sie lieben Rußland noch nicht. ...
  • [S. 235]:
  • ... für erste damit, mir alles mitzuteilen. Außerdem bitte ...
  • ... fürs erste damit, mir alles mitzuteilen. Außerdem bitte ...
  • [S. 248]:
  • ... Äußere, legen Sie auch keinen Wert auf unangenehme ...
  • ... Äußeres, legen Sie auch keinen Wert auf unangenehme ...
  • [S. 248]:
  • ... harrt, ihre himmliche Bestimmung klarzumachen: uns ...
  • ... harrt, ihre himmlische Bestimmung klarzumachen: uns ...
  • [S. 253]:
  • ... haben, mit neuem frischeren Mut als früher an ...
  • ... haben, mit neuem frischerem Mut als früher an ...
  • [S. 255]:
  • ... An B. I. B. ...
  • ... An B. N. B. ...
  • [S. 285]:
  • ... Verhältns zu ihnen kommen und ihnen keine Unannehmlichkeiten ...
  • ... Verhältnis zu ihnen kommen und ihnen keine Unannehmlichkeiten ...
  • [S. 287]:
  • ... wiederspiegelt, ein Urteil erlauben kann, schon sagt ganz ...
  • ... widerspiegelt, ein Urteil erlauben kann, schon sagt ganz ...
  • [S. 293]:
  • ... Ich habe lange darüber nachgedacht, wen von ihnen ...
  • ... Ich habe lange darüber nachgedacht, wen von Ihnen ...
  • [S. 295]:
  • ... der Ausgaben für die Wohnungsmiete, die Heizung; ...
  • ... der Ausgaben für die Wohnungsmiete, die Heizung, ...
  • [S. 310]:
  • ... nicht aus jenem in einen fehlerhaften Zirkel verlaufenden ...
  • ... nicht aus jenem in einem fehlerhaften Zirkel verlaufenden ...
  • [S. 313]:
  • ... Seele hinein, weiß Gott, vielleicht werden sie in ihr ...
  • ... Seele hinein, weiß Gott, vielleicht werden Sie in ihr ...
  • [S. 314]:
  • ... Seelenverwandschaft ist als jede Blutsverwandtschaft ...
  • ... Seelenverwandtschaft ist als jede Blutsverwandtschaft ...
  • [S. 331]:
  • ... in Ihrem Verkehr mit den weit entfernten ...
  • ... in ihrem Verkehr mit den weit entfernten ...
  • [S. 333]:
  • ... sind, wenn sich nur viele von uns zuerst, wie es sichs ...
  • ... sind, wenn sich nur viele von uns zuerst, wie es sich ...
  • [S. 334]:
  • ... dem Generalgouwerneur. ...
  • ... dem Generalgouverneur. ...
  • [S. 335]:
  • ... aufgehoben oder doch von Grund aus umgestaltet. Daß ...
  • ... aufgehoben oder doch von Grund aus umgestaltet. Das ...
  • [S. 344]:
  • ... Ihnen das, was ein Vater seinen Kindern ist. Ein ...
  • ... ihnen das, was ein Vater seinen Kindern ist. Ein ...
  • [S. 350]:
  • ... und Unfähigkeit aller heutigen Institutionen und
  • Einrichrichtungen, ...
  • ... und Unfähigkeit aller heutigen Institutionen und
  • Einrichtungen, ...
  • [S. 350]:
  • ... Sie lehren, ihre Bauern anzusehen wie ein Vater ...
  • ... sie lehren, ihre Bauern anzusehen wie ein Vater ...
  • [S. 377]:
  • ... ersten Bekanntchsaft mit beiden Dichtern aufdrängt, ...
  • ... ersten Bekanntschaft mit beiden Dichtern aufdrängt, ...
  • [S. 380]:
  • ... der voller plastischen Rundung, sie scheinen sich gleichsam ...
  • ... der vollen plastischen Rundung, sie scheinen sich gleichsam ...
  • [S. 380]:
  • ... Schlägt mit den Dreizack nach den Schiffen, ...
  • ... Schlägt mit dem Dreizack nach den Schiffen, ...
  • [S. 393]: (mehrfache Fälle)
  • ... wie z. B. Bayron oder selbst viele andre Dichter ...
  • ... wie z. B. Byron oder selbst viele andre Dichter ...
  • [S. 412]:
  • ... Menschen, dem die reichsten und manigfaltigsten Talente ...
  • ... Menschen, dem die reichsten und mannigfaltigsten Talente ...
  • [S. 412]:
  • ... Bettler. Nur eine solche Sache, die den Menschen in ...
  • ... Bettlers. Nur eine solche Sache, die den Menschen in ...
  • [S. 413]:
  • ... Talent für radikale endgültige Folgerungen, daß dem ...
  • ... Talent für radikale endgültige Folgerungen, das dem ...
  • [S. 424]:
  • ... singen können, daß sie keine zwei einfachen ungezierten ...
  • ... singen können, daß sie keine zwei einfache ungezierte ...
  • [S. 438]:
  • ... oder nicht; jedesfalls aber haben sie in ihrer im Vergleich ...
  • ... oder nicht; jedenfalls aber haben sie in ihrer im Vergleich ...
  • [S. 450]:
  • ... gibt]. Im besten Fall gibt ein Vorgesetzter einen Invaliden, ...
  • ... gibt]. Im besten Fall gibt ein Vorgesetzter einem Invaliden, ...
  • [S. 456]:
  • ... der so stolz auf Wohlgeruch seiner Reinheit ist. Und ...
  • ... der so stolz auf den Wohlgeruch seiner Reinheit ist. Und ...
  • [S. 461]:
  • ... ihren Brüdern mit einem herzerreißenden Aufschrei zu ...
  • ... ihren Brüdern mit einem herzzerreißenden Aufschrei zu ...
  • End of the Project Gutenberg EBook of Sämmtliche Werke 7: Briefwechsel I, by
  • Nikolaj Gogol
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