- Project Gutenberg's Sämmtliche Werke 7: Briefwechsel I, by Nikolaj Gogol
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- Title: Sämmtliche Werke 7: Briefwechsel I
- Author: Nikolaj Gogol
- Editor: Otto Buek
- Release Date: December 13, 2017 [EBook #56174]
- Language: German
- *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 7: BRIEFWECHSEL I ***
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- Digital Library.
- Nikolaus Gogol
- Briefwechsel
- Nikolaus Gogol
- Sämmtliche Werke
- In 8 Bänden
- Herausgegeben
- von
- Otto Buek
- Band 7
- München und Leipzig
- bei Georg Müller
- 1913
- Nikolaus Gogol
- Aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden
- Herausgegeben
- von
- Otto Buek
- München und Leipzig
- bei Georg Müller
- 1913
- Vorrede
- Ich lag an einer schweren Krankheit danieder; schon war ich dem Tode
- nahe. Da raffte ich meine letzten Kräfte zusammen, die mir noch blieben,
- benutzte den ersten Augenblick, wo ich mich im vollen Besitz meiner
- Geisteskräfte befand, und schrieb mein geistiges Testament nieder, in
- dem ich unter anderm meinen Freunden die Pflicht auferlegte, nach meinem
- Tode einige von meinen Briefen herauszugeben. Damit hoffte ich
- wenigstens einen Teil der Schuld sühnen zu können, die ich durch die
- Wertlosigkeit alles dessen, was ich bisher geschrieben hatte, auf mich
- geladen hatte, denn meine Briefe enthielten nach dem Urteil derer, an
- die sie gerichtet waren, weit mehr solche Gedanken, deren die Menschen
- bedürfen, die ihnen not tun, als meine Werke. Gottes himmlische Güte
- wandte die Hand des Todes von mir ab. Ich bin beinahe wiederhergestellt
- und ich fühle mich wieder besser. Dennoch aber empfinde ich, wie schwach
- meine Kräfte sind, und dies mahnt mich jeden Augenblick daran, daß mein
- Leben an einem Haar hängt, und nun, wo ich mich zu einer weiten Reise
- ins Heilige Land rüste, die meiner Seele ein Bedürfnis ist und während
- deren mir vieles zustoßen kann, fühle ich den Wunsch, meinen Landsleuten
- beim Abschied etwas von mir zu hinterlassen. So wähle ich denn selbst
- alles aus meinen letzten Briefen, die ich wieder in meinen Besitz
- bringen konnte, aus, was sich auf solche Fragen bezieht, die die
- Gesellschaft gegenwärtig am meisten beschäftigen, lasse alles beiseite,
- was erst nach meinem Tode Sinn und Inhalt erhalten kann, und scheide
- alles aus, was nur für wenige von Bedeutung sein könnte. Dazu füge ich
- noch zwei oder drei literarische Aufsätze hinzu, und endlich lege ich
- dem Ganzen noch mein Testament bei, auf daß dieses, wenn mich der Tod
- unterwegs ereilen sollte, als durch alle meine Leser bezeugt und
- verbürgt, sogleich rechtmäßig in Kraft trete.
- Mein Herz sagt mir, daß mein Buch einem wirklichen Bedürfnis entspricht
- und daß es vielleicht von einigem Nutzen sein kann. Ich glaube dies
- nicht deshalb, weil ich eine zu hohe Meinung von mir habe und weil ich
- mir zutraue, Nützliches wirken zu können, sondern weil ich noch niemals
- so innig von dem Wunsche beseelt war, etwas Nützliches zu vollbringen,
- wie heute. Für uns Menschen genügt es schon, wenn wir die Hand
- ausstrecken, um zu helfen; die eigentliche Hilfe aber kommt nicht von
- uns, sondern von Gott, der seine Kraft von oben auf uns herabsendet und
- sie dem ohnmächtigen Worte mitteilt. So unbedeutend und minderwertig
- also mein Buch auch sein mag, ich wage dennoch, es der Öffentlichkeit zu
- übergeben, und ich bitte meine Landsleute, es mehrmals durchzulesen;
- zugleich aber bitte ich die unter ihnen, die sich eines gewissen
- Wohlstandes erfreuen, sich mehrere Exemplare zu kaufen und sie an solche
- Leute zu verteilen, die sich das Buch selbst nicht kaufen können, und
- ihnen bei dieser Gelegenheit zu erklären, daß alles Geld, das nach
- Deckung der Unkosten, die die bevorstehende Reise verursachen wird,
- übrigbleiben sollte, teils denen, die gleich mir das innere Bedürfnis
- fühlen, während der kommenden großen Fasten nach dem Heiligen Lande zu
- pilgern und dies nicht aus eigenen Mitteln zu tun vermögen, teils denen
- zur Unterstützung dienen soll, mit denen ich auf dem Wege dorthin
- zusammentreffen werde und die am Grabe des Herrn für ihre Wohltäter, d.
- h. meine Leser, beten werden.
- Ich wünschte, ich könnte meine Reise vollenden wie ein guter Christ, und
- daher bitte ich hiermit alle meine Landsleute um Verzeihung wegen aller
- Kränkungen, die ich ihnen zugefügt haben sollte. Ich weiß, daß ich viele
- Leute durch meine unüberlegten Handlungen und durch meine unreifen Werke
- betrübt, viele sogar gegen mich aufgebracht und überhaupt bei vielen
- Anstoß und Ärgernis erregt habe. Ich darf indessen zu meiner
- Rechtfertigung sagen, daß meine Absicht stets gut war, und daß ich
- niemand betrüben oder gegen mich aufbringen wollte; nur meine
- Unbesonnenheit, meine Hast und Übereilung waren die Ursache, daß meine
- Werke in so unvollkommener Gestalt ins Leben traten, wodurch beinahe
- alle über ihren wahren Sinn getäuscht wurden. Alles andere dagegen,
- wobei tatsächlich eine verletzende Absicht vorliegen sollte, bitte ich
- mir mit jener Großmut zu verzeihen, deren nur die russische Seele fähig
- ist, wenn sie verzeiht. Auch alle die bitte ich, mir zu vergeben, mit
- denen mich mein Lebensweg für längere oder kürzere Zeit zusammengeführt
- hat. Ich weiß, daß ich vielen Menschen mancherlei Unannehmlichkeiten
- bereitet habe, ja manchen sogar mit Absicht. Überhaupt hatte die Art
- meines Verkehrs mit den Menschen stets etwas Unangenehm-Abstoßendes an
- sich. Dies rührte teils davon her, daß ich einem Zusammentreffen und
- einer Bekanntschaft mit Menschen gern aus dem Wege ging, da ich das
- Gefühl hatte, ich hätte den Menschen noch nichts Gescheites und wirklich
- Notwendiges zu sagen (und leere und überflüssige Redensarten wollte ich
- nicht machen), und da ich zugleich davon überzeugt war, daß ich mich
- selbst wegen meiner zahllosen Mängel und Fehler noch in einiger
- Entfernung von den Menschen erziehen müsse. Zum Teil aber war es auch
- die Folge meiner kleinlichen Eitelkeit, wie sie nur denen unter uns
- eigen ist, die sich aus Schmutz und Kot emporgearbeitet, sich eine
- Stellung unter den Menschen erobert haben, und die sich daher für
- berechtigt halten, stolz auf die anderen herabzusehen. Wie dem auch sein
- mag, ich bitte, mir alle persönlichen Kränkungen zu verzeihen, die ich
- einem Menschen seit den Zeiten meiner Kindheit bis zum gegenwärtigen
- Augenblicke zugefügt haben sollte. Auch meine Berufsgenossen, die
- Literaten, bitte ich um Verzeihung, wenn ich sie je bewußt oder unbewußt
- geringschätzig oder ohne gebührende Achtung behandelt haben sollte; wem
- es aber aus irgendeinem Grunde schwer werden sollte, mir zu vergeben,
- den erinnere ich daran, daß er ein Christ ist. Wie der Fastende vor der
- Beichte, die er sich vor dem Angesichte Gottes abzulegen anschickt, alle
- seine Brüder um Verzeihung bittet, so bitte ich sie um Verzeihung, und
- wie in solch einem Augenblick kein einziger den Mut findet, seinem
- Bruder nicht zu vergeben, so werden auch meine Brüder nicht den Mut
- haben, mir ihre Vergebung zu versagen. Und endlich bitte ich meine Leser
- um Verzeihung, wenn auch in diesem Buche wieder etwas Peinliches
- vorkommen sollte, das sie kränken oder beleidigen könnte. Ich bitte sie,
- mir deshalb nicht innerlich zu zürnen, sondern mir statt dessen lieber
- großmütig alle Mängel, die sie in diesem Buche entdecken sollten, sowohl
- die des Schriftstellers wie die des Menschen, nachzuweisen: meine
- Torheit, meine Unüberlegtheit, meine übermäßige Eitelkeit und
- Sicherheit, mein eitles Selbstvertrauen -- mit einem Wort, alle die
- Fehler, die allen Menschen eigen sind, auch wenn sie sie nicht erkennen,
- und die ich wahrscheinlich in noch weit höherem Maße besitze.
- Zum Schluß bitte ich alle Russen, für mich zu beten, vor allem die
- Priester, deren ganzes Leben ein einziges Gebet ist. Auch die bitte ich,
- mich in ihr Gebet einzuschließen, die in ihrer Demut nicht an die Kraft
- ihres Gebets glauben, wie auch die, die überhaupt nicht an das Gebet
- glauben und es nicht einmal für notwendig halten; aber wie kraftlos,
- dürr und matt auch immer ihr Gebet sein möge, ich bitte sie, in diesem
- kraftlosen, dürren und matten Gebet meiner zu gedenken. Ich aber will am
- Grabe des Herrn für alle meine Landsleute beten; kein einziger soll von
- meinem Gebete ausgeschlossen bleiben; und mein Gebet wird ebenso
- kraftlos, dürr und matt sein, wenn nicht der heilige allgütige Wille des
- Himmels es zu einem Gebet machen wird, wie es in Wahrheit sein soll.
- Im Juli 1846.
- I
- Mein Testament
- Völlig meiner Sinne mächtig und im vollen Besitz meines Verstandes lege
- ich hier meinen letzten Willen nieder.
- I. Erstens ordne ich an, daß mein Leib nicht eher begraben werden soll,
- als bis sich an ihm deutliche Spuren der Auflösung bemerkbar machen. Ich
- erinnere ausdrücklich daran, weil mich schon während meiner Krankheit
- Augenblicke der Ohnmacht überkamen, wo das Leben stockte, mein Herz
- aufhörte, zu schlagen, mein Puls stillstand ... Da ich während meines
- Lebens schon häufig Zeuge vieler trauriger Vorfälle war, an denen unsere
- unvernünftige Übereilung in allen Dingen, selbst bei einer solchen
- Angelegenheit wie die Beerdigung, schuld war, so spreche ich dies hier
- gleich zu Beginn meines Testamentes aus, in der Hoffnung, daß meine
- Stimme vielleicht nach meinem Tode ganz allgemein zur Vorsicht mahnen
- wird. Im übrigen aber soll man meinen Leib der Erde übergeben, ohne
- lange zu überlegen, an welchem Ort er ruhen soll; auch sollen keine
- Ehren oder Erinnerungen an meine sterblichen Reste geknüpft werden.
- Jeder sollte sich schämen, der meinen faulenden Knochen irgendwelche
- Achtung erweisen wollte, sind sie doch gar nicht mehr mein Eigentum, er
- würde sich vor den Würmern beugen, die sie zernagen. Ich bitte daher
- alle, lieber um so kräftiger für meine Seele zu beten, und statt aller
- Bestattungsfeierlichkeiten und Ehren lieber einige arme Leute, denen es
- am täglichen Brot fehlt, in meinem Namen mit einem einfachen Mittagessen
- zu bewirten.
- II. Zweitens ordne ich an, mir kein Denkmal auf meinem Grabe zu
- errichten, ja gar nicht erst an diese Torheiten, die eines Christen
- unwürdig sind, zu denken. Die Menschen, die mir nahestanden und die mich
- wirklich lieb hatten, werden mir schon ein anderes Denkmal errichten:
- und zwar werden sie es in sich selbst aufrichten, durch
- unerschütterliches Festhalten an ihrem Lebenswerk und durch Aufmunterung
- und Ermutigung aller Menschen ihrer Umgebung. Wer nach meinem Tode zu
- höherer geistiger Reife emporwachsen wird, als sie ihm während meines
- Lebens eigen war, der wird damit beweisen, daß er mich wahrhaft geliebt
- hat, daß er mein Freund war, und mir damit ein wirkliches Denkmal
- errichten, denn auch ich habe, bei all meiner Schwäche und Nichtigkeit,
- meine Freunde stets ermutigt, und keiner von denen, die mir in der
- letzten Zeit näher traten, hat in Stunden des Kummers und der
- Entmutigung bei mir ein trübseliges Gesicht gefunden, obwohl ich selbst
- schwere Augenblicke zu durchleben hatte und nicht weniger litt und
- bekümmert war, als andere. So möge denn auch ein jeder von ihnen nach
- meinem Tode dessen eingedenk sein, sich an alle meine Worte erinnern und
- noch einmal all meine Briefe durchlesen, die ich vor einem Jahre an ihn
- geschrieben habe.
- III. Drittens ordne ich an, daß mich niemand beweinen soll; ja, der
- würde eine Sünde auf seine Seele laden, der meinen Tod für einen großen
- und allgemeinen Verlust halten wollte. Selbst wenn es mir gelungen sein
- sollte, etwas Nützliches zu vollbringen, wenn ich wirklich schon
- begonnen haben sollte, so wie es sich gehört, meine Pflicht zu erfüllen,
- und wenn der Tod mich in dem Augenblick, wo ich mein Werk -- das ja
- nicht dem Vergnügen einzelner dienen sollte, sondern dem, was allen not
- tut -- begonnen, hinweggenommen haben sollte, so wäre es dennoch
- unrichtig, sich einer fruchtlosen Verzweiflung zu überlassen. Selbst
- wenn heute in Rußland ein Mann stürbe, dessen das Land bei der gegebenen
- Lage der Dinge wirklich bedürfte, so wäre auch dies noch kein Grund für
- einen der Lebenden, zu trauern und mutlos zu werden, obwohl es schon
- richtig ist, daß, wenn uns von den Menschen, die wir alle brauchen,
- einer nach dem andern entrissen wird, dies ein Zeichen des göttlichen
- Zornes ist, und daß wir hierdurch aller Mittel und Werkzeuge beraubt
- werden, mit deren Hilfe sich mancher dem Ziele nähern könnte, das uns
- alle zu sich ruft. Wir dürfen nicht gleich traurig und mutlos werden bei
- jedem plötzlichen Verlust, sondern müssen in unser Inneres blicken und
- nicht an die Schlechtigkeit der andern und an die Schlechtigkeit der
- ganzen Welt, sondern an unsere eigene Schlechtigkeit denken. Die Bosheit
- und Verderbnis der Seele ist fürchterlich, warum aber erkennen wir das
- erst dann, wenn wir den unerbittlichen Tod vor Augen sehen?
- IV. Viertens vermache ich allen meinen Landsleuten (wobei ich lediglich
- davon ausgehe, daß ein jeder Schriftsteller seinen Lesern irgendeinen
- guten Gedanken als Vermächtnis hinterlassen sollte), viertens vermache
- ich ihnen das Beste, was meine Feder hervorgebracht hat -- ich
- hinterlasse ihnen ein Werk von mir, das den Titel _Abschiedserzählung_
- trägt. Diese Erzählung handelt, wie sie erkennen werden, von ihnen
- selbst. Ich habe sie lange in meinem Herzen getragen, wie meinen größten
- Schatz, wie ein Zeichen der göttlichen Gnade, die sich an mir vollzogen
- hat. Sie war mir ein Quell verborgener Tränen, seit den Tagen meiner
- Kindheit. Sie also hinterlasse ich ihnen als Vermächtnis. Allein ich
- flehe all meine Landsleute an, es nicht als Kränkung und Beleidigung
- anzusehen, wenn sie etwas wie eine Belehrung aus ihr heraushören
- sollten. Ich bin ein Schriftsteller, und die Aufgabe des Schriftstellers
- besteht nicht allein darin, Geist und Geschmack angenehm zu unterhalten;
- er muß strenge Rechenschaft ablegen, wenn seine Werke der Seele keinen
- Nutzen gebracht haben und keine Wohltat gewesen sind und wenn keine
- Belehrung für die Menschen in ihnen enthalten ist. Meine Landsleute
- mögen doch bedenken, daß ja auch jeder unserer Brüder, der diese Welt
- verläßt, selbst wenn er kein Schriftsteller ist, ein Recht hat, uns
- etwas wie eine Lehre, eine brüderliche Mahnung zu hinterlassen, und
- dabei kommt es weder darauf an, ob er nur eine geringe Stellung
- bekleidet, noch ob er ein ohnmächtiger, oder gar ein unvernünftiger
- Mensch ist; wir sollten lediglich daran denken, daß ein Mensch, der auf
- dem Totenbett liegt, viele Dinge besser durchschauen kann, als ein
- solcher, der sich in der Welt bewegt. Trotzdem ich mich aber auf dieses
- mein wohlbegründetes Recht berufen könnte, hätte ich es doch nicht
- gewagt, zu erwähnen, was man aus meiner Abschiedserzählung heraushören
- wird; denn nicht mir, dessen Seele häßlicher und sündhafter ist, als die
- aller andern, und der so schwer an seiner eigenen Unvollkommenheit
- krankt, kommt es zu, solche Reden zu führen. Allein was mich dazu
- treibt, ist ein anderer gewichtiger Grund. Landsleute! Es ist furchtbar.
- Die Seele möchte vor Schrecken vergehen bei der bloßen Ahnung der
- überirdischen Majestät und Erhabenheit des Jenseits und jener höchsten
- geistigen Schöpfungen Gottes, vor denen die ganze Größe alles
- Erschaffenen, das wir hier unten erblicken und das uns hier in Erstaunen
- setzt, in Staub versinkt. Mein sterblicher Leib ächzt beim Gedanken an
- all die monströsen gigantischen Gebilde und Früchte, deren Samen wir
- während unseres Lebens säeten, ohne zu ahnen und ohne zu fühlen, was für
- Schrecknisse aus ihnen erwachsen werden ... Vielleicht wird meine
- _Abschiedserzählung_ einen gewissen Eindruck auf _die_ machen, die das
- Leben noch immer für ein Spiel halten, vielleicht wird ihr Herz etwas
- von seinem strengen Geheimnis und von der innigen himmlischen Musik
- dieses Geheimnisses vernehmen. Landsleute! -- ich weiß nicht, ich finde
- kein Wort dafür, wie ich euch in diesem Augenblick anreden soll. -- Fort
- mit dem leeren Anstand! Landsleute! -- ich habe euch geliebt, ich habe
- euch geliebt mit jener Liebe, von der man nicht spricht, die mir Gott
- geschenkt hat, für die ich Ihm danke, wie für Seine höchste Wohltat,
- weil diese Liebe mir Trost und Freude war während meiner schwersten
- Leiden. Im Namen dieser Liebe bitte ich euch, meiner Abschiedserzählung
- euer Ohr und Herz zu leihen. Ich schwöre es euch, ich habe sie nicht
- erfunden, ich habe sie nicht erdacht, sie ist meiner Seele selbst
- entströmt, die Gott selbst durch Kummer und Versuchungen gebildet hat,
- und ihre Klänge entsprangen aus den innersten Kräften und Elementen
- unseres russischen Wesens, das uns allen gemeinsam ist und durch das ich
- euch allen aufs engste verschwistert bin[1].
- V. Fünftens bitte ich, meiner Werke nach meinem Tode in der Presse und
- in den Zeitschriften weder mit übereiltem Lob noch Tadel zu gedenken;
- alle diese Urteile werden ebenso parteiisch sein, wie bei meinen
- Lebzeiten. In meinen Werken gibt es weit mehr Verurteilungswürdiges als
- solches, was Lob verdient. Alle Ausfälle, die sich gegen sie richteten,
- waren ihrem eigentlichen Kerne nach mehr oder weniger berechtigt. Mir
- gegenüber hat sich niemand schuldig gemacht; es wäre unedel und
- ungerecht, wenn ein Mensch jemand um meinetwillen in irgendeiner
- Hinsicht tadeln, oder ihm einen Vorwurf machen wollte. Ferner erkläre
- ich laut, damit alle es hören können: daß es außer den schon gedruckten
- Schriften keine Werke mehr von mir gibt: alles was an Manuskripten
- vorhanden war, habe ich verbrannt, wie etwas Kraftloses, wie etwas
- Totes, das ich in einer krankhaften Gemütsverfassung und in einem
- Zwangszustande niedergeschrieben habe. Wenn daher jemand etwas unter
- meinem Namen herausgeben sollte, so bitte ich dies für eine
- nichtswürdige Fälschung zu halten. Dafür aber mache ich es meinen
- Freunden zur Pflicht, alle meine Briefe zu sammeln, die ich seit dem
- Ende des Jahres 1844 an einen von ihnen gerichtet habe, und diese nach
- strenger Auswahl alles dessen, was irgendwie von Nutzen für unsere Seele
- sein kann, und nach Verwerfung alles übrigen, das nur der eitlen
- Unterhaltung dient, in Buchform herauszugeben. Diese Briefe enthalten
- einiges, das _denen_ von Nutzen gewesen ist, an die sie gerichtet waren.
- Gott ist barmherzig; vielleicht werden sie auch andern von Nutzen sein;
- und vielleicht wird so wenigstens ein Teil der harten Verantwortlichkeit
- für die Wertlosigkeit dessen, was ich früher geschrieben habe, von
- meiner Seele genommen.
- [Fußnote 1: Die Abschiedserzählung kann nicht erscheinen: was nach dem
- Tode von Bedeutung sein könnte, das hat bei Lebzeiten keinen Sinn.]
- VI. Nach meinem Tode soll keiner der Meinen mehr berechtigt sein, sich
- selbst anzugehören -- sondern nur noch den Bekümmerten, den Leidenden
- und denen gehören, die in diesem Leben schon irgendein Leid zu erdulden
- hatten. Ihr Haus und Gut sollen mehr einem Gasthaus oder einer Herberge
- für fremde Pilger, als der Wohnstätte eines Gutsbesitzers gleichen; wer
- auch immer zu den Meinen kommt, den sollen sie aufnehmen, wie einen
- nahen Verwandten und einen ihrem Herzen nahestehenden Menschen; sie
- sollen ihn herzlich und freundschaftlich nach all seinen
- Lebensverhältnissen ausfragen, um zu erfahren, ob er nicht
- hilfsbedürftig ist, oder doch wenigstens um ihn zu erheitern und zu
- ermuntern, auf daß keiner das Gut ungetröstet verlasse. Wenn der
- Reisende aber einfachen Standes, wenn er an ein ärmliches Leben gewöhnt
- ist und es ihm aus irgendeinem Grunde peinlich ist, im Hause des
- Gutsbesitzers Wohnung zu nehmen, so sollen sie ihn zu einem wohlhabenden
- Bauern, zu dem besten und tüchtigsten im ganzen Dorfe, führen, der sich
- eines musterhaften Lebenswandels befleißigt und seinem Bruder mit einem
- guten Rate zur Seite stehen kann; dieser soll seinen Gast ebenso
- herzlich und freundlich nach seinen Verhältnissen ausfragen, ihm Mut
- zusprechen, ihn ermuntern, ihm einen guten Rat und Zuspruch mit auf den
- Weg geben, und dann dem Gutsherren über alles Bericht erstatten, damit
- auch diese ihrerseits ein gutes Wort und einen guten Ratschlag
- hinzufügen oder ihm Hilfe und Unterstützung schenken können, was und wie
- sie es für angemessen halten, auf daß niemand ungetröstet davonfahre
- oder das Gut ohne Zuspruch verlasse.
- VII. Siebentens ordne ich an ... doch da fällt mir ein, daß ich hierüber
- schon nicht mehr zu verfügen habe. Durch eine Unvorsichtigkeit bin ich
- meines Eigentumsrechtes beraubt worden: mein Porträt ist gegen meinen
- Willen und ohne Erlaubnis öffentlich verbreitet worden. Aus vielen
- Gründen, die ich hier nicht näher anzugeben brauche, habe ich dies nicht
- gewünscht; ich habe daher auch niemand durch Verkauf das Recht
- abgetreten, eine öffentliche Ausgabe dieses Porträts zu veranstalten,
- und sämtlichen Buchhändlern, die mit einem solchen Antrag an mich
- herantraten, eine Absage erteilt; ich gedachte mir dies erst dann zu
- gestatten, wenn es mir mit Gottes Hilfe gelingen sollte, jenes Werk zu
- vollenden, das meine Gedanken während meines ganzen Lebens beschäftigt
- hat, und zwar so zu vollenden, daß all meine Landsleute einstimmig
- erklärten, ich hätte meine Aufgabe redlich gelöst, und den Wunsch
- äußerten, die Züge des Menschen kennen zu lernen, der bis zu diesem
- Augenblick in aller Stille gearbeitet und nie den Wunsch ausgesprochen
- hätte, einen unverdienten Ruhm zu genießen. Dazu kam noch ein anderer
- Umstand: mein Bild konnte in solch einem Falle sofort in einer großen
- Anzahl von Exemplaren verbreitet werden und dem Künstler, der mein Bild
- stechen würde, einen bedeutenden Gewinn eintragen. Dieser Künstler ist
- bereits seit mehreren Jahren in Rom damit beschäftigt, einen Stich nach
- dem unsterblichen Bilde Raffaels: _Die Verklärung Christi_ herzustellen.
- Er hat dieser Arbeit alles geopfert -- einer aufreibenden Arbeit, zu der
- er viele Jahre gebraucht und die seine Gesundheit aufgezehrt hat, und er
- hat dies Werk, das nun seiner Vollendung entgegengeht, mit einer solchen
- Vollkommenheit ausgeführt, wie dies bisher noch keinem Radierer gelungen
- ist. Wegen der hohen Kosten und da es nur eine kleine Zahl von
- Kunstkennern und Liebhabern gibt, kann sein Stich nicht in dem Maße
- verbreitet werden, um ihn für alles zu entschädigen. Hätte er mein Bild
- stechen können, so wäre ihm geholfen gewesen. Nun aber ist mein Plan
- zerstört: ist das Bild einer Persönlichkeit einmal in der Öffentlichkeit
- verbreitet, so wird es dadurch zum Eigentum eines jeden, der sich mit
- der Herausgabe von Stichen und Steindrucken beschäftigt. Sollte es sich
- jedoch so fügen, daß nach meinem Tode unveröffentlichte Briefe von mir
- herausgegeben werden sollten, die der Gesellschaft von Nutzen sein
- könnten (wenn auch nur durch das reine und aufrichtige Streben, Nutzen
- zu stiften), und sollten meine Landsleute den Wunsch haben, mein Porträt
- kennen zu lernen, so bitte ich alle Herausgeber solcher Bilder,
- hochherzig auf ihre Rechte zu verzichten; dagegen bitte ich die Leser,
- die sich aus einem übertriebenen Wohlwollen für alles, was Ruhm und
- Ansehen genießt, ein Porträt von mit angeschafft haben, es sofort,
- nachdem sie diese Zeilen gelesen haben, zu vernichten, um so mehr, da
- diese Porträts schlecht und gar nicht ähnlich sind, und sich nur ein
- solches Porträt zu kaufen, das die Unterschrift: _Gestochen von
- Jordanow_ trägt. Dies wäre wenigstens eine gute Tat. Noch besser aber
- wäre es, wenn die, die sich eines gewissen Wohlstandes erfreuen, sich
- statt meines Bildes den Stich: _Die Verklärung Christi_ kaufen wollten,
- einen Stich, der selbst nach dem Urteil von Ausländern die Krone der
- Radiererkunst darstellt und Rußland zum höchsten Ruhme gereicht.
- Mein Testament soll sofort nach meinem Tode in allen Zeitungen und
- Journalen veröffentlicht werden, damit sich niemand aus Unkenntnis und
- ohne es zu wollen, gegen mich vergehe und damit eine Schuld auf seine
- Seele lade.
- II
- Die Frau in der vornehmen Welt
- An Frau ***
- Sie glauben, Sie können keinen Einfluß auf die Gesellschaft ausüben. Ich
- bin der entgegengesetzten Ansicht. Der Einfluß der Frau kann sehr groß
- sein, besonders heute, bei der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung oder
- -unordnung, die einerseits durch eine matte erschlaffte
- gesellschaftliche Bildung charakterisiert wird und in der sich
- andererseits eine seelische Erkaltung und eine moralische Müdigkeit
- bemerkbar macht, die dringend einer Erweckung und Belebung bedarf. Um
- jedoch eine solche Neubelebung hervorzubringen, dazu bedürfen wir der
- Hilfe der Frau. Dies ist eine Wahrheit, die die ganze Welt ganz
- plötzlich wie eine dunkle Ahnung ergriffen hat. Jedermann scheint etwas
- von der Frau zu erwarten. Lassen wir einmal alles andere beiseite, sehen
- wir uns einmal in unserem russischen Vaterlande um und achten wir dabei
- auf das, was wir so häufig bemerken können: auf die zahlreichen
- Mißbräuche aller Art. Es stellt sich heraus, daß die Mehrzahl aller
- Fälle von Bestechungen (Mißbräuchen im Dienst), sowie alle übrigen
- Vergehen, deren man unsere Beamten und die Bürger aller Klassen
- beschuldigt, entweder auf die Verschwendungssucht der Frauen, die danach
- lechzen, in der großen und kleinen Welt zu glänzen und zu diesem Zweck
- Geld von ihren Männern verlangen, oder aber auf die Hohlheit und die
- Leere in ihrem häuslichen Leben zurückgeführt werden können, das
- lediglich allerhand idealen Träumereien und nicht den wahren
- eigentlichen Aufgaben und Pflichten gewidmet ist, die doch weit schöner
- und erhabener sind als alle Träumereien. Die Männer würden sich auch
- nicht den zehnten Teil der Mißbräuche zuschulden kommen lassen, die sie
- jetzt verüben, wenn ihre Frauen auch nur im mindesten ihre Pflicht und
- Schuldigkeit täten. Die Seele der Frau -- ist für den Mann ein
- schützender Talisman, der ihn vor vielen moralischen Krankheiten und
- Ansteckungen behütet; sie ist eine Kraft, die ihn auf dem geraden Wege
- festhält, und eine Führerin, die ihn vom krummen Pfade auf den rechten
- zurückleitet; umgekehrt aber kann die Seele der Frau auch der böse Geist
- des Mannes sein und ihn für alle Ewigkeit zugrunde richten. Sie haben
- das selbst gefühlt und einen so schönen Ausdruck dafür gefunden, wie ihn
- bisher noch keine von weiblicher Hand geschriebene Zeile enthält. Jedoch
- Sie sagen: alle andern Frauen könnten ein Feld für ihre Betätigung
- finden, nur Sie allein nicht. Sie finden überall Arbeit für sich, sie
- können Verkehrtes und Verfehltes verbessern und wieder einrenken oder
- mit etwas Neuem und Notwendigem beginnen -- mit einem Wort, sie können
- überall fördernd eingreifen, nur Sie selbst finden keine Tätigkeit für
- sich und wiederholen immer wieder betrübt: »Warum bin ich nicht an ihrer
- Stelle?« Wissen Sie, daß dies eine allgemeine Verblendung ist? Heute
- will es jedem so erscheinen, als ob er viel Gutes stiften könnte, wenn
- er an der Stelle eines anderen stünde oder _sein_ Amt bekleidete, und
- als ob er es nur in _seiner_ eigenen Stellung nicht könnte. Das ist der
- Grund allen Übels. Wir alle sollten jetzt darüber nachdenken, wie wir in
- unsrer eigenen Lage und an der Stelle, wo wir stehen, Gutes wirken
- können. Glauben Sie mir, Gott hat nicht vergebens einen jeden gerade an
- die Stelle gestellt, an der er steht. Man muß sich nur ordentlich
- umsehen. Sie sagen: warum bin ich nicht Mutter einer Familie; dann
- könnten Sie Ihren Mutterpflichten nachkommen, von denen Sie sich jetzt
- eine so klare und deutliche Vorstellung machen; oder Sie sagen: warum
- liegt mein Gut nicht danieder; das würde Sie veranlassen, aufs Land zu
- gehen, Gutsbesitzerin zu werden und sich mit der Landwirtschaft zu
- beschäftigen; Sie klagen: warum ist mein Mann nicht in einem
- gemeinnützigen Beruf tätig, der ihm schwere Pflichten auferlegt, dann
- könnten Sie ihm behilflich sein, Sie könnten die treibende Kraft sein,
- die ihn erfrischt und aufmuntert; warum gibt es keine anderen Aufgaben
- und Pflichten für Sie, als die langweiligen sinnlosen Besuche in der
- großen Welt und der hohlen seelenlosen vornehmen Gesellschaft, die Ihnen
- jetzt einsamer und öder erscheint als eine menschenleere Wüste! Und
- dennoch und trotz alledem ist diese Welt doch bevölkert, es gibt
- Menschen in ihr und zwar ganz ebensolche wie überall sonst. Sie dulden
- und quälen sich ebenso und leiden dieselbe Not, schreien stumm um Hilfe
- und wissen, ach! nicht einmal, wie sie um Hilfe bitten sollen. Welchem
- Bettler aber soll man zuerst helfen: dem, der noch auf die Straße
- hinausgehen und betteln kann, oder dem, der nicht einmal die Kraft hat,
- seine Hand auszustrecken? Sie sagen, Sie wissen nicht und können es sich
- nicht einmal denken, womit Sie jemand in der vornehmen Welt von Nutzen
- sein könnten; dazu müsse man über so viele verschiedene Mittel verfügen,
- dazu müsse man eine so kluge und allseitig unterrichtete Frau sein, daß
- Ihnen schon bei dem bloßen Gedanken an dies alles der Kopf ganz wirr
- werde. Wie aber, wenn man dazu nur das zu sein brauchte, was Sie bereits
- sind? Wie, wenn Sie die Mittel bereits besäßen, deren man gegenwärtig
- gerade bedarf? Alles das, was Sie über sich selbst sagen, ist vollkommen
- wahr: Sie sind wirklich noch zu jung, Sie besitzen weder
- Menschenkenntnis noch Lebenserfahrung, mit einem Wort nichts von
- alledem, dessen man bedarf, um anderen Menschen geistigen Beistand
- leisten zu können, vielleicht werden Sie sich diese Dinge sogar niemals
- aneignen, aber Sie besitzen andere Mittel, durch die Ihnen nichts
- unmöglich ist. Erstens sind Sie schön, zweitens sind Sie im Besitz eines
- unbefleckten, von keiner Schmähung und Verleumdung berührten Namens, und
- drittens verfügen Sie über eine Kraft, über eine Macht, die Sie selbst
- nicht in sich vermuten, -- über die Macht der Herzensreinheit. Die
- Schönheit der Frau ist noch immer etwas Geheimnisvolles. Gott hat nicht
- vergebens gewollt, daß gewisse Frauen schön sein sollen; es ist nicht
- umsonst so eingerichtet, daß die Schönheit auf alle Menschen den
- gleichen mächtigen Eindruck macht, sogar auf die, die gegen alles
- gleichgültig und gefühllos und die zu nichts fähig sind. Wenn schon die
- sinnlose Laune einer schönen Frau die Ursache welthistorischer
- Revolutionen werden und die gescheitesten Menschen zu allerhand
- Torheiten veranlassen konnte, wie stände es wohl dann, wenn diese Launen
- vernünftig und auf das Gute gerichtet wären? Wieviel Gutes könnte wohl
- dann eine schöne Frau im Vergleich mit anderen Frauen stiften! Dies ist
- somit eine mächtige Waffe. Sie aber besitzen noch eine höhere Schönheit
- -- den reinen Zauber einer besonderen, nur Ihnen allein eigenen
- Unschuld, die ich nicht mit Worten beschreiben kann, aus der jedoch
- jedem Menschen Ihr sanftes Taubengemüt entgegenleuchtet. Wissen Sie, daß
- die verdorbensten unter unseren jungen Leuten mir gestanden haben, daß
- ihnen in Ihrer Gegenwart nie ein häßlicher Gedanke eingefallen sei, daß
- sie, wenn Sie zugegen sind, nie den Mut hätten, -- ein Wort zu sagen, --
- nicht nur kein zweideutiges Wort, mit dem sie wohl andere Auserwählte
- erfreuen, nein überhaupt kein Wort, da sie das Gefühl hätten, daß in
- Ihrer Anwesenheit alles grob und plump erscheinen und unanständig und
- burschikos klingen würde? Dies ist schon eine Wirkung, die ohne Ihr
- Wissen von Ihrer bloßen Anwesenheit ausgeht! Wer sich in Ihrer Gegenwart
- nicht einmal einen häßlichen Gedanken erlaubt, der schämt sich bereits
- dieser Gedanken, und eine solche Selbsterkenntnis ist, auch wenn sie nur
- einer momentanen Regung entspringt, bereits der erste Schritt des
- Menschen zur Besserung. So ist denn auch dies eine mächtige Waffe. Zu
- alledem aber haben Sie noch ein von Gott selbst in Ihre Seele gelegtes
- Streben oder wie Sie es nennen: _einen Durst_ nach dem Guten. Glauben
- Sie wirklich, daß Ihnen dieser Durst vergebens verliehen ward, dieser
- Durst, der Ihnen keinen Augenblick Ruhe läßt? Kaum haben Sie einen
- edlen, klugen Mann geheiratet, der alle Eigenschaften besitzt, um eine
- Frau glücklich zu machen, da werden Sie, statt tief in Ihrem häuslichen
- Glück aufzugehen, in ihm unterzutauchen, schon wieder von dem Gedanken
- gequält, daß Sie dieses Glückes nicht würdig sind, daß Sie nicht das
- Recht haben, sich ihm hinzugeben, es zu genießen, während Sie ringsum
- von soviel Leiden umgeben sind und während jeden Augenblick die
- Nachricht von allerhand Nöten und Unglücksfällen zu Ihnen dringt: von
- Hungersnot, Feuersbrünsten, schwerem seelischem Leid und furchtbaren
- geistigen Krankheiten, die unser heute lebendes Geschlecht ergriffen
- haben. Glauben Sie mir, das geschieht nicht ohne Grund. Wer inmitten all
- der lauten Zerstreuungen und Vergnügungen in seiner Seele eine solche
- himmlische Unruhe und Sorge um die Menschen, ein solches engelhaftes
- Mitgefühl und Mitleid mit ihnen verschließt, der kann viel, sehr viel
- für sie tun; der hat stets ein Betätigungsfeld, denn es gibt überall
- Menschen. Fliehen Sie daher die Welt nicht, in die Sie durch Ihre
- Bestimmung hineingestellt worden sind; hadern Sie nicht mit der
- Vorsehung. In Ihnen lebt etwas von jener unbekannten Kraft, deren die
- Welt jetzt bedarf; schon aus Ihrer Stimme tönen einem jeden, infolge des
- ständigen Dranges Ihrer Seele, den Menschen zu Hilfe zu eilen, Töne
- entgegen, die einen verwandt berühren; wenn Sie zu sprechen beginnen,
- und Ihr reiner Blick und dieses Lächeln, das niemals von Ihren Lippen
- schwindet und nur Ihnen allein eigen ist, Ihre Rede begleitet, so will
- es jedem so scheinen, wie wenn eine liebe Schwester aus dem Himmel zu
- ihm spräche. Ihre Stimme hat etwas Mächtiges, Unüberwindliches
- angenommen, Sie können befehlen und ein solcher Despot sein, wie keiner
- von uns. So gebieten Sie denn, wortlos und stumm, durch Ihre bloße
- Gegenwart; gebieten Sie gerade durch Ihre Schwäche und Kraftlosigkeit,
- über die Sie so empört sind; gebieten Sie gerade durch jene weibliche
- Schönheit, die die Frau unserer Zeit leider bereits verloren hat. Mit
- Ihrer ängstlichen Unerfahrenheit werden Sie heute unendlich mehr
- ausrichten, als eine kluge Frau, die in ihrem stolzen Selbstvertrauen
- bereits alles kennen gelernt und ausgekostet hat. Ihre gescheitesten
- Gedanken, mit denen sie die heutige Welt auf den rechten Weg
- zurückführen wollte, würden in Form von boshaften Epigrammen auf ihr
- Haupt zurückschnellen, dagegen wird sich bei keinem von uns ein Epigramm
- auf die Lippen zu drängen wagen, wenn Sie jemand von uns stumm und mit
- flehendem Blick auffordern würden, sich zu bessern. Warum haben Sie sich
- durch die Erzählungen über die Laster und die Verdorbenheit der
- vornehmen Welt so erschrecken lassen. Diese Laster sind tatsächlich
- vorhanden, ja noch in weit höherem Maße, als Sie es glauben; aber Sie
- sollten gar nichts davon wissen. Brauchen Sie sich denn vor den
- traurigen Lockungen und Sünden der Welt zu fürchten? Stürzen Sie sich
- nur ruhig mit demselben strahlenden Lächeln in sie hinein; treten Sie
- ein, wie in ein Krankenhaus, das mit Kranken und Leidenden angefüllt
- ist, aber nicht als Arzt, der strenge Vorschriften macht und bittre
- Arzneien verordnet! Sie sollen sich gar nicht darum kümmern, von welchen
- Krankheiten jeder einzelne befallen ist. Sie haben nicht die Fähigkeit,
- Krankheiten zu diagnostizieren und zu heilen, und daher werde ich Ihnen
- nicht dazu raten, wozu ich jeder andern Frau raten müßte, die dazu fähig
- ist. Ihre Aufgabe besteht lediglich darin, den Leidenden durch Ihr
- Lächeln und durch Ihre Stimme zu erfreuen, aus der die Seele einer
- Schwester zu uns Menschen zu sprechen scheint, einer Schwester, die vom
- Himmel zu uns herabgestiegen ist -- nichts mehr. Verweilen Sie nicht zu
- lange bei jedem Einzelnen und eilen Sie schnell zu dem Nächsten weiter,
- denn man bedarf Ihrer überall. Ach! An allen Enden der Welt harrt und
- wartet man ungeduldig auf dieses Eine, auf diese lieben verwandten
- Laute, diese einzige Stimme, die Sie schon besitzen. Sprechen Sie nie
- mit Weltleuten über Dinge, über die sich diese Leute zu unterhalten
- pflegen; zwingen Sie sie, darüber zu sprechen, worüber Sie sprechen.
- Gott bewahre Sie vor jeglicher Pedanterie und vor allen jenen Reden, die
- den Lippen einer üppigen Weltdame entströmen. Führen Sie jenen
- schlichten treuherzigen Plauderton in die Gesellschaft ein, jenen Ton,
- in dem Sie so beredt zu erzählen wissen, wenn Sie sich im Kreise von
- nahestehenden Menschen und Hausgenossen befinden, wenn jedes schlichte
- Wort, das Sie sagen, gleichsam aufstrahlt und Licht um sich her
- verbreitet und es der Seele eines jeden, der Ihnen zuhört, so erscheint,
- als rede er mit den Engeln süße Worte über einen himmlischen
- Kindheitsstand der Menschheit. Solche Gespräche und Reden sollten Sie in
- die Gesellschaft einführen.
- 1846.
- III
- Die Bestimmung der Krankheiten
- Aus einem Brief an den Grafen A. P. T.
- Meine Kräfte lassen von Augenblick zu Augenblick nach, aber nicht mein
- Geist. Noch nie fühlte ich mich durch die körperlichen Gebrechen so
- entkräftet. Oft leide ich so sehr, so furchtbar, fühle ich eine so
- schreckliche Müdigkeit im ganzen Körper, daß ich mich Gott weiß wie sehr
- freue, wenn der Tag endlich zu Ende geht und wenn man endlich zu Bett
- gehen kann. Oft rufe ich von geistiger Ohnmacht übermannt aus: Mein
- Gott, wo ist denn endlich das Ufer, wann kommt das Ende von alledem!
- Wenn man dann aber Einkehr in sich selbst hält und tiefer in sein
- Inneres hineinschaut, dann entströmen der Seele nur noch Tränen und
- Worte des Dankes. O wie sehr bedürfen wir der Leiden! Von dem vielen
- Guten und Nützlichen, das ich aus ihnen gezogen habe, will ich nur auf
- eines hinweisen! Ich mag heute sein, wie ich will, ich bin doch besser
- geworden, als ich früher war; wenn diese Krankheiten und Leiden nicht
- gewesen wären, so hätte ich gewiß geglaubt, daß ich schon ganz so sei,
- wie ich sein sollte. Dabei will ich gar nicht einmal davon reden, daß
- die Gesundheit, die uns Russen immer dazu reizt, über den Strang zu
- schlagen, und den Wunsch in uns rege hält, unsere Vorzüge vor anderen
- Leuten zur Schau zu stellen, mich dazu veranlaßt hätte, tausend
- Torheiten zu begehen. Dazu besuchen mich jetzt in Augenblicken geistiger
- Frische, die mir die Güte des Himmels schenkt, und während der
- schlimmsten Qualen zuweilen unendlich viel schönere und bessere
- Gedanken, als ich sie früher je gehabt habe, und ich sehe es selbst, daß
- jedes Werk meiner Feder heute weit wertvoller und bedeutsamer sein wird,
- als alles Frühere. Hätten mich diese schweren und qualvollen Leiden
- nicht heimgesucht, wie hochmütig wäre ich da wohl geworden, für einen
- wie bedeutenden Menschen hätte ich mich gehalten! Wenn ich jedoch jeden
- Augenblick fühle, daß mein Leben an einem Haar hängt, daß meine
- Krankheit plötzlich meinem Werk, auf dem meine ganze Bedeutung beruht,
- ein Ende bereiten könne, daß der ganze Nutzen, den meine Seele so innig
- zu bringen wünscht, nur ein ohnmächtiger Wunsch bleiben und nie
- Erfüllung werden wird, daß ich nie mit den Talenten, die mir Gott
- verliehen hat, wuchern, und daß ich verdammt werden würde, wie der
- schlimmste Verbrecher -- wenn ich dies alles fühle und erkenne, so füge
- ich mich stets in Demut und finde keine Worte, wie ich der göttlichen
- Vorsehung für meine Krankheit danken soll. Daher sollten auch Sie jedes
- Leiden mit Ergebung hinnehmen, in dem Glauben, daß es notwendig ist.
- Bitten Sie Gott nur um eins: daß Ihnen die wunderbare Bestimmung dieses
- Leidens und die ganze Tiefe seiner großen Bedeutung aufgehe.
- 1846.
- IV
- Etwas über die Bedeutung des Wortes
- Als Puschkin einmal folgende Verse aus der Ode Derschawins an
- Chrapowizky las:
- »Mag der Satiriker die Worte schmähn,
- Wenn er nur meinen Taten Achtung zollt«,
- sagte er: »Derschawin hat nicht ganz recht, die Worte des Dichters sind
- bereits seine Taten.« Puschkin hat recht. Der Poet soll im Reiche des
- Worts ebenso einwandfrei und makellos dastehen, wie jeder andere Mensch
- in seinem Kreise. Wenn sich ein Schriftsteller entschuldigen und
- bestimmte Umstände für die Unaufrichtigkeit, Unüberlegtheit oder
- Übereiltheit seiner Worte verantwortlich machen wollte, dann kann auch
- jeder ungerechte Richter eine Entschuldigung dafür finden, daß er sich
- bestechen läßt und mit Recht und Gerechtigkeit Handel getrieben hat,
- indem er die Schuld auf seine beschränkten Verhältnisse, auf seine Frau,
- oder auf Krankheiten in seiner Familie abwälzt. Finden sich doch immer
- genug Gründe, die man anführen kann! Ein Mensch gerät plötzlich in
- schwierige Verhältnisse. Es geht die Nachkommen doch nichts an, wer
- schuld daran war, daß der Schriftsteller eine Dummheit, etwas Törichtes
- und Albernes gesagt hat und daß er seinen Gedanken in unüberlegter und
- unreifer Weise Ausdruck gegeben hat. Sie werden nicht danach fragen, wer
- seine Hand geführt hat: ein kurzsichtiger Freund, der ihn zu verfrühtem
- Handeln aufforderte, oder ein Journalist, der nur um den Erfolg seiner
- Zeitschrift besorgt war. Die Nachwelt wird weder auf Koterien noch auf
- Journalisten, ja nicht einmal auf seine Armut und seine schwierige Lage
- Rücksicht nehmen. Ihr Tadel wird sich gegen ihn und nicht gegen sie
- richten. Warum konntest du dem allem nicht widerstehen? Du hattest doch
- ein Gefühl für die Ehre deines Standes, du selbst hast ihn doch allen
- andern, ja den aussichtsreichsten und vorteilhaftesten Ämtern und
- Berufen vorgezogen und hast dies nicht etwa aus einer Laune, sondern nur
- darum getan, weil du dich von Gott dazu berufen fühltest. Zu alledem
- ward dir noch ein Verstand geschenkt, der weiter und tiefer blickte,
- einen größeren Umkreis von Dingen umspannte, als die, die dich
- anspornten und vorwärts stießen! Warum also bliebst du ein Kind und
- wardst nicht ein Mann, wo dir doch alles zuteil geworden war, was dazu
- gehört, ein Mann zu sein? Kurz, ein gewöhnlicher Schriftsteller könnte
- sich vielleicht noch mit den Umständen entschuldigen, nicht aber ein
- Derschawin. Er hat sich selbst viel dadurch geschadet, daß er nicht
- wenigstens die größere Hälfte seiner Oden verbrannt hat. Diese Hälfte
- seiner Oden ist höchst merkwürdig und wunderbar: noch nie hat ein Mensch
- so über sich selbst und über das Heiligtum seiner Überzeugungen und
- Gefühle gespottet, wie dies Derschawin in dieser unseligen Hälfte seiner
- Oden getan hat. Wie wenn er sich bemüht hätte, eine Karikatur seiner
- eigenen Person zu zeichnen: alles, was bei ihm an vielen andern Stellen
- schön und frei klingt, so durchwärmt ist von der inneren Kraft eines
- geistigen Feuers, erscheint hier kalt, seelenlos und gezwungen; und was
- das schlimmste ist, -- all jene Wendungen, jene Ausdrücke, ja ganze
- Sätze (jene königliche Adlergeste seiner begeisterten beseelten Oden)
- finden sich hier wieder, aber sie wirken hier bloß komisch und erzeugen
- einen Eindruck, wie wenn ein Zwerg den Panzer eines Riesen angelegt und
- ihn überdies noch verkehrt angezogen hätte. Wieviel Menschen urteilen
- heute über Derschawin lediglich nach seinen banalen Oden! Wie viele
- zweifeln an der Aufrichtigkeit seiner Gefühle, bloß weil sie den
- Eindruck haben, daß diese Gefühle an vielen Stellen schwächlich und
- seelenlos ausgedrückt sind! Was für zweideutige Gerüchte sind über
- seinen Charakter, die Vornehmheit seines Wesens und über die
- Unbestechlichkeit der richterlichen Gewalt entstanden, für die er
- eintrat! Und dies bloß darum, weil er das nicht verbrannt hat, was er
- dem Feuer hätte übergeben sollen. Unser Freund P*** hat folgende
- Gewohnheit: sobald er ein paar Zeilen von einem bekannten Schriftsteller
- entdeckt, veröffentlicht er sie sofort in einer Zeitschrift, ohne es
- sich gründlich zu überlegen, ob sie dem Autor zur Ehre oder zur Unehre
- gereichen. Und er besiegelt sein ganzes Werk mit der bekannten Ausrede
- der Journalisten: »Wir hoffen, die Leser und die Nachwelt werden uns
- dankbar sein für die Mitteilung dieser wertvollen Zeilen; alles, was von
- einem großen Mann herrührt, hat Anspruch auf unser Interesse« und
- dergleichen mehr. Das alles sind Torheiten. Irgendein unbedeutender
- Leser wird es ihm vielleicht danken, aber die Nachwelt wird diese
- kostbaren Zeilen gar nicht beachten, wenn sie nur eine seelenlose
- Wiederholung dessen sind, was bereits bekannt ist, und wenn sie uns
- nicht einen Hauch von der Heiligkeit dessen fühlen lassen, was wirklich
- heilig sein soll. Je erhabener eine Wahrheit ist, um so vorsichtiger muß
- man mit ihr umgehen; sonst verwandelt sie sich in einen Gemeinplatz und
- Phrasen schenkt man keinen Glauben. Die Atheisten haben bei weitem nicht
- soviel Unheil angerichtet, wie die Heuchler oder _die_ Propheten Gottes,
- die noch nicht genügend für ihr Amt vorbereitet waren und sich
- erdreisteten, Seinen Namen mit ungeweihten Lippen zu verkünden. Man muß
- redlich mit dem Worte umgehen: es ist die höchste Gabe, die Gott den
- Menschen verliehen hat. Wehe dem Schriftsteller, der in einem Augenblick
- ein Wort spricht, wo er unter dem Einfluß leidenschaftlicher
- Verirrungen, des Ärgers, des Zornes oder einer persönlichen Abneigung
- steht, kurz, zu einer Zeit, wo seine Seele noch nicht zu voller Harmonie
- gelangt ist: dann werden ihm Worte entfliehen, die allen Widerwillen und
- Ekel einflößen, und in solchen Fällen kann man selbst beim reinsten
- Streben nach dem Guten Unheil anrichten. Unser obenerwähnter Freund P***
- kann als Beweis dafür dienen: er war sein ganzes Leben lang eifrig darum
- bemüht, _seinen Lesern sofort alles mitzuteilen_, sie von allem in
- Kenntnis zu setzen, was er soeben gelernt hatte, ohne zu überlegen, ob
- ein Gedanke in seinem eigenen Kopfe auch genügend ausgereift war, um
- auch allen andern vertraut und verständlich zu sein, mit einem Wort --
- er stellte sich vor den Lesern in seiner ganzen Unklarheit und
- Verworrenheit zur Schau. Und wie? Haben die Leser etwa das edle und
- schöne Streben bemerkt, das bei ihm so oft durchleuchtete? Haben sie von
- ihm angenommen, was er ihnen mitteilen wollte? Nein, sie haben nichts an
- ihm entdeckt als seine innere Zuchtlosigkeit und Unreinlichkeit, die der
- Mensch zuallererst bemerkt, und haben nichts von ihm angenommen. Dreißig
- Jahre lang hat dieser Mensch gearbeitet und gestrebt wie eine Ameise,
- sein ganzes Leben hindurch war er bemüht, alles eiligst an den Mann zu
- bringen, was sich ihm an Gegenständen darbot, die zur Bildung und
- Aufklärung Rußlands beitragen konnten, und kein Mensch hat ihm dafür
- gedankt; ich bin noch nie einem dankbaren Jüngling begegnet, der erklärt
- hätte, er schulde ihm Anerkennung für ein neues Licht, das er ihm
- aufgesteckt, oder für das edle Streben nach dem Guten, das sein Wort ihm
- eingepflanzt habe. Im Gegenteil, ich mußte ihn oft verteidigen und für
- die Reinheit seiner Absichten und für die Aufrichtigkeit seiner Worte
- gegenüber solchen Leuten eintreten, die ihn doch wohl hätten verstehen
- können. Ja, es wurde mir sogar schwer, jemand zu überzeugen, weil er es
- verstanden hat, sich so vor allen zu vermummen, daß es völlig unmöglich
- ist, ihn den Leuten in seiner wahren Gestalt vorzuführen. [Wenn er vom
- Patriotismus spricht, dann spricht er so über ihn, daß es den Anschein
- hat, als ob sein Patriotismus ein bezahlter Patriotismus sei; spricht er
- von der Liebe zum Zaren, einem Gefühl, das er warm und aufrichtig und
- wie ein Heiligtum in seiner Seele hegt, so äußert er sich so, daß man
- nichts wie Kriecherei und habsüchtige Liebedienerei herauszuhören meint.
- Seiner aufrichtigen ungekünstelten Empörung über jede Bestrebung, die
- Rußland schaden kann, leiht er einen Ausdruck, wie wenn er bestimmte
- Leute, die er allein kennt, denunzieren wollte. Mit einem Wort, auf
- Schritt und Tritt verleumdet er sich selbst.] Es ist eine große Gefahr
- für einen Schriftsteller, mit dem Wort Spott zu treiben: »Ein faules
- Wort gehe nie aus eurem Munde.« Wenn sich dies ohne Ausnahme auf jeden
- von uns bezieht, um wieviel mehr muß es für die gelten, deren Reich --
- das Wort ist und deren Bestimmung es ist, von allem Schönen und Hohen zu
- reden. Wehe, wenn mit faulen Worten von heiligen und erhabenen Dingen
- geredet wird; dann ist es schon besser, man redet mit faulen Worten von
- faulen Dingen. Alle großen Erzieher der Menschheit haben _denen_, die
- die Gabe des Wortes besaßen, in erster Linie ein langes Schweigen
- auferlegt und zwar gerade dann und in solchen Augenblicken, wo sich in
- ihnen der Wunsch am stärksten regte, mit Worten zu prunken, und wenn
- ihre Seele den Drang fühlte, den Menschen viel Gutes und Nützliches zu
- sagen; sie fühlten, wie leicht man schänden kann, was man erhöhen will,
- und wie unsere Zunge auf Schritt und Tritt zur Verräterin wird. »Leg'
- Tür und Riegel deinem Munde auf«, sagt Jesus Sirach: »Du verzäunest
- deine Güter mit Dornen; warum machst du nicht vielmehr deinem Munde Tür
- und Riegel? Du wägest dein Gold und Silber ein; warum wägest du nicht
- auch deine Worte auf der Goldwage?«
- 1844.
- V
- Über den öffentlichen Vortrag russischer Dichtungen
- An L**
- Ich freue mich, daß man bei uns endlich mit dem öffentlichen Vortrag der
- Dichtungen unserer russischen Schriftsteller begonnen hat. Man hat nur
- schon aus Moskau einiges hierüber geschrieben, dort soll man
- verschiedene Werke der modernen Literatur, darunter auch einige Stücke
- aus meinen Erzählungen, vorgetragen haben. Ich war immer der Ansicht,
- daß solche öffentlichen Vorlesungen eine Notwendigkeit für uns sind. Wie
- es scheint, neigen wir mehr zu gemeinsamem Tun, selbst beim Lesen; wenn
- wir allein sind, sind wir alle träge, und solange wir sehen, daß sich
- die andern nicht regen, regen auch wir uns nicht. Ich glaube, wir werden
- tüchtige Rezitatoren hervorbringen: bei uns gibt es nur wenig Schwätzer,
- die über die Macht der Rede verfügen und die sich in den Gerichtssälen
- und Parlamenten hervortun könnten, aber wir besitzen viele Leute, die
- die Fähigkeit haben, mit jedem andern zu _fühlen_. Eine Empfindung
- mitzuteilen, sie mit andern zu teilen, das wird bei manchen geradezu
- eine Leidenschaft, die um so stärker wird, je mehr sie merken, daß sie
- sich nicht in Worten auszudrücken vermögen (ein Zeichen ist eine
- ästhetische Natur). Auch unsere Sprache begünstigt die Ausbildung von
- Rezitatoren; sie ist wie geschaffen für den kunstvollen Vortrag, da sie
- über alle Klangnuancen verfügt und die kühnsten Übergänge vom Erhabenen
- zum Einfachen in ein und derselben Rede ermöglicht. Ich glaube sogar,
- daß die öffentlichen Vorlesungen bei uns mit der Zeit das Schauspiel
- ersetzen werden. Ich wünschte freilich, daß für diese Vorlesungen, wie
- sie heute veranstaltet werden, Werke ausgewählt würden, die es wirklich
- verdienen, öffentlich vorgetragen zu werden, so daß es auch den
- Rezitator nicht zu gereuen brauchte, Mühe und Arbeit auf die
- Vorbereitung zu verwenden. In unserer modernen Literatur aber gibt es
- nichts Derartiges, und es ist ja auch gar nicht nötig, daß durchaus
- etwas Modernes vorgetragen wird; das Publikum liest es ja doch ohnedies
- wegen seiner großen Vorliebe für alles Neue. Alle diese neuen
- Erzählungen (darunter auch meine eigenen) sind gar nicht bedeutend
- genug, als daß man sie öffentlich vortragen sollte. Wir sollten uns an
- unsere Poeten halten, an jene hohen Dichtwerke, die in ihrem Kopfe in
- langem Nachdenken und langer Arbeit ausreiften und an denen auch der
- Rezitator lange arbeiten sollte. Unsere Dichter sind heute im Publikum
- so gut wie unbekannt. Man hat in den Zeitschriften viel über sie
- geredet, sie ausführlich und unter Aufwand vieler Worte analysiert, aber
- diese Analysen waren eigentlich mehr eine Selbstcharakteristik der
- Verfasser als eine solche der Dichter. Die Zeitschriften haben damit nur
- das erreicht, daß sie die Begriffe, die unser Publikum von seinen
- Dichtern hatte, noch mehr verwirrt und durcheinandergebracht haben, so
- daß die Persönlichkeit jedes Dichters für unser Publikum zweideutig und
- widerspruchsvoll geworden ist und daß sich niemand mehr ein klares Bild
- davon macht, was eigentlich das wahre Wesen eines jeden Dichters ist.
- Nur ein kunstvoller Vortrag kann einen klaren Begriff von einem Dichter
- vermitteln. Aber natürlich sollte der Vortrag nur von einem Redner
- übernommen werden, der jede kleinste, verschwindende Nuance des Werks,
- das er vorliest, wiederzugeben vermag. Dazu braucht man kein feuriger
- Jüngling zu sein, der in der Siedehitze der Begeisterung und in einem
- Zug an einem und demselben Abend eine Tragödie, eine Komödie, eine Ode
- und wer weiß was sonst noch herunterzulesen imstande ist. Ein lyrisches
- Gedicht wie es sich gehört vorzutragen -- das ist durchaus keine
- Kleinigkeit: dazu muß man es erst lange durcharbeiten. Man muß das hohe
- Gefühl, das die Seele des Dichters erfüllte, aufrichtig mit ihm teilen;
- man muß jedes seiner Worte mit Herz und Seele nachempfinden und erst
- dann zum öffentlichen Vortrag schreiten. Solch ein Vortrag wird
- keineswegs laut und lärmend und nicht aus der Fieberglut geboren sein.
- Im Gegenteil, er kann sehr ruhig sein, aber die Stimme des Vortragenden
- wird eine unbegreifliche, nie geahnte Kraft ausströmen, die ein Zeugnis
- für seine echte innere Rührung ist. Diese Kraft wird sich allen
- mitteilen und Wunder wirken: auch die, die nie von den Lauten der Poesie
- ergriffen wurden, werden erschüttert werden. Der Vortrag unserer
- Dichtwerke kann der Öffentlichkeit sehr zum Nutzen gereichen. In unseren
- Dichtern gibt es viel Schönes, das nicht bloß gänzlich vergessen,
- sondern auch verunehrt, schlecht gemacht und dem Publikum in einem
- gemeinen niedrigen Sinne ausgelegt worden ist, an den unsere
- hochherzigen Dichter nicht im entferntesten gedacht haben. Ich weiß
- nicht, von wem der Gedanke stammt, den Ertrag der öffentlichen
- Vorlesungen den Armen zuzuwenden: dieser Gedanke ist jedenfalls sehr
- schön. Er kommt besonders heute gerade zur rechten Zeit, wo es in
- Rußland so viele Menschen gibt, die unter Hungersnot, Feuersbrünsten,
- Krankheiten und allerhand Mißgeschick zu leiden haben. Wie würden sich
- die Geister der Dichter, die nicht mehr unter uns weilen, freuen, wenn
- ein solcher Gebrauch von ihren Werken gemacht würde!
- 1843.
- VI
- Wie man den Armen helfen soll
- Aus einem Briefe an A. O. Sm--rn--wa.
- Ich komme nun zu Ihren Ausfällen gegen die Torheit der (Petersburger)
- Jugend, die auf die Idee verfallen ist, ausländischen Sängern und
- Schauspielerinnen goldene Kränze und Becher zu verehren, während in
- Rußland ganze Provinzen von der Hungersnot heimgesucht werden. Das ist
- weder Dummheit noch eine Verhärtung des Herzens, das ist nicht einmal
- Leichtsinn -- es ist eine Folge der menschlichen Gleichgültigkeit, die
- ein gemeinsamer Charakterzug von uns allen ist. Die Leiden und
- Schrecknisse, die eine Hungersnot mit sich bringt, spielen sich ja in
- einer großen Entfernung von uns ab, das geschieht tief im Innern der
- Provinz, und nicht vor unseren Augen -- da liegt des Rätsels Lösung, und
- das erklärt alles! Ein Mensch, der bereit ist, hundert Rubel für einen
- Parkettplatz im Theater zu bezahlen, um sich am Gesang eines Rubini zu
- erfreuen, würde sicherlich sein ganzes Hab und Gut verkaufen, wenn er
- zufällig Augenzeuge eines einzigen von jenen furchtbaren Bildern der
- Hungersnot sein müßte, vor denen alle Greuel und Schrecken, wie sie in
- Melodramen dargestellt werden, verblassen. Mit der Veranstaltung von
- Sammlungen hat es bei uns keine Schwierigkeit, wir sind alle bereit, zu
- geben. Aber gerade für die Armen ist man heute bei uns nicht allzugern
- bereit, etwas zu geben, teils, weil nicht jeder davon überzeugt ist, daß
- seine Gabe auch an ihr Ziel und in die Hände dessen gelangen wird, der
- sie erhalten soll. Meist gleicht die Hilfe einer Flüssigkeit, die man in
- der hohlen Hand trägt, und die unterwegs zerrinnt, ehe sie an ihren
- Bestimmungsort gelangt -- und der Notleidende bekommt nichts zu sehen,
- als die trockene Hand, in der nichts enthalten ist. Das ist's, was
- zuerst überlegt sein will, ehe man mit der Sammlung von Gaben beginnt.
- Hierüber wollen wir später miteinander reden, weil das durchaus keine
- unwichtige Sache ist, die es wohl wert ist, daß man sie in verständiger
- Weise bespricht. Nun aber wollen wir einmal gemeinsam überlegen, wo
- zuerst und vor allem geholfen werden muß. Man sollte in erster Linie
- solchen Leuten helfen, die von einem plötzlichen unerwarteten
- Unglücksfall betroffen wurden, durch den sie mit einem Schlage und in
- einem Augenblick um alles gekommen sind: es kann sich dabei um eine
- Feuersbrunst handeln, bei der das ganze Hab und Gut bis auf den Grund
- abgebrannt ist, oder um eine Seuche, der das ganze Vieh zum Opfer
- gefallen ist, oder um einen Todesfall, der einen Unglücklichen seiner
- einzigen Stütze beraubt hat -- mit einem Wort um jeden plötzlichen
- Verlust, in dessen Gefolge die Armut mit einem Male über einen Menschen
- hereinbricht, der gar nicht an sie gewöhnt ist. Da ist Ihre Hilfe am
- Platze. Dabei aber ist es nötig, daß diese Hilfe auch in wahrhaft
- christlicher Weise dargebracht werde: wenn sie bloß in einer
- Geldunterstützung besteht, dann hat sie gar keinen Wert und kann nichts
- Gutes wirken. Wenn Sie nicht zuvor selbst gründlich über die ganze Lage
- des Menschen nachgedacht haben, dem Sie helfen wollen, und keinen Rat
- und keine Unterweisung für ihn mitbringen, wie er von nun an sein Leben
- einrichten soll, so wird ihm nicht viel Vorteil aus Ihrer Hilfe
- erwachsen. Der Wert der Unterstützung, die einem Menschen erwiesen wird,
- kommt selten dem Wert des verlorenen Gutes gleich; im allgemeinen
- beträgt sie selten soviel wie die Hälfte dessen, was der Mensch verloren
- hat, oft dagegen nur ein Viertel und zuweilen sogar noch weniger. Der
- Russe ist überall zum äußersten fähig: wenn er erkennt, daß er mit dem
- wenigen Gelde, das er erhalten hat, nicht mehr das gleiche Leben führen
- kann, wie früher, ist er imstande, in seiner Verzweiflung alles auf
- einmal durchzubringen, was ihm gegeben wird, um ihm für längere Zeit
- einen Lebensunterhalt zu gewähren. Daher müssen Sie ihn belehren, wie er
- sich mit dem, was ihm durch Ihre Unterstützung zuteil wurde, aus seiner
- Lage heraushelfen kann; klären Sie ihn über die wahre Bedeutung des
- Unglücks auf, damit er einsieht, daß es ihm gesandt ward, auf daß er
- sein früheres Leben aufgebe und ein anderer werde, wie früher, gleichsam
- ein neuer Mensch in physischer wie in moralischer Beziehung. Sie werden
- ihm dies schon in kluger Weise darzulegen wissen, wenn Sie nur seinen
- Charakter und seine Lebensverhältnisse näher kennen lernen werden. Und
- er wird Sie verstehen: das Unglück macht den Menschen weicher; sein
- Wesen wird feiner, zartfühlender, er bekommt mehr Verständnis für Dinge,
- die die Begriffe eines Menschen übersteigen, der in alltäglichen
- gewöhnlichen Verhältnissen lebt; er verwandelt sich dann gleichsam in
- ein Stück warmen Wachses, das man kneten kann, wie man will. Am besten
- wäre es jedoch, wenn die Hilfe in allen Fällen durch die Vermittlung
- eines erfahrenen und klugen Priesters dargebracht würde. Nur ein
- Priester ist imstande, den Menschen über den tiefen heiligen Sinn eines
- Unglücks aufzuklären, das, in welcher Gestalt und Form es auch immer auf
- dieser Erdenwelt über einen Menschen hereinbricht, ob er nun in einer
- ärmlichen Hütte oder in prunkvollen Gemächern wohnt, stets eine Stimme
- aus dem Himmel ist, die den Menschen auffordert, sein früheres Leben
- aufzugeben und von Grund aus zu ändern.
- 1844.
- VII
- Über Schukowskis Übersetzung der Odyssee
- An W. M. Jasykow.
- Das Erscheinen der Odyssee wird eine Epoche heraufführen. Die Odyssee
- ist sicherlich die vollkommenste Dichtung aller Zeiten. Sie ist ein Werk
- von gewaltigem Umfang. Die Ilias ist ihr gegenüber nur eine Episode. Die
- Odyssee umfaßt die gesamte antike Welt, das öffentliche und das
- häusliche Leben, alle Sphären der Menschen jener Zeit mit ihren
- Beschäftigungen, ihrem Wissen und Glauben ... kurz, es ist beinahe
- schwer zu sagen, was die Odyssee nicht enthält oder was von ihr
- übergangen wäre. Während mehrerer Jahrhunderte ist sie den Dichtern der
- Antike und hierauf allen Dichtern überhaupt eine nie versiegende Quelle
- gewesen. Ihr entnahmen sie den Stoff für eine unzählige Menge von
- Tragödien und Komödien; und dies alles machte die Runde durch die Welt
- und wurde zum Gemeingut aller, während die Odyssee selbst vergessen
- wurde. Das Schicksal der Odyssee hat etwas Seltsames an sich: sie wurde
- in Europa nicht in ihrem wahren Werte erkannt. Daran ist teils der
- Umstand schuld, daß es an einer Übersetzung fehlte, die eine
- künstlerische Nachbildung des herrlichsten Werkes der Antike darstellte,
- teils der Mangel einer Sprache, die reich und vollkommen genug war, um
- all die unendlichen kaum faßbaren Schönheiten der hellenischen Zunge im
- allgemeinen und Homers im besonderen widerzuspiegeln; und endlich fehlte
- es auch an einem Volk, das mit einem so reinen jungfräulich unberührten
- Geschmack begabt gewesen wäre, wie er erforderlich ist, um einen Homer
- innerlich zu verstehen und nachzuempfinden.
- Gegenwärtig wird diese größte Dichtung in die reichste und vollkommenste
- aller europäischen Sprachen übersetzt.
- Schukowskis gesamte literarische Tätigkeit war gleichsam nur die
- Vorbereitung zu diesem Werk. Er mußte seine Verskunst an Übersetzungen
- von Dichtwerken aller Nationen und Sprachen schulen und ausbilden, um
- fähig zu werden, Homers unvergängliche Verse nachzubilden -- sein Ohr
- mußte der Leier aller Völker lauschen, um so feinhörig zu werden, daß
- ihm der Eigenton der hellenischen Laute nicht entgehen konnte; er mußte
- auch von dem glühenden Wunsche durchdrungen werden, alle seine
- Landsleute zu ästhetischem Nutz und Frommen ihrer Seele, zu solcher
- Liebe zu Homer zu zwingen, es mußte sich im Innern des Übersetzers
- selbst vieles ereignen, was seine Seele zu höherer Harmonie stimmte und
- ihr jene hohe Ruhe mitteilte, die dazu erforderlich ist, um ein Werk
- nachzudichten, das einer solchen ebenmäßigen Harmonie und Ruhe
- entsprungen ist, er mußte endlich auch noch in tieferem Sinn zum
- Christen werden, um sich jene weitblickende vertiefte Lebensanschauung
- anzueignen, wie sie nur ein Christ haben kann, der bereits begriffen
- hat, was der Sinn des Lebens ist. So viele Voraussetzungen mußten
- erfüllt werden, damit die Übersetzung der Odyssee nicht zu einer
- sklavischen Nachbildung werden, sondern damit uns aus ihr das _lebendige
- Wort_ entgegenklingen und ganz Rußland Homer als etwas Verwandtes und
- Vertrautes aufnehmen konnte.
- Dafür ist auch etwas wahrhaft Wunderbares zustande gekommen. Das ist
- keine Übersetzung, sondern eher eine Neuschöpfung, eine Restauration,
- eine Auferstehung Homers. Die Übersetzung scheint uns noch tiefer in das
- Leben der Alten einzuführen, als selbst das Original. Der Übersetzer ist
- gleichsam ganz unmerklich zum Kommentator Homers geworden, er hat sich
- gewissermaßen wie ein die Dinge verdeutlichendes Sehrohr vor den Leser
- gestellt, das alle unendlichen Schätze Homers noch klarer und bestimmter
- hervortreten läßt.
- Meiner Überzeugung nach haben sich heute die Verhältnisse wie mit
- Absicht so gestaltet, daß das Erscheinen der Odyssee in unserer Zeit
- geradezu zur Notwendigkeit werden mußte: in der Literatur wie überall
- sonst -- macht sich eine gewisse Kühle, ein Nachlassen des Interesses
- bemerkbar. Eine Müdigkeit hat die Menschen ergriffen, man begeistert
- sich nicht mehr und man ist nicht mehr enttäuscht. Selbst die
- krampfhaften und krankhaften Produkte unseres Zeitalters, mit ihrem
- Einschlag aller möglichen unverdauten Ideen, wie sie uns als Folge
- politischer und anderer Gärungen angeflogen sind, sind sehr im
- Niedergang begriffen, nur die ewig nachhinkenden Leser, die daran
- gewöhnt sind, sich an die Schleppe der führenden Journalisten zu hängen,
- lesen noch hin und wieder etwas Derartiges, ohne in ihrer Einfalt zu
- bemerken, daß die vorangehenden Leithämmel schon längst sinnend und
- nachdenklich stehen geblieben sind, da sie selbst nicht wissen, wohin
- sie ihre umherirrenden Herden führen sollen. Mit einem Wort, jetzt ist
- eine Zeit gekommen, wo das Erscheinen eines edlen, in all seinen Teilen
- formvollendeten Werks, das das Leben mit einer wunderbaren Deutlichkeit
- und Klarheit widerspiegelt und von dem eine hohe Ruhe und der Hauch
- einer geradezu kindlichen Einfalt ausgeht, von unendlicher Bedeutung
- sein kann.
- Von der Odyssee wird eine große Wirkung _auf uns alle_ und _auf jeden
- einzelnen von uns_ ausgehen.
- Sehen wir einmal zu, was für eine Wirkung sie auf _uns alle_ ausüben
- kann. Die Odyssee ist das Werk, das alle notwendigen Voraussetzungen
- dafür enthält, ein Buch zu werden, das allgemein und vom ganzen Volke
- gelesen wird. Sie vereint in sich die Spannung, die von einem Märchen
- ausgeht, und die schlichte Wahrheit menschlicher Erlebnisse, die auf
- jeden Menschen, er mag sein, wer er will, den gleichen Reiz ausüben.
- Edelleute und Bürger, Kaufleute, Gebildete wie Ungebildete, einfache
- Soldaten, Bediente, Kinder beiderlei Geschlechts, von jener Altersstufe
- an, wo die Kinder Freude an Märchen zu bekommen pflegen -- sie alle
- werden sie lesen und ihr lauschen, ohne sich zu langweilen -- ein
- Umstand von ungeheurer Wichtigkeit, besonders wenn man bedenkt, daß die
- Odyssee zugleich ein wahrhaft moralisches Werk ist und daß der alte
- Dichter sie nur deshalb gedichtet hat, weil er die Handlungen der
- damaligen Menschen und ihre Gesetze in lebendigen Bildern darstellen
- wollte.
- Im griechischen Polytheismus liegt nichts Verführerisches für unser
- Volk. Unser Volk ist klug, es weiß sich selbst solche Dinge, die die
- gescheitesten Leute in Verlegenheit bringen, ohne viel Kopfzerbrechen zu
- deuten und zu erklären. Es wird aus alledem nur dies eine entnehmen: wie
- schwer es für den Menschen ist, allein und ohne Hilfe von Propheten und
- höherer Offenbarungen zu einer wahrhaften Erkenntnis Gottes zu gelangen,
- welch unsinnige Vorstellungen und Bilder er sich von Seinem wahren Wesen
- macht, wenn er die Einheit und die eine Allkraft in eine Vielheit von
- Kräften und Formen zerspaltet. Es wird nicht einmal über die alten
- Heiden lachen, weil es sie für gänzlich unschuldig halten wird: zu ihnen
- sprachen keine Propheten, Christus war noch nicht geboren, Apostel gab
- es damals noch nicht. Nein, das Volk wird sich eher den Kopf kratzen
- beim Gedanken, daß es mit geringerem Eifer zu Gott betet und seine
- Pflicht und Schuldigkeit schlechter erfüllt, als die alten Heiden,
- obwohl es den wahren Gott in Seiner wirklichen Gestalt kennt, obwohl es
- Sein geschriebenes Gesetz stets in Händen hat und in seinen Beichtvätern
- Lehrer und Berater hat, die ihm das Gesetz auslegen. Das Volk wird
- verstehen, warum der Höchste auch dem Heiden um seines guten
- Lebenswandels und seines inbrünstigen Gebets willen Seinen Beistand
- lieh, trotzdem er Ihn aus Unwissenheit in der Gestalt eines Poseidon,
- Kronion, Hephaistos, Helios, Kypris und der ganzen Schar von Göttern,
- die die lebhafte Phantasie der Griechen ersonnen hat, anbetete und zu
- ihnen flehte. Mit einem Wort, das Volk wird den Polytheismus beiseite
- lassen und sich nur das aus der Odyssee aneignen, was es sich daraus
- aneignen soll, d. h. das, was allen deutlich sichtbar ist, was den Geist
- ihres Inhalts bildet und den eigentlichen Zweck ausmacht, um
- dessentwillen die Odyssee geschrieben ist; er wird daraus die Lehre
- ziehen, daß dem Menschen überall und auf jedem Gebiet viel Unglück
- bevorsteht, daß er dagegen ankämpfen muß -- denn nur dazu ward dem
- Menschen das Leben gegeben -- daß er niemals verzagen darf, wie Odysseus
- nie verzweifelte, der sich in schweren Stunden der Not stets an sein
- Herz wandte, ohne zu ahnen, daß er schon durch diese Wendung an sein
- eigenes inneres Ich jenes innere an Gott gerichtete Gebet erschuf, das
- sich jedem Menschen, auch dem, der nicht einmal einen Begriff von Gott
- hat, auf die Lippen drängt. Das ist das _Allgemeine_, der lebendige
- Geist ihres Inhalts, durch den die Odyssee einen Eindruck auf alle
- machen muß, noch ehe sie entzückt und ergriffen sein werden von ihren
- dichterischen Vorzügen: der Wahrheit der Bilder und der Lebendigkeit der
- Schilderungen; noch ehe andre bewundernd staunen werden über die antiken
- Schätze, die sich hier vor ihnen auftun und die in all diesen
- Einzelheiten weder von der Skulptur, noch von der Malerei, noch von den
- antiken Denkmälern im allgemeinen festgehalten wurden; noch ehe wieder
- andre verwundert dastehen werden über die unglaubliche Kenntnis aller
- Windungen und Falten der menschlichen Herzen, die alle offen dalagen vor
- dem blinden Sänger, der alles sah; noch ehe wiederum andre staunen
- werden über den tiefen staatsmännischen Blick, die große Beherrschung
- der schweren Kunst der Menschenleitung und -regierung, die der göttliche
- Alte gleichfalls besaß, er, der ein Gesetzgeber seines eigenen und der
- kommenden Geschlechter war -- mit einem Wort, noch ehe sich jemand je
- nach seinem Beruf, Handwerk, seiner Beschäftigung, seinen Neigungen,
- Liebhabereien und seiner persönlichen Eigenart für irgendeine Einzelheit
- in der Odyssee begeistern wird. Und dies alles nur daher, weil sich
- dieser Geist ihres Inhalts, dieses ihr inneres Wesen einem jeden mit so
- greifbarer Deutlichkeit aufdrängt, wie es in keinem andern Werk mit
- ähnlicher Kraft zum Ausdruck kommt, alles durchdringend und alles
- beherrschend, besonders wenn wir noch darauf achten, wie lebendig, wie
- farbig alle Episoden sind, deren jede beinahe die Grundidee zu
- überstrahlen, in den Hintergrund zu drängen imstande ist.
- Warum aber müssen das alle so deutlich empfinden? Darum, weil es dem
- alten Dichter so tief aus der Seele dringt. Man sieht förmlich auf
- Schritt und Tritt, wie er das, was er für alle Zeiten im Menschen
- befestigen und sichern wollte, mit der ganzen bestrickenden Schönheit
- der Poesie zu umkleiden suchte; wie er danach strebte, was an den
- Volkssitten gut und lobenswert war, zu erhalten und zu kräftigen, wie er
- bemüht war, den Menschen an das Beste und Heiligste zu mahnen, was in
- ihm liegt, und was er jeden Augenblick vergessen kann -- in jedem seiner
- Helden den Menschen ein Muster und Beispiel für jeden Beruf und Stand zu
- hinterlassen und allen zusammen in seinem unermüdlichen Odysseus ein
- ewiges Musterbild allgemeinmenschlicher Tätigkeit aufzustellen.
- Diese strenge Achtung der Sitten, diese tiefe Ehrfurcht vor der
- Obrigkeit und den Regierenden, trotz der begrenzten und noch wenig
- entwickelten Regierungsgewalt, diese jungfräuliche Schamhaftigkeit der
- Jünglinge, diese Güte und diese Milde der Greise, diese herzliche
- Gastfreundschaft, dieser Respekt, man möchte fast sagen, diese Ehrfurcht
- vor dem Menschen, als dem Ebenbilde Gottes, dieser Glaube, daß kein
- guter Gedanke im Hirne der Menschen entspringt, ohne den souveränen
- Willen eines höheren Wesens, daß der Mensch aus eigener Kraft nichts zu
- erreichen vermag -- kurz alles, jeder kleinste Zug in der Odyssee kündet
- von dem inneren Wunsche dieses Dichters aller Dichter, dem Menschen der
- alten Welt ein lebendiges und vollständiges Gesetzbuch zu hinterlassen,
- zu einer Zeit, als es noch weder Gesetzgeber noch Stifter von
- Rechtsordnungen gab, als noch die Beziehungen unter den Menschen durch
- keine geschriebenen Bestimmungen oder bürgerlichen Rechte geregelt
- waren, als die Menschen noch sehr vieles nicht wußten, ja nicht einmal
- ahnten und als allein der göttliche Greis alles sah, hörte, erkannte und
- ahnte -- ein blinder Mann, der der Sehkraft beraubt, die allen Menschen
- eigen ist, und nur bewaffnet war mit jenem inneren Auge, das die
- Menschen nicht besitzen.
- Wie kunstvoll ist doch die Arbeit langjähriger Überlegungen unter der
- Schlichtheit eines treuherzigen Berichtes versteckt! Es ist fast, als
- hätte er alle Menschen zu einer Familie versammelt und säße nun mitten
- unter ihnen, wie der Großvater unter seinen Enkeln, der gelegentlich
- selbst dazu bereit ist, mit ihnen zu spielen und Mutwillen zu treiben,
- und als trage er nun treuherzig seine Erzählung vor, nur darum besorgt,
- niemand zu ermüden oder durch unangebrachte und allzu lange Belehrungen
- zu erschrecken, sondern ihn unsichtbar auf Windesflügeln durch die ganze
- Welt zu tragen, auf daß sich alle spielend aneignen, was dem Menschen
- durchaus nicht zu Spiel und Scherz gegeben ward, und auf daß sie
- unmerklich davon kosteten und sich davon erfüllten, was er während
- seines Jahrhunderts und zu seiner Zeit an Schönstem und Bestem gesehen
- und erfahren hat. Man könnte das Ganze beinahe für eine ohne jede
- Vorbereitung dahinfließende Erzählung halten, wenn sich einem nicht
- nachträglich, nach einer aufmerksamen Analyse die wunderbare Kunst des
- Baus -- des Ganzen sowohl wie die jedes Gesanges im einzelnen enthüllte.
- Wie dumm sind doch die superklugen deutschen Gelehrten, die den Gedanken
- aufgebracht haben, Homer sei ein Mythos und all seine Werke seien
- Volksgesänge und Rhapsodien.
- Doch sehen wir nun einmal zu, was für eine Wirkung die Odyssee auf
- _jeden einzelnen von uns_ ausüben kann. Zunächst wird sie auf unsere
- Schriftstellerzunft, auf unsere Autoren wirken. Sie wird viele dem
- Lichte zurückgeben, nachdem sie sie wie ein gewandter Lotse durch den
- Nebel und die Verwirrung hindurchgesteuert hat, die durch unsere
- zerfahrene und unausgegorene Schriftstellergeneration heraufbeschworen
- wurde. Sie wird uns alle wieder daran erinnern, mit welch naiver
- ungekünstelter Schlichtheit die Natur reproduziert, wie jeder Gedanke
- bei uns zu einer geradezu greifbaren Klarheit gebracht werden, in welch
- ruhigem Gleichmaß unsere Rede dahinfließen muß. Sie wird allen unseren
- Schriftstellern wieder jene alte Wahrheit näher bringen, die wir unser
- ganzes Leben lang im Auge behalten sollten und die wir doch immer wieder
- vergessen: daß wir nämlich nicht eher zur Feder greifen sollten, als bis
- sich in unserem Kopfe alles zu der Klarheit und Ordnung gestaltet hat,
- daß selbst ein Kind imstande wäre, alles zu verstehen und in seinem
- Gedächtnis aufzubewahren. Aber eine noch stärkere Wirkung als auf die
- Schriftsteller wird die Odyssee auf die ausüben, die sich erst auf die
- Schriftstellerlaufbahn vorbereiten, und die, ob sie nun auf dem
- Gymnasium sind oder auf der Universität studieren, ihr künftiges
- Arbeitsfeld noch unklar und wie im Nebel vor sich sehen: diese kann die
- Odyssee von Anfang an auf den rechten Weg weisen und sie vor einem
- unnötigen Herumirren in krummen winkligen Gassen bewahren, in denen sich
- ihre Vorgänger zur Genüge umhergetrieben haben.
- Ferner wird die Odyssee auch einen Einfluß auf den Geschmack und die
- Entwicklung des ästhetischen Gefühls ausüben. Sie wird einen frischen
- Zug in die Kritik hineintragen. Unserer Kritik hat sich eine gewisse
- Müdigkeit bemächtigt, sie hat in der Analyse der problematischen Werke
- unserer neuesten Literatur Ziel und Richtung verloren, sie hat sich in
- ihrer Verzweiflung auf Seitenwege verirrt, läßt die literarischen
- Probleme ganz beiseite und produziert nur noch ganz törichtes Zeug. Das
- Erscheinen der Odyssee aber kann vielleicht viele wirklich gute und
- tüchtige Kritiken hervorrufen, um so mehr, als es wohl auf der Welt kaum
- ein zweites Werk gibt, das sich von so vielen Seiten aus betrachten
- läßt, wie die Odyssee. Ich bin überzeugt, daß die Diskussionen, die
- Untersuchungen, die Betrachtungen und Erörterungen, die Bemerkungen und
- Gedanken, zu denen sie Veranlassung geben wird, unsere Zeitschriften
- mehrere Jahre lang beschäftigen werden. Diese Leser werden nur Vorteil
- davon haben: die Kritiken werden nicht mehr so hohl und nichtssagend
- sein. Um eine solche Kritik zu schreiben, muß man viel lesen, sich über
- vieles neu orientieren, viel erlebt und über vieles nachgedacht haben;
- ein hohler und oberflächlicher Kopf wird über die Odyssee kaum etwas zu
- sagen wissen.
- Drittens kann die Odyssee in dem russischen Gewande, das ihr Schukowski
- gegeben hat, viel zur Reinigung unserer Sprache beitragen. Bei keinem
- unserer Schriftsteller, in keinem der früheren Werke Schukowskis, ja
- nicht einmal bei Puschkin und Krylow, die häufig im Ausdruck, in ihren
- Wendungen noch schärfer und genauer sind, als jener, hat die russische
- Sprache einen solchen Reichtum, eine solche Vollkommenheit erreicht.
- Hier finden sich alle ihre Wendungen und Nuancen in sämtlichen
- Variationen und Abstufungen. Diese ungeheuren unendlichen Perioden, die
- bei jedem andern matt und dunkel wirken würden, und andererseits
- wiederum die knappen kurzen Perioden, die bei andern hart und abgerissen
- klingen und der Rede etwas Herbes, Gefühlloses verleihen würden, stehen
- bei Schukowski so brüderlich zusammen, alle Übergänge und der
- Zusammenstoß der Gegensätze vollziehen sich mit einem solchen Wohllaut,
- alles fließt so in eins zusammen und läßt die schwerfällige Masse des
- Ganzen sich so zerteilen und verschwinden, daß man den Eindruck hat, als
- hätten der Bau und das Gefüge der Sprache sich überhaupt verflüchtigt;
- sie scheinen nicht mehr vorhanden zu sein, so wie auch der Übersetzer
- völlig verschwindet. Statt seiner aber steht der greise Homer in seiner
- ganzen majestätischen Größe vor unseren Augen, und wir hören die hehren,
- gewaltigen, ewigen Worte, die nicht dem Munde eines Menschen entstammen,
- sondern deren Bestimmung es ist, -- ewig durch die Welt zu tönen. Jetzt
- werden unsere Schriftsteller erkennen, mit welch kluger Vorsicht jedes
- Wort und jeder Ausdruck verwendet sein will, wie man jedem schlichten
- Wort seine hohe Würde wiedergeben kann durch die Kunst, ihm seinen
- richtigen Platz anzuweisen, und was für ein solches Werk, dessen
- Bestimmung es ist, in den Händen aller zu sein und von allen genossen zu
- werden -- das ein geniales Werk ist, diese äußere Wohlgestalt und dieser
- äußere Anstand, diese Durchbildung und Abrundung des Ganzen bedeuten:
- hier fällt jedes kleinste Staubkörnchen ins Auge und wird von jedem
- bemerkt. Schukowski vergleicht diese Staubkörnchen sehr richtig mit
- Papierschnitzeln, die in einem herrlich ausgeschmückten Prunkgemach
- herumliegen, wo von der Decke herab bis zum Parkett alles glänzt und
- strahlt wie ein Spiegel: jeder Eintretende wird zuallererst diese
- Papierschnitzel bemerken, und zwar aus demselben Grunde, aus dem er sie
- in einem unsauberen unaufgeräumten Zimmer überhaupt nicht entdecken
- würde.
- Viertens wird die Odyssee sowohl die Wißbegierde derer, die sich mit der
- Wissenschaft beschäftigen, wie auch derer, die keine Wissenschaft
- studiert haben, befruchten, indem sie uns eine lebendige Kenntnis der
- antiken Welt vermitteln wird. In keinem Geschichtswerk kann man das
- finden, was man aus ihr schöpfen kann; von ihr geht ein lebendiger Hauch
- der Vergangenheit aus; der antike Mensch steht lebendig vor unseren
- Augen, als hätten wir ihn erst gestern gesehen und mit ihm gesprochen.
- Man sieht ihn förmlich vor sich in seinem ganzen Tun und Treiben und zu
- allen Tageszeiten: wie er sich andächtig zum Opfer vorbereitet, wie er
- beim Becher ehrsam mit dem Gastfreund spricht, wie er sich ankleidet,
- wie er auf den Platz hinaustritt, wie er den Reden der Greise lauscht
- und die Jünglinge belehrt; sein Haus, sein Wagen, sein Schlafgemach, das
- kleinste Möbelstück im Hause, von den Tischen, die hereingetragen
- werden, bis zum Riemenriegel an der Tür -- alles steht noch frischer und
- lebendiger vor unseren Augen, als in dem ausgegrabenen Pompeji.
- Und endlich bin ich sogar der Ansicht, daß von dem Erscheinen der
- Odyssee eine Wirkung auf den heutigen Geist unserer Gesellschaft im
- allgemeinen ausgehen wird. Gerade in unserer Zeit, wo durch den
- geheimnisvollen Willen der Vorsehung überall ein schmerzlicher Schrei
- der Unbefriedigung durch die Welt geht, ein Schrei der Unzufriedenheit
- mit allem, was es auf der Welt gibt, mit den Zuständen, mit der Zeit,
- wie mit uns selbst, wo allen endlich die Vollkommenheit, bis zu der uns
- unser moderner bürgerlicher Geist und die Aufklärung emporgehoben haben,
- verdächtig zu werden beginnt, wo sich bei jedem ein unbewußtes Sehnen
- fühlbar macht, etwas anderes zu sein, als das, was man ist, ein Sehnen,
- das vielleicht aus der edlen Quelle, dem Wunsche, besser zu sein,
- entspringt; wo durch die törichten Losungen und durch die übereilte
- Verkündigung neuer ganz unklar erfaßter Ideen hindurch sich ein
- allgemeines Streben Bahn bricht, sich mehr einer dunkel ersehnten Mitte
- zu nähern, das wahre Gesetz unseres Handelns, sowohl das der Massen, wie
- das jedes einzelnen zu finden, in einer solchen Zeit muß die Odyssee
- durch die patriarchalische Größe des antiken Lebens, durch die
- unkomplizierte Einfachheit der das öffentliche Leben bewegenden
- Triebfedern, durch die Frische des Lebens, durch die noch durch nichts
- abgestumpfte kindliche Heiterkeit des Menschen, ergreifen. Aus der
- Odyssee wird unserem neunzehnten Jahrhundert ein starker Vorwurf
- entgegentönen, und dieser Vorwurf wird nicht verstummen, je tiefer es in
- sie eindringen und je mehr es sich mit ihr vertraut machen wird.
- Was kann zum Beispiel einen stärkeren Eindruck machen, als der Vorwurf,
- den wir in unserer Seele vernehmen, wenn wir sehen, wie der antike
- Mensch, mit seinen geringen Werkzeugen, bei der großen Unvollkommenheit
- seiner Religion, die ihm sogar erlaubte, zu stehlen, Rache zu üben,
- seine Zuflucht zu List und Tücke zu nehmen, um den Feind zu vernichten,
- mit seiner rebellischen, harten, nicht zum Gehorsam neigenden Natur und
- seinen schwachen Gesetzen es verstanden hat, durch die bloße Erfüllung
- der von den Vorfahren ererbten Sitten und Gebräuche -- die nicht umsonst
- von den alten Weisen eingeführt und festgesetzt worden waren, und die
- nun auf ihr Gebot wie ein Heiligtum vom Vater auf den Sohn vererbt
- wurden, -- wenn wir sehen, wie der Mensch der alten Zeit es verstanden
- hat, durch bloße Erfüllung dieser Sitten seinen Handlungen eine gewisse
- strenge Form, ein gewisses Ebenmaß, ja sogar eine gewisse Schönheit zu
- verleihen, so daß alles an ihm vom Kopf bis zu der Zehe, jedes seiner
- Worte, die einfachste Bewegung, ja selbst der Faltenwurf seines Gewandes
- Größe und Würde atmete, und daß man in ihm wirklich den göttlichen
- Ursprung des Menschen zu ahnen glaubt? Wir dagegen, mit all unseren
- gewaltigen Mitteln und Werkzeugen der Vervollkommnung, mit der Erfahrung
- aller Jahrhunderte, mit unserer schmiegsamen, gelehrigen Natur, mit
- unserer Religion, die uns doch nur zu dem Zweck gegeben ward, damit wir
- heilige und göttliche Menschen werden -- wir haben es mit all diesen
- Mitteln zu nichts gebracht, als zu einer gewissen inneren, wie äußeren
- Unordnung, Disharmonie und Zerfahrenheit, wir wußten nichts aus uns zu
- machen, als traurige, halbe, zerstückelte und kleinliche Menschen, vom
- Kopf bis zu den Füßen, ja bis zu unserer Kleidung, und zu alledem sind
- wir uns gegenseitig so zuwider geworden, daß keiner den andern mehr
- achtet; nicht einmal die tun es, die immer von der allgemeinen
- Menschenachtung reden.
- Mit einem Wort, die Odyssee wird auf die an ihrer europäischen
- Vollkommenheit Leidenden und Krankenden eine starke Wirkung ausüben. Sie
- wird sie an vieles Kindlich-Schöne erinnern, das uns leider verloren
- gegangen ist, das die Menschheit sich jedoch wiedererobern muß, als ihr
- rechtmäßiges Erbe. Viele werden zum Nachdenken über manche Dinge
- angeregt werden. Zugleich aber wird vieles aus den alten
- patriarchalischen Zeiten, die dem russischen Wesen so nah verwandt sind,
- sich unsichtbar über das russische Land verbreiten. Der Wohlgeruch
- atmende Mund der Poesie vermag unserer Seele manches einzuhauchen, was
- ihr weder mit Gewalt, noch durch die Kraft des Gesetzes eingepflanzt
- werden kann.
- VIII
- Einige Worte über unsere Kirche und unsere Geistlichkeit.
- Aus einem Brief an den Grafen A. P. T.
- Sie beunruhigen sich unnötigerweise wegen der Angriffe, die heute in
- Europa gegen unsere Kirche gerichtet werden. Auch unsere Geistlichkeit
- der Gleichgültigkeit anzuklagen, wäre eine Ungerechtigkeit. Warum wollen
- Sie, daß unsere Geistlichkeit, die sich bisher durch eine würdige
- überlegene Ruhe ausgezeichnet hat, die ihr so wohl anstand, sich unter
- die europäischen Schreier mischen und gleich ihnen oberflächliche,
- ungenügend durchdachte Broschüren erscheinen lassen soll? Unsere Kirche
- hat sehr weise und klug gehandelt. Um sie zu verteidigen, muß man sie
- erst selbst kennen gelernt und begriffen haben. Wir aber kennen unsere
- Kirche sehr schlecht. Unsere Geistlichkeit sitzt nicht müßig da. Ich
- weiß genau, daß im Innern unserer Klöster und in der Stille unserer
- Klosterzellen an unwiderleglichen Werken zum Schutz und zur Verteidigung
- unserer Kirche gearbeitet wird. Und diese Männer, gerade diese Männer
- tun ihre Pflicht und Schuldigkeit weit besser, als wir; sie beeilen sich
- nicht, und arbeiten in der Erkenntnis dessen, was ein solcher Gegenstand
- erfordert, in tiefer Ruhe an ihrem Werk. Sie schaffen in ständigem Gebet
- und in der Arbeit der Selbsterziehung; indem sie alle Leidenschaften und
- alles, was einer unstatthaften, sinnlosen Fieberhitze gleichsieht, aus
- ihrer Seele austreiben und sie bis zu der Höhe himmlischer
- Leidenschaftslosigkeit zu erheben suchen, auf der sie sich erhalten muß,
- wenn sie stark genug sein will, um einen solchen Gegenstand zu
- behandeln. Aber auch diese Verteidigungsschriften werden noch nicht
- genügen, um einen römischen Katholiken vollständig zu überzeugen. Unsere
- Kirche muß in uns selbst geheiligt werden und nicht durch unsere Worte.
- Wir selbst müssen unsere Kirche werden und durch uns muß ihre Wahrheit
- verkündigt werden. Man sagt, daß es unserer Kirche an Lebenskraft fehlt,
- aber man spricht die Unwahrheit, denn unsere Kirche ist das Leben.
- Freilich ist man ganz logisch und durch einen richtigen Schluß zu diesem
- falschen Satz gelangt: -- Wir selbst nämlich sind tot, sind Leichen, und
- nicht die Kirche, und nach _uns_ nennt man unsere Kirche einen Leichnam.
- Wie sollen wir unsere Kirche verteidigen und was für eine Antwort sollen
- wir geben, wenn man uns vor folgende Fragen stellt: »Hat die Kirche euch
- denn zu besseren Menschen gemacht? Tut denn jeder bei euch, wie es sich
- gehört, seine Pflicht und Schuldigkeit?« Was sollen wir hierauf
- antworten, wenn wir es plötzlich tief im Innern fühlen, wenn das
- Gewissen es uns sagt, daß wir die ganze Zeit über neben unserer Kirche
- hergewandelt, an ihr vorübergegangen sind und sie nicht einmal jetzt
- ordentlich kennen? Wir sind im Besitze eines Schatzes von unendlichem
- Wert und bemühen uns nicht, uns ein Gefühl dafür zu verschaffen, sondern
- wissen nicht einmal, wo wir ihn verwahrt halten. Man bittet den Herrn
- des Hauses, er möge doch den kostbarsten Gegenstand vorzeigen, den sein
- Haus birgt, und der Herr weiß selbst nicht, wo dieser Gegenstand sich
- befindet. Diese Kirche, die sich seit den Zeiten der Apostel allein in
- ihrer unberührten ursprünglichen Reinheit erhalten hat, wie eine keusche
- Jungfrau, diese Kirche, die mit all ihren tiefen Lehren und ihren
- kleinsten äußeren Zeremonien gleichsam unmittelbar um des russischen
- Volkes willen vom Himmel herabgestiegen ist, sie, die allein fähig ist,
- alle Zweifelsknoten und alle unsere Fragen zu lösen, sie, die angesichts
- des ganzen Europa das größte und unerhörteste Wunder zu vollbringen
- vermag, indem sie jeden unserer Stände, alle Ämter und Berufe
- veranlassen kann, sich in den ihnen gesetzten Grenzen zu halten, ohne
- den Staat in irgendeiner Weise umzuwälzen oder zu erschüttern, Rußland
- groß und stark zu machen und die ganze Welt durch die wohlgefügte
- harmonische Ordnung eines Organismus in Staunen zu setzen, durch den es
- bisher nur Schrecken verbreitete, -- diese Kirche ist uns bisher ganz
- unbekannt! Diese für das Leben geschaffene Kirche haben wir noch immer
- nicht in unserem Leben zur Wahrheit gemacht.
- Nein, Gott bewahre uns davor, unsere Kirche jetzt verteidigen zu wollen.
- Das hieße sie herabsetzen. Für uns gibt es nur eine Art der Propaganda
- -- unser Leben selbst. Durch unser Leben müssen wir unsere Kirche
- verteidigen, die durchaus nichts anderes ist, als _Leben_, durch den
- reinen Atem unserer Seelen müssen wir ihre Wahrheit verkünden. Mögen die
- Missionäre des römischen Katholizismus sich an die Brust schlagen, mit
- den Händen fuchteln und die Beredsamkeit ihrer Seufzer und Worte mit
- schnell trocknenden Tränen begleiten. Der Verkünder des griechischen
- Katholizismus aber soll so vor das Volk treten, daß schon beim bloßen
- Anblick seiner demutsvollen Gestalt, der erloschenen Augen und der
- ruhigen ergreifenden Stimme, die tief aus der Seele dringt und in der
- alle weltlichen Wünsche erstorben sind, alles erschüttert wird, noch ehe
- er erklärt hat, worum es sich handelt, und alles wie aus einem Munde zu
- ihm spricht: »Du brauchst nichts zu sagen: wir vernehmen, auch ohne daß
- du ein Wort redest, die heilige Wahrheit deiner Kirche.«
- IX
- Über denselben Gegenstand
- Aus einem Briefe an den Grafen A. P. T.
- Die Ansicht, daß unsere Kirche bei uns so wenig Autorität und Bedeutung
- hat, weil unsere Geistlichkeit nicht weltgewandt genug ist und es nicht
- versteht, sich in der Gesellschaft zu bewegen, ist genau so töricht, wie
- die Behauptung, unsere Geistlichkeit werde durch die Satzungen unserer
- Kirche an jeder Berührung mit dem Leben gehindert und durch die
- Regierung in ihrem Handeln beschränkt. Freilich sind unserer
- Geistlichkeit bei ihrem Verkehr mit der Welt und mit den Menschen
- strenge und wohlberechtigte Schranken gezogen. Glauben Sie mir, es wäre
- nicht gut, wenn unsere Geistlichen häufiger mit uns zusammenkämen, an
- unseren täglichen Zusammenkünften und Vergnügungen teilnähmen oder sich
- in unsere Familienangelegenheiten mischen würden. Der Geistliche ist
- vielen Versuchungen ausgesetzt, in weit höherem Maße als wir: er würde
- sicher zu all jenen Intrigen im Schoße der Familien kommen, die man
- den römisch-katholischen Priestern zum Vorwurf macht. Die
- römisch-katholischen Geistlichen sind gerade deshalb so verderbt und
- korrumpiert, weil sie zu weltlich geworden sind. Unsere Geistlichkeit
- hat zwei Gebiete, auf denen sie sich betätigen kann und auf denen sie
- mit uns zusammentrifft: die Beichte und die Predigt. Auf diesen beiden
- Gebieten, auf deren erstem sich nur ein- bis zweimal jährlich
- Gelegenheit zur Betätigung bietet, während man sich auf dem zweiten
- jeden Sonntag treffen kann, läßt sich sehr viel leisten. Und wenn der
- Priester es nur verstände, angesichts des vielen Häßlichen und Bösen,
- das er im Menschen findet, bis zum richtigen Zeitpunkt zu schweigen und
- sich's gründlich zu überlegen, wie er sich ausdrücken, wie er so zu den
- Menschen reden solle, daß jedes seiner Worte ihnen tief zu Herzen
- dringt, so wird er bei der Beichte und in der Predigt so starke mächtige
- Worte dafür finden, wie ihm dies in seinen täglichen Unterhaltungen mit
- uns nie gelingen würde. Er muß von einem erhöhten Platz zu dem mitten im
- Weltgetriebe stehenden Menschen reden, damit der Mensch den Eindruck
- gewinne, daß nicht ein Priester vor ihm stehe, sondern Gott selbst, der
- sie alle beide hört, und daß von Seiner unsichtbaren Gegenwart ein Hauch
- ausgeht, der beide mit ehrfürchtigem Schaudern erfüllt. Nein, es ist
- sogar gut, daß unsere Geistlichkeit sich in einer gewissen Entfernung
- von uns hält. Es ist gut, daß sie sich sogar durch ihre Kleidung, die
- keinerlei Wandlungen und Launen unserer törichten Mode unterworfen ist,
- von uns unterscheidet. Diese Kleidung ist schön, groß und würdig. Das
- ist kein sinnloses, aus dem achtzehnten Jahrhundert übernommenes Rokoko,
- das ist nicht die aus buntem Flitter zusammengesetzte, nichtssagende
- Kleidung der römisch-katholischen Priester. Diese Kleidung hat einen
- tiefen Sinn: sie ist ein Abbild, sie gleicht jener Kleidung, die der
- _Heiland selbst_ getragen hat. Der Geistliche soll auch in seiner
- Kleidung ein ewiges Erinnerungszeichen an _Den_ mit sich führen, dessen
- Abbild er für uns sein soll, damit seine Seele sich auch nicht für einen
- Augenblick vergessen und in den Genüssen, Zerstreuungen und den
- nichtigen weltlichen Sorgen verlieren kann, denn von ihm wird tausendmal
- strengere Rechenschaft gefordert werden, als von irgendeinem unter uns;
- daher sollen die Geistlichen immer daran erinnert werden, daß sie
- gleichsam andre, höhere Menschen sind. Nein, solange der Priester noch
- jung ist, solange er das Leben noch nicht kennt, soll er überhaupt nur
- bei der Beichte und bei der Predigt mit den Menschen zusammentreffen.
- Und wenn er sich schon einmal in eine Unterhaltung mit einem von ihnen
- einläßt, so sollen dies nur die Weisesten und Erfahrensten unter ihnen
- sein, die ihn die Seele und das Herz des Menschen kennen lehren, und die
- ihm das Leben in seiner wahren Gestalt und in seinem wahren Lichte und
- nicht in dem Lichte, in dem es einem unerfahrenen Menschen erscheint,
- darstellen können. Der Priester muß auch Zeit für sich selbst haben, er
- muß an sich selbst arbeiten können. Er muß sich ein Beispiel an unserem
- Heiland nehmen, der lange Zeit in der Wüste weilte und erst, nachdem er
- sich durch ein vierzigtägiges Fasten darauf vorbereitet hatte, zu den
- Menschen hinausging, um ihnen seine Lehre zu bringen. Einzelne kluge
- Köpfe sind bei uns auf den Einfall gekommen, man müsse sich in der Welt
- herumbewegen, um sie kennen zu lernen. Das ist grundfalsch. Diese
- Ansicht wird durch alle Weltleute widerlegt, die sich ihr ganzes Leben
- lang in der Welt bewegen und doch die hohlsten und leersten Menschen
- sind. Nicht inmitten der Welt selbst wird man für die Welt erzogen,
- sondern fernab von ihr in tiefer innerster Selbstbetrachtung, in der
- Erforschung der eigenen Seele, denn dort liegen die Gesetze aller Dinge
- verborgen: suche zuvor den Schlüssel zu deiner eigenen Seele; hast du
- _ihn_ erst gefunden, so wirst du mit diesem Schlüssel auch die Seelen
- aller anderen aufschließen.
- X
- Über das Lyrische bei unseren Poeten
- An W. A. Schukowski
- Laß uns von dem Aufsatz sprechen, über den das Todesurteil gefällt ist,
- d. h. von dem Aufsatz, der die Überschrift: »_Über das Lyrische bei
- unseren Poeten_« trägt. Vor allem: Dank für das Todesurteil! So ward ich
- denn bereits zum zweitenmal von dir gerettet, du mein wahrhafter Lehrer
- und Erzieher! Schon im vergangenen Jahre hat deine Hand mir Halt
- geboten, als ich eben im Begriff war, Pletnjew für seinen »Sowremennik«
- meine Betrachtungen über unsere russischen Dichter zu senden; und nun
- hast du eine neue Frucht meines Unverstandes der Vernichtung
- preisgegeben. Du bist der einzige, der mir noch Einhalt gebietet,
- während mich die andern alle anfeuern und ermuntern; weiß ich doch
- selbst nicht wozu. Wieviel Torheiten hätte ich schon begangen, wenn ich
- nur auf meine andern Freunde gehört hätte! So, da hast du meinen
- Dankhymnus: und nun zu dem Aufsatz selbst. Ich werde schamrot, wenn ich
- daran denke, wie dumm ich noch immer bin, wie ich so gar nicht verstehe,
- von gescheiteren Dingen zu reden. Am törichtesten aber geraten meine
- Gedanken und Betrachtungen über die Literaten. Hier kommt alles, was ich
- schreibe, besonders geschwollen, dunkel und unverständlich heraus. Ich
- bin nicht imstande, meine eigenen Gedanken auszudrücken und
- niederzuschreiben, die ich doch nicht nur im Geiste vor mir sehe,
- sondern auch mit dem Herzen erahne und erfühle. Der Kern meines
- Aufsatzes ist vernünftig und richtig, und doch habe ich mich so
- ausgedrückt, daß jeder meiner Ausdrücke zum Widerspruch herausfordert.
- Ich muß es noch einmal wiederholen: in der Lyrik unserer Dichter liegt
- etwas, was kein Poet einer andern Nation besitzt -- es ist dies jenes
- Etwas, das an die Bibel gemahnt, -- jene höhere Art Lyrik, die nichts
- gemein hat mit leidenschaftlicher Schwärmerei und nur der sichere
- Aufschwung im Lichte des Verstandes, der höchste Triumph geistiger
- Nüchternheit ist. Ich will hier nicht einmal von Lomonossow und
- Dershawin reden, selbst bei Puschkin tritt einem diese strenge Lyrik
- überall da entgegen, wo er einen großen Gegenstand behandelt. Denke nur
- an solche Gedichte wie: An einen Kirchenfürsten, der Prophet, oder sogar
- an jene geheimnisvolle Flucht aus der Stadt, die erst nach seinem Tode
- veröffentlicht wurde. Aber nimm einmal die Gedichte von Jasykow und du
- wirst sehen, daß er stets unendlich hoch über die Leidenschaft, ja sogar
- über sich selbst hinauswächst, wenn er an etwas Höheres rührt. Ich
- möchte hier eines seiner Jugendgedichte »Der Genius« als Beispiel
- anführen. Es ist übrigens nicht lang.
- Einst stürmte der Prophet, der hohe,
- Mit Blitz und Donner himmelwärts,
- Und eine mächt'ge Feuerlohe
- Erfüllte da Elisas Herz.
- Es reckte sich sein Geist empor;
- Ein heiliges Gefühl erblühte
- In ihm, der vor Begeistrung glühte,
- Und Gottes Stimme lauscht' sein Ohr.
- So wird der Genius mit Beben
- Sich eigner Größe froh bewußt,
- Sieht er den Bruder aufwärts streben
- Mit Donnerlaut aus Erdendust.
- Und hehrer Wundertat entgegen
- Die Kräfte reifen neu erwacht,
- Und seiner Werke hoher Segen
- Strahlt sternengleich durch Weltennacht.
- Welch leuchtende Klarheit und welche strenge, erhabene Größe! Ich suchte
- das dadurch zu erklären, daß unsere Dichter jeden großen Gegenstand in
- seinem richtigen Zusammenhang mit dem höchsten Quell aller Lyrik, mit
- Gott sehen, die einen bewußt, die andern unbewußt, weil die russische
- Seele, wie sich das aus dem russischen Wesen selbst ergibt, dies aus
- irgendeinem Grunde ganz von selbst fühlt. Ich sagte, daß es vorzüglich
- zwei Gegenstände sind, die unsere Dichter zu dieser, der biblischen so
- nahestehenden Art der Lyrik begeistert haben. Der erste ist --
- _Rußland_. Bei dem bloßen Klang dieses Namens erhellt sich plötzlich das
- Auge unseres Poeten, erweitert sich sein Horizont, wird alles um ihn
- herum größer und weiter, wächst er selbst gewissermaßen zu höherer Würde
- und Größe empor, und erhebt er sich hoch über den gewöhnlichen Menschen.
- Das ist mehr als bloße Liebe zum Vaterland. Demgegenüber erschiene die
- Vaterlandsliebe fast wie ekle Prahlerei. Ein Beweis dafür sind unsere
- Hurrapatrioten. [Ihre übrigens meist ganz aufrichtigen Lobhymnen können
- einem Rußland beinahe verleiden.] Wenn dagegen ein Dershawin von Rußland
- spricht -- dann fühlt man eine übernatürliche Kraft durch seine Adern
- rinnen, man ist gleichsam ganz erfüllt von der Größe Rußlands. Die
- Vaterlandsliebe allein hätte -- gar nicht erst zu reden von Dershawin --
- nicht einmal einem Jasykow die Kraft dieses großen, feierlichen
- Ausdrucks verliehen, der sich jedesmal einstellt, wenn er von Rußland
- redet. So zum Beispiel in den folgenden Versen, wo er darstellt, wie
- Stephan Batorius gegen Rußland in den Krieg zieht.
- Schon rüstet Stephan sich zur Schlacht,
- Schon eilt er, seine ganze Macht
- Zu einer Heerschar zu verdichten,
- Um, wenn er Pskow den Tod gebracht,
- Rußland für immer zu vernichten!
- Doch du, o heil'ges Vaterland,
- Du hehre Liebe unsrer Ahnen,
- Du riss'st das Schwert aus seiner Hand.
- Nicht siegten diesmal seine Fahnen.
- Diese nüchterne, ruhige Heldenkraft, die sich zuweilen sogar
- unwillkürlich mit einer prophetischen Verherrlichung Rußlands verbindet,
- entspringt daraus, daß der Gedanke unbewußt an die höchste Vorsehung
- rührt, deren Walten so deutlich in den Schicksalen unseres Vaterlandes
- zum Ausdruck kommt. -- Außer der Liebe aber ist hieran auch noch das
- tiefe, innere Entsetzen über die Vorgänge beteiligt, die sich durch
- Gottes Willen auf jenem Stück Erde abspielen sollten, jenem Stück Erde,
- das dazu bestimmt war, unser Vaterland zu werden, sowie die Vorahnung
- eines neuen, herrlichen Baus, der sich, zunächst noch nicht für alle
- sichtbar, errichtet, dessen Wachsen nur der Dichter mit dem scharfen Ohr
- der Poesie, das alles hört, oder ein solcher Seelenkenner, der schon im
- _Samen_ die künftige Frucht erkennt, zu vernehmen vermag. Heute beginnen
- allmählich auch die andern Menschen etwas davon zu erkennen, aber sie
- drücken sich so unklar aus, daß ihre Worte Torheit zu sein scheinen. Du
- hast unrecht, wenn du annimmst, daß die heutige Jugend, wenn sie vom
- Slawentum träumt und prophetisch von Rußlands Zukunft spricht, einer
- Modeströmung folgt. Sie verstehen es nicht, ihre Gedanken in ihren
- Köpfen ausreifen zu lassen, und beeilen sich, sie der Welt zu verkünden,
- ohne zu bemerken, daß ihre Gedanken noch törichte Kinder sind -- das ist
- alles. Auch bei den Juden lehrten gleichzeitig vierhundert Propheten:
- von diesen war gewöhnlich nur einer der Gesandte Gottes, dessen Reden in
- das heilige Buch des jüdischen Volkes eingetragen wurden; alle andern
- werden viel Unnützes und Überflüssiges zusammengeredet haben, trotzdem
- aber haben wohl auch sie dunkel und unklar dasselbe vernommen, was die
- Auserwählten klar und verständig auszusprechen wußten; sonst hätte das
- Volk sie sicherlich gesteinigt. Warum sind denn weder Frankreich, noch
- England, noch Deutschland von dieser Strömung ergriffen und prophezeien
- und künden nicht von sich selbst, warum tut dies Rußland allein? Nun,
- weil Rußland es deutlicher fühlt, wie Gottes Hand auf allem ruht, an
- allem teilhat, was sich mit unserem Lande zuträgt, und weil es ein neues
- Reich herannahen fühlt. Daher die biblischen Töne bei unseren Dichtern.
- Daher kann solches bei den Dichtern anderer Nationen nicht vorkommen,
- und wenn sie ihr Vaterland noch so innig lieben und dieser Liebe einen
- noch so glühenden Ausdruck zu geben vermögen. Und hier darfst du nicht
- mit mir streiten, mein herrlicher Freund.
- Doch laß uns nun zu dem andern Gegenstande übergehen, an dem sich die
- Lyrik unserer Dichter gleichfalls zu jenem hohen, lyrischen Schwunge
- erhebt, von dem hier die Rede ist: laß uns der Liebe zum Zaren gedenken.
- Die zahlreichen Hymnen und Oden auf unsere Zaren haben unserer Poesie
- schon seit den Zeiten Lomonossows und Dershawins jene erhabene,
- königliche Note verliehen. Daß diese Gefühle aufrichtig sind, darüber
- brauchen wir wohl nicht erst zu sprechen. Nur Geister von kleinlichem,
- nörgelndem Witz, der nur karger, blitzartiger, oberflächlicher Gedanken
- und Erwägungen fähig ist, werden dahinter nichts wie Schmeichelei und
- den Wunsch, einen Vorteil für sich herauszuschlagen, suchen, und werden
- diese Behauptung auf ein paar unbedeutende und schlechte Oden jener
- Dichter gründen. Der dagegen, der nicht nur geistreich, der mehr ist,
- der Einsicht und Weisheit besitzt, wird bei jenen Oden Dershawins
- verweilen, in denen er den weiten Kreis nützlicher, wohltätiger
- Wirksamkeit vor dem Herrscher beschreibt, und wo der Dichter selbst mit
- Tränen in den Augen zu ihm von den Tränen spricht, die den Augen --
- nicht nur der Russen -- nein auch gefühlloser Wilden, die an den
- äußersten Enden seines Reiches wohnen, entströmen würden bei der bloßen
- Berührung mit der Milde und Liebe, die nur die allmächtige Hand des
- Herrschers ihrem Volke erweisen kann. Hier ist vieles zu so gewaltigem
- Ausdruck emporgehoben, daß selbst, wenn sich einmal ein Herrscher finden
- sollte, der für eine Zeitlang seine Pflicht vergäße, er sich beim Lesen
- dieser Zeilen unfehlbar wieder seiner Schuldigkeit erinnern und von
- tiefer Rührung über die Heiligkeit seines Amtes ergriffen werden würde.
- Nur kaltherzige Menschen werden Dershawin wegen seiner übermäßigen
- Verherrlichung Katharinas tadeln; der dagegen, der keinen Stein an
- Stelle des Herzens hat, der wird die herrlichen Strophen nicht ohne
- Rührung lesen, in denen der Dichter davon spricht, daß, wenn seine
- Gestalt in Marmor gehauen auf die Nachwelt kommen sollte, dies nur
- deshalb geschehen werde,
- Weil ich die Kaiserin besang,
- Der Reußen Zarin, welcher keine
- Je gleichkommt auf der weiten Welt.
- Des rühme, rühm' dich, meine Leier.
- Auch die folgenden, kurz vor dem Tode geschriebenen Verse wird er kaum
- ohne aufrichtige seelische Erschütterung lesen:
- Schlaf sank auf Katharinens Muse nieder;
- Das Alter raubte mir die Lieder.
- -- -- -- -- -- -- -- -- ... Bald
- Ertönt der andern Lied, wenn meins verhallt,
- Und meiner Hand entsinkt die Leier;
- In andern glühe nun das Feuer,
- Mit dem drei Zaren einst mein Sang
- Zu Ruhm und Preis erklang.
- Der Greis, der mit einem Fuß im Grabe steht, wird nicht lügen. Während
- seines ganzen Lebens hat er diese Liebe wie ein Heiligtum in sich gehegt
- und so hat er sie mit sich ins Grab genommen und ist er ihr auch bis
- übers Grab treu geblieben. Aber darum handelt es sich ja gar nicht.
- Woher stammt diese Liebe? Das ist hier die Frage. Daß sie im ganzen
- Volke, in einem dunkeln Instinkt seines Herzens lebt, und daher auch der
- Dichter, als der reinste Spiegel seines Volkes, sie laut in sich
- vernehmen mußte, das erklärt nur die eine Hälfte des Problems. Der
- ganze, der vollkommene Dichter gibt sich nie an eine Sache hin, ohne
- sich vorher Rechenschaft über sie abgelegt und ohne sich überzeugt zu
- haben, daß sie vor der Weisheit und vor dem hellen Lichte seiner
- Vernunft bestehen kann. Er, der im Besitz eines Ohres ist, das die
- kommenden Dinge und Ereignisse vernimmt, und der von dem Streben beseelt
- wird, die Dinge, die die andern nur stückweise, von einer einzigen, oder
- etwa bloß von zwei Seiten und nicht von allen vier Seiten sehen, in
- ihrer ganzen Vollkommenheit und Vollständigkeit nachzuschaffen, er
- konnte nicht anders, als die Kulmination in der Entwicklung und dem
- Reifen dieser Herrschergewalt voraussehen. Mit welcher Weisheit hat
- Puschkin die Bedeutung des unumschränkten Monarchen gekennzeichnet! Wie
- klug war überhaupt alles, was er während seiner letzten Lebensjahre
- gesagt hat: »Warum,« so pflegte er zu sagen, »warum muß einer von uns
- höher als alle, ja selbst noch über dem Gesetze stehen? Darum, weil das
- Gesetz ein Stück Holz ist; weil der Mensch bei dem Worte Gesetz etwas
- Kaltes, Hartes empfindet, etwas, dem das Herzliche, Brüderliche fehlt.
- Mit der buchstäblichen Erfüllung des Gesetzes allein kommt man nicht
- weit; und doch darf keiner von uns es verletzen oder umgehen; dazu
- bedarf es eben der höchsten Gnade, die das Gesetz mildert, und die sich
- für den Menschen lediglich in der unumschränkten Gewalt verkörpern kann.
- Ein Staat ohne souveränen Monarchen ist ein Automat: es ist schon viel,
- wenn er es so weit bringt, wie die Vereinigten Staaten. Und was sind die
- Vereinigten Staaten? Etwas Totes, Abgestorbenes. Die Menschen dort sind
- so hohl und so leer geworden, daß sie keinen Pfifferling mehr wert sind.
- Ein Staat ohne souveränen Monarchen gleicht einem Orchester ohne
- Kapellmeister: die einzelnen Musiker mögen noch so tüchtig sein; wenn es
- an einem Manne fehlt, der das Ganze mit einer Bewegung des Taktstockes
- lenkt und im rechten Augenblick das Zeichen gibt, dann wird nie ein
- gutes Konzert zustande kommen. [Er scheint zwar selbst gar nichts zu
- tun, er spielt auf keinem Instrument, sondern bewegt nur sein Stöckchen
- kaum merklich hin und her, und hält Überschau über alle Musiker, und
- doch genügt ein Blick von ihm, um hier oder dort den rauhen, häßlichen
- Ton einer täppischen Trommel oder einer plumpen Pauke zu mildern.] In
- seiner Gegenwart wagt es selbst des Meisters Geige nicht, sich allzu
- frei gehen zu lassen und die andern zu übertönen; er wacht über der
- allgemeinen Ordnung, er belebt alles, er, der Herr und Stifter höchster
- Eintracht und Harmonie!« Welch tiefes Verständnis besaß er für die
- großen, ewigen Wahrheiten!
- Dieses innere Wesen, diese Macht des selbstherrlichen Monarchen hat er
- ja auch, wenigstens zum Teil in einem seiner Gedichte zum Ausdruck
- gebracht, das du übrigens selbst unter seinen nachgelassenen Werken
- abgedruckt hast. Du hast sogar Korrekturen daran vorgenommen und die
- Form verbessert; allein du hast den Sinn nicht verstanden. Ich will dir
- hier des Rätsels Lösung geben. Ich meine die Ode an den Kaiser Nikolaus,
- die unter dem bescheidenen Titel An N*** erschienen ist. Ihr Ursprung
- ist folgender: Im Anitschkowpalast fand eine Abendgesellschaft statt,
- eine von jenen Gesellschaften, zu denen, wie bekannt, nur wenige
- Auserwählte aus unserer Gesellschaft eingeladen wurden; unter ihnen
- befand sich an jenem Abend auch Puschkin. Alle Gäste waren bereits in
- den Sälen versammelt; nur der Kaiser wollte lange Zeit nicht erscheinen.
- Er hatte sich in den andern Flügel des Schlosses zurückgezogen, die
- erste freie Minute, während der ihn kein Geschäft rief, benutzt, die
- Ilias aufgeschlagen und sich ganz unmerklich tief in die Lektüre
- versenkt, während im Saale schon längst die Musik schmetterte und die
- Tänze hin und her wogten. Er erschien erst ziemlich spät beim Ball,
- während auf seinem Gesicht noch die Spuren anderer Eindrücke
- nachzitterten. Dieses Sichkreuzen zweier widerspruchsvoller Stimmungen
- wurde von keinem beachtet; auf Puschkins Seele aber machte es einen
- tiefen Eindruck; die Frucht dieses Eindrucks war folgende grandiose Ode,
- die ich hier noch einmal anführen will. Sie hat nur eine einzige
- Strophe:
- Lang hieltest Zwiesprach' du mit dem Homer allein,
- Lang harrten wir auf dein Erscheinen,
- Und aus der Ätherhöh' stiegst du im Strahlenschein,
- Durch das Gesetz uns zu vereinen.
- Doch in der Wüste fandst du uns. Entgegen scholl
- Dir gotteslästerliches Singen
- Beim wüsten Zechgelag', du sahst uns blind und toll
- Um unsern neuen Götzen springen.
- Und wir erschraken, da den Gram und Grimm wir sahen
- In deinem Blick voll Hoheitsschimmer;
- Und da verfluchtest du den kindisch blöden Wahn,
- Schlugst deine Tafeln jäh in Trümmer.
- Doch nein, du fluchtest nicht! ... Aus Höhen wolkenfern
- Stiegst du ins Tal, das wolkenlose.
- Du liebst des Donners Hall, doch lauschest du auch gern
- Dem Bienensummen um die Rose.
- (Fiedler.)
- Aber lassen wir die Person Nikolaus' II. beiseite und sehen wir zu, was
- der Monarch im allgemeinen als Gesalbter Gottes bedeutet, er, der die
- Pflicht hat, das ihm anvertraute Volk dem Lichte entgegenzuführen, in
- dem Gott wohnt, und laß uns zusehen, ob Puschkin recht hatte, ihn mit
- dem alten Freunde Gottes, mit Moses zu vergleichen? Der Mensch, auf
- dessen Schultern das Schicksal von Millionen seiner Brüder gelegt ist,
- der durch die furchtbare Verantwortlichkeit für sie, die er Gott
- gegenüber auf sich genommen hat, von jeder Verantwortlichkeit vor den
- Menschen befreit ist, der unter der Furchtbarkeit dieser Verantwortung
- leidet und vielleicht im stillen solche Tränen vergießt und so
- schmerzliche Qualen erduldet, wie sie sich ein tief unten stehender
- Mensch nicht einmal vorzustellen vermag, dem inmitten aller
- Sinnengenüsse und Zerstreuungen die ewige, nie verstummende Stimme
- Gottes in den Ohren klingt, die unaufhörlich mahnend zu ihm spricht, der
- darf wohl mit Recht dem alten Gottesfreund Moses verglichen werden, der
- darf, wie er, seine Tafeln in Trümmer schlagen und das leichtsinnige,
- gaukelnde Menschengeschlecht verfluchen, das, statt danach zu streben,
- wonach alles, was auf dieser Erde lebt, streben sollte, unruhig und
- eitel um seine von ihm selbst geschaffenen Götzen springt. Aber was
- Puschkin so tief bewegte, das war neben allem andern jene höchste
- Bedeutung der Herrschergewalt, die sich die Ohnmacht und Schwäche der
- Menschheit vom Himmel herabgefleht hat; und dies Flehen war kein Schrei
- nach der ewigen Gerechtigkeit, vor der kein Mensch dieser Erde zu
- bestehen vermöchte, es war ein Schrei nach der himmlischen, göttlichen
- Liebe, die alles zu vergeben vermag: unsere Pflichtvergessenheit, unser
- ungeduldiges Murren und unsere Unzufriedenheit, mit einem Wort alles,
- was ein Erdenmensch nicht verzeihen kann; auf daß ein einziger alle
- Macht in seiner Person vereinigte, sich von uns allen entfernte und sich
- über alles Irdische erhob, um sich gerade dadurch allen um so mehr zu
- nähern, allen gleich zu werden, von seiner Höhe zu uns allen
- herabzusteigen und allem verständnisvoll zu lauschen: vom Donner des
- Himmels und der Lyra des Dichters bis herab zu unseren unscheinbarsten
- Freuden und Vergnügungen.
- Es hat den Anschein, als sei Puschkin in diesem Gedicht, nachdem er sich
- selbst die Frage gestellt hatte, was denn diese Macht eigentlich sei,
- vor der Größe und Erhabenheit der sich seinem Geiste aufdrängenden
- Antwort in den Staub gesunken. Es ist gut, hierbei im Auge zu behalten,
- daß das derselbe Dichter ist, der so ungeheuer stolz auf die
- Unabhängigkeit seines Geistes und auf seine persönliche Würde war.
- Niemand hat so gesungen wie er:
- Ein Denkmal hab' ich mir errichtet ohnegleichen;
- Zu diesem Geisterbau bewächst nie Gras den Pfad,
- Trutzhäuptig überragt es selbst die Ruhmeszeichen,
- Die sich Napoleon errichtet hat[2].
- (Nach Fiedler.)
- [Fußnote 2: Im Original heißt es: »Die Kaiser Alexander hat.« Schukowski
- hat wohl aus Zensurrücksichten Alexander in Napoleon umgeändert. Anm.
- des Herausg.]
- An den »Ruhmeszeichen Napoleons« bist freilich du schuld, aber selbst
- wenn diese Zeile in ihrer ursprünglichen Fassung erhalten geblieben
- wäre, sie wäre dennoch ein Beweis, ja ein zwingender Beweis dafür, daß
- Puschkin, trotzdem er sich persönlich, als Mensch, vielen gekrönten
- Häuptern überlegen fühlte, doch tief im Innern empfand, wie klein und
- gering sein Beruf im Vergleich mit dem eines gekrönten Königs war, und
- daß er es verstand, sich ehrfürchtig vor denen unter ihnen zu beugen,
- die der Welt die ganze Größe und Erhabenheit ihres Amtes vor Augen
- geführt haben.
- Unsere Dichter haben die hohe Bestimmung des Monarchen durchschaut,
- indem sie erkannten, daß sie unweigerlich zuletzt ganz in der reinsten
- _Liebe_ aufgehen, und daß es so allen offenbar werden müsse, warum der
- Kaiser das Ebenbild Gottes ist, wie dies unser ganzes Land vorerst nur
- instinktiv fühlt. Diese Bedeutung des Herrschers wird allmählich auch in
- Europa in derselben Weise zum Ausdruck kommen. Alles zielt darauf hin,
- in den Fürsten diese höchste göttliche Liebe zu ihrem Volk zu erwecken.
- Schon vernimmt man den Schrei der Seelennot, an der die ganze Menschheit
- und beinahe jedes moderne europäische Volk leidet; die Bedauernswerten
- winden sich alle in ihrem Schmerz und wissen sich selbst nicht zu
- helfen: jede äußere Berührung ist ihren schmerzenden Wunden eine Pein;
- jedes Mittel, jede Hilfe, die der Verstand ersinnt, erscheint ihnen rauh
- und qualvoll und bringt keine Heilung. Dieser Schrei wird schließlich so
- laut werden, daß selbst das gefühlloseste Herz vor Mitgefühl zerspringen
- wird, und ein tiefes Mitleid von einer bisher noch nicht gekannten
- Stärke wird die ganze Kraft einer andern, neuen Liebe wachrufen, wie sie
- bisher nicht ihresgleichen hatte. Dann wird der Mensch von Liebe zu
- allem, was menschlich ist, entbrennen -- von einer gewaltigen Liebe, wie
- er noch nie von einer gleichen ergriffen war. Von uns gewöhnlichen
- Menschen aber wird keiner die ganze Kraft dieser Liebe in sich
- verwirklichen können, sie wird eine Idee, ein Gedanke bleiben und nie
- ganz zur Tat werden; nur die können völlig von ihr durchdrungen werden,
- denen das ewige unwandelbare Gesetz auferlegt ward, alle Menschen zu
- lieben, wie wenn sie ein einziger Mensch wären. Wenn so der Fürst von
- Liebe für jeden Menschen seines Reichs, für jeden Beruf und Stand
- ergriffen werden, und alles, was da lebt, gleichsam zu seinem eigenen
- Fleisch und Blut machen wird, wenn er in seinem Herzen mit allen leiden,
- Tag und Nacht um sein leidendes Volk trauern und klagen und für es beten
- wird, dann wird im Fürsten jene allmächtige Stimme der Liebe lebendig
- werden, die der leidenden Menschheit allein verständlich ist, die ihre
- Wunden nicht schmerzlich berühren wird und die allein allen Ständen
- Frieden und Versöhnung bringen und den Staat in einen wohlgeordneten
- Chor harmonisch zusammenklingender Stimmen verwandeln kann. Nur da wird
- ein Volk ganz gesunden, wo der Monarch seine hohe Bestimmung erkennen
- wird -- ein Abbild Dessen auf Erden zu sein, Der selbst die Liebe ist.
- In Europa ist es niemand in den Sinn gekommen, die höchste Bedeutung,
- die höchste Aufgabe des Monarchen zu ergründen. Die Staatsmänner, die
- Gesetzeskundigen und Rechtsgelehrten haben immer nur die eine Seite der
- Sache in Betracht gezogen, nämlich die, daß der Monarch der höchste
- Beamte des Staates ist, [der von Menschen eingesetzt ward], und daher
- wissen sie auch nicht, wie sie sich zu dieser Institution verhalten
- sollen, [wie sie ihre wahren Grenzen bestimmen sollen], wenn die sich
- täglich ändernden Umstände es notwendig machen, ihre Kompetenzen zu
- erweitern oder zu beschränken; dadurch aber wird dort der Fürst seinem
- Volk und umgekehrt das Volk seinem Fürsten gegenüber in eine sonderbare
- Lage versetzt; beide betrachten sich gegenseitig beinahe wie zwei
- Gegner, von denen jeder die Macht auf Kosten des andern an sich reißen
- will. Bei uns aber haben die Dichter und nicht die Rechtsgelehrten die
- höchste Bestimmung des Monarchen erkannt; -- die Dichter haben Gottes
- Willen mit ehrfürchtigem Zittern vernommen, sie, d. h. die monarchische
- Gewalt in Rußland in ihrer wahren Gestalt zu begründen, daher nehmen
- ihre Töne einen biblischen Charakter an, sobald ihr Mund das Wort »Zar«
- ausspricht. Das erkennen bei uns auch die, die keine Dichter sind, weil
- jede Seite unserer Geschichte zu deutlich von dem Willen der Vorsehung
- spricht: diese monarchische Gewalt in Rußland in ihrer höchsten und
- vollkommensten Gestalt zu begründen. Alle Ereignisse, die sich von der
- Invasion der Tataren ab in unserem Vaterlande abgespielt haben, zielen
- deutlich darauf hin, alle Macht in der Hand eines einzigen zu
- vereinigen, um diesen einen zu jener berühmten Umwälzung des ganzen
- Staats zu befähigen, ihm die Kraft zu verleihen, alle aufs tiefste zu
- erschüttern, alle aufzurütteln, jeden von uns mit jener höheren
- Selbsterkenntnis auszurüsten, ohne die der Mensch sich selbst nicht
- verstehen, sich nicht selbst das Urteil sprechen, und nicht den Kampf
- gegen Unwissenheit und Finsternis in sich selbst aufnehmen kann, wie ihn
- der Herrscher in seinem Reiche aufgenommen hat; auf daß nachher, wenn
- jeder von dieser heiligen Kampfbegeisterung erfaßt und alles sich seiner
- Kraft bewußt ist, der Einzige wiederum allen voran und die Leuchte in
- der Hand voraustragend, sein ganzes von _einem_ Geiste beseeltes Volk
- mit sich reißen und jenem höchsten Lichte entgegenführen könne, nach dem
- sich Rußland so innerlich sehnt. Und sieh nur, durch welche wunderbare
- Fügung bereits die Saat der Liebe in die Herzen gesenkt ward, noch ehe
- sich dem Herrscher selbst und seinen Untertanen die volle Bedeutung
- dieser monarchischen Gewalt enthüllen konnte. Kein königliches
- Geschlecht darf sich eines ähnlichen Ursprungs rühmen, wie das der
- Romanows. Schon dieser ihr Ursprung ist ein hohes Werk der Liebe. Der
- letzte und geringste der Untertanen des Reichs hat sein Leben hingegeben
- und hingeopfert, um uns einen Zaren zu schenken, und mit diesem reinen
- Opfer ein unzerreißbares Band zwischen dem Herrscher und seinem Volk
- gestiftet. Die Liebe ist uns in Fleisch und Blut übergegangen und hat
- eine tiefe Blutsverwandtschaft zwischen uns allen und dem Zaren erzeugt.
- [Und so haben sich Herrscher und Untertanen miteinander verschmolzen und
- sind so sehr eins geworden, daß es uns allen heute als ein großes
- Unglück erscheinen würde, wenn der Fürst seinen Untertan vergessen und
- sich von ihm abwenden oder der Untertan seinen Herrscher vergessen und
- sich von ihm lossagen wollte.] Wie deutlich kommt der Wille Gottes
- gerade in dieser Wahl der Romanows und keines andern Fürstengeschlechts
- zum Ausdruck! Wie unbegreiflich ist diese Erhebung eines ganz
- unbekannten Jünglings auf den Thron, wo doch Männer aus den ältesten
- Adelsgeschlechtern und noch dazu verdienstvolle Männer, die ihr
- Vaterland gerettet hatten: ein Poscharski, ein Trubetzkoi oder endlich
- eine Reihe von Fürsten, die in direkter Linie von Rjurik abstammten,
- daneben standen. Und doch wurden sie bei der Wahl übergangen, und es
- erhob sich keine Stimme des Protestes: auch nicht _einer_ wagte es,
- seine Rechte geltend zu machen! Und solches geschah in jener finsteren
- Zeit der Wirren, wo jeder Streit und Unruhe stiften und Scharen von
- Anhängern um sich sammeln konnte. Und wer wurde erwählt? Einer, der in
- weiblicher Linie ein Verwandter jenes Zaren war, der noch vor kurzem die
- Erde in Schrecken gesetzt hatte, [so daß nicht nur unter den Bojaren,
- denen er nachgestellt und die er verfolgt hatte, sondern auch im Volk,
- das kaum etwas von ihm zu leiden gehabt hatte, noch lange das Sprichwort
- im Schwange blieb: »Der Kopf war gut, gottlob, daß er in der Erde
- ruht.«] Und trotz alledem beschlossen alle, von den Bojaren bis zum
- letzten Habenichts herab einstimmig, daß der Thron ihm gehören solle.
- Solche Dinge geschehen bei uns! Wie kannst du da glauben, daß die Lyrik
- unserer Dichter, die doch die wahre ganze Bedeutung des Königs aus den
- Büchern des Alten Testaments kennen und die den Willen Gottes in allen
- Ereignissen, die unser Vaterland betrafen, sich so deutlich äußern sehen
- konnten -- wie kannst du glauben, daß die Lyrik unserer Dichter nicht
- voller biblischer Anklänge sei? Ich wiederhole, die einfache Liebe hätte
- nicht genügt, ihren Tönen eine so nüchterne Strenge zu verleihen: dazu
- bedarf es einer vollen und festen, aus der Vernunft stammenden
- Überzeugung, und nicht allein eines dunklen, unbewußten Liebesgefühls;
- sonst müßten ihre Töne Weichheit und Zartheit atmen, wie bei dir in
- deinen frühen Jugendwerken, als du dich noch ganz dem Gefühl deiner
- liebenden Seele hingabst. Nein, es ist etwas Starkes, Hartes, ja fast zu
- Starkes in unseren Dichtern, was die Dichter anderer Nationen nicht
- besitzen. Wenn du das nicht fühlst, so beweist dies noch nicht, daß es
- überhaupt nicht vorhanden ist. Du mußt doch berücksichtigen, daß du ja
- nicht alle Züge des russischen Wesens in dir vereinst, vielmehr haben
- sich viele Züge in dir bis zu einer solchen Höhe und so stark in die
- Breite entwickelt, daß sie den andern keinen Raum zum Wachstum ließen,
- und so stellst du eigentlich eine Ausnahme von jenem allgemeinen
- russischen Charakter dar. In dir haben sich alle jene weichen und zarten
- Seiten unseres slawischen Wesens vereinigt, jene starken und satten Züge
- dagegen, bei denen den ganzen Menschen etwas wie ein Schauder und
- Schrecken überläuft, sind dir unbekannt. Sie aber sind gerade der Quell
- und Ursprung jener Lyrik, von der hier die Rede ist. Diese Lyrik vermag
- sich für nichts mehr zu begeistern, als für ihren höchsten Quell, d. h.
- für Gott allein. Sie hat etwas Strenges und Furchtsames und liebt die
- vielen Worte nicht: sie widert alles auf dieser Erde an, wenn es nicht
- den Abdruck des Göttlichen an sich trägt. Wer nur ein Fünkchen von
- dieser lyrischen Stimmung besitzt, der besitzt trotz aller
- Unvollkommenheiten und Fehler etwas von jenem strengen hohen Seelenadel,
- vor dem er selbst ehrfürchtig erbebt und der ihn alles fliehen läßt, was
- einem Dank oder einer Anerkennung von seiten der Menschen ähnlich sieht.
- Seine eigene edelste Tat erregt ihm Abscheu und Ekel, wenn sie ihm einen
- Lohn einträgt, denn er fühlt zu gut, daß das Höchste über jeden Lohn
- erhaben sein sollte. [Erst nach Puschkins Tode hat man Näheres über
- seine wahren Beziehungen zum Zaren erfahren und ist das Geheimnis, das
- zwei seiner schönsten Gedichte umgibt, gelüftet worden. Er hat bei
- Lebzeiten nie mit jemand von den Gefühlen gesprochen, die ihn erfüllten,
- und er hat klug daran getan. Da man bei uns in Rußland nach dem vielen
- kalten und lauten Zeitungsgerede im Stil jener Reklameartikel, in denen
- man Pomaden usw. anpreist, und nach all den heftigen ungezogenen und
- zornigen Ausfällen aller möglicher Hurra- und anderer Patrioten ganz
- aufgehört hatte, an die Aufrichtigkeit gedruckter Äußerungen zu glauben
- -- war es für Puschkin gefährlich, offen hervorzutreten: man hätte ihm
- am allerehesten den Vorwurf der Bestechlichkeit gemacht und ihn
- verdächtigt, daß er sich von Habgier und von einem selbstsüchtigen
- Interesse leiten lasse. Nun aber, wo diese Dichtungen erst nach seinem
- Tode erscheinen, wird sich wohl kaum ein Mensch in ganz Rußland finden,
- der es wagt, Puschkin einen Schmeichler zu nennen, der nach der Gunst
- irgendeines Menschen gestrebt habe. Hierdurch ward das Heiligtum eines
- hohen reinen Gefühls gerettet. Jetzt wird jeder, auch der nicht fähig
- ist, mit seinem eigenen Verstande in das Wesen der Sache einzudringen,
- doch an sie glauben und Vertrauen zu ihr haben, denn er wird sich sagen:
- »wenn selbst Puschkin so gedacht hat, so ist das sicherlich die
- lauterste Wahrheit.«] Die königlichen Hymnen unserer Dichter haben
- selbst Ausländer durch ihre erhabene Form und ihren hohen Stil in
- Staunen gesetzt. Erst vor kurzem hat Mickiewicz in seinen Vorlesungen
- darüber zu den Parisern gesprochen und er hat dies in einem Augenblick
- ausgesprochen, als er selbst gereizt und erbittert gegen uns und ganz
- Paris über uns empört war. Trotzdem aber hat er feierlich erklärt, daß
- in den Oden und Hymnen unserer Dichter nichts Sklavisches und Gemeines,
- sondern eher etwas Freies und Erhabenes liege, und unmittelbar danach
- hat er, obwohl dies keinem seiner Landsleute gefallen wollte, seine
- Ehrfurcht vor dem vornehmen edlen Charakter unserer Schriftsteller
- ausgesprochen. Mickiewicz hat recht. Unsere Schriftsteller tragen
- wirklich die Züge einer höheren Natur. In Augenblicken klarsten
- Bewußtseins, höchster Selbsterkenntnis haben sie uns oft ihre
- geistigen Porträts hinterlassen, die freilich den Eindruck einer
- Selbstverherrlichung machen würden, wenn nicht das ganze Leben des
- Dichters eine Bestätigung ihrer Treue wäre. Indem Puschkin an seine
- Zukunft denkt, sagt er
- Und meinem Volke bleib' ich lange lieb und teuer,
- Weil ich in ihm den Trieb zum Guten stets entflammt,
- In grauser Zeit durchglüht sein Herz mit Freiheitsfeuer
- Und den Gefallnen nie verdammt.
- (Fiedler.)
- Man braucht nur an Puschkin zu denken, um sofort zu erkennen, wie treu
- dies Porträt ist. [Wie lebhaft konnte er werden, wie konnte er sich
- begeistern, wenn es sich darum handelte, das Los eines armen Verbannten
- zu mildern oder einem Gefallenen die Hand zu reichen. Wie ungeduldig
- wartete er auf den Augenblick, wo der Zar ihm gnädig gestimmt war --
- nicht etwa, um sich selbst in Erinnerung und Empfehlung zu bringen --
- nein, um ein Wort für einen Unglücklichen oder Gefallenen einzulegen.
- Ein echt russischer Zug.] Denke nur an jenes rührende Schauspiel, wenn
- das ganze Volk zu den Verbannten kommt, die die Reise nach Sibirien
- antreten, und wenn jeder etwas von seiner Habe mitbringt! der eine
- Speise und Trank, der andere etwas Geld, ein dritter ein christlich
- mildes Trostwort. Da gibt es nichts von Haß gegen den Verbrecher, auch
- nichts von jener Donquichotterie, die aus ihm einen Helden machen will,
- sich seine Unterschrift oder ein Bild von ihm zu verschaffen sucht, oder
- ihn neugierig anstarrt, wie dies wohl im aufgeklärten Europa vorkommt.
- Dies ist etwas Größeres: es ist auch nicht der Wunsch, ihn zu
- entschuldigen oder der Hand der Gerechtigkeit zu entreißen; es ist der
- Wunsch, seinen sinkenden Mut zu heben, ihn zu trösten, wie ein Bruder
- den Bruder tröstet, wie Christus uns gelehrt hat, einander zu trösten.
- Puschkin hatte eine sehr hohe Meinung von dieser Neigung, den Gefallenen
- wieder zu erheben. Daher pochte auch sein Herz so stolz und stürmisch,
- als er davon hörte, daß der Monarch nach Moskau kommen wolle, während
- dort die Cholera wütete. -- Eine Regung wie diese hatte wohl noch kein
- Monarch gezeigt; und so konnte sie der Anlaß zu jenen wundervollen
- Versen werden:
- Beim Himmel, wer so kalt und fest
- Dem schwarzen Tode kann begegnen
- Um andrer willen, ist ein Held.
- Ihn wird der Himmel ewig segnen,
- Wie auch der Spruch der blinden Welt
- Mag lauten ....
- (Fiedler.)
- Und in der gleichen Weise hat er einen andern Zug aus dem Leben eines
- anderen Monarchen: Peters des Großen, verherrlicht. Denke an das
- Gedicht: »_Das Fest an der Newa_«, wo er erstaunt fragt, was wohl der
- Anlaß zu jenem ungewöhnlichen lauten Jubel, jener Feier im Hause des
- Zaren sein mag, von der ganz Petersburg und die ganze Newa widerhallt,
- die vom Kanonendonner erschüttert wird. Er zählt alle Ereignisse auf,
- die das Herz des Zaren erfreut haben mögen und der Anlaß zu diesem
- großen Jubelfeste sein könnten; er fragt sich: ist dem Zaren ein
- Thronerbe geboren, feiert die Zarin, seine Gemahlin, ihren Geburtstag,
- triumphiert der Zar über einen unbesiegbaren Feind, oder ist die Flotte,
- für die der Zar eine besondere Leidenschaft hatte, im Hafen eingelaufen?
- Und er antwortet auf alle diese Fragen:
- Weil zum Feind er stieg hernieder
- Und begrub uralten Groll,
- Schäumen Becher, tönen Lieder,
- Ist der Zar so freudenvoll,
- Herrschet Jubel in den Hallen,
- Rauscht das Fest am Newastrand.
- Und Kanonenschüsse schallen
- Donnernd durch das weite Land.
- Puschkin allein konnte die ganze Schönheit einer solchen Handlung
- empfinden. Seinem Untertan nicht nur vergeben können, sondern diese Tat,
- diesen Akt der Vergebung auch noch feiern, wie den Sieg über einen Feind
- -- das ist ein wahrhaft göttlicher Zug. Nur im Himmel ist man solcher
- Handlungen fähig. Nur dort ist mehr Freude über die Reue eines Sünders
- als über einen Gerechten und alle unsichtbaren himmlischen Heerscharen
- nehmen an dem himmlischen Festmahle Gottes teil. Puschkin war ein Kenner
- alles Großen im Menschen, für das er ein tiefes Verständnis hatte, und
- wie hätte es auch anders sein können, wenn die innere Vornehmheit ein
- charakteristischer Zug fast aller unserer Schriftsteller ist? Es ist
- höchst merkwürdig, daß die Schriftsteller in allen anderen Ländern wegen
- ihres persönlichen Charakters nicht die volle Achtung der Gesellschaft
- genießen. Bei uns ist es gerade umgekehrt. Bei uns wird selbst ein
- Mensch, der kein Schriftsteller, sondern ein bloßer Pfuscher ist, der
- nicht allein keine schöne Seele hat, sondern sich bisweilen sogar recht
- gemeine und niedrige Handlungen zuschulden kommen läßt, im Innern
- Rußlands durchaus nicht für einen gemeinen Menschen gehalten. Im
- Gegenteil, in allen Russen, selbst in denen, die kaum etwas von den
- Schriftstellern hören, lebt etwas wie eine innere Überzeugung, daß der
- Schriftsteller ein höheres Wesen ist, daß er unbedingt ein edler Mensch
- sein muß, daß sich vieles für ihn nicht schickt und daß er sich manches
- nicht gestatten darf, was man andern verzeiht. In einer unserer
- Provinzen gab ein Adliger, der zugleich Literat war, während der Wahlen
- zur Adelsversammlung seine Stimme einem Menschen, der kein ganz reines
- Gewissen hatte -- da wandten sich alle Adligen sofort gegen ihn,
- tadelten ihn und sagten vorwurfsvoll: »Und das will ein Schriftsteller
- sein!«
- 1846.
- XI
- Diskussionen
- Aus einem Brief an L***
- Der Streit um den Grundcharakter unserer europäischen und slawischen
- Natur, der, wie du sagst, bereits in unsere Salons einzudringen beginnt,
- beweist nur, daß wir bereits zu erwachen anfangen, aber noch nicht ganz
- erwacht sind; daher ist es gar nicht verwunderlich, daß auf beiden
- Seiten viel törichtes Zeug zusammengeredet wird. All diese Slawisten und
- Europäisten -- Altgläubige und Neugläubige -- Östlinge und Westlinge --
- (was sie aber in Wahrheit sind, weiß ich dir nicht zu sagen, weil sie
- mir bis jetzt nur eine Karikatur auf das zu sein scheinen, was sie
- wirklich sein wollen) -- sie alle sprechen von zwei ganz verschiedenen
- Seiten derselben Sache, ohne auch nur zu ahnen, daß sie sich ja gar
- nicht widersprechen, und daß eigentlich gar kein Anlaß zum Streit für
- sie vorliegt. Die einen stehen zu nahe vor einem Gebäude und sehen nur
- einen Teil von ihm, die andern stehen zu weit und sehen die ganze
- Fassade, können aber dafür die einzelnen Teile nicht genau sehen.
- Natürlich ist die Wahrheit mehr auf seiten der Slawophilen und Östlinge,
- weil sie ja doch die ganze Fassade sehen, und folglich vom Ganzen und
- nicht von den Teilen reden. Aber auch die Europäer und Westlinge haben
- bis zu einem gewissen Grade recht, weil sie mit einer gewissen
- Ausführlichkeit und Bestimmtheit von der Mauer reden, die sie
- unmittelbar vor Augen haben; ihr Fehler besteht nur darin, daß sie über
- dem Giebel, der diese Mauer krönt, die Spitze, in die der ganze Bau
- ausläuft, d. h. das Kapitäl, die Kuppel und alle oberen Teile, nicht
- sehen. Man könnte den einen den Rat geben, doch, wenn auch nur für einen
- Augenblick, etwas näher heranzukommen, und den andern, ein wenig
- zurückzutreten. Aber sie werden nicht darauf eingehen, weil der Geist
- des Hochmuts beide gefangen hält. Jeder von beiden ist überzeugt, daß
- das Recht ganz und ausschließlich auf seiner Seite, und das Unrecht ganz
- und ausschließlich auf seiten des andern ist. Freilich ist mehr Hochmut
- auf seiten der Slawophilen; sie prahlen gern, jeder von ihnen bildet
- sich ein, er habe Amerika entdeckt, und macht aus jeder Mücke, die er
- findet, einen Elefanten. Natürlich bringen sie mit solch trotzigen
- Großsprechereien die Westlinge nur noch mehr gegen sich auf, die vieles
- schon längst aufgegeben hätten, weil sie heute bereits mancherlei kennen
- lernen, wovon sie früher nie etwas gehört haben, und sich nur noch
- dagegen sträuben, weil sie dem allzu trotzig tuenden Gegner nicht gern
- nachgeben wollen. [Diese Streitigkeiten wären alle miteinander nicht
- gefährlich, wenn sie sich nur auf die Salons und die Zeitschriften
- beschränkten. Das Schlimme ist, daß zwei entgegengesetzte Anschauungen,
- die noch so wenig ausgereift und geklärt sind, bereits die Köpfe vieler
- Männer von Ämtern und Würden zu beeinflussen beginnen. Man hat mir
- erzählt, es käme vor -- und dies sei besonders dort der Fall, wo ein Amt
- oder wo die Macht in den Händen zweier Personen liegt -- daß ein
- Vorgesetzter vollkommen in europäischem Geiste zu wirken und zu regieren
- sucht, während der andere ganz im altrussischen Geist zu wirken und alle
- alten Einrichtungen zu befestigen strebt, die in einem absoluten
- Gegensatz zu denen stehen, die sein Kollege einzuführen plant. Und
- daraus erwächst, sowohl für die Sache selbst wie für die Beamten, nur
- Unheil: sie wissen nicht mehr, wem sie gehorchen sollen. Und da beide
- Ansichten, trotzdem sie so extrem sind, noch keinem völlig klar sind,
- machen sich, wie man sagt, allerhand Schelme diesen Umstand zunutze.
- Auch der Gauner hat jetzt die Möglichkeit, sich, sei es unter der Maske
- eines Slawophilen oder Europaschwärmers -- wie sich's trifft -- d. h. je
- nachdem was dem Vorgesetzten gerade mehr gefällt, ein hübsches Pöstchen
- zu ergattern und dort entweder als Verteidiger der alten Sitten oder als
- Vorkämpfer einer neuen Ordnung allerhand Durchstechereien zu verüben.]
- Diese Streithändel sind überhaupt eine Angelegenheit, an der sich
- klügere und ältere Leute nicht beteiligen sollten. Mag sich doch die
- Jugend zuerst gründlich austoben: das ist ihre Sache. Glaube mir, es ist
- nun einmal so und muß auch so sein, daß sich die größten Schreier
- gründlich sattschreien müssen, damit die klugen Leute unterdessen einmal
- gründlich nachdenken können. Höre aufmerksam zu, wenn sich die Menschen
- um dich herum streiten, aber mische dich nicht selbst in ihren Streit.
- Die Idee des Werks, das du schreiben willst, ist sehr vernünftig, und
- ich bin sogar überzeugt, daß du dies besser machen wirst, als ein großer
- Schriftsteller. Nur um eins bitte ich dich, arbeite nach Möglichkeit nur
- in Stunden größter Kaltblütigkeit und Ruhe daran. Gott bewahre dich vor
- jeglicher Heftigkeit und Hitze, auch bei dem unbedeutendsten Ausdruck.
- Zorn ist nie am Platze, am wenigsten bei einer guten Sache, weil er ihr
- gutes Recht nur trübt und verdunkelt. Sei immer eingedenk, daß du kein
- Jüngling mehr, sondern bereits ein Mann in vorgeschrittenem Alter bist.
- Einem jungen Mann stünde es vielleicht noch an, heftig zu sein und zu
- zürnen: wenigstens verleiht ihm der Zorn in den Augen mancher Leute
- etwas Schönes. Wenn dagegen ein alter Mann heftig wird, wird er ganz
- einfach häßlich und wird von den jungen Leuten verspottet und lächerlich
- gemacht. Siehe zu, daß man nicht einmal von dir sagt: »Dieser häßliche,
- alte Mann! Sein ganzes Leben lang hat er auf der Bärenhaut gelegen und
- nichts getan und nun tritt er plötzlich auf und macht andern Leuten
- Vorwürfe wegen ihres schlechten Lebenswandels.« Aus dem Munde eines
- alten Mannes sollen nur gütige, nicht aber laute und polternde Worte
- kommen. Ein Geist reinster Milde und Sanftmut muß die hohen Reden des
- Greises durchwehen, so daß die jungen Leute kein Wort der Entgegnung
- finden und das Gefühl haben, daß jede Rede hier unziemlich wäre und daß
- ein ergrautes Haupt etwas Ehrwürdiges habe.
- 1844.
- XII
- Der Christ schreitet vorwärts
- An Schtsch--w
- Mein Freund! Halte dich nicht für mehr, als für einen Lehrling und für
- einen Schüler. Glaube nicht, daß du schon zu alt bist, um noch zu
- lernen, daß deine Kräfte und Fähigkeiten schon die rechte Reife und den
- höchsten Grad der Entwicklung erreicht und daß dein Charakter und deine
- Seele schon ihre rechte Gestalt angenommen haben und nicht mehr besser
- werden können. Für einen Christen gibt es keine vollendete Lehrzeit, er
- bleibt ein ewiger Lehrling, ein Schüler bis zum Grabe. Nach dem
- gewöhnlichen Lauf der Dinge erreicht der Mensch seine höchste
- Verstandesreife mit dreißig Jahren. Zwischen dem dreißigsten und
- vierzigsten Jahre geht es mit seinen Kräften noch ein wenig aufwärts;
- jenseits dieser Altersgrenze aber gibt es kein Fortschreiten mehr und
- wird alles, was der Mensch produziert, nicht nur keineswegs besser,
- sondern sogar schwächer und kälter als das, was er früher hervorgebracht
- hat. Dies gilt jedoch nicht für einen Christen, und wo für die andern
- die Grenze der Vollkommenheit liegt, da beginnt der Weg erst für den
- Christen. Die begabtesten und fähigsten Menschen werden, wenn sie das
- vierzigste Jahr überschritten haben, stumpf, müde und schwach. Nimm alle
- Philosophen und die größten weltumspannenden Genies: ihre Blütezeit
- fällt in die Epoche ihrer besten Mannesjahre; von da ab beginnt ihr
- Geist bereits nachzulassen, und im Alter fallen sie sogar häufig in
- Kindheit zurück. Denke zum Beispiel an Kant, der während seiner letzten
- Jahre fast gänzlich das Gedächtnis verlor, ein Kind wurde und starb.
- Vergleiche damit das Leben aller Heiligen, und du wirst sehen, daß sie
- an Verstand und Geisteskräften erstarkten, je gebrechlicher sie wurden
- und je mehr sie sich dem Tode näherten. Selbst die unter ihnen, die von
- Natur keineswegs mit glänzenden Gaben ausgestattet waren und ihr ganzes
- Leben lang für einfältig und dumm galten, setzten die Menschen später
- durch die Weisheit ihrer Reden in Erstaunen. Woher kommt das wohl? Weil
- sie sich jene vorwärtstreibende Kraft erhielten, die jeder andere Mensch
- nur während seiner Jugendjahre besitzt, wenn er von Heldentaten träumt,
- denen der Lohn des allgemeinen Beifalls winkt, wenn er noch in rosige
- Fernen blickt, die für den Jüngling soviel Verlockendes haben. Versinken
- aber diese Fernen erst einmal und mit ihnen die Heldentaten -- so
- erlischt auch die Kraft, die ihn vorwärts treibt. Vor dem Christen aber
- strahlt ewig eine lockende Ferne und ihm stehen stets unvergängliche
- Heldentaten bevor. Wie ein Jüngling sehnt er sich nach den Kämpfen des
- Lebens; ihm fehlt es nie an einem Feind, gegen den er zu streiten und
- anzukämpfen hätte, weil sein in sich zurückgewandter Blick, der immer an
- Schärfe und Klarheit zunimmt, ihm in seinem Innern stets neue Gebrechen
- und Fehler aufdeckt, die ihn zu neuen Kämpfen aufrufen. Daher können
- auch seine Kräfte nie ganz einschlummern oder schwächer werden, sie
- werden vielmehr unaufhörlich geweckt, und der Wunsch, besser zu sein und
- sich den himmlischen Beifall zu verdienen, ist ihm ein solcher Ansporn,
- wie ihn nicht einmal der ehrgeizigste Mensch in seiner unersättlichen
- Ehrsucht besitzt. Das ist der Grund, weswegen der Christ noch weiter
- fortschreitet, wenn die andern Menschen bereits Rückschritte machen, und
- warum er immer klüger wird, je weiter er fortschreitet.
- Der Verstand ist nicht das höchste Vermögen in uns. Er hat lediglich
- polizeiliche Funktionen; er kann nur die Dinge ordnen und jedem Ding
- seinen Platz anweisen, das bereits in uns liegt. Er selbst aber
- schreitet nicht vorwärts, wenn ihm die beiden andern Vermögen in uns,
- aus denen er seine Weisheit schöpft, nicht vorangehen. Abstrakte
- Lektüre, Grübeleien und ein fortgesetztes Studium aller Wissenschaften
- tragen nur sehr wenig zu seiner Entwicklung bei: zuweilen ersticken sie
- ihn sogar und hemmen sie ihn in seiner selbständigen Entwicklung. Er ist
- weit abhängiger von den Zuständen des Gemüts: sowie die Leidenschaften
- in uns zu toben beginnen, wird er blind und töricht; ist unsere Seele
- dagegen ruhig und von keiner Leidenschaft bewegt, so erhellt und klärt
- auch er sich und läßt uns klug und weise handeln. Die Vernunft ist ein
- weit höheres Vermögen; aber sie wird nur durch den Sieg über die
- Leidenschaften erworben. Nur solche Menschen haben sie besessen, die
- ihre eigene Selbsterziehung nie vernachlässigten. Aber auch die Vernunft
- setzt den Menschen noch nicht in den Stand, fortzuschreiten und vorwärts
- zu streben. Es gibt ein noch höheres Vermögen; es heißt Weisheit, und
- diese kann uns nur Christus allein verleihen. Sie wird keinem von uns
- bei seiner Geburt in die Wiege gelegt, sie ist keinem von uns angeboren,
- sondern ist ein Geschenk der höchsten, himmlischen Gnade. Der, der schon
- Verstand und Vernunft besitzt, kann sich die Weisheit nur dadurch
- erwerben, daß er Gott Tag und Nacht immer wieder in heißem Gebet bittet,
- sie ihm herabzusenden, daß er seine Seele bis zur reinsten
- unschuldigsten Güte und Milde erhebt und alles in sich nach bestem
- Vermögen reinigt und in Ordnung bringt, um diesen himmlischen Gast in
- sich aufzunehmen, der solche Wohnungen meidet, in denen noch keine
- Ordnung im seelischen Hausgerät herrscht und wo noch nicht alles ganz
- einträchtig und harmonisch zusammenklingt. Wenn jedoch die Weisheit das
- Haus betritt, dann beginnt ein himmlisches Leben für den Menschen, und
- er lernt die ganze wundersame Süßigkeit kennen, die darin liegt, ein
- Schüler zu sein; die ganze Welt wird seine Lehrerin, der geringste unter
- den Menschen kann ihm zum Lehrer werden. Aus dem einfachsten Rat weiß er
- die weise Belehrung, die in ihm steckt, herauszulesen; das törichteste
- Ding wendet ihm seine tiefste, klügste Seite zu, und das ganze Weltall
- liegt vor ihm, wie ein offenes Buch der Weisheit; mehr Schätze als alle
- andern wird er aus diesem Buch schöpfen, denn weit lauter als den andern
- wird es ihm aus ihm entgegentönen, daß er ein Schüler ist. Sollte ihn
- jedoch auch nur für einen Augenblick der Wahn anwandeln, daß seine
- Lehrjahre beendet seien, daß er kein Schüler mehr sei, und sollte er
- sich durch eine ihm erteilte Lehre oder Belehrung gekränkt fühlen, so
- wird die Weisheit plötzlich von ihm genommen werden, und er wird im
- Dunkeln zurückbleiben, wie König Salomon in seinen letzten Tagen.
- 1846.
- XIII
- Karamsin
- Aus einem Brief an N. M. Jasykow
- Ich habe den Aufsatz, den Pogodin zu Ehren Karamsins geschrieben hat,
- mit großem Vergnügen gelesen. Das ist Pogodins beste Arbeit, sowohl der
- Sauberkeit und Vornehmheit des Inhalts, als auch der äußeren Form nach:
- seine gewöhnlichen groben und plumpen Ausfälle fehlen hier ganz, und
- auch der Stil hat nichts von jener rohen Flüchtigkeit, die ihm so sehr
- schadet. Vielmehr ist hier alles schön aufgebaut, wohl überlegt,
- geordnet und vorzüglich disponiert. Alle Stellen aus Karamsin sind so
- klug ausgewählt, daß Karamsin gewissermaßen ganz durch sich selbst
- beleuchtet wird, er charakterisiert sich gleichsam selbst, bestimmt sich
- mit seinen eigenen Worten den Wert und tritt damit dem Leser lebendig
- vor Augen. Denn Karamsin ist in der Tat eine außergewöhnliche
- Erscheinung. Unter unseren Schriftstellern ist er sicherlich der, von
- dem man mit dem meisten Recht behaupten kann, er habe seine Aufgabe ganz
- erfüllt, sein Pfund nicht in der Erde vergraben und für die fünf
- Talente, die ihm verliehen waren, noch fünf neue hinzuerworben! Karamsin
- war der erste, der den Beweis erbracht hat, daß ein Schriftsteller bei
- uns unabhängig sei und von allen gleichmäßig als angesehenster Bürger
- unseres Staates geachtet werden kann. Er hat zuerst feierlich verkündet,
- daß die Zensur einem Schriftsteller nicht im Wege stehen könne, und daß
- sie, wenn er nur in so hohem Maße von dem reinen Streben nach dem Guten
- beseelt sei, daß dieses Streben seine ganze Seele erfüllt, ihm in
- Fleisch und Blut übergegangen und sein tägliches Brot geworden ist, nie
- zu streng gegen ihn verfahren werde, und daß er überall Freiheit
- genießen könne. Er hat das ausgesprochen und bewiesen. Kein Mensch hat
- eine so kühne und edle Sprache geführt wie Karamsin, ohne daß er darum
- seine eigenen Gedanken und Meinungen zu unterdrücken brauchte, trotzdem
- sie durchaus nicht in allen Punkten mit den Anschauungen der damaligen
- Regierung übereinstimmten, und man hat unwillkürlich das Gefühl, daß er
- allein ein Recht dazu hatte. Welch eine Lehre für einen Schriftsteller!
- Und wie komisch erscheinen danach die unter uns, die da behaupten, man
- könne in Rußland nie die ganze Wahrheit sagen, denn sie sei uns ein Dorn
- im Auge! Und dabei drücken sie sich selbst so töricht und roh aus, daß
- sie weit mehr, als durch die Wahrheit selbst, durch die hochmütigen
- Worte verletzen, mit denen sie ihre Wahrheit zum Ausdruck bringen, und
- deren maßlose Heftigkeit nur die Zuchtlosigkeit eines undisziplinierten
- verworrenen Geistes bezeugt; und dann wundern sie sich noch und sind sie
- empört, daß niemand ihre Wahrheit anerkennen und anhören will! Nein, man
- muß ein so reines, harmonisches Gemüt besitzen wie Karamsin, dann erst
- hat man ein Recht, jene Wahrheit zu verkünden: dann werden uns alle
- anhören, vom Zaren bis herab zum letzten Bettler im Staate; ja man wird
- uns mit solch einer Liebe und Hingebung zuhören, wie man in keinem Lande
- der Welt einem parlamentarischen Redner und Verteidiger der Bürgerrechte
- und keinem der hervorragenden Prediger zuzuhören pflegt, die die Elite
- der modernen Gesellschaft um sich versammeln. Mit solch einer Liebe und
- Hingebung vermag eben nur unser herrliches Rußland zuzuhören [von dem
- man sich erzählt, daß es die Wahrheit überhaupt nicht liebt].
- 1846
- XIV
- Vom Theater, von einer einseitigen Ansicht über das Theater und
- von der Einseitigkeit überhaupt
- An den Grafen A. P. T...
- Sie sind sehr einseitig und zwar sind Sie erst seit kurzer Zeit so
- einseitig geworden; und Sie sind es nur deshalb geworden, weil ein
- Mensch, der sich in der Gemütsverfassung befindet, in der Sie sich jetzt
- eben befinden, nicht anders als einseitig werden kann. Sie denken nur
- noch an das Heil und die Rettung Ihrer Seele, und da Sie noch immer den
- Weg nicht entdecken können, auf dem es Ihnen bestimmt ist, Ihr
- Seelenheil zu finden, so halten Sie alles auf der Welt für sündhaft und
- für ein Hindernis auf dem Wege zu Ihrer Rettung. Ein Mönch kann nicht
- strenger sein, als Sie. So sind auch Ihre Ausfälle gegen das Theater
- ganz einseitig und ungerecht. Sie suchen darin eine Stütze für Ihre
- Ansicht, daß auch einige Geistliche, die Sie kennen, gegen das Theater
- eifern: und sie haben ganz recht, während Sie unrecht haben. Denken Sie
- einmal etwas tiefer darüber nach: _sind Sie wirklich_ gegen das Theater
- oder nur gegen jene Form, jene Gestalt, in der es heute auftritt. Die
- Kirche wandte sich in den ersten Jahrhunderten, als das Christentum
- überall zur Annahme gelangt war, gegen das Theater, das war zu einer
- Zeit, als das Theater noch der einzige Zufluchtsort des von überall
- vertriebenen Heidentums und eine Freistätte seiner wilden Bacchanale
- war. Das war der Grund, weswegen Johannes Chrysostomus so mächtig gegen
- das Theater eiferte. Aber die Zeiten haben sich geändert. Die ganze Welt
- hat sich erneut durch das Heraufkommen junger und frischer europäischer
- Völker, deren Bildung und Erziehung bereits auf christlicher Grundlage
- begann, und nun waren es die heiligen Männer selbst, die das Theater
- wieder begründeten und einführten: an den geistlichen Akademien wurden
- Theater gegründet. Unser Dimitrij Rostowski, der mit Recht zu den
- heiligen Kirchenvätern gezählt wird, dichtete selbst Stücke, die zur
- Aufführung bestimmt waren. Folglich liegt die Schuld nicht beim Theater.
- Man kann alles in sein Gegenteil verkehren und allem einen schlechten
- Sinn unterlegen; der Mensch ist hierzu fähig. Man muß einem Ding jedoch
- stets auf den Grund gehen und in Betracht ziehen, was es sein soll, und
- es nicht nach den Karikaturen beurteilen, die nach ihm hergestellt
- wurden. Das Theater ist durchaus keine geringe Sache und keine
- unwichtige Angelegenheit, wenn man berücksichtigt, daß es eine große
- Menge von fünf- bis sechstausend Menschen mit einem Male in seinen
- Räumen aufnehmen und beherbergen kann und daß diese ganze Menge, in der
- die einzelnen, für sich genommen, nichts miteinander gemein haben,
- plötzlich von einer großen Erschütterung ergriffen werden, in einem
- einzigen Augenblick in _einen_ Strom von Tränen oder in ein einziges
- allgemeines Gelächter ausbrechen kann. Das ist ein Katheder, von dem aus
- man der Welt sehr viel Gutes sagen kann. Sie müssen freilich einen
- Unterschied machen zwischen dem eigentlichen, sogenannten höheren
- Theater und jenen Ballettaufführungen, Tänzen, Possen, Melodramen und
- all jenem Flitter und falschen Prunk der Ausstattungsstücke, die nur für
- das Auge berechnet sind und die nur einem korrupten Geschmack oder einem
- korrupten Gefühl schmeicheln, und Sie müssen daneben das eigentliche
- Theater ins Auge fassen. Ein Theater, in dem hohe Tragödien und Komödien
- aufgeführt werden, muß in völliger Unabhängigkeit von allen anderen
- Künsten dastehen. Es wäre ja auch merkwürdig, Shakespeare mit Tänzern
- und Tänzerinnen in weißledernen Hosen unter einen Hut bringen zu wollen.
- Welch eine Kombination! Die Beine sind etwas für sich, und ebenso ist
- der Kopf etwas für sich. In einzelnen Gegenden Europas hat man das
- begriffen: dort gibt es eigene Theater für die Werke der höheren
- dramatischen Kunst, und nur diese Theater werden von der Regierung
- subventioniert. Man sollte ganz ernsthaft darüber nachdenken, ob es
- nicht möglich wäre, die besten Werke der dramatischen Kunst so zur
- Aufführung zu bringen, daß das Publikum auf sie aufmerksam würde und daß
- die wohltätige moralische Wirkung, die von allen großen Dichtern
- ausgeht, ganz zur Geltung käme. Shakespeare, Sheridan, Molière, Goethe,
- Schiller, Beaumarchais, sogar Lessing, Regnard und viele andere unter
- den Dichtern zweiten Ranges aus dem verflossenen Jahrhundert haben
- nichts geschrieben, was dazu beitragen konnte, unsere Achtung vor den
- großen Gegenständen zu verringern; in ihren Dichtungen sind nicht die
- leisesten Nachwirkungen davon zu spüren, was in den Werken der
- fanatischen Autoren jener Zeit gärt und brodelt, die sich mit
- politischen Fragen beschäftigten und die Saat der Mißachtung gegen das
- Heilige ausstreuten. Wenn auch bei jenen einmal Hohn und Spott
- aufblitzen, so richten sie sich gegen die Heuchelei, Gotteslästerung,
- Verdrehung der Wahrheit und niemals gegen das, was die Wurzel aller
- menschlichen Tugend bildet; im Gegenteil, ihre Liebe für das Gute ist
- selbst dort noch streng und deutlich vernehmbar, wo sie ganze Garben
- funkelnder Epigramme aufblitzen lassen. Häufige Wiederholungen
- dramatischer Werke hohen Stils, d. h. jener wahrhaft klassischen Stücke,
- die sich mit dem Wesen und mit der Seele der Menschen beschäftigen,
- müssen dazu führen, daß die Menschen sich festen Grundsätzen zuneigen
- und in ihnen bestärkt werden und daß sich ihre Charaktere unmerklich
- innerlich kräftigen und befestigen, während diese Flut von leichten und
- nichtssagenden Stücken, von all diesen Possen und schlecht durchdachten
- Dramen bis hinauf zum Ballett und selbst zur Oper nur ablenkt und
- zerstreut und die Gesellschaft oberflächlich und leichtsinnig macht.
- Eine Welt, deren Aufmerksamkeit durch Millionen glänzender Gegenstände
- in Anspruch genommen wird, die unsere Gedanken nach allen Richtungen
- ablenken und zerstreuen, wird Christus nicht so bald auf ihrem Wege
- begegnen. Sie ist noch zu weit von den himmlischen Wahrheiten des
- Christentums entfernt. Sie wird erschrocken zurückweichen, wie vor
- finsteren Klostermauern, wenn man ihr keine unsichtbare Leiter reicht,
- die zum Christentum emporführt, und wenn man sie nicht auf einen höheren
- Platz geleitet, von dem aus sie den unendlichen Horizont des
- Christentums besser überschauen und alles besser erkennen kann, was ihr
- früher gänzlich unverständlich war. In der Welt gibt es vielerlei, was
- allen, die sich vom Christentum entfernt haben, als Leiter dienen kann,
- die sie unsichtbar zum Christentum emporleitet, darunter auch das
- Theater, wenn es seiner höchsten Bestimmung zugeführt werden könnte. Man
- müßte die vollkommensten Werke aller Zeiten und Völker in ihrer ganzen
- strahlenden Schönheit zur Aufführung bringen. Man müßte sie häufiger, ja
- so häufig als möglich, aufführen, man müßte ein und dasselbe Werk
- fortwährend wiederholen. Und das ist sehr wohl möglich. Man kann allen
- Stücken ihre Frische und Neuheit wiedergeben, so daß sie alle
- interessieren, die Kleinsten wie den Größten, wenn man es nur versteht,
- sie richtig aufzuführen. Das sind Torheiten, daß sie veraltet sind und
- daß das Publikum den Geschmack an ihnen verloren hat. Das Publikum ist
- gar nicht so launenhaft, es wird einem immer dorthin folgen, wohin man
- es führt. Wenn ihm die Autoren nicht stets ihre üblen Melodramen
- vorsetzen würden, würde das Publikum auch keinen Geschmack an ihnen
- finden und nicht nach ihnen verlangen. Man nehme das abgespielteste
- Stück und führe es auf, wie es sich gehört, dann wird das Publikum in
- Scharen herbeiströmen. Molière wird ihm ganz neu erscheinen. Shakespeare
- wird es mehr locken als die modernste Posse. Aber freilich muß eine
- solche Aufführung tatsächlich und absolut künstlerisch sein, und diese
- Aufgabe muß stets einem wahrhaften Künstler und dem allerersten und
- tüchtigsten Schauspieler, der sich in der ganzen Truppe findet,
- anvertraut werden. Auch soll man ihm nicht etwa noch einen Gehilfen,
- irgendeinen Beamten und Sekretär, als Anhängsel zugesellen, sondern er
- soll alles allein machen und allein über alles verfügen. Es muß sogar
- besonders dafür gesorgt werden, daß die ganze Verantwortlichkeit ihm
- allein zufalle; man muß ihn öffentlich vor versammeltem Publikum
- sämtliche Nebenrollen -- und zwar eine nach der anderen -- spielen
- lassen, um den weniger bedeutenden Schauspielern lebendige Vorbilder vor
- Augen zu stellen; denn diese studieren ihre Rollen nach toten
- Vorbildern, die durch eine dunkle Überlieferung bis auf sie gekommen
- sind, sie schöpfen ihre Belehrung aus Büchern und nehmen kein wirkliches
- lebendiges Interesse an ihren Rollen. Schon diese Darstellung
- untergeordneter Rollen durch einen erstklassigen Schauspieler kann das
- Publikum anlocken und es reizen, sich ein und dasselbe Stück zwanzigmal
- nacheinander anzusehen. Wen könnte es nicht interessieren, Schtschepkin
- oder Karatygin Rollen spielen zu sehen, die sie bisher noch niemals
- gespielt haben! Wenn dann ein solcher erstklassiger Schauspieler auf
- seine alte Rolle zurückkommt, nachdem er sämtliche anderen Rollen
- gespielt hat, wird er sich einen ganz andern, umfassenderen Begriff von
- seiner Rolle, sowie von dem ganzen Stück gebildet haben; das Stück aber
- wird durch diese Vollkommenheit der Darstellung -- etwas bisher völlig
- Unerhörtes -- für den Zuschauer noch mehr an Interesse gewinnen. Es gibt
- nichts, was den Menschen stärker ergreift und erschüttert, als jene
- vollkommene Ausgeglichenheit und Übereinstimmung aller Teile, wie sie
- ihm bisher nur in der Ausführung eines Musikstückes durch ein Orchester
- entgegentreten konnte, und durch die man es dahin zu bringen vermag, daß
- ein Werk der dramatischen Kunst häufiger hintereinander gegeben werden
- kann, als die beliebteste Oper. Man mag sagen, was man will, aber die in
- Worte gefaßten Töne des Herzens und der Seele sind weit mannigfaltiger,
- als die Töne der Musik. Ich muß jedoch wiederholen, dies alles ist nur
- dann möglich, wenn diese Aufgabe auch tatsächlich so ausgeführt, wie es
- sich gehört, und wenn die volle Verantwortlichkeit für das Repertoire
- einem erstklassigen Schauspieler zufällt, d. h. wenn die Tragödien von
- dem ersten tragischen und die Komödien vom ersten komischen Schauspieler
- inszeniert werden und wenn beide ganz allein die Leitung des Ganzen
- innehaben. [Ich sage: sie allein, weil ich weiß, wieviel Leute es bei
- uns gibt, die bei jeder Sache dabei sein wollen und sich überall
- herandrängen. Sowie irgendein Posten geschaffen wird, der mit
- irgendwelchen Geldeinnahmen verknüpft ist, so ist auch schon irgendein
- Sekretär bei der Hand, der sich hinzudrängt. Woher er plötzlich kommt,
- das weiß Gott allein: es ist, wie wenn er plötzlich aus dem Wasser
- emporgetaucht wäre; er beweist euch sofort, so klar wie daß zwei mal
- zwei vier ist, seine Unentbehrlichkeit, beginnt damit, daß er Papiere
- und Akten über ökonomische Fragen vollschreibt und dann fängt er
- allmählich an, sich in alles hineinzumengen, bis schließlich alles in
- Unordnung gerät. Diese Sekretäre sind wie ein unsichtbarer
- Mottenschwarm; sie haben alle Berufe und Ämter unterwühlt, und das
- Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen einerseits und den
- Untergebenen und Vorgesetzten andererseits gänzlich verwirrt und
- verschoben. Wir haben uns erst neulich über alle Berufe und Ämter
- unterhalten, die es in unserem Vaterlande gibt. Indem wir ein jedes Amt
- innerhalb der ihm gezogenen Grenzen betrachteten, fanden wir, daß sie
- gerade das sind, was sie sein sollen, daß sie gewissermaßen wie durch
- die Hand des Höchsten dafür geschaffen sind, um allen Bedürfnissen
- unseres Staatslebens zu genügen, und daß sie alle insgesamt von ihrem
- wahren Ziel abgewichen sind, weil jedermann mit allen andern darum zu
- wetteifern schien, die Grenze der ihm gezogenen Berufspflichten zu
- zerstören oder sich völlig über sie hinwegzusetzen. Alle, selbst ganz
- kluge und ehrliche Leute, wollten durchaus, wenn auch nur um ein
- Zollbreit, mehr Macht haben und den Kreis ihrer Tätigkeit überschreiten,
- weil sie glaubten, daß sie selbst und ihr Beruf hierdurch vornehmer und
- edler werden müßten. Wir sind damals sämtliche Beamtenkategorien, von
- den höchsten bis zu den niedrigsten, durchgegangen, die Sekretäre aber
- haben wir vergessen, und gerade sie neigen am meisten dazu, die Grenzen
- ihres Berufs zu überschreiten. Wo ein Sekretär lediglich Schreiberarbeit
- zu leisten hat, sucht er die Rolle eines Vermittlers zwischen
- Vorgesetzten und Untergebenen zu spielen. Wo man eines solchen
- Vermittlers zwischen Vorgesetzten und Untergebenen bedarf und wo ihm
- diese Vermittlung übertragen wird, da beginnt er, wichtig zu tun; er tut
- dem Untergebenen gegenüber so, als ob er selbst sein Vorgesetzter wäre,
- er richtet sich ein Vorzimmer ein, läßt die Leute stundenlang auf sich
- warten, kurz: statt den Untergebenen den Zutritt zu ihrem Vorgesetzten
- zu erleichtern, trägt er nur dazu bei, ihn noch mehr zu erschweren. Und
- dies alles geschieht häufig nur deshalb, um der Stellung eines Sekretärs
- einen Schein von Vornehmheit zu geben. Ich habe sogar einige treffliche
- und gescheite Leute gekannt, die die Untergebenen ihres Vorgesetzten in
- meiner Gegenwart so behandelten, daß ich für diese Menschen erröten
- mußte. Mein Chlestakow war in solchen Augenblicken ein Stümper gegen
- sie. Dies alles wäre übrigens noch nicht so schlimm, wenn es nicht so
- viele traurige Folgen hätte. Viele wahrhaft nützliche und unentbehrliche
- Menschen sind schon aus dem Staatsdienst ausgetreten lediglich wegen der
- Niedertracht eines Sekretärs, der die gleiche Achtung für sich in
- Anspruch nahm, die sie allein dem Vorgesetzten schuldeten, und der sich,
- wenn ihm jemand diese Achtung verweigerte, dadurch rächte, daß er ihn zu
- verleumden suchte, dem Vorgesetzten eine schlechte Meinung von ihm
- beibrachte, kurz sich der niederträchtigsten Mittel bediente, deren nur
- ein ehrloser Mensch fähig ist. In den Departements für die schönen
- Künste usw. liegt die Oberleitung in den Händen eines Komitees oder
- eines unmittelbaren Vorgesetzten, der an der Spitze steht, und da gibt
- es meist keinen Sekretär, der die Rolle eines Vermittlers spielt: da hat
- er lediglich die Verfügungen anderer schriftlich zu fixieren oder er hat
- die Geschäftsführung und die Verwaltung der Finanzen inne; zuweilen aber
- kommt es doch auch dort vor, daß er sich dort infolge der Trägheit der
- Mitglieder oder aus irgendeinem andern Grunde immer tiefer einnistet und
- die Rolle eines Vermittlers oder sogar eines künstlerischen Leiters an
- sich reißt. Und dann ist einfach der Teufel los: der Zuckerbäcker fängt
- an Stiefel zu machen und der Schuster muß Kuchen backen. Ein Künstler
- erhält Instruktionen, die nicht von einem Künstler herrühren; es
- erscheint eine Verordnung, von der man überhaupt nicht verstehen kann,
- wozu sie erlassen worden ist. Oft wundert man sich, wie ein Mensch, der
- doch bis dahin ganz gescheit war, plötzlich ein so törichtes
- Schriftstück abfassen konnte; dabei aber ist er nicht im mindesten daran
- beteiligt; das Schriftstück stammt aus einer Quelle, an die kein Mensch
- auch nur denken konnte, wie das Sprichwort sagt: Ein Schreiber hat's
- hingeschmiert, dem der Name Hündchen gebührt.]
- Bei jeglicher Kunst sollte die letzte und höchste Durchführung und
- Ausführung in den Händen eines höchsten Meisters dieser Kunst liegen
- [und nicht in den Händen irgendeines Sekretärs, der lediglich bei der
- Verwaltung des Geschäfts und der Finanzen verwendet werden sollte]. Nur
- der Meister selbst kann Unterricht in seiner Kunst erteilen, da er
- allein alles kennt, was dazu erforderlich ist, und kein anderer. Nur ein
- erstklassiger Schauspieler, der ein wirklicher Künstler ist, kann eine
- gute Auswahl von Stücken treffen und sie nach strengen Grundsätzen
- sichten; er allein kennt das Geheimnis, wie die Proben geleitet werden
- müssen, er weiß, wie wichtig es ist, häufige Leseproben und
- Probeaufführungen des ganzen Stückes zu veranstalten. Er wird es dem
- Schauspieler nicht einmal erlauben, seine Rolle zu Hause auswendig zu
- lernen, sondern es so einrichten, daß die Schauspieler das Ganze
- zusammen einstudieren und daß jeder seine Rolle ganz von selbst während
- der Proben lernt und im Kopfe behält, so daß er durch die Umstände
- selbst, durch das ihn umgebende Milieu und durch die bloße Berührung mit
- ihm unwillkürlich den richtigen und seiner Rolle angemessenen Ton
- trifft. Dann kann auch ein schlechter Schauspieler manches Gute lernen:
- solange die Schauspieler ihre Rolle noch nicht auswendig können, können
- sie sich vieles von einem guten Schauspieler aneignen. Hier erfüllt sich
- jeder, ohne selbst zu wissen, wie es geschieht, mit Wahrheit und
- Natürlichkeit, sowohl in der Rede als auch in den Bewegungen. Der Ton
- der Frage verleiht dem Ton der Antwort seine Farbe. Ist die Frage in
- einem geschwollenen hochtrabenden Ton gehalten, so wird auch die Antwort
- hochtrabend sein; stelle eine einfache Frage, so wird auch die Antwort
- einfach ausfallen. Selbst der einfachste, schlichteste Mensch ist
- imstande, eine passende Antwort zu geben. Aber wenn der Schauspieler
- seine Rolle zu Hause auswendig gelernt hat, dann wird seine Antwort
- geschwollen und einstudiert klingen, und diesen Ton der Antwort wird er
- nie wieder loswerden können. Du wirst nie einen andern aus ihm machen,
- kein Wort, keinen Tonfall wird er von dem besseren Schauspieler lernen;
- die ganze Umgebung, alle Dinge und Charaktere, unter denen sich der von
- ihm dargestellte Charakter bewegt, werden stumm für ihn bleiben, und
- auch das Stück wird ihm fremd bleiben und ihm nichts sagen, und er wird
- sich wie ein Toter zwischen Toten bewegen. Nur ein Schauspieler, der ein
- wahrhafter Künstler ist, hat ein Gefühl für das Leben, das in einem
- Stück pulsiert, und kann es dahin bringen, daß dieses Leben auch allen
- Schauspielern sichtbar, und lebendig von ihnen empfunden wird, nur er
- allein hat den richtigen Maßstab für die Veranstaltung der Proben, wie
- sie geleitet werden müssen, wann man mit ihnen aufhören kann, und
- wieviel Proben genügen, um das Stück dem Publikum in wirklicher
- Vollendung vorzuführen. Man muß es nur verstehen, diesen Schauspieler
- und Künstler dazu zu bewegen, daß er sich dieser Sache wie seiner
- eigensten intimsten Aufgabe annimmt, man muß ihm beweisen, daß das seine
- Pflicht ist und daß die Ehre seiner eigenen Kunst dies von ihm fordert
- -- so wird er es tun, so wird er es durchführen, weil er seine Kunst
- lieb hat. Ja, er wird sogar noch mehr tun, er wird dafür sorgen, daß
- auch der unbedeutendste Schauspieler seine Rolle gut spielt, und wird
- seine eigene Aufgabe in der strengen Vollendung des Ganzen sehen. Er
- wird nie dulden, daß ein banales oder nichtssagendes Stück auf die Bühne
- gelangt, [das vielleicht ein Beamter, dem es nur darum zu tun ist, daß
- möglichst viel Geld in die Kasse kommt, aufführen lassen würde], er wird
- es nicht dulden, weil schon sein inneres, ästhetisches Gefühl das Stück
- ablehnen wird. Er ist auch nicht imstande, einen Druck auf die ihm
- anvertrauten Schauspieler auszuüben, sie zu tyrannisieren und zu
- schikanieren, [wie das Leute aus dem Beamtenstande tun], die Rücksicht
- auf den Ruhm und das Ansehen seines Namens wird ihm dies nicht erlauben.
- [Irgendein Beamter, z. B. ein Sekretär dagegen wird dreist und ruhig
- eine Gemeinheit begehen, da er fest davon überzeugt ist, daß niemand was
- davon erfahren wird, selbst wenn er sich noch so viel Gemeinheiten
- zuschulden kommen läßt, weil er ja eine Null ist, die niemand beachtet.
- Wenn sich dagegen ein Schtschepkin oder Karatygin etwas Unrechtes
- zuschulden kommen lassen würden, so würde dies sofort allgemeines
- Stadtgespräch werden. Darum ist es so ungeheuer wichtig, daß bei jeder
- Sache die Hauptlast der Verantwortung auf einen Mann fällt, den bereits
- jeder in der Gesellschaft kennt.] Und endlich wird ein Schauspieler, der
- zugleich ein Künstler ist, der völlig in seiner Kunst lebt und aufgeht,
- dessen höchstes Lebenselement die Kunst ist, über deren Reinerhaltung er
- wacht und die er hütet wie ein Heiligtum, es nie dulden, daß das Theater
- eine Pflanzstätte des Lasters werde. -- Also: die Schuld liegt nicht
- beim Theater. Man reinige das Theater erst einmal von all dem Schutt und
- Plunder, der darauf ruht, und dann mag man zusehen und darüber urteilen,
- was das Theater ist. Ich habe hier nicht deshalb die Sprache aufs
- Theater gebracht, weil ich durchaus vom Theater sprechen wollte, sondern
- deshalb, weil man das, was hier übers Theater gesagt wurde, auf alle
- Dinge anwenden kann. Es gibt viele Gegenstände, die darunter zu leiden
- haben, daß man ihre eigentliche Bedeutung verfälscht und verdreht, und
- da es ja überhaupt viele Leute in der Welt gibt, die die Neigung haben,
- gleich in der ersten Hitze und Erregung zu handeln oder, wie es im
- Sprichwort heißt, »das Kind mit dem Bade auszuschütten«[3] lieben, so
- wird vieles, was uns allen zu Nutz und Frommen dienen könnte,
- vernichtet. Einseitige Menschen, die überdies noch Fanatiker sind, sind
- ein Krebsschaden für die Gesellschaft; wehe dem Lande oder dem Staat, in
- dem solche Leute einen Teil der Macht in die Hände bekommen. Sie wissen
- nichts von christlicher Demut und von Zweifeln an sich selbst; sie sind
- fest davon überzeugt, daß die ganze Welt lügt und nur sie allein die
- Wahrheit reden. Lieber Freund! Geben Sie doch ein wenig mehr acht auf
- sich! Sie befinden sich gerade in diesem gefährlichen Zustande. Es ist
- ein Glück, daß Sie noch keine Stellung haben und daß Sie nicht mit der
- Verwaltung eines Amtes betraut sind: Sie, den ich als Menschen kenne,
- der dazu befähigt ist, die schwierigsten und verantwortlichsten
- Stellungen auszufüllen, Sie könnten weit mehr Unheil und Unordnung
- anrichten, als der unbegabteste von allen unbegabten Menschen. Nehmen
- Sie sich auch mit Ihrem Urteil über alle Dinge in acht! Seien Sie nicht
- wie jene frommen Eiferer, die mit einem Male alles, was es auf der Welt
- gibt, vernichten möchten, da sie alles für eitel Teufelswerk halten. Es
- ist ihr Los, in die gröbsten Irrtümer zu verfallen. Etwas Ähnliches hat
- sich neulich auf literarischem Gebiet ereignet. Da sind plötzlich Leute
- erschienen und haben öffentlich in der Presse erklärt, Puschkin sei ein
- Deist und kein Christ gewesen; wie wenn sie in Puschkins Seele
- hineingeblickt hätten, und wie wenn Puschkin durchaus verpflichtet
- gewesen wäre, in seinen Gedichten von den höchsten Dogmen des
- Christentums zu sprechen, wozu sich selbst ein Priester der Kirche nur
- mit großer Angst und tiefster Ehrfurcht entschließt, nachdem er sich
- durch einen wahrhaft heiligen Lebenswandel dazu vorbereitet hat! Nach
- der Ansicht dieser Leute sollte man die höchsten und erhabensten Ideen
- des Christentums in Reimform bringen und sie wohl gar zu einer Art
- Versspiel machen. Puschkin hat sehr klug daran getan, daß er es nicht
- wagte, das, wovon seine Seele noch nicht bis ins Innerste durchdrungen
- war, in Verse zu kleiden, und daß er es vorzog, allen denen, die sich
- bereits sehr weit von Christus entfernt hatten, eine unsichtbare Sprosse
- zum Höchsten zu sein, statt sie durch seelenlose Verse, wie sie von
- Leuten geschrieben werden, die sich Christen nennen, dem Christentum
- völlig zu entfremden. Ich kann gar nicht verstehen, wie es einem
- Kritiker auch nur einfallen konnte, in der Presse ganz offen und vor
- allen Leuten eine solche Beschuldigung gegen Puschkin zu erheben, seine
- Werke wirkten demoralisierend auf die Menschen, wo doch selbst die
- Zensur laut Vorschrift verpflichtet ist, wenn der Sinn eines Werks nicht
- ganz klar aus dem Werk hervorgeht, ihm eine möglichst ungesuchte und
- einfache Deutung zu geben, die möglichst günstig für den Autor ist, und
- nicht eine falsche und gekünstelte, die dem Autor schaden muß. Wenn das
- sogar der Zensur zur Vorschrift gemacht wird, die immer stumm sein und
- schweigen muß und nicht einmal die Möglichkeit hat, sich vor dem
- Publikum zu rechtfertigen, um wieviel mehr muß sich die Kritik das zum
- Gebot machen, die selbst über die unbedeutendsten Motive und Handlungen
- Aufklärung geben und sich ihretwegen rechtfertigen kann! Öffentlich
- erklären, ein Mensch sei kein Christ, ja er sei sogar ein Feind Christi,
- indem man sich auf einige Fehler seines Charakters und darauf beruft,
- daß er der Welt und ihren Versuchungen erlegen sei, wie doch jeder von
- uns ihnen erliegt -- ist das etwa christlich gehandelt? Ja, wer von uns
- ist denn dann ein Christ? Auf diese Weise kann ich schließlich auch dem
- Kritiker selbst vorwerfen, daß er kein Christ sei. Ich kann sagen, ein
- Christ könne nicht mit solcher Sicherheit auf seinen Verstand bauen, um
- ein Urteil in einer so dunklen Sache zu fällen, die Gott allein kennt
- und begreift, denn ein Christ weiß, daß unser Verstand nur bei einem
- ganz reinen heiligen Leben der vollen Klarheit teilhaftig und dazu
- befähigt wird, einen Gegenstand von allen Seiten zu sehen; der
- Lebenswandel eines solchen Menschen aber ist vielleicht doch noch nicht
- so ganz rein und heilig. Ein Christ wird sich erst besinnen, ehe er sich
- entschließt, jemand eines solchen schweren Verbrechens anzuklagen, wie
- des, er wolle Gott nicht in der Gestalt anerkennen, in der ihn uns
- Gottes Sohn selbst, der zu uns auf die Erde herabgestiegen ist,
- anzubeten geboten hat, -- denn das ist eine furchtbare Beschuldigung. Er
- wird ferner erklären: in der Poesie ist noch vieles ein Geheimnis; es
- ist schon nicht leicht, über einen gewöhnlichen Menschen ein Urteil zu
- fällen, und erst ein abschließendes und endgültiges Urteil über einen
- Dichter fällen zu wollen, das kann nur ein Mensch, der selbst etwas vom
- Geist der Poesie in sich trägt und beinahe ein dem Dichter selbst
- ebenbürtiger Dichter ist -- wie dies ja auch für jedes einfache Handwerk
- oder jede Kunstfertigkeit zutrifft, wo ja auch jeder in gewissem Maße
- mitsprechen kann, wo aber nur der Meister selbst ein umfassendes und
- endgültiges Urteil fällen darf. Kurz, der Christ wird in erster Linie
- Demut üben, die sein vornehmstes Banner ist, an dem man erkennen kann,
- daß er ein Christ ist. Statt von den Stellen in Puschkin zu reden, deren
- Sinn noch dunkel ist und auf zwei verschiedene Weisen ausgelegt werden
- kann, wird ein Christ nur von den Werken sprechen, die ganz klar sind,
- die aus seinem reifen Mannesalter und nicht aus seiner schwärmerischen
- Jugendzeit stammen. Er wird sein gewaltiges Gedicht »An einen
- Kirchenfürsten« anführen, in dem Puschkin von sich selbst redet und
- sagt: auch in den Jahren, als er noch für die Schönheit und das Treiben
- dieser Erdenwelt begeistert gewesen sei, habe der bloße Anblick des
- Dieners Christi einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht.
- [Fußnote 3: »Aus Ärger über die Läuse in den Ofen mit dem Pelz!«]
- Da traf dein Wort mich wundereigen
- Mit überirdischer Gewalt,
- Und meine Finger ließen schweigen
- Die Saiten, die wie Hohn geschallt.
- Mein Herz in seinem tiefsten Horte
- Schlug reuekrank, gewissenswund;
- Beim Chrysam deiner duft'gen Worte
- Ward es zu neuem Sein gesund.
- Aus deiner Geisteshöhe reichst du
- Mir deine Hand zur Stütze nun;
- Mit sanfter Liebeshand verscheuchst du
- Den Sturm -- und meine Sinne ruhn.
- Das ewig Wahre, ewig Schöne
- Durchflammt das Herz mir im Gebet;
- Stumm hört des Seraphs Harfentöne
- Im heiligen Schauder der Poet.
- (Fiedler.)
- Das ist ein Gedicht, auf das ein Kritiker hinweisen wird, der ein
- wahrhafter Christ ist! Dann wird seine Kritik einen Sinn erhalten und
- Gutes stiften: damit wird sie die gute Sache stärken und kräftigen, denn
- sie wird zeigen, wie selbst ein Mensch, dessen Geist all die
- verschiedenartigen Glaubenssätze und alle Fragen seiner Zeit umfaßte,
- Fragen, die noch so unklar und verworren sind, die uns so weit von
- Christus entfernen, wie selbst solch ein Mensch in seinen besten
- Momenten, in Augenblicken höchster Klarheit, dichterischer Erleuchtung
- und Hellsichtigkeit die Hoheit des Christentums über alles stellte. Was
- aber hat die Kritik jetzt für einen Sinn? frage ich. Wozu kann es gut
- sein, daß man die Menschen irreführt, indem man Zweifel und Argwohn
- gegen Puschkin in ihre Seelen sät? Es ist doch keine Kleinigkeit, den
- klügsten Menschen seiner Zeit als einen Mann hinzustellen, der das
- Christentum negiert -- einen Menschen, zu dem das geistige Rußland wie
- zu seinem Führer emporschaut, der alle andern Menschen weit hinter sich
- gelassen und überholt hat! Es ist noch gut, daß es ein so unbegabter und
- unfähiger Kritiker war und daß es ihm daher nicht gelingen konnte, einer
- solchen Lüge Eingang zu verschaffen, und daß Puschkin selbst Gedichte
- hinterlassen, die diese Lüge widerlegen; [wäre es nicht so gewesen, was
- hätte er anderes tun können, als Unglauben statt Glauben zu verbreiten?]
- So Schlimmes kann man anrichten, wenn man einseitig ist! Lieber Freund,
- Gott bewahre Sie vor Einseitigkeit; mit ihr stiftet der Mensch überall
- nichts wie Unheil: in der Literatur, in seiner amtlichen Tätigkeit, in
- der Gesellschaft -- kurz überall! Ein einseitiger Mensch ist von sich
- selbst überzeugt, ein einseitiger Mensch ist dreist, ein einseitiger
- Mensch macht sich alle zu Feinden. Ein einseitiger Mensch kann nie das
- rechte Maß finden. Ein einseitiger Mensch kann kein wahrer Christ sein;
- er kann bloß ein Fanatiker sein. Einseitigkeit im Denken ist nur ein
- Zeichen dafür, daß der Mensch erst auf dem Wege zum Christentum ist, daß
- er es noch nicht ganz erfaßt hat, weil das Christentum unserm Geist
- Vielseitigkeit verleiht. Mit einem Wort: Gott bewahre Sie vor der
- Einseitigkeit! Bewahren Sie sich einen besonnenen Blick für jedes Ding
- und denken Sie immer daran, daß es zwei gänzlich entgegengesetzte Seiten
- haben kann, von denen Ihnen eine noch nicht bekannt ist. Theater und
- Theater -- das sind zwei verschiedene Sachen, wie es ja auch beim
- Publikum zwei Arten der Begeisterung gibt: es ist doch was anders, ob
- man in Entzücken gerät, wenn eine Ballettänzerin ihr Füßchen möglichst
- hoch in die Höhe schleudert, oder ob man von Begeisterung ergriffen
- wird, wenn ein großer Schauspieler durch seine erschütternde Rede die
- höchsten Gefühle im Menschen zu noch reinerer Höhe steigert. Ein andres
- sind die Tränen, die ein fremder Sänger einem Menschen entlockt, indem
- er sein Gehör in angenehmer Weise kitzelt, Tränen, die, wie ich höre,
- heute auch solche Leute in Petersburg vergießen, die nicht Musiker sind,
- und ein andres sind die Tränen, die dem Auge des Zuschauers entströmen,
- wenn er durch die lebendige Darstellung einer hohen Tat bis ins Innerste
- erschüttert wird und dann nach Verlassen des Theaters mit neuer Kraft,
- noch ganz unter dem Eindruck dieser Darstellung einer heroischen
- Handlung stehend, an seine pflichtmäßige Tätigkeit geht. Mein Freund.
- Wir sind in diese Welt berufen, nicht um zu zerstören und zu vernichten,
- sondern um [nach dem eigenen Vorbilde Gottes] alles zum Guten zu lenken
- -- selbst das, was die Menschen bereits verdorben und zum Bösen gewandt
- haben. Es gibt kein Werkzeug in der Welt, das nicht dem Dienste Gottes
- geweiht wäre. Alle diese Hörner, Pauken, Leiern und Zimbeln, mit denen
- die Heiden ihre Götzen verherrlichten, dienten, nach dem Siege des
- Königs David, dem wahren Gott zu Preis und Ruhme, und in Israel
- herrschte noch größere Freude, als es vernahm, daß dieselben
- Instrumente, die noch nie Ihm zu Ehren erklungen waren, nun zu Seinem
- Preis und Ruhme tönten.
- 1845.
- XV
- Über die Aufgaben der lyrischen Dichtung unserer Zeit
- Zwei Briefe an N. M. Jasykow
- I.
- Dein Gedicht »Das Erdbeben« hat mich entzückt. Auch Schukowski war ganz
- davon begeistert. Dies ist seiner Ansicht nach nicht nur das beste von
- deinen Gedichten, sondern überhaupt das beste russische Gedicht. Welch
- eine kluge und fruchtbare Idee: ein Ereignis der Vergangenheit zu nehmen
- und in die Gegenwart zu verlegen! Auch die Anwendung auf den Dichter,
- der seine Ode vollendet, ist so glücklich, daß jeder von uns, was auch
- sein Beruf und seine Tätigkeit sein mag, sie in diesem furchtbaren Jahr,
- wo die ganze Welt in ihrem Grunde erschüttert wird, und alles vor Angst
- wegen des Kommenden vergehen will, auch für sich nutzbar machen sollte.
- Freund! ein lebenspendender Quell springt vor dir auf. Deine an den
- Dichter gerichteten Worte:
- Und bring den angsterfüllten Menschen
- Gebete mit aus Bergeshöhn
- sind Worte, die an dich selbst gerichtet sind. Dir enthüllt sich das
- Geheimnis deiner Muse. Die gegenwärtige Zeit bietet gerade dem lyrischen
- Dichter die günstigste Gelegenheit zur Betätigung. Mit der Satire kann
- man nicht viel ausrichten: mit einfachen Schilderungen und Nachbildungen
- der Wirklichkeit, wie sie sich dem Auge moderner, weltlich gerichteter
- Menschen darstellt, kann man niemand aus dem Schlummer wecken: die
- heutige Zeit schläft den tiefen Schlaf des Helden. Nein, finde in der
- Vergangenheit ein Ereignis, wie es sich auch heute ereignen könnte,
- führe es uns plastisch vor Augen und triff es im Angesichte aller mit
- deinem Verdammungsurteil, wie es zu seiner Zeit vom Zorne Gottes
- getroffen ward; geißle die Gegenwart in der Vergangenheit, und eine
- doppelte Kraft wird von deinem Worte ausgehen: die Vergangenheit wird
- dadurch lebendiger werden, und wie ein Schrei wird dir's aus der
- Gegenwart entgegentönen. Schlage das Alte Testament auf: du wirst jedes
- Geschehnis, jede Tat der Gegenwart darin wiederfinden; klarer wie der
- Tag wird's dir daraus entgegenstrahlen, worin ihr Vergehen wider Gott
- lag, und so deutlich und überzeugend ist darin Gottes Gericht an ihr
- geschildert, daß die Gegenwart erbeben muß. Du besitzest alle Mittel und
- Fähigkeiten dazu: in deinem Vers liegt eine mahnende und erhebende
- Kraft, und beides brauchen wir gerade heute. Die einen müssen erhoben
- werden, die andern bedürfen der Ermahnung und des Tadels. Alle die
- müssen erhoben werden, die durch die Untaten und durch alle Schrecken,
- die sie umgeben, bestürzt und verwirrt sind, und man muß denen ins
- Gewissen reden, die in den erhabenen Augenblicken des göttlichen Zornes
- und der unendlichen Leiden, die keinen verschonen, noch den Mut haben,
- sich wilden Ausschweifungen und einem schmählichen Jubel hinzugeben.
- Deine Verse sollten allen in leuchtender Klarheit vorschweben, wie die
- in die Luft geschriebenen Buchstaben, die während des Festmahls des
- Belsazar aufflammten und schon alle in Schrecken versetzten, noch ehe
- jemand ihren Sinn zu enträtseln vermochte. Wenn du jedoch wünschest, daß
- dich alle noch besser verstehen, dann erfülle dich mit biblischem
- Geiste, laß dir von ihm gleichwie von einer Fackel voranleuchten und
- steige hinab bis in die tiefsten Grüfte des russischen Altertums, triff
- in ihm die Schmach der gegenwärtigen Zeit und vertiefe damit in uns das
- Gefühl für das, was unsere Schmach noch weit schmachvoller erscheinen
- läßt. Dein Vers wird nicht schwächlich und matt klingen; das brauchst du
- nicht zu fürchten; der Hauch der alten Zeit wird ihm Farben verleihen,
- er allein wird dich in die rechte Stimmung versetzen und dich mit
- Begeisterung erfüllen. Aus allen unseren Chroniken dringt er uns
- förmlich wie etwas Lebendiges entgegen. Vor kurzem fiel mir ein Buch:
- »Empfang beim Zaren« in die Hand. Hier sind schon allein die Ausdrücke
- und die Namen der fürstlichen Kleidungsstücke, der teuren Gewebe und
- Edelsteine ein wahrer Schatz für einen Dichter; jedes Wort schreit
- förmlich nach dem Vers. Man staunt über die Kostbarkeiten unserer
- Sprache, jeder Ton, jeder Laut ist ein Geschenk, da ist alles groß,
- kernig und gleich einer Perle, und mancher Ausdruck ist noch kostbarer
- als die Sache selbst, die er bezeichnet. Wenn es dir gelingt, deinen
- Vers mit solchen Worten zu schmücken, -- wirst du den Leser völlig in
- die vergangenen Zeiten zurückversetzen. Als ich drei Seiten aus diesem
- Buche gelesen hatte, glaubte ich überall die alten Zaren jener
- vergangenen altersgrauen Zeit in ihrem altertümlichen Zarenornat
- andächtig zum Vespergottesdienste schreiten zu sehen.
- 1844.
- II.
- Ich schreibe dir noch einmal unter dem Eindruck deines bereits erwähnten
- Gedichts: »Das Erdbeben«. Laß das begonnene Werk um Gottes willen nicht
- liegen! Lies die Bibel noch einmal genau durch, erfülle dich mit dem
- Geist des russischen Altertums und suche mit seinem Lichte in die
- Gegenwart einzudringen. Es gibt noch ungeheuer viel Gegenstände, die du
- bearbeiten solltest, und es ist eine Sünde, wenn du sie nicht siehst.
- Schukowski hat bisher nicht mit Unrecht von deiner Poesie gesagt, sie
- entstamme einer Begeisterung, die kein Objekt hat. Es ist eine Schande,
- seine lyrische Kraft in blinden Luftschüssen verpuffen zu lassen, wo sie
- dir doch dazu verliehen ward, um Steine zu sprengen und Felsblöcke
- wegzuwälzen. Blick' um dich! alles ist jetzt Gegenstand für den
- lyrischen Dichter, ein jeder Mensch lechzt förmlich nach einem lyrischen
- Mahnruf, wo du hinblickst, überall siehst du jemand, der ermahnt oder
- ermutigt und ermuntert sein will.
- So rede denn zuallererst in einem gewaltigen lyrischen Mahngedicht den
- Klugen ins Gewissen, die den Mut sinken ließen. Du wirst Eindruck auf
- sie machen, wenn du ihnen die Sache in ihrem rechten Lichte zeigst, d.
- h. wenn du ihnen beweisest, daß ein Mensch, der sich dem Trübsinn
- hingibt, ein ganz überflüssiges wertloses Ding ist, das zu nichts nütze
- ist, was auch immer die Ursachen der Trübsal und der Entmutigung sein
- mögen; denn Trübsinn und Kleinmut sind Gott verhaßt. Du wirst den echten
- russischen Mann zum Kampf gegen Kleinherzigkeit und Mutlosigkeit
- aufrufen und ihn über alle Schrecknisse und alle Erschütterungen der
- Erde erheben, wie du in deinem Erdbeben den Dichter erhöht und erhoben
- hast.
- Richte einen machtvollen lyrischen Appell an den noch schlummernden
- schönen Menschen. Wirf ihm ein Brett vom Ufer zu, auf daß er seine arme
- Seele rette. Schon hat er sich weit von der Küste entfernt; schon wird
- er ganz umklammert und mitgerissen von der höchsten Schicht der
- Gesellschaft, dieser nichtigen hohlen Oberschicht; schon locken ihn
- Diners, die Füßchen der Tänzerinnen, und schon sieht man ihn täglich
- einem betäubenden einschläfernden Rausch erliegen; schon wächst ihm
- unmerklich die fleischliche Hülle, schon ist er ganz Fleisch geworden
- und ist kaum noch etwas wie eine Seele in ihm. Schrei auf zu ihm wie aus
- tiefster Not; laß das Greisenalter, diese Hexe, vor ihm erstehen, wie
- sie auf ihn zueilt, sie, die ganz Eisen ist, ja gegen die ein Stück
- Eisen noch wie Mitleid und Erbarmen erscheint, und die uns keinen Fetzen
- eines Gefühls wieder zurückgibt. O wenn du ihm doch das sagen könntest,
- was mein Pljuschkin aussprechen soll, wenn ich noch dazu komme, den
- dritten Teil meiner »Toten Seelen« zu schreiben!
- Stell' in einem zürnenden Dithyrambus die Wucherer neuesten Schlages,
- wie sie in unseren Tagen ihr Wesen treiben, an den Pranger: ihren
- verfluchten Luxus, ihre schlechten Frauen, die sich und ihre Männer mit
- ihrer Eitelkeit und ihrem Flitter zugrunde richten, die verfluchte
- Schwelle ihrer prunkenden Paläste und die abscheuliche Luft, die sie
- dort atmen; auf daß sie jedermann, ohne sich umzusehen, meide und
- eilenden Fußes entfliehe, wie vor der Pest.
- Verherrliche in einem feierlichen Hymnus den stillen bescheidenen
- Arbeiter, der -- ein Ruhm und eine Ehre des edlen russischen Wesens --
- mitten unter den waghalsigsten dreistesten Wucherern lebt und der in
- seiner Unbestechlichkeit nie ein Geschenk annimmt, selbst dort nicht, wo
- sich alles um ihn herum bestechen läßt. Verherrliche ihn, seine Familie,
- sein edles Weib, das lieber selbst in einer altmodischen Haube
- einhergeht und sich dem Gespött der Leute aussetzt, als zuläßt, daß ihr
- Mann etwas Niederträchtiges oder Schlechtes begeht. Stell' ihre
- herrliche Anmut so dar, daß sie vor allen Augen aufstrahle wie ein
- Heiligtum, und daß einen jeden die Sehnsucht nach ihr ergreife.
- Laß einen Hymnus zum Preis jenes Recken erklingen, wie er nur aus
- russischen Landen hervorgehen kann, der plötzlich aus seinem
- schmählichen Schlummer erwacht, sich gänzlich verwandelt und mit einem
- Schlage ein anderer wird: der offen und vor aller Welt seine
- Schlechtigkeit und seine abscheulichen Laster verflucht und der
- gewaltigste Streiter und Vorkämpfer des Guten wird. Zeig' uns, wie sich
- diese ungeheure gewaltige Tat in der echten russischen Seele vollzieht,
- aber stell' es so dar, daß die russische Seele in jedem von uns
- unwillkürlich erbebt und daß jeder, selbst der Mann der unteren Stände
- ausrufen muß: Wackerer Mann! und von dem Gefühl ergriffen wird, daß auch
- er dasselbe vollbringen kann.
- Groß, gewaltig groß ist die Zahl der Gegenstände für einen lyrischen
- Dichter -- ein ganzes Buch würde kaum genügen, um sie aufzuzählen,
- geschweige denn ein Brief. Alle wahrhaften russischen Gefühle
- verkümmern, und es ist niemand da, der sie zu wecken vermöchte! Es
- schlummert unsere Kühnheit, und es schlummern unser Wagemut und unsere
- Entschlossenheit zur Tat, es schlummert unsere unerschütterliche Kraft
- und Stärke, es schläft unser Verstand, der völlig von den Interessen
- eines mattherzigen, weibischen gesellschaftlichen Lebens absorbiert
- wird, das uns unter dem Namen der Aufklärung aufgedrängt worden und als
- Begleiterscheinung aller möglicher sinnloser und kleinlicher Neuerungen
- bei uns eingezogen ist. Reib dir den Schlaf aus den Augen und geh hin
- und rüttle auch die andern aus dem Schlummer auf. Wirf dich vor deinem
- Gott auf die Knie und flehe ihn an, er solle deinem Herzen Zorn und
- Liebe senden: Zorn wider das, was dem Menschen verderblich ist, und
- Liebe -- für die arme Menschenseele, die alle mit Verderben bedrohen und
- die er selbst zugrunde richtet. Die Worte und Ausdrücke wirst du schon
- finden: nicht Worte, sondern flammende Blitze werden aus deinem Munde
- zucken, wie aus dem der alten Propheten, wenn du die Sache nur gleich
- ihnen zu deiner eigensten Angelegenheit, zu einer Angelegenheit deines
- innersten Wesens machen, wenn du nur gleich ihnen Asche auf dein Haupt
- streuen, deine Kleider zerreißen und Gott weinend darum anflehen wirst,
- die Kraft auf dich herabzusenden, und wenn du die Errettung deines
- Landes mit solcher Glut und Inbrunst herbeisehnen wirst, wie sie die
- Errettung ihres von Gott erwählten Volkes herbeigesehnt haben.
- 1844.
- XVI
- Ratschläge
- An S. P. Schewyrew
- Indem wir andre belehren, lernen wir selbst. Während dieser schweren
- Zeit der Krankheit, zu der sich auch noch schwere seelische Leiden
- gesellt haben, war ich genötigt, einen so regen Briefwechsel zu
- unterhalten, wie ich ihn bisher noch nicht geführt habe. Und wie mit
- Absicht war dies beinahe für alle, die meinem Herzen nahe stehen, eine
- Zeit voll innerer Erlebnisse und Erschütterungen. Sie alle wandten sich,
- wie von einem dunklen Instinkt getrieben, an mich und verlangten Rat und
- Hilfe von mir. Jetzt erst erkannte ich, welch nahe Verwandtschaft die
- Seelen der Menschen miteinander verbindet. Man muß nur selbst ernsthaft
- gelitten haben, um jeden Leidenden zu verstehen und um beinahe sicher zu
- sein, was man ihm zu sagen hat. Aber mehr noch: auch unser Verstand wird
- klarer; die Lage der Menschen und ihre Berufstätigkeit, in die man
- bisher keinen Einblick hatte, werden einem plötzlich deutlich und
- verständlich, und es wird einem klar, wessen ein jeglicher bedarf.
- Während der letzten Zeit kam es sogar vor, daß ich Briefe von Menschen
- erhielt, die mir fast gänzlich unbekannt waren, und daß ich ihnen
- Ratschläge erteilen konnte, die ich früher nie hätte erteilen können.
- Und dabei bin ich doch gewiß nicht klüger als irgendein anderer Mensch.
- Ich kenne Menschen, die weit klüger und gebildeter sind und die sehr
- viel nützlichere Ratschläge erteilen könnten als ich, aber sie tuen es
- dennoch nicht und wissen nicht einmal, wie man so etwas macht. Gott ist
- groß, und Er ist es, der uns die Weisheit schenkt. Wodurch aber macht Er
- uns weise? Durch dasselbe Leiden, dem wir zu entfliehen suchen und vor
- dem wir uns verbergen. Es ist unsere Bestimmung, daß wir uns durch
- Kummer und Leiden ein Körnchen von jener Weisheit erwerben sollen, die
- wir aus keinem Buche zu lernen vermögen. Wer sich jedoch bereits ein
- solches Körnchen erworben hat, der hat schon nicht mehr das Recht, es
- vor den anderen zu verbergen und geheimzuhalten. Es ist nicht mehr
- unser, sondern Gottes. Gott hat es in dir hervorgebracht; und alle Gaben
- Gottes werden uns deshalb verliehen, damit wir mit ihrer Hilfe unseren
- Mitbrüdern dienen können. Er hat geboten, daß wir einander fortwährend
- belehren sollen. Nun denn, so ruhe nicht und stehe andern mit Rat und
- Belehrung zur Seite. Wenn du jedoch willst, daß das auch dir zugleich
- von Nutzen sei, so tue so, wie ich es für richtig halte und wie ich es
- mir von nun ab für immer zum Gebot meines Handelns gemacht habe. Jeden
- Ratschlag und jede Belehrung, die du jemand erteilst, sei es selbst
- einem Menschen, der auf der niedrigsten Bildungsstufe steht und mit dem
- du nichts gemein haben kannst, richte zugleich an dich selbst, und was
- du dem andern geraten hast, das rate dir selbst; was du an einem andern
- zu tadeln fandest, das mache dir sogleich auch selbst zum Vorwurf.
- Glaube mir, alles wird auch auf dich passen, und ich weiß nicht einmal,
- ob es einen Fehler gibt, den man sich nicht selbst vorzuwerfen hätte,
- wenn man nur tiefer in sich selbst hineinblickt. Deine Waffe sei
- zweischneidig. Selbst wenn du dich einmal über einen Menschen ärgerst
- und ihm zürnst, so zürne zugleich dir selbst, wenn auch nur deswegen,
- weil du einem andern zürnen konntest. Tue das unter allen Umständen!
- Lasse dich selbst nie aus den Augen! In dieser Beziehung mußt du Egoist
- sein. Der Egoismus ist gar keine so häßliche Eigenschaft. Die Menschen
- hätten ihm bloß keine so schlimme Deutung geben sollen. Und doch liegt
- dem Egoismus eine große Wahrheit zugrunde. Kümmere dich vor allem um
- dich selbst und dann erst um die andern; suche zuerst selbst besser und
- reineren Herzens zu werden und dann erst sorge dafür, daß die andern
- besser und reiner werden.
- 1846.
- XVII
- Über die Aufklärung
- An W. A. Schukowski
- Ich schreibe dir noch einmal von der Reise. Bruder! Ich danke dir für
- alles. Am Grabe des Herrn will ich zu Gott beten, Er möge mir die Kraft
- verleihen, dir auch nur einen Teil von all dem wiederzuerstatten, das du
- in deiner Güte und Klugheit an mir getan hast. Glaube und laß dich nicht
- irremachen in deinem Herzen. Wenn du nach Moskau kommst, wird es dir so
- erscheinen, als ob du in den Schoß deiner eigenen lieben Familie kämest.
- Moskau wird dir wie ein ersehnter Hafen erscheinen, und du wirst es dort
- ruhiger haben, als hier. Weder der sinnlose Lärm des leeren
- Weltgetriebes noch das ewige Wagengerassel wird dich beunruhigen;
- rücksichtsvoll wird man die Straße vermeiden, in der du wohnen wirst.
- Und selbst wenn jemand angefahren kommen sollte, um dich zu besuchen --
- ein alter Freund, oder ein Mensch, den du bisher noch nicht kanntest, so
- wird er dir zuvorkommen und dich bitten, ihm keinen Gegenbesuch zu
- machen, um dir nur ja keinen Augenblick deiner Zeit zu rauben. Bei uns
- versteht man sich darauf und weiß man sehr gut, wie man einen Menschen
- ehrt, der seine Schuldigkeit ganz getan hat. Wer all seine Gaben so
- einwandfrei treu und ehrlich ausgenutzt hat, ohne seine Fähigkeiten
- einschlafen zu lassen, ohne sich sein Leben lang je einen Augenblick der
- Trägheit hinzugeben, wer sich im Alter die Frische der Jugend erhalten
- hat, während alle um ihn herum sie in törichten Ausschweifungen
- ausgegeben haben und während die Jungen gebrechliche Greise geworden
- sind, der hat Anspruch auf Achtung und Ehrfurcht. Du wirst in Moskau
- leben wie ein Patriarch, und die Jugend wird den Worten des Greises
- lauschen und sie hüten, wie lauteres Gold. Deine Odyssee wird von großem
- Nutzen für die allgemeine Sache sein; das sage ich dir voraus. Sie wird
- dem Menschen von heute, der sich durch die Verworrenheit unseres Lebens
- und unserer Gedanken ermüdet fühlt, seine Frische wiedergeben, durch sie
- wird er vieles in einem neuen Lichte sehen, was er als alten Plunder,
- der keinen Wert für das Leben hat, von sich geworfen hat. Sie wird ihn
- der Schlichtheit und Einfachheit wiedergeben. Aber nicht weniger, wenn
- nicht noch mehr gute Früchte werden die Werke bringen, auf die dich Gott
- selbst hingewiesen hat, und die du mit Recht noch geheimhältst. Auch sie
- werden einem allgemeinen Bedürfnis entsprechen. So laß denn den Mut
- nicht sinken und schaue fest und ruhig in die Zukunft! Laß dich nicht
- schrecken durch die Mißform und die Disharmonie, der du begegnest. Es
- gibt mitten in unserem Lande eine Macht, die mit allem versöhnt und
- alles zur Eintracht bringt, und die bisher noch nicht alle sehen --
- unsere Kirche. Doch schon rüstet sie sich, von ihren Rechten vollen
- Besitz zu nehmen und ihr Licht hell über die ganze Erde erstrahlen zu
- lassen. In ihr ist alles enthalten, dessen man für ein Leben in wahrhaft
- russischem Sinne und Geiste, und zwar in jeder Beziehung und jeglicher
- Rücksicht: sowohl für das staatliche wie für das gewöhnliche
- Familienleben bedarf, sie schafft die rechte Stimmung und Disposition
- für alles, sie weist allem die Richtung und den rechten, richtigen Weg.
- Meiner Ansicht nach ist schon der bloße Gedanke, unter Ignorierung
- unserer Kirche Reformen in Rußland einzuführen, ohne sich ihren Segen
- dazu erbeten zu haben, eine Torheit. Ja, es wäre sogar unsinnig, wenn
- wir selbst unserer Denkweise allerhand aus Europa stammende Gedanken
- aufpfropfen wollten, ehe sie von der Kirche die Weihe erhalten und ehe
- sie vom Licht des Christentums verklärt worden sind. Du wirst sehen, du
- wirst Zeuge davon sein, wie das in Rußland mit einem Schlage von allen
- -- von den Gläubigen wie von den Ungläubigen -- zugegeben werden und wie
- unsere Kirche plötzlich, von allen erkannt und verstanden, dastehen
- wird. Es war wohl der Wille der Vorsehung, daß so viele von einer
- unerklärlichen Blindheit geschlagen werden sollten. Wenn ich die Fäden
- der Weltereignisse sorgsam aneinanderzulegen versuche, dann erkenne ich
- die ganze Weisheit Gottes, die darin liegt, daß Er zuerst eine
- vorübergehende Spaltung innerhalb der Kirche geschehen ließ, der einen
- gebot, unbeweglich und gleichsam in einer großen Entfernung und
- Entfremdung von den Menschen zu verharren, und bestimmte, daß die andere
- in ihre Unruhe und Bewegung hineingezogen werde, daß Er der einen gebot,
- keine Reformen oder Neuerungen zuzulassen, außer denen, die von den
- heiligen Männern der besten Zeiten des Christentums und von den ersten
- Vätern der Kirche eingeführt wurden -- während Er die andere hieß, sich
- in stetigem Wandel an alle Zeitumstände, den Geist und die Gewohnheiten
- der Menschen anzupassen und alle möglichen Neuerungen durchzuführen,
- selbst solche, die von sündhaften und lasterhaften Priestern ausgingen,
- daß Er die eine gleichsam der Welt absterben und die andre gewissermaßen
- die Herrschaft über die ganze Welt gewinnen ließ, daß Er die eine hieß,
- sich gleich der bescheidenen Maria aller Sorgen um das Irdische zu
- entschlagen und sich zu den Füßen des Herrn niederzulassen, auf daß sie
- sich recht tief mit Seinem Worte erfülle, ehe sie hinginge, es
- anzuwenden und es den Menschen zu verkünden, der andern dagegen gebot,
- gleich der sorgsamen Martha, sich wie eine gastfreie Hausfrau um die
- Menschen zu kümmern, und ihnen die noch nicht völlig durchdachten
- Herrenworte mitzuteilen. Die erste hatte das bessere Teil erwählt; sie
- lauschte lange und aufmerksam den Worten des Herrn und ertrug geduldig
- die Vorwurfe der kurzsichtigen Schwester, die sich sogar erdreistete,
- sie einen _toten_ Leichnam zu nennen, sie des Irrglaubens zu
- beschuldigen und ihr vorzuwerfen, daß sie vom Herrn abgefallen sei. Es
- ist nicht leicht, Christi Wort auf die Menschen anzuwenden, daher mußte
- sie sich zuvor tief von ihm durchdringen lassen. Dafür hat sich in
- unserer Kirche alles erhalten, dessen unsere erwachende Gesellschaft
- bedarf. Sie ist Steuer und Richtmaß der kommenden neuen Ordnung der
- Dinge, und je tiefer ich mich mit Herz, Verstand und Gemüt in sie
- versenke, um so mehr wundere ich mich, welch erstaunliche Möglichkeiten
- für eine Versöhnung der Widersprüche in ihr liegen, die die römische
- Kirche nicht zur Aussöhnung zu bringen vermag. Die römische Kirche
- mochte noch ausreichen für die frühere unkomplizierte Ordnung der Dinge;
- sie konnte vielleicht zur Not die Welt lenken und sie mit Christus
- aussöhnen, solange die Menschheit noch so unvollkommen und einseitig
- entwickelt war. Jetzt dagegen, wo die Menschheit zu einer so
- vollkommenen Entwicklung aller ihrer Kräfte und aller ihrer Fähigkeiten
- -- der guten sowohl wie der bösen -- gelangt ist, jetzt kann die
- römische Kirche die Menschen Christus nur entfremden: je mehr sie um den
- Frieden und die Einigkeit besorgt ist, um so mehr Hader sät sie, da sie
- mit ihrem dünnen Licht nicht imstande ist, die Dinge, so wie sie sich
- heute darstellen, von allen Seiten zu beleuchten. Alle sind sich darüber
- klar, daß sie mit der Aufstellung so vieler menschlicher Satzungen, die
- von solchen Kirchenfürsten herrühren, die noch keineswegs durch die
- Heiligkeit ihres Lebenswandels der höchsten und allumfassenden
- christlichen Weisheit teilhaftig geworden waren, sich ihren Blick für
- die Welt und das Leben verengt hat und diese nicht mehr zu umfassen
- vermag. Einen allseitigen vollständigen Blick für das Leben gibt es
- jetzt nur noch auf ihrer östlichen Hälfte, die offenbar für eine spätere
- und höhere Entwicklungsstufe der Menschheit prädestiniert ist. In ihr
- kann sich nicht nur Herz und Seele des Menschen, sondern auch sein
- Verstand in seinen höchsten und edelsten Fähigkeiten frei entfalten. Sie
- ist nur Weg und Richtung, um alle Kräfte und Vermögen der Menschen in
- einem einmütigen Hymnus auf das höchste Wesen zusammenzuführen. Freund,
- laß dich nicht irremachen! Und wenn die heutigen Verhältnisse noch
- siebenmal verwickelter wären -- unsere Kirche wird sie alle entwirren
- und zur Versöhnung bringen. Wie von einem dunklen Instinkt geleitet,
- beginnen selbst unsere Weltleute, die sich unter uns bewegen, bereits
- etwas davon zu ahnen, daß wir einen Schatz besitzen, in dem unsere
- Rettung liegt, -- der sich mitten unter uns befindet und den wir nicht
- bemerken. Dieser Schatz wird eines Tages hell aufstrahlen, und sein
- Glanz wird auf jedes Ding fallen. Und diese Zeit ist nicht mehr fern.
- Wir führen jetzt immer das sinnlose Wort Aufklärung im Munde, und dabei
- haben wir es uns nicht einmal überlegt, woher dies Wort stammt und was
- es bedeutet. Dies Wort gibt es in keiner Sprache, es existiert nur bei
- uns. Aufklären[4] heißt nicht belehren, unterweisen, bilden oder gar
- erleuchten, sondern den Menschen bis in sein Innerstes hinein mit all
- seinen Kräften und Vermögen _durch_leuchten, nicht nur seinen Verstand;
- heißt sein ganzes Ich wie durch ein reinigendes Feuer hindurchgehen
- lassen. Dieses Wort stammt aus dem Sprachschatz unserer Kirche, die es
- bereits gegen tausend Jahre lang gebraucht, trotz aller Finsternis und
- trotz der Wolken und Nebel der Unwissenheit, die sie von allen Seiten
- umwogen, und sie weiß, warum sie es braucht. Nicht umsonst hebt der
- Oberpriester beim Hochamt den dreiarmigen Leuchter, das Sinnbild der
- heiligen Dreieinigkeit, und den zweiarmigen Leuchter, das Sinnbild
- Seines heiligen Wortes, das in doppelter Gestalt als Gott und Mensch zu
- uns auf die Erde herabgestiegen ist, mit beiden Händen empor, weiht alle
- mit ihnen und spricht: »Christi Licht erleuchtet, heiliget, verkläret
- alle!« Und nicht umsonst ertönen während eines andern Teils der Messe in
- kurzen Abständen, als kämen sie vom Himmel, die Worte an eines jeden
- Ohr: »Das Licht der Aufklärung!« ohne daß etwas anderes zu ihnen
- hinzugefügt würde.
- 1846.
- [Fußnote 4: Das russische Wort für Aufklärung hat noch den Nebensinn der
- »_Durchleuchtung_«. Anm. des Herausgebers.]
- XVIII
- Vier Briefe an verschiedene Personen über die »Toten Seelen«
- I.
- Sie haben unrecht, sich so über den maßlosen Ton aufzuregen, in dem
- manche Angriffe gegen die »Toten Seelen« geschrieben sind: das hat auch
- seine gute Seite. Mitunter brauchen wir Menschen, die über uns empört
- sind. Wer ganz von der Schönheit einer Sache ergriffen ist, der sieht
- die Mängel nicht und verzeiht alles; wer uns dagegen zürnt und gegen uns
- erbittert ist, der wird versuchen, alles Häßliche, allen Unrat in uns
- aufzuwühlen und ihn so deutlich ans Licht zu stellen, daß wir ihn sehen
- müssen, ob wir nun wollen oder nicht. Man bekommt so selten die Wahrheit
- zu hören, daß man schon um eines kleinen Körnchens Wahrheit willen die
- Kränkung verzeihen sollte, die in dem Ton liegt, in dem sie
- ausgesprochen wird. In den Kritiken Bulgarins, Ssenkowskis und Polewois
- steckt viel Richtiges, ja selbst in dem Rat, der mir gegeben wird, ich
- solle zuerst einmal Russisch lernen und dann Bücher schreiben. In der
- Tat, wenn ich mich mit der Drucklegung des Manuskripts nicht so beeilt
- hätte und es noch ein Jahr lang liegen gelassen hätte, so hätte ich wohl
- selbst gesehen, daß das Buch unter keinen Umständen in einem so rohen
- und unordentlichen Zustand hätte erscheinen dürfen. Ja, selbst die
- Epigramme und die Scherze, die gegen mich gerichtet wurden, hatte ich
- nötig, trotzdem sie mir zuerst durchaus nicht gefielen und mir
- keineswegs angenehm waren. O wie sehr bedürfen wir der ständigen Püffe
- und Stöße, wie sind uns dieser beleidigende Ton und diese boshaften aufs
- tiefste verwundenden Spöttereien vonnöten! Auf dem Grunde unserer Seele
- liegt soviel kleinliche armselige Eitelkeit, soviel häßlicher leicht
- verletzter Ehrgeiz verborgen, daß wir in einem fort Püffe erhalten und
- mit allen nur möglichen Zuchtruten gezüchtigt werden sollten, ja wir
- sollten uns stets dankbar über die Hand freuen, die uns züchtigt.
- Indessen wünschte ich mir doch noch mehr Kritiken, die nicht von
- Literaten, sondern von Menschen herrühren, deren eigentliches
- Tätigkeitsfeld das Leben selbst ist. Von praktisch tätigen Leuten hat
- sich -- abgesehen von den Literaten -- wie zum Tort für mich auch nicht
- ein einziger geäußert. Und doch haben die »Toten Seelen« viel von sich
- reden gemacht und viel Unwillen erregt; sie haben viele durch Spott und
- Karikatur und die in ihnen enthaltene Wahrheit im Innersten getroffen;
- sie haben Verhältnisse berührt, die ein jeder täglich vor Augen hat,
- obwohl sie freilich andererseits auch wieder voller Fehler, Versehen und
- Anachronismen sind und an einer offenbaren Unkenntnis vieler Gegenstände
- kranken; hie und da habe ich sogar mit Vorbedacht manch Anstößiges und
- Verletzendes aufgenommen; ich dachte mir: vielleicht wird mich jemand
- tüchtig dafür ausschelten und mir in seinem Ärger und Zorn die Wahrheit
- sagen, die ich hören will. Ach, wenn doch nur eine Menschenseele ihre
- Stimme erhoben hätte! Und doch hätte jeder dies leicht gekonnt. Und
- wieviel Gescheites hätte er sagen können! Ein Beamter hätte mir offen
- vor allen Leuten die Unwahrscheinlichkeit der von mir geschilderten
- Vorgänge nachweisen können, da er mir nur zwei oder drei Vorgänge hätte
- vorzuhalten brauchen, die sich wirklich ereignet haben, und so hätte er
- mich gründlicher widerlegt, als mit vielen Worten; und in derselben
- Weise hätte er für die Wahrheit meiner Schilderungen eintreten und den
- Beweis für sie erbringen können. Durch Anführung einer Begebenheit, die
- sich wirklich ereignet hat, beweist man viel mehr, als durch leere Worte
- und literarische Redensarten. Und das gleiche hätte der Kaufmann, der
- Gutsbesitzer, kurz jedermann, der des Lesens und Schreibens kundig ist,
- tun können, ob er nun ein eingefleischter Stubenhocker ist oder das
- weite russische Land in allen Richtungen durchstreift. Hat doch ein
- jeder Mensch, auch wenn er bereits eine eigene Ansicht über die Dinge
- besitzt, auf der Stelle oder auf der Stufe der sozialen Ordnung, auf die
- er durch sein Amt, seinen Beruf oder durch seine Bildung gestellt ist,
- stets Gelegenheit, jeden Gegenstand von einer Seite kennen zu lernen,
- von der ihn kein anderer Mensch zu sehen vermag. Über die »Toten Seelen«
- könnte von ihrem gesamten Leserkreis ein zweites, unvergleichlich viel
- interessanteres Buch als die »Toten Seelen« selbst geschrieben werden;
- ein Buch, aus dem nicht nur ich, sondern auch die Leser selbst Belehrung
- schöpfen können, weil wir ja alle -- wozu sollen wir unsere Fehler
- verheimlichen! -- weil wir Rußland allesamt recht schlecht kennen.
- Ach wenn doch nur _eine_ Seele ihre Stimme laut und für alle vernehmbar
- erhoben hätte! Es ist fast so, als ob alles ausgestorben wäre, wie wenn
- Rußland tatsächlich nicht von lebendigen, sondern nur noch von »toten
- Seelen« bewohnt würde. Und da wirft man mir meine mangelhafte Kenntnis
- Rußlands vor! Wie wenn ich, wie vom Heiligen Geiste erleuchtet, von
- allem unterrichtet sein müßte, was an sämtlichen Ecken und Enden
- Rußlands geschieht! Ich soll über alles unterrichtet sein, ohne daß mich
- jemand unterrichtet! Woraus aber kann ich Belehrung schöpfen, ich, ein
- Schriftsteller, der schon durch seinen Schriftstellerberuf zu einer
- sitzenden einsiedlerischen Lebensweise verurteilt, der noch dazu krank
- und genötigt ist, außerhalb Rußlands in der Fremde zu leben. Auf welche
- Weise soll ich mir diese Kenntnisse verschaffen? Die Literaten und
- Journalisten können mich doch nicht darüber belehren, denn sie sind doch
- auch Einsiedler und Stubenhocker. Der Schriftsteller hat überhaupt nur
- einen Lehrer: das sind die Leser selbst. Die Leser aber haben sich
- geweigert, mich zu belehren. Ich weiß, daß ich strenge Rechenschaft vor
- Gott werde ablegen müssen, weil ich meine Aufgabe nicht erfüllt habe,
- wie ich sollte; aber ich weiß, daß auch andere die Verantwortung für
- mich werden übernehmen müssen. Und das sage ich nicht ohne Grund; Gott
- selbst weiß es, daß ich dies nicht ohne guten Grund sage.
- 1843.
- II.
- Ich habe es vorausgesehen, daß alle lyrischen Episoden in meiner
- Dichtung falsch aufgefaßt werden würden. Sie sind so unklar, haben so
- wenig Zusammenhang mit den Gegenständen, die vor den Augen des Lesers
- vorüberziehen, sie passen so wenig zu dem Stil und der Haltung des
- ganzen Werkes, daß sie die Gegner wie ihre Freunde und Verteidiger
- gleichermaßen irregeführt haben. Alle Stellen, wo ich in ganz
- allgemeiner Weise über den Schriftsteller rede, wurden auf mich bezogen;
- ich habe sogar über die Versuche erröten müssen, sie zu meinen Gunsten
- auszulegen. Aber es geschieht mir ganz recht! Unter keinen Umständen
- hätte ich ein Werk herausgeben dürfen, das zwar in seiner Anlage nicht
- schlecht, jedoch nur flüchtig und wie mit weißen Fäden zusammengeheftet
- war, gleich einem Anzug, den der Schneider zur Anprobe mitbringt. Ich
- wundere mich nur, daß so wenig Ausstellungen gegen die Kunst und das
- Prinzip des Schaffens gemacht worden sind. Daran sind einerseits der
- Ärger und Unmut meiner Kritiker, andererseits aber der Umstand schuld,
- daß wir nicht gewöhnt sind, tiefer nach dem Plan und dem Aufbau eines
- Werkes zu forschen. Man hätte darauf hinweisen müssen, welche Teile im
- Verhältnis zu den andern viel zu lang geraten sind, wo der Verfasser
- sich selbst untreu wird und den eigenen Ton, in dem er begonnen hat,
- nicht festhält. Ja, es hat auch nicht einer bemerkt, daß die letzte
- Hälfte des Buches viel weniger ausgeführt ist als die erste, daß sie
- viele Lücken enthält, daß darin die wichtigsten und bedeutsamsten
- Momente in gedrängter Kürze dargestellt, die unwichtigen und
- nebensächlichen weit ausgesponnen sind, daß der Geist, der das Werk
- erfüllt, aus ihm nicht genügend hervorleuchtet, dafür aber die Buntheit
- der Teile und das Fragmentarische des Ganzen um so mehr in die Augen
- fällt. Kurz, man hätte weit ernstere und gediegenere Einwände machen,
- man hätte mich weit heftiger tadeln können, als man es jetzt tut, und
- zwar mit gutem Grunde. Aber jetzt handelt es sich nicht darum. Worum es
- sich hier handelt, das ist die lyrische Episode, die den meisten
- Angriffen von seiten der Journalisten ausgesetzt war und in der man
- Anzeichen einer übertriebenen Selbsteinschätzung, Selbstbeweihräucherung
- und einen Hochmut hat finden wollen, wie er bisher bei keinem
- Schriftsteller zu finden war. Ich habe hier jene Stelle aus dem letzten
- Kapitel im Auge, wo der Verfasser von Tschitschikows Abreise aus der
- Stadt erzählt, seinen Helden für eine Weile allein auf der Landstraße
- läßt, sich selbst an seine Stelle versetzt und sich unter dem Eindruck
- der Monotonie und der Einförmigkeit seiner Umgebung, der öden und kalten
- Ungastlichkeit des grenzenlosen Raumes und des traurigen Liedes, das von
- einem Meer zum andern durch das ganze weite russische Land tönt, in
- einer lyrischen Apostrophe an Rußland selbst wendet, es um eine
- Erklärung für das unbegreifliche Gefühl bittet, das sich des Dichters
- bemächtigt hat, und fragt: warum es ihm so erscheint, als heftete alles,
- jeder beseelte und jeder seelenlose Gegenstand seinen Blick auf ihn und
- als erwarte er etwas von ihm. Diese Worte wurden als Hochmut und als
- eine bisher unerhörte Prahlerei ausgelegt, während sie doch weder das
- eine noch das andere sind. Sie sind einfach ein ungelenker Ausdruck für
- ein echtes Gefühl. Ich kann noch immer diese melancholischen Töne
- unserer Lieder nicht ertragen, die durch die unendlichen, grenzenlosen
- Räume Rußlands klingen. Diese Töne schwingen in meinem Herzen weiter,
- und ich bin erstaunt, daß nicht ein jeder dasselbe in seinem Innern
- empfindet. Wer beim Anblick dieser wüsten, noch unbevölkerten und
- ungastlichen Räume nicht traurig gestimmt wird, wer aus den
- melancholischen Klängen unserer Lieder nicht einen schmerzlichen Vorwurf
- gegen sich selbst, jawohl, _gegen sich selbst_ heraushört, der hat
- entweder seine Pflicht und Schuldigkeit bereits restlos getan, oder er
- hat keine russische Seele. Betrachten wir die Sache einmal so, wie sie
- sich wirklich verhält. Schon sind beinahe hundertundfünfzig Jahre
- verflossen, seit Kaiser Peter I. uns mit dem reinigenden Feuer der
- europäischen Aufklärung den Schlaf aus den Augen gescheucht und uns alle
- Mittel und Werkzeuge in die Hand gegeben hat, damit wir zur Tat
- schreiten sollten; noch immer aber liegt unser weites Land ebenso öde,
- traurig und einsam da, noch ist alles um uns herum ganz ebenso
- unfreundlich und ungastlich wie ehedem, ganz als ob wir noch immer nicht
- bei uns zu Hause unter dem eigenen heimischen Dach weilten, sondern
- irgendwo obdachlos auf der Landstraße lägen, noch weht uns von Rußland
- kein warmes herzliches Gefühl entgegen, wie wenn wir von lieben Brüdern
- empfangen würden, es erscheint uns vielmehr wie eine kalte vom
- Schneesturm verwehte Poststation, aus der ein einsamer, gegen alles
- gleichgültiger Stationswächter hervorschaut, der auf unsere Frage stets
- die nüchterne trockene Antwort bereit hat: »Wir haben keine Pferde!«
- Woher kommt das? Wer ist schuld? Wir [oder die Regierung? Aber] die
- Regierung ist doch die ganze Zeit über unermüdlich tätig gewesen. Dafür
- zeugen zahlreiche Bände voller Verfügungen, Gesetzesverordnungen und
- Maßnahmen, eine gewaltige Zahl neu erbauter Häuser, eine Menge neu
- herausgegebener Bücher, eine Unzahl von Einrichtungen und
- Institutionen aller Art: Lehranstalten, humanitäre Einrichtungen,
- Wohltätigkeitseinrichtungen, kurz, sogar solche Anstalten, wie sie von
- keiner Regierung eines andern Staates gegründet werden. Die Fragen
- kommen von oben, die Antworten von unten; und mitunter ertönten von oben
- Fragen, die von ritterlichen und hochherzigen Regungen vieler Herrscher
- Zeugnis ablegen, die häufig sogar gegen ihre eigenen Interessen und
- gegen ihren eigenen Vorteil gehandelt haben. Und wie hat man von unten
- auf dies alles geantwortet? Es kommt doch auf die Verwertung eines
- Gedankens, auf die Kunst an, ihm eine solche Anwendung zu geben, daß man
- sich ihn wirklich anzueignen vermag und daß er in uns Wurzeln schlägt.
- Eine Verordnung mag noch so wohl durchdacht und noch so bestimmt sein,
- sie ist doch nur eine Blankoanweisung, wenn es unten an dem gleichen
- reinen Streben fehlt, sie in die Tat umzusetzen und zwar in der
- Richtung, in der es erforderlich ist, in der dies geschehen muß und die
- nur _der_ richtig beurteilen und bestimmen kann, dessen Geist vom
- Begriff der göttlichen -- nicht der menschlichen Gerechtigkeit
- erleuchtet ist. Ohne dies muß alles eine schlimme Wendung nehmen. Ein
- Beweis dafür sind die zahlreichen abgefeimten Gauner und bestechlichen
- Beamten, die es bei uns gibt, die es verstehen, jede Verordnung zu
- umgehen, für die jede neue Verordnung nur eine neue Einnahmequelle, ein
- neues Mittel ist, die Abwicklung der Geschäfte durch neue Komplikationen
- zu belasten und zu erschweren und dem Menschen einen neuen Knüppel
- zwischen die Beine zu werfen. Mit einem Wort, wohin ich mich wende,
- überall sehe ich, daß _der_ die Schuld trägt, der die Verordnungen
- durchführt, d. h. wir selbst, einer von uns: und zwar ist er entweder
- schuld, weil er den brennenden Wunsch hat, seinen Namen berühmt zu
- machen [oder einen Orden zu ergattern], und sich daher zu sehr beeilt,
- oder er ist schuld, weil er gar zu hitzig vorwärtsstrebt, um nach gut
- russischer Art seinen Opfermut zu beweisen; so einer geht nicht lange
- mit sich zu Rate, fragt in seinem hitzigen Übereifer nicht erst viel,
- worum es sich handelt, bemächtigt sich sofort der Sache wie ein
- Sachverständiger und ist dann -- gleichfalls nach gut russischer Art --
- schnell wieder abgekühlt, wenn er sich einem Mißerfolg gegenübersieht;
- oder er ist schließlich schuld, weil er aus verletzter, kleinlicher
- Eitelkeit gleich alles hinschmeißt und den Posten, auf dem er einen so
- schönen Anlauf genommen hatte, dem ersten besten Gauner abtritt, [damit
- der die Leute gründlich rupfen kann]. Kurz, selten besitzt einer von uns
- genug Liebe zum Guten, um ihr seinen Ehrgeiz, seine Eitelkeit und all
- die kleinen Regungen eines übermäßig empfindlichen Egoismus zum Opfer zu
- bringen und es sich unweigerlich zum Gebot zu machen -- seinem
- Vaterlande -- und nicht sich selbst zu dienen, ewig eingedenk, daß er
- seinen Beruf ergriffen hat, um andre glücklich zu machen und nicht sich
- selbst. Statt dessen scheint der Russe in der letzten Zeit es wie mit
- Vorbedacht darauf angelegt zu haben, seine Empfindlichkeit in allen
- Punkten und die kleinliche Reizbarkeit seines Ehrgefühls allen und
- überall vor Augen zu führen. Ich weiß nicht, ob es viele Leute unter uns
- gibt, die nur getan haben, was ihre Schuldigkeit war, und die offen vor
- der ganzen Welt erklären können, daß Rußland ihnen nichts vorzuwerfen
- habe, daß kein seelenloser Gegenstand in seinem weiten, öden Raume sie
- vorwurfsvoll anstarre, daß alle mit ihnen zufrieden sind und nichts von
- ihnen erwarten. Ich weiß nur, daß ich diesen Vorwurf sehr deutlich
- vernommen habe. Auch jetzt höre ich ihn wieder. Auch in meinem
- bescheidenen Beruf als Schriftsteller hätte sich etwas machen, etwas
- leisten lassen, was von wirklichem und dauerndem Nutzen sein konnte. Was
- hat es zu bedeuten, daß in meinem Herzen stets die Sehnsucht nach dem
- Guten lebendig war und daß ich nur aus diesem Triebe heraus zur Feder
- griff? Wie habe ich meine Sehnsucht gestillt? Hat denn zum Beispiel
- gleich dies Werk von mir, das jetzt erschienen ist und das den Namen
- »Die toten Seelen« trägt, hat es etwa den Eindruck gemacht, den es hätte
- machen können, wenn es so geschrieben gewesen wäre, wie es hätte
- geschrieben werden müssen? Ich habe meine eigenen Gedanken, -- einfache
- und wahrhaftig nicht kopfbrecherische Gedanken, nicht auszudrücken
- vermocht und selbst Anlaß dazu gegeben, daß sie verkehrt aufgefaßt und
- daß ihnen ein Sinn untergelegt wurde, der eher schädlich als nützlich
- ist. Und wer ist schuld daran? Soll ich etwa sagen, meine Freunde oder
- die Ungeduld der Ästheten, die an leeren, schnell verrauschenden Klängen
- ihre Freude haben, hätten mich dazu gedrängt? Soll ich etwa sagen, daß
- ich durch schwierige und ärmliche Verhältnisse in eine peinliche Lage
- gebracht worden sei und, da ich mir das Geld für meinen Lebensunterhalt
- hätte erwerben müssen, genötigt gewesen wäre, mich zu beeilen und mein
- Buch zu früh erscheinen zu lassen? Nein, wer entschlossen ist, seine
- Pflicht redlich zu erfüllen, den können keinerlei Verhältnisse
- schwankend machen, der wird, wenn es nicht anders geht, sogar lieber
- seine Hand ausstrecken und um Almosen bitten, der wird sich um keinen
- schnell verklingenden Spott und Tadel, geschweige denn um die törichten
- Anstandsregeln der vornehmen Gesellschaft kümmern. Der, der aus
- Rücksicht auf diese Anstandsregeln der Gesellschaft eine Sache schädigt,
- die für sein Land ein Bedürfnis darstellt, der liebt es nicht. Ich war
- mir der verächtlichen Schwäche meines Charakters, meines elenden
- Kleinmuts, der Ohnmacht meiner Liebe bewußt, daher schien mich ein jedes
- Ding in Rußland mit bitterem Vorwurf anzustarren. Aber die Kraft des
- Höchsten hat mich aufgerichtet; es gibt kein Vergehen, das nicht wieder
- gutzumachen wäre, und dieselben öden Strecken, die meine Seele mit
- solcher Melancholie erfüllten, versetzten mich durch ihre gewaltige
- freie Ausdehnung und Geräumigkeit -- dies weite Feld für einen rastlosen
- Betätigungsdrang -- in Entzücken. Die Apostrophe an Rußland: »Sollte
- nicht hier der Held erstehen, wo frei der Raum sich weitet, auf daß er
- sich entfalte und ausbreite und frei dahinschwebe,« kam wirklich von
- Herzen. Diese Worte wurden nicht dem schönen Bilde zuliebe oder aus
- Prahlsucht und zu eitlem Selbstlob gesprochen; ich habe sie gefühlt und
- fühle sie noch heute. In Rußland kann man jetzt bei jeder Gelegenheit
- zum Helden werden. Jedes Amt und jeder Stand erfordert einen gewissen
- Heldenmut. Jeder von uns hat die Heiligkeit seines Berufs und seines
- Amtes derart befleckt und herabgezogen (denn jeder Beruf ist heilig),
- daß es wahrhaft riesenhafter Kräfte bedarf, um ihn wieder auf seine
- frühere Höhe zu bringen. Ich habe die große Aufgabe geschaut, die große
- Perspektive, die heute keinem andern Volke offen steht und die sich
- allein vor dem russischen Volke auftut, weil nur dies Volk einen so
- freien Spielraum für die Entfaltung seiner Kräfte besitzt, und weil nur
- der russischen Seele der echte Heldenmut eigen ist -- daher entrang sich
- meinem Herzen der Schrei, den man für Prahlerei und Hochmut gehalten
- hat!
- 1843.
- III.
- Ich verstehe nicht, wie du, ein solcher Menschenforscher und
- Menschenkenner, mir die gleichen törichten Fragen vorlegen kannst, auf
- die sich alle anderen so trefflich verstehen! Die gute Hälfte von ihnen
- bezieht sich darauf, was der Zukunft angehört. Was für einen Sinn hat
- bloß diese Neugierde? Nur eine Frage, die du stellst, ist klug und
- deiner würdig, und ich wünschte, daß auch andere Leute sie an mich
- gerichtet hätten, obwohl ich nicht weiß, ob ich sie auch vernünftig
- beantworten kann; ich meine die folgende: woher es nur komme, daß die
- Helden meiner letzten Werke, besonders die der »Toten Seelen«, trotzdem
- sie nichts weniger als naturgetreue Porträts von wirklichen
- existierenden Menschen, und obwohl sie an und für sich sehr wenig
- sympathisch und anziehend sind, unserem Herzen dennoch so nahe stehen,
- wie wenn die Seele bei ihrer Schöpfung beteiligt gewesen wäre? Noch vor
- einem Jahr wäre es mir peinlich gewesen, dir auf diese Frage zu
- antworten. Heute aber will ich es offen bekennen: die Helden meiner
- Werke stehen unserem Herzen darum so nahe, weil sie Schöpfungen der
- Seele sind; alle meine letzten Werke sind Zeugnisse meiner seelischen
- Entwicklung. Um mich dir besser verständlich zu machen, will ich dir
- eine Definition von mir als Schriftsteller geben. Man hat viel über mich
- gesprochen und geschrieben und die verschiedensten Seiten meines Wesens
- zu ergründen gesucht, aber mein wahres Wesen hat man darum doch nicht zu
- bestimmen vermocht. Dieses hat nur Puschkin allein erkannt. Er sagte mir
- immer, noch nie habe es einen Schriftsteller gegeben, der in so hohem
- Grade das Vermögen besaß, die Gemeinheit und Plattheit des Lebens in so
- satten Farben zu schildern, die Hohlheit und Nichtigkeit eines gemeinen
- Menschen mit einer solchen Kraft zu zeichnen, wie ich, so daß die ganze
- Kleinheit und Armseligkeit, die den meisten Menschen entgeht, jedem
- deutlich in die Augen springt. Das ist der Grundzug meines Wesens und er
- fehlt in der Tat den meisten anderen Schriftstellern. Er hat sich mit
- der Zeit in mir noch vertieft, weil sich noch andere geistige Momente
- mit ihm verbunden haben. Aber das konnte ich damals nicht einmal
- Puschkin mitteilen. Dieser Grundzug hat sich mit besonderer Kraft in den
- »Toten Seelen« offenbart. Die »Toten Seelen« haben nicht darum in
- Rußland solch ein Grauen hervorgerufen und so ein Aufsehen gemacht, weil
- sie irgendwelche furchtbare Wunden oder innere Krankheiten an den Tag
- gebracht, oder ein erschütterndes Bild vom Triumph des Bösen und von den
- Leiden der Unschuld entworfen hätten. O nein. Meine Helden sind durchaus
- keine Bösewichter; wenn ich einem jeden von ihnen nur einen einzigen
- guten Zug verliehen hätte, der Leser hätte sich sicher mit ihnen allen
- ausgesöhnt. Aber die Gemeinheit und Plattheit des Ganzen flößte dem
- Leser Schrecken ein. Was ihn mit solch einem Grauen erfüllte, war
- dieses, daß bei mir ein Mensch immer kleinlicher und elender war, als
- der andere, daß es unter ihnen auch nicht eine tröstliche Erscheinung,
- keinen einzigen Ruhepunkt gab, an dem der arme Leser hätte aufatmen und
- Mut schöpfen können, und daß es einem, wenn man das ganze Buch gelesen
- hatte, so vorkam, als trete man aus einem dumpfigen Kellergewölbe wieder
- in Gottes freie Welt hinaus. Man hätte es mir eher vergeben, wenn ich
- lauter malerische Ungeheuer gezeichnet hätte -- die Jämmerlichkeit und
- Gemeinheit hat man mir nicht verziehen. Das, wovor der Russe erschrak,
- das war seine Nichtigkeit, sie war ihm weit schrecklicher als all seine
- Mängel und Laster! Ist das nicht eine außerordentliche Erscheinung?
- Fürwahr, dieser Schrecken ist etwas Herrliches! Wer einen solchen Ekel
- und Widerwillen vor dem Kleinen und Nichtigen empfindet, in dem liegt
- sicherlich das Gegenteil von aller Kleinheit und Nichtigkeit verborgen.
- Dies also ist mein größter Vorzug und ich wiederhole, er hätte sich
- nicht mit einer solchen Kraft in mir entwickelt, wenn nicht meine eigene
- geistige Stimmung und meine inneren Erlebnisse hinzugekommen wären.
- Keiner meiner Leser wußte, daß er über mich selbst lachte, während er
- über meine Helden lachte.
- Ich hatte kein einzelnes großes Laster, das all meine übrigen Untugenden
- um Haupteslänge überragte, ebensowenig wie ich irgendeine markante
- Tugend besaß, die mir ein besonders interessantes Äußere verliehen
- hätte, dafür aber vereinigte ich in mir alle Scheußlichkeiten, die es
- nur gibt, ich besaß zwar von jeder nur ein wenig; aber sie waren in mir
- in einer solchen Menge vertreten, wie ich es noch nie zuvor bei einem
- Menschen gesehen habe. Gott hat mir eine vielseitige Natur gegeben. Er
- hat mir bei meiner Geburt auch manche gute Keime eingepflanzt, der beste
- jedoch, für den ich ihm nicht genug zu danken vermag, ist der Wunsch,
- _besser zu werden_. Ich habe meine schlechten Seiten nie geliebt, und
- wenn es die himmlische Liebe Gottes nicht so gefügt hätte, daß sie sich
- nur langsam und allmählich vor mir enthüllten, statt sich mir plötzlich
- und mit einem Schlage zu offenbaren, als ich noch keine Vorstellung von
- Seinem unendlichen Mitleid besaß, -- dann hätte ich mich sicherlich
- erhängt. Aber in dem Maße, als ich sie in mir entdeckte, verstärkte sich
- durch eine wunderbare höhere Eingebung der Wunsch in mir, mich von ihnen
- zu befreien; es war ein außergewöhnliches seelisches Erlebnis, das mich
- dazu führte, sie meinen Helden mitzuteilen. Was dies für ein Erlebnis
- war, darfst du nicht erfahren; wenn ich geglaubt hätte, daß es jemand
- nützen könnte, hätte ich es schon längst bekanntgemacht. Von diesem
- Augenblick an begann ich meine Helden über ihre Gemeinheit hinaus auch
- noch mit meinen persönlichen Scheußlichkeiten auszustatten. Das geschah
- folgendermaßen: ich nahm eine schlechte Eigenschaft, die ich bei mir
- selbst fand, untersuchte, welche Formen sie in einem anderen Berufe,
- Stand oder Lebenskreise annimmt, versuchte es, sie als meine Todfeindin
- darzustellen, die mich aufs empfindlichste beleidigt hat, und verfolgte
- sie mit Haß, Spott und allem, dessen ich noch sonst fähig war. Wenn
- jemand all die Ungeheuer gesehen hätte, die meine Feder im Anfang für
- mich selbst erschuf, er hätte vor Entsetzen gezittert. Ich brauche dir
- nur zu erzählen, daß Puschkin, als ich ihm die ersten Kapitel der »Toten
- Seelen« vorlas (er hatte sonst stets gelacht, wenn ich ihm etwas
- vortrug, denn er lachte gern und von Herzen), immer finsterer und
- finsterer wurde, bis sich sein Gesicht zuletzt vollkommen verdüsterte.
- Als ich geendigt hatte, sagte er mit einem tiefen Schmerz in der Stimme:
- »Gott, wie grauenhaft trostlos und traurig ist doch unser Rußland.«
- Dieser Ausspruch überraschte mich. Puschkin, der Rußland so gut kannte,
- hatte nicht bemerkt, daß dies alles nur eine Karikatur, ein Produkt
- meiner Phantasie war. Und jetzt erst erkannte ich, was eine Sache
- bedeutet, die einem aus dem Herzen geflossen ist, was geistige Wahrheit
- ist und in was für einer erschreckenden Gestalt man dem Menschen die
- Finsternis und den furchtbaren _Mangel an Licht_ darstellen kann. Seit
- dieser Zeit dachte ich nur noch daran, wie ich den niederschmetternden
- Eindruck mildern könnte, den die »Toten Seelen« hervorrufen konnten. Ich
- sah, daß vieles Schlechte des Hasses nicht wert und daß es besser ist,
- es in seiner Nichtigkeit und Armseligkeit darzustellen, die in alle
- Ewigkeit sein Teil ist. Ferner wollte ich sehen, was die Russen sagen
- würden, wenn man ihnen ihre eigene Häßlichkeit und Gemeinheit vor Augen
- führte. Nach einem Plan, der mir schon lange vorschwebte, brauchte ich
- für meinen ersten Teil lauter kleine und armselige Menschen. Diese
- elenden Menschen sind jedoch keineswegs Porträts nach lebendigen
- Personen, ich habe vielmehr in ihnen die Züge der Leute gesammelt, die
- sich für besser halten, als die anderen; allerdings habe ich sie aus
- Generälen zu gemeinen Soldaten gemacht. Hier finden sich außer Zügen von
- mir selbst noch viele solche von meinen Freunden und sogar einige von
- dir. Ich werde dir das später beweisen, wenn die Zeit für dich gekommen
- sein wird, bis jetzt bleibt das noch mein persönliches Geheimnis. Ich
- mußte allen guten Menschen, die ich kannte, alles Häßliche und Gemeine
- nehmen, das sie sich zufällig erworben hatten und es ihren rechtmäßigen
- Besitzern wiedergeben. Frage nicht, warum der erste Teil von nichts
- anderem handelt als von _Elend, Armseligkeit und Gemeinheit_ und warum
- alle handelnden Personen bis auf die letzte so trivial und gemein sein
- müssen. Die Antwort hierauf wirst du in den folgenden Bänden finden. Das
- ist das Ganze! Der erste Teil hat trotz all seiner Unvollkommenheiten
- seine Aufgabe erfüllt, er hat allen Menschen einen wahren Ekel und
- Widerwillen gegen meine Helden und gegen ihre Armseligkeit eingeflößt,
- er hat, wie es meine Absicht war, in uns etwas wie Schmerz und Unwillen
- gegen uns selbst erzeugt. Fürs erste genügt mir das. Mehr wollte ich
- nicht erreichen. Dies alles wäre natürlich noch bedeutsamer geworden und
- wäre mir viel besser gelungen, wenn ich mich nicht so sehr mit der
- Veröffentlichung beeilt hätte und wenn ich das Ganze noch sorgfältiger
- und gründlicher bearbeitet hätte. Meine Helden haben sich noch nicht
- völlig von mir abgelöst und daher auch noch nicht die rechte
- Selbständigkeit erlangt. Ich habe sie noch nicht fest genug auf den
- Boden gestellt, auf dem sie stehen sollten, noch sind sie nicht recht
- heimisch geworden in dem Kreis unserer Sitten, noch wurzeln sie nicht
- tief genug in dem eigentlich russischen Leben mit all seinen
- Einzelheiten. Noch ist das ganze Buch nicht viel mehr als eine
- Frühgeburt, aber sein Geist hat sich doch schon unsichtbar verbreitet
- und selbst sein verfrühtes Erscheinen kann mir dadurch nützlich werden,
- daß es meine Leser veranlassen kann, mir all meine Fehler nachzuweisen,
- die ich bei der Schilderung der gesellschaftlichen und privaten
- Verhältnisse Rußlands begangen habe. Wenn du z. B., statt mir unnütze
- Fragen zu stellen (mit denen du mehr als die Hälfte deines Briefes
- angefüllt hast, und die zu nichts führen, als zur Befriedigung einer
- müßigen Neugierde), wenn du alle vernünftigen und sachlichen Bemerkungen
- und Einwände, die über mein Werk laut werden, deine eigenen sowohl, als
- auch alle möglichen fremden, die von klugen Menschen herstammen, die
- auch Erfahrung genug besitzen und mitten in einem tätigen Leben stehen,
- sammeln und ihnen eine Reihe von Anekdoten und tatsächlichen
- Begebenheiten beifügen wolltest, die in eurem Kreise oder in eurer
- Provinz vorgefallen sind -- sei es nun, daß sie mein Buch in einem
- seiner Teile widerlegen oder bestätigen -- zu jeder Seite könnte man ein
- ganzes Dutzend solcher Fälle anführen -- dann würdest du ein wahrhaft
- gutes Werk tun, und ich würde dir von Herzen dankbar sein. Wie würde
- sich dadurch mein Horizont erweitern! Wie würde das meinen Kopf
- erfrischen und wieviel leichter würde die Arbeit vonstatten gehen! Aber
- das, worum ich bitte, will kein Mensch tun. Niemand hält meine Bitten
- für ernst und wichtig genug und jeder respektiert nur seine eigenen.
- Andere wieder verlangen Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit von mir, ohne
- selbst zu wissen, was sie verlangen. Und was soll bloß diese müßige
- Neugierde, diese törichte unnütze Hast, die, wie ich sehe, auch dich
- angesteckt hat. Sieh doch, wie in der Natur alles würdig und weise nach
- wohlgefügten Gesetzen vonstatten geht und wie vernünftig eines aus dem
- anderen folgt! Nur wir allein machen uns, Gott weiß warum, soviel
- unnütze Unruhe. Alles eilt und hastet wie im Fieber. Hast du dir denn
- deine Worte auch ordentlich überlegt? »Es ist absolut notwendig, daß wir
- den zweiten Band erhalten.« Wie? soll ich mich denn bloß deswegen, weil
- alle Leute mit mir unzufrieden sind, mit dem zweiten Bande beeilen? Das
- wäre doch ebenso dumm, wie das, daß ich mich mit dem ersten zu sehr
- beeilt habe. Bin ich denn schon ganz um mein bißchen Verstand gekommen?
- Ich brauche diesen Unwillen und diese Unzufriedenheit ja. Wenn die
- Menschen unwillig über mich sind, werden sie mir doch wenigstens irgend
- etwas sagen. Und woraus schließt du nur, daß der zweite Band gerade
- jetzt ein dringendes Bedürfnis geworden ist. Hast du etwa in meinen Kopf
- hineingeblickt? Fühlst du, was das Wesen dieses zweiten Bandes ausmacht?
- Deiner Ansicht nach braucht man ihn jetzt, während ich glaube, daß er
- nicht früher als nach zwei Jahren erscheinen sollte und auch dies bloß,
- wenn man die Umstände und den Gang der Zeit berücksichtigt. Wer von uns
- hat nun recht? Der, in dessen Kopf der zweite Band fertig dasteht, oder
- der, der noch nicht weiß, was den Inhalt bildet. Was das jetzt für eine
- seltsame Mode ist, die neuerdings in Rußland aufgekommen ist! Der Mensch
- liegt selbst auf der faulen Haut, will selbst nichts Vernünftiges tun
- und spornt die anderen zur Tätigkeit an; als ob jeder andere sich aus
- allen Kräften anstrengen müßte, vor Freude darüber, daß sein Freund
- müßig auf dem Rücken liegt! Kaum erfährt man, daß irgendein Mensch mit
- einer ernsten Sache beschäftigt ist, so treibt man ihn schon überall zur
- Eile an und dann schilt man ihn noch, wenn er es schlecht macht; dann
- heißt es: warum hast du dich so beeilt? Aber ich schließe meine Predigt.
- Auf deine klugen Fragen habe ich geantwortet. Ich habe dir sogar gesagt,
- was ich bis heute noch keinem einzigen Menschen gesagt habe. Glaube
- bitte nach diesem Bekenntnis nicht, daß ich ebenso ein Ungeheuer bin,
- wie meine Helden. Nein, ich gleiche ihnen nicht. Ich liebe das Gute, ich
- suche es aus allen Kräften, und meine Seele glüht für alles Schöne, ich
- liebe meine Schändlichkeiten nicht und suche nicht, sie festzuhalten,
- wie meine Helden; ich liebe das Gemeine in mir nicht, das mich von dem
- Guten fernhält. Ich kämpfe gegen es an und werde gegen es ankämpfen, bis
- ich es ganz ausgetrieben habe, und dabei wird Gott mir helfen. Es ist
- ganz falsch, was törichte, weltlich gerichtete Menschen sich ausgedacht
- haben, daß der Mensch nur erzogen werden könne, solange er noch in der
- Schule sitzt, und daß er später keinen Charakterzug mehr in sich
- verändern könne. Nur in einem törichten, weltlich gesinnten Schädel
- konnte ein so dummer Gedanke entstehen. Ich habe mich schon von vielen
- meiner Scheußlichkeiten befreit, indem ich sie auf meine Helden
- übertrug, sie in ihnen verspottete und auch andere zwang, über sie zu
- lachen. Ich bin schon manche von ihnen losgeworden, indem ich ihnen ihr
- verlockendes Äußeres, ihre ritterliche Maske nahm, dank der jedes von
- unseren Lastern keck durch die Welt geht. Ich habe sie neben das
- Häßliche gestellt, das allen sichtbar ist. Wenn ich mich in der Beichte
- vor Ihm prüfe, Der mich in die Welt gesandt hat und Der mir befahl, mich
- von meinen Fehlern zu befreien, dann erkenne ich viele Laster in mir,
- aber es sind nicht mehr dieselben wie im vergangenen Jahr, eine heilige
- Kraft half mir, mich von ihnen zu befreien. Dir aber rate ich, diese
- Worte nicht unbeachtet verhallen zu lassen, sondern wenn du meine Briefe
- gelesen hast, einen Augenblick mit dir allein zu bleiben, alles andere
- eine Weile beiseite zu lassen und gründlich in dich selbst
- hineinzublicken, indem du dein ganzes Leben an dir vorüberziehen läßt,
- und dann die Wahrheit meiner Worte einer Prüfung zu unterziehen. In
- dieser meiner Antwort wirst du, wenn du näher zusiehst, auch eine
- Antwort auf deine übrigen Fragen finden, und du wirst erkennen, warum
- ich bisher dem Leser nicht auch die tröstlichen Erscheinungen gezeigt
- und mir keine tugendhaften Menschen zu Helden erwählt habe. Solche kann
- man nicht frei aus dem Kopfe erfinden. Solange man ihnen nicht im
- geringsten selbst gleicht, solange man sich nicht durch Hartnäckigkeit
- und Beständigkeit einige gute Eigenschaften erobert hat -- wird alles,
- was die Feder niederschreibt, tot und leblos und so weit von der
- Wahrheit entfernt bleiben, wie der Himmel von der Erde. Ich habe diese
- Schreckgespenster nicht erfunden -- diese Schreckgespenster haben meine
- eigene Seele gewürgt und bedrückt: nur was lebendig in meiner Seele
- lebte, ist frei aus ihr herausgeströmt.
- IV.
- Ich habe den zweiten Teil der »Toten Seelen« verbrannt, weil das eine
- Notwendigkeit war. »Das du säest, wird nicht lebendig, es sterbe denn,«
- -- sagt der Apostel. Man muß zuvor sterben, wenn man wieder auferstehen
- soll. Es ist mir nicht leicht geworden, die Frucht einer fünfjährigen
- Arbeit zu verbrennen, einer Arbeit, die mich soviel schmerzliche
- Anstrengungen, wo jede Zeile mich schwere Erschütterungen gekostet hat
- und worin vieles enthalten war, was mein höchstes Streben ausmachte und
- meine Seele ausfüllte. Und doch wurde alles verbrannt und noch dazu in
- einem Augenblick, wo ich den Tod vor Augen sah und etwas hinterlassen
- wollte, was mich bei der Nachwelt in besserem Andenken erhalten sollte.
- Ich danke Gott, daß er mir die Kraft verliehen hat, dies zu vollbringen.
- Sowie die Flamme die letzten Blätter meines Buches aufgezehrt hatte,
- erstand sein Inhalt plötzlich in verklärter und geläuterter Gestalt vor
- mir, gleich einem Phönix aus der Asche, und ich sah nun mit einem Male,
- wie unreif und unausgegoren das noch war, was ich bereits für
- ausgereift, harmonisch und abgerundet gehalten hatte. Wäre der zweite
- Band in dem Zustande, in dem er sich damals befand, erschienen, er hätte
- eher Schaden als Nutzen gestiftet. Nicht der Genuß und die Befriedigung
- der Kunstkenner und Literaturfreunde ist es, die man anstreben muß,
- sondern die aller Leser, für die die »Toten Seelen« geschrieben wurden.
- Eine Anzahl edler Charaktere darzustellen, die für die vornehme
- Gesinnung und den hohen Adel unseres Wesens zeugen, -- das kann zu
- nichts führen. Das erregt bloß Hochmut und eitle Prahlsucht. Viele von
- uns, besonders aber von unseren jungen Leuten, haben die Gewohnheit
- angenommen, die Vorzüge des russischen Charakters über alles Maß zu
- preisen und mit ihnen zu prahlen und doch denken sie gar nicht daran,
- diese Eigenschaften zu vertiefen und an ihrer eigenen Erziehung zu
- arbeiten, sondern sie suchen sie möglichst zur Schau zu stellen, als
- wollten sie Europa zurufen: »Seht einmal, ihr Deutschen, wir sind doch
- besser als ihr!« Diese Prahlsucht richtet alles zugrunde. Sie reizt die
- andern und gereicht auch dem Renommisten selbst zum Schaden. Man kann
- die beste Sache in den Kot ziehen, wenn man sich ihrer rühmt und sich
- was auf sie zugute tut. Bei uns aber rühmt man sich und prahlt man
- schon, noch ehe man etwas geleistet hat -- man prahlt mit dem, was erst
- kommen soll! Nein, dann scheint es mir noch besser, man ist kleinmütig
- und man grämt sich über sich selbst, als daß man hochmütig ist und sich
- selbst zu viel zutraut. Im ersten Falle wird sich der Mensch wenigstens
- seiner Armseligkeit, Gemeinheit und Nichtigkeit bewußt und richtet seine
- Gedanken auf Gott, der alles aus dem tiefsten Elend und der tiefsten
- Erniedrigung erhebt und zur Höhe emporführt; im zweiten Falle dagegen
- flieht der Mensch sich selbst und rennt geradeswegs dem Satan, dem Vater
- des Hochmuts, in die Arme, der den Menschen zur Überhebung verleitet,
- indem er ihm blauen Dunst vormacht und ihn zum Tugendstolz verführt.
- Nein, es gibt Zeiten, wo man die Gesellschaft oder sogar eine ganze
- Generation gar nicht anders auf das Gute hinleiten und für das Gute
- begeistern kann, als indem man ihnen den ganzen Abgrund der
- Verkommenheit zeigt, in dem sie stecken; es gibt Zeiten, wo man
- überhaupt nicht vom Hohen und Schönen sprechen darf, ohne zugleich einem
- jeden die Richtung und den Weg zum Schönen zu zeigen, so daß er sie
- taghell vor sich liegen sieht. Dieses letzte Moment ist im zweiten Bande
- der »Toten Seelen« nur schwächlich und unvollkommen zum Ausdruck
- gekommen, und doch hätte es eigentlich das wichtigste und wesentlichste
- Moment sein sollen. Und darum habe ich diesen zweiten Teil verbrannt.
- Urteilen Sie bitte nicht über mich und ziehen Sie keine Schlüsse daraus;
- Sie werden sich ebenso täuschen, wie die unter meinen Freunden, die sich
- aus mir ihr eigenes Ideal eines Schriftstellers zurechtgemacht hatten,
- das ihren eigenen Begriffen von einem Dichter entsprach, und nun von mir
- verlangten, ich solle diesem, doch nur von ihnen selbst entworfenen
- Ideal entsprechen. Gott hat mich erschaffen und Er hat mir nicht
- vorenthalten, was meine eigentliche Bestimmung ist. Ich bin gar nicht
- dazu geboren, um eine Epoche in der Literaturgeschichte heraufzuführen.
- Meine Aufgabe ist weit einfacher und näherliegend; meine Aufgabe ist
- das, woran ein jeder Mensch und nicht nur ich allein zuallererst denken
- sollte. Meine Aufgabe -- ist _die Seele und die große sichere ewige
- Aufgabe des Lebens_. Darum muß auch mein Tun stark und dauerhaft sein
- und ich muß Werke schaffen, die dauern. Ich brauche mich nicht zu
- beeilen; mögen doch die andern hasten und sich beeilen! Ich verbrenne,
- was verbrannt werden muß, und ich handle sicherlich richtig, denn ich
- unternehme nichts, ohne zuvor zu Gott gebetet zu haben. Was aber Ihre
- Befürchtungen wegen meiner zarten Gesundheit anbelangt, die es mir
- vielleicht unmöglich machen wird, den zweiten Band niederzuschreiben, so
- sind sie überflüssig. Meine Gesundheit ist sehr zart -- das ist freilich
- wahr. Zuzeiten ist mir's so schlecht zumute, daß ich es ohne Gottes
- Hilfe kaum auszuhalten vermöchte. Zu dem Verfall meiner Kräfte ist noch
- ein so intensives Frösteln hinzugekommen, daß ich gar nicht mehr weiß,
- wie und woran ich mich erwärmen soll: ich müßte mir Bewegung machen, und
- doch habe ich nicht die Kraft, mich herumzubewegen. Selten kann ich mehr
- als eine Stunde für die Arbeit erübrigen, aber selbst dann fühle ich
- mich nicht immer frisch. Allein, meine Hoffnung sinkt darum doch nicht.
- Der, Der durch Kummer, Leid und Hindernisse die Entwickelung meiner
- Fähigkeiten und Gedanken, ohne die ich nie auf den Einfall gekommen
- wäre, mein Werk zu schreiben, beschleunigt hat, Der da machte, daß die
- größere Hälfte in meinem Kopf bereits fertig feststeht, Der wird mir
- auch die Kraft verleihen, was noch übrig ist, zu vollenden und zu Papier
- zu bringen. Meine Kräfte verfallen, aber nicht mein Geist. Alle meine
- geistigen Fähigkeiten werden vielmehr stärker und kräftiger, nun denn,
- so wird wohl auch die Körperkraft sich einstellen. Ich lebe dem Glauben,
- daß, wenn die rechte Stunde schlägt, auch das, woran ich fünf Jahre lang
- mit Schmerzen gearbeitet habe, in wenigen Wochen vollendet dastehen
- wird.
- 1846.
- XIX
- Liebt unser russisches Vaterland
- Aus einem Briefe an den Grafen A. T.
- Ohne Liebe zu Gott kann keiner gerettet werden, wir aber besitzen keine
- rechte Gottesliebe. Im Kloster ist sie kaum zu finden, ins Kloster gehen
- nur die, die Gott selbst dahin berufen hat. Ohne Gottes Willen kann man
- Ihn nicht liebgewinnen. Und wie sollte man auch Den lieben, Den noch
- niemand gesehen hat? Gibt es ein Gebet, gibt es eine Kraftanstrengung,
- mit der wir diese Liebe von Ihm herabflehen könnten? Sehen Sie nur,
- wieviel gute, vortreffliche Menschen es gegenwärtig auf der Welt gibt,
- die sich glühend nach dieser Liebe sehnen und nur spröde Härte und öde
- Kaltblütigkeit in sich finden. Es ist schwer, Den liebzugewinnen, Den
- niemand gesehen hat. Christus allein hat uns das Geheimnis geoffenbart
- und verkündet, daß wir in der Liebe zu unseren Brüdern der Liebe zu Gott
- teilhaftig werden. Wir müssen sie so lieben lernen, wie Christus es uns
- gelehrt hat, und die Liebe zu Gott wird sich von selbst daraus ergeben.
- So gehen Sie denn in die Welt hinaus und lernen Sie erst Ihre Brüder
- lieben.
- Wie aber sollen wir die Brüder lieben lernen? Wie sollen wir die
- Menschen liebgewinnen? Die Seele möchte nur das Schöne lieben, die armen
- Menschen aber sind so unvollkommen, und es ist so wenig Schönheit in
- ihnen. Wie also sollen wir es anfangen? Danken Sie Gott vor allem dafür,
- daß Sie ein Russe sind. Für den Russen tut sich jetzt ein Weg auf, und
- dieser Weg ist Rußland selbst. Wenn der Russe erst einmal Rußland lieben
- lernen wird, so wird er bald auch alles mit Liebe umfassen, was es in
- Rußland gibt. Gott selbst weist uns jetzt auf diese Liebe hin. Ohne die
- Leiden und Krankheiten, von denen Rußland gegenwärtig in so hohem Maße
- betroffen ward, und an denen wir selbst die Schuld tragen, würde niemand
- von uns Mitleid mit dem Lande empfinden. Mitleid aber ist bereits der
- Beginn der Liebe. Selbst in dem entrüsteten Geschrei über die
- Mißbräuche, die Ungerechtigkeiten und die Bestechlichkeit kommt
- keineswegs bloß die Empörung der guten und anständigen Elemente über die
- Unanständigen und Ehrlosen zum Ausdruck, dies ist mehr, es ist der
- Schmerzensschrei des ganzen Landes, an dessen Ohr die Nachricht drang,
- daß zahllose Scharen fremder Feinde ins Land eingefallen, in die Häuser
- gedrungen seien und alle Bewohner unter ihr hartes Joch gezwungen
- hätten; schon wollen sich die, die diese Seelenfeinde freiwillig in ihr
- Haus aufgenommen haben, selbst von ihnen befreien; sie wissen nur nicht,
- wie sie dies anfangen sollen, und so entringt sich allen ein einziger,
- erschütternder Schrei; selbst die Stumpfen und Gefühllosen beginnen sich
- zu regen. Aber die wirkliche, eigentliche Liebe empfindet noch keiner,
- auch Sie besitzen sie nicht. Sie lieben Rußland noch nicht.
- Sie können sich immer nur grämen, klagen und sich darüber aufregen,
- sowie Sie hören, daß etwas Böses oder Häßliches in Rußland passiert.
- Dies erregt bei Ihnen nichts wie Ärger, Bitterkeit oder Mißmut. Nein,
- das ist noch nicht Liebe. Sie sind noch weit entfernt von der Liebe, das
- ist höchstens etwas wie ein schwaches Anzeichen, durch das sie sich
- ankündigt. Nein, wenn Sie Rußland wirklich lieben werden, dann wird
- jener kurzsichtige Gedanke, der jetzt in den Köpfen vieler ehrlicher und
- selbst gescheiter Leute entsteht, als könnten sie heutzutage nichts für
- Rußland tun, und als ob Rußland ihrer überhaupt nicht bedürfte, ganz von
- selbst verschwinden. Im Gegenteil, dann werden Sie erst wirklich und mit
- voller Stärke empfinden, daß die Liebe allmächtig ist und daß man mit
- ihr im Bunde alles zu vollbringen vermag. Nein, wenn Sie Rußland
- wirklich liebgewinnen werden, dann werden Sie sich förmlich dazu
- drängen, dem Vaterland zu dienen. Und Sie werden dann nicht etwa
- Gouverneur, sondern Polizeihauptmann werden wollen, dann werden Sie sich
- mit dem letzten unbedeutendsten Posten, der sich Ihnen darbieten wird,
- begnügen wollen und jedes Körnchen Tätigkeit in diesem Beruf einem
- tatenlosen und müßigen Leben, wie Sie es jetzt führen, vorziehen. Nein,
- Sie lieben Rußland noch nicht. Und solange Sie Rußland noch nicht
- lieben, können Sie auch Ihre Brüder nicht lieben, ohne solche Liebe zu
- Ihren Brüdern aber können Sie nicht in Liebe zu Gott entbrennen. Und ehe
- Sie sich nicht mit dieser göttlichen Liebe erfüllen, gibt es keine
- Rettung für Sie.
- 1844.
- XX
- Lernt Rußland kennen!
- Aus einem Brief an den Grafen P. T.
- Es gibt keinen höheren Beruf als den Mönchsberuf. Gott gebe, daß es uns
- einmal beschieden sei, die schlichte Mönchskutte anzulegen, nach der
- sich meine Seele so sehnt! Schon der bloße Gedanke an sie ist mir eine
- Freude. Allein aus eigener Kraft, ohne von Gott dazu berufen zu werden,
- können wir solches nicht vollbringen. Wenn man das Recht besitzen will,
- sich aus dieser Welt zurückzuziehen, muß man dieser Welt Lebewohl sagen
- können. Verteile zuvor all dein Gut an die Armen und dann erst gehe ins
- Kloster. Diese Worte gelten für alle, deren Weg dorthin führt. Sie sind
- reich, Sie können Ihr Vermögen unter die Armen verteilen, was aber hätte
- ich ihnen zu geben? Mein Vermögen besteht nicht in Geld. Mit Gottes
- Hilfe ist es mir gelungen, mir ein gewisses geistiges und seelisches
- Besitztum zu erwerben, Er hat mir einige Fähigkeiten verliehen, mit
- denen ich andern nützen und dienen kann -- daher muß ich diese Güter
- unter die verteilen, die keine besitzen, ehe ich ins Kloster gehe. Aber
- auch Sie können sich dadurch, daß Sie all Ihr Geld wegschenken, noch
- nicht das Recht dazu erwerben. Wenn Sie an Ihrem Gelde hingen und wenn
- es Ihnen schwer würde, sich von ihm zu trennen, dann läge die Sache
- anders. Allein Sie sind gleichgültig gegen das Geld, es bedeutet heute
- nichts mehr für Sie. Was für eine Heldentat und welch ein Opfer wäre es,
- sich von ihm zu trennen. Oder heißt es etwa, seinem Bruder Gutes tun,
- wenn man ein unnützes Ding aus dem Fenster wirft, sofern wir nämlich das
- Gute in dem hohen Sinne des Christentums verstehen? Nein, Ihnen sind die
- Tore zu der ersehnten Klosterzelle noch ebenso verschlossen wie mir. Ihr
- Kloster ist -- Rußland. Nun, so legen Sie das geistige Mönchsgewand an
- -- sterben Sie sich selbst völlig ab -- sich selbst -- nicht Rußland --
- und gehen Sie hin, um darin zu wirken und tätig zu sein. Unser Land ruft
- heute seine Söhne lauter als je. Schon schmerzt ihm die Seele, und schon
- ertönt sein Schrei aus tiefer Seelennot. Lieber Freund! Sie haben
- entweder ein gefühlloses Herz oder Sie wissen nicht, was Rußland für
- einen Russen bedeutet. Denken Sie doch daran, wie einst, wenn Not und
- Elend über das Reich hereinbrachen, die Mönche ihre Klosterzellen
- verließen und zu den anderen in die Reihen traten, um das Vaterland zu
- retten. Die Mönche Oslabja und Pereswet griffen, vom Segen des Priors
- begleitet, zum Schwert, das dem Christen ein Greuel ist, und blieben auf
- der blutigen Walstatt, und Sie weigern sich, die Pflicht eines
- friedlichen Bürgers -- ja, wo denn nur? -- mitten im Herzen Rußlands zu
- erfüllen. Machen Sie keine Ausflüchte, und weisen Sie nicht auf Ihre
- Unfähigkeit hin, Sie besitzen viele Fähigkeiten, die Rußland jetzt
- höchst dienlich und von größtem Nutzen sein können. Sie sind Gouverneur
- zweier Provinzen von äußerst verschiedenem Charakter gewesen. Sie haben
- diese Stellung trotz aller Fehler und Unzulänglichkeiten, die Ihnen
- damals noch anhafteten, weit besser ausgefüllt als mancher andere, Sie
- haben sich aus erster Hand positive Kenntnisse über die Zustände und
- Vorgänge im Innern Rußlands erworben und das Land in seinem wahren Wesen
- kennen gelernt. Aber das ist noch nicht die Hauptsache, und ich würde
- Ihnen nicht so zureden, wieder in den Staatsdienst zu treten, trotzdem
- Sie so bedeutende Kenntnisse besitzen, wenn ich bei Ihnen nicht eine
- bestimmte Eigenschaft entdeckt hätte, die mir weit bedeutsamer
- erscheint, als alle übrigen. Ich meine jene Fähigkeit, ohne besondere
- Anstrengung und ohne _selbst_ zu arbeiten, ja, während Sie selbst ein
- bequemes müßiges Leben führen, alle andern zur Arbeit anzufeuern. Bei
- Ihnen wickelte sich alles schnell und glatt ab, und wenn man Sie dann
- erstaunt fragte: wie kommt das nur? pflegten Sie zu antworten: das alles
- ist das Verdienst meiner Beamten, ich hatte das Glück, tüchtige Beamte
- zu bekommen, die mir selbst gar keine Arbeit übrig lassen. Und wenn sich
- dann Gelegenheit bot, jemand für eine Auszeichnung oder Belohnung
- vorzuschlagen, dann wiesen Sie stets zuerst auf Ihre Beamten hin, indem
- Sie ihnen alles Verdienst zuschrieben und sich selbst ganz übergingen.
- Das ist Ihr höchster Vorzug. Ganz abgesehen von Ihrer großen Fähigkeit,
- sich die rechten Beamten zu wählen. Kein Wunder, daß Ihre Beamten sich
- die größte Mühe gaben, ja, einer hat sich beim Schreiben so
- überanstrengt, daß er an der Schwindsucht erkrankte und starb, trotzdem
- Sie aufs eifrigste bemüht waren, ihn zu bestimmen, er solle nicht so
- viel arbeiten. Wessen ist ein Russe nicht fähig, wenn ein Vorgesetzter
- ihn in dieser Weise behandelt! Eine solche Fähigkeit wird heute zu einem
- wahrhaften Bedürfnis. Gerade heute, in einer so selbstsüchtigen Zeit, wo
- ein jeder Vorgesetzter nur daran denkt, sich selbst möglichst in den
- Vordergrund zu rücken und sich alle Verdienste zuzuschreiben. Ich sage
- Ihnen, mit dieser Ihrer Fähigkeit sind Sie heute in Rußland völlig
- unentbehrlich, und es ist eine Sünde, daß Sie dies nicht einmal
- empfinden. Ich würde eine Schuld auf mich laden, wenn ich Sie nicht auf
- diese Fähigkeit aufmerksam machte. Sie ist das Beste, was Sie besitzen.
- Die, die sie entbehren, denen diese Eigenschaft fehlt, flehen Sie an,
- daß Sie sie nicht brachliegen lassen mögen. Sie aber halten sie wie ein
- Geizhals unter festem Verschluß und stellen sich taub. Es ist richtig,
- vielleicht stünde es Ihnen heute nicht gut an, eine ähnliche Stellung
- einzunehmen wie die, die Sie vor zehn Jahren innehatten, nicht deshalb,
- weil Sie sie nötig haben -- Sie besitzen gottlob keinen Ehrgeiz, und in
- Ihren Augen ist keine Stellung zu gering -- sondern deshalb, weil Ihre
- Fähigkeiten sich noch mehr entwickelt haben, noch gewachsen sind und zu
- ihrer Entfaltung und Nahrung eines anderen freieren Wirkungskreises
- bedürfen. Ja, aber gibt es denn etwa so wenig Posten und Wirkungskreise
- in Rußland? Blicken Sie um sich, sehen Sie sich ordentlich um, und Sie
- werden einen finden. Sie sollten einmal eine Reise durch Rußland machen.
- Sie kennen das Land, wie es vor zehn Jahren war, aber das genügt jetzt
- nicht mehr. In zehn Jahren ereignet sich in Rußland mehr, als in einem
- anderen Staate während eines halben Jahrhunderts. Sie haben selbst,
- während Sie hier im Ausland wohnen, bemerkt, daß in den letzten zwei,
- drei Jahren ganz andere Menschen aus Rußland herauskommen, Menschen, die
- gar keine Ähnlichkeit mit denen haben, denen Sie noch vor kurzem
- begegneten. Um zu erfahren, was das _heutige Rußland_ ist, muß man
- unbedingt einmal eine Reise durch das Land machen. Glauben Sie nicht,
- was man spricht und was man sich erzählt. Das eine ist freilich wahr,
- daß es in Rußland noch niemals eine so außerordentliche Mannigfaltigkeit
- und Verschiedenheit der Meinungen und Anschauungen gegeben hat, wie sie
- heute unter den Leuten herrschen, und daß der Unterschied der Bildung
- und der Erziehung die Menschen noch niemals in einen solchen Gegensatz
- zueinander gebracht und soviel Streit und Uneinigkeit unter ihnen erregt
- hat, wie heutzutage. Überdies ist ein Geist der Klatschsucht
- aufgekommen, sind so viele neue törichte Ideen mit allen daraus
- folgenden Konsequenzen zu uns importiert worden, sind so viele törichte
- Gerüchte entstanden und einseitige nichtssagende Schlüsse gezogen
- worden. Dies alles hat bei allen Leuten die Begriffe über Rußland so
- sehr entstellt und verwirrt, daß man niemand mehr glauben kann. Man muß
- selbst eine Reise durch Rußland machen und sich selbst überzeugen. Das
- ist besonders nützlich für den, der eine Weile fern von Rußland in der
- Fremde gelebt hat und nun mit einem frischen, noch nicht umnebelten
- Kopfe zurückkehrt. Er wird vieles sehen, was ein anderer Mensch, der
- sich selbst mitten in dem verwirrenden Getriebe befindet und empfindlich
- und feinfühlig auf die brennenden Fragen des Augenblicks reagiert, nicht
- sehen kann. Führen Sie Ihre Reise in folgender Weise aus: zunächst
- müssen Sie alle Anschauungen, die Sie bisher über Rußland besaßen, bis
- auf die letzte völlig aus Ihrem Kopfe verbannen und sich von all Ihren
- eigenen Schlüssen und Folgerungen, die Sie bereits gezogen haben,
- lossagen. Sie müssen tun, als ob Sie so gut wie gar nichts wüßten, und
- Ihre Reise so antreten, wie wenn Sie ein neues, Ihnen noch völlig
- unbekanntes Land kennen lernen wollten. Und wie sich ein russischer
- Reisender jedesmal bei seinem Eintreffen in einer größeren europäischen
- Stadt beeilt, alle ihre Denkmäler aus alter Zeit und alle
- Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen, so müssen Sie, wenn Sie in
- die erste beste Kreis- oder Provinzhauptstadt kommen, ja mit noch
- größerem Interesse sich bemühen, alles Bemerkenswerte an ihr kennen zu
- lernen. Dieses besteht nicht in ihren architektonischen Kunstwerken und
- in ihren Altertümern, sondern in ihren Menschen. Ich möchte darauf
- schwören, der Mensch hat mehr Anspruch darauf, daß man ihn aufmerksam
- und mit Interesse kennen zu lernen und zu erforschen sucht, als
- irgendeine Fabrik oder eine Ruine. Rüsten Sie sich mit einem Tropfen
- wahrhaft brüderlicher Liebe aus und versuchen Sie es, einen Blick auf
- den Menschen zu werfen, und Sie werden sich nicht wieder von ihm trennen
- können, so interessant wird er Ihnen werden. Lernen Sie vor allem die
- Menschen kennen, die den eigentlichen Kern, den Extrakt, »das Salz«
- einer jeden Stadt oder jedes Kreises bilden. In jeder Stadt gibt es
- immer zwei bis drei solche Menschen. Sie werden Ihnen in wenigen Zügen
- ein Bild der ganzen Stadt vermitteln, so daß Sie sich schon selbst ein
- Urteil darüber bilden werden, wo und an welchen Orten Sie die meisten
- Beobachtungen über die gegenwärtige Lage der Dinge machen können. Wenn
- Sie mit den fortgeschrittensten Repräsentanten jeden Standes reden
- werden (mit Ihnen unterhalten sich doch alle Menschen so gern und öffnen
- Ihnen gleich ganz weit ihr Herz), so werden Sie von ihnen erfahren, was
- heutzutage jeder Stand bedeutet. Der flinke und gewandte Kaufmann wird
- Ihnen sofort erklären, was die Kaufmannschaft der Stadt darstellt. Ein
- nüchterner, tüchtiger Kleinbürger wird Ihnen einen Begriff von dem
- Kleinbürgertum geben; von einem energischen Beamten werden Sie alles
- Notwendige über den Geschäftsgang in den staatlichen Organen erfahren,
- und von dem allgemeinen Geist und der Atmosphäre der Gesellschaft werden
- Sie sich selbst ein Bild machen. Übrigens dürfen Sie sich nicht
- allzusehr auf die fortgeschrittenen Leute, die geistige Elite verlassen.
- Es ist schon besser, wenn Sie immer zwei oder drei Leute aus jedem
- Stande hören. Vergessen Sie auch nicht, daß heute alle miteinander im
- Streite liegen und einer den andern rücksichtslos verleumdet und
- schlecht macht. Suchen Sie sofort Fühlung mit der Geistlichkeit zu
- nehmen, weil man mit dieser leicht bekannt wird. Von ihr werden Sie
- alles übrige erfahren. Und wenn Sie auch nur die wichtigsten Punkte und
- Städte Rußlands besuchen werden, so wird es Ihnen sonnenklar werden, wo
- und an welcher Stelle Sie sich nützlich machen können und um welchen
- Posten Sie sich bewerben müssen. Inzwischen aber können Sie, wenn Sie
- nur wollen, schon durch Ihre bloße Reise sehr viel Gutes stiften. Schon
- während dieser Reise werden Sie Gelegenheit zu so großen wahrhaft
- christlichen Taten finden, wie sie sich Ihnen nicht einmal im Kloster
- bieten würde. Erstens können Sie, der Sie sich so angenehm unterhalten
- können und der Sie allen Menschen gefallen, als ein fremder abseits
- stehender neuer Mensch die Rolle des unparteiischen Mittlers und
- Richters übernehmen. Sie wissen nicht, wie wichtig, wie notwendig das
- jetzt in Rußland ist und welches Verdienst in einer solchen Tätigkeit
- liegt. Der Heiland hat sie beinahe noch höher gestellt als jede andere
- Art der Tätigkeit. Er nennt die Friedfertigen geradezu die Kinder
- Gottes. Ein Vermittler und Friedensstifter aber findet bei uns überall
- etwas zu tun. Alles liegt miteinander im Streit. Unsere Adligen leben
- miteinander wie Hund und Katze, die Kaufleute leben wie Katze und Hund;
- die Kleinbürger vertragen sich so schlecht wie Hund und Katze; ja selbst
- die Bauern leben, wenn sie nicht gerade durch irgendeinen besonderen
- Grund zu einträchtiger Arbeit veranlaßt werden, miteinander wie Hund und
- Katze. Ja, sogar brave ehrliche Menschen leben in Zwietracht
- miteinander. Nur unter den Gaunern kann man noch etwas wie Eintracht und
- Freundschaft bemerken, wenn nämlich einer von ihnen heftigen
- Verfolgungen ausgesetzt ist.
- Ein Friedensstifter findet überall einen Wirkungskreis. Haben Sie keine
- Furcht, es ist nicht schwer, zu vermitteln und zu versöhnen. Für die
- Menschen selbst ist es allerdings schwierig, sich wieder zu vertragen
- und wieder auszusöhnen. Sowie aber ein Dritter zwischen sie tritt, söhnt
- er sie sofort miteinander aus. Daher spielt bei uns das Schiedsgericht,
- dieses eigenste und wahrhaftigste Produkt unseres Landes, das bisher
- weit mehr Erfolge zu verzeichnen hatte, als alle anderen Gerichte, eine
- so große Rolle. Es gibt eine wunderbare Eigenschaft, die der
- menschlichen Natur im allgemeinen, besonders aber dem russischen Wesen
- eigen ist. Sowie ein Mensch merkt, daß ein anderer ihm auch nur ein
- bißchen entgegenkommt oder nachsichtig gegen ihn ist, so ist er schon so
- gut wie bereit, ihn deswegen um Verzeihung zu bitten. Keiner will zuerst
- nachgeben, sowie jedoch einer sich zu einem solchen hochherzigen
- Entgegenkommen entschließt, drängt sich der andere förmlich dazu, ihn an
- Großmut noch zu überbieten. Daher können bei uns selbst die ältesten
- Prozesse und Zwistigkeiten weit schneller als irgendwo sonst beigelegt
- werden, wenn nur ein wahrhaft edler Mensch, der von allen geachtet wird
- und überdies noch ein Kenner des menschlichen Herzens ist, zwischen die
- Streitenden tritt. Eine solche Versöhnung aber -- dies muß ich noch
- einmal wiederholen -- ist jetzt sehr vonnöten. Wenn nur einige wenige
- Menschen, die sich jetzt gegenseitig entgegenarbeiten und einander
- Schwierigkeiten machen, weil sie verschiedener Ansicht über irgendeine
- Sache sind, sich dazu verständen, einander die Hand zu reichen, so würde
- es den Gaunern schlecht ergehen. Da haben Sie also einen Teil der
- Tätigkeit, zu der sich Ihnen während Ihrer Reise durch Rußland auf
- Schritt und Tritt Gelegenheit bieten wird. Aber es gibt auch noch eine
- andere Aufgabe für Sie, die nicht geringer ist als jene erste. Sie
- können der Geistlichkeit der Städte, die Sie berühren werden, einen
- großen Dienst erweisen, indem Sie sie näher mit der Gesellschaft bekannt
- machen, in der sie lebt, indem Sie ihr eine gewisse Kenntnis der
- Vorgänge und der Machenschaften beibringen, von denen die Menschen
- heutzutage in der Beichte gar nicht reden, da sie annehmen, daß sie
- nicht in die Sphäre des christlichen Lebens gehören. Dies ist sehr
- notwendig, weil viele Geistliche, wie ich weiß, infolge der großen Menge
- von Ungehörigkeiten und Mißbräuchen, die in der letzten Zeit
- stattgefunden haben, mutlos geworden sind, weil sie fast der Ansicht
- sind, daß niemand mehr auf sie hört, daß ihre Worte und Predigten in die
- Luft gesprochen sind, daß das Übel schon so tiefe Wurzeln geschlagen hat
- und daß an eine Entwurzelung gar nicht mehr zu denken ist. Das ist
- unrichtig. Freilich sündigt der Mensch von heute wirklich
- unvergleichlich viel mehr als zu irgendeiner früheren Zeit; allein er
- sündigt nicht aus einem Übermaß von Verdorbenheit und Lasterhaftigkeit,
- nicht aus Gefühllosigkeit und nicht deshalb, weil er den Wunsch zu
- sündigen hat, sondern deshalb, weil er seine Sünden nicht erkennt. Noch
- hat sich nicht allen die für unser gegenwärtiges Zeitalter so furchtbare
- Wahrheit enthüllt, noch liegt diese Wahrheit nicht so klar vor unseren
- Augen, daß wir nämlich heutzutage alle miteinander bis auf den Letzten
- der Sünde verfallen sind, und daß wir bloß nicht offen und direkt,
- sondern indirekt sündigen. Das empfinden selbst unsere Prediger noch
- nicht recht, daher sind ihre Predigten auch in die Luft gesprochen und
- daher bleiben die Menschen taub für ihre Worte. Wenn man heutzutage
- erklärt: »ihr sollt nicht stehlen, nicht in Überfluß und Üppigkeit
- leben, ihr sollt euch nicht bestechen lassen, sondern beten und den
- Armen milde Gaben reichen«, so bedeutet das nichts und kann keine
- Wirkung haben. Denn abgesehen davon, daß jeder sagen wird: »aber das
- sind doch alles bekannte Dinge«, wird er sich noch vor sich selbst
- rechtfertigen und sich womöglich gar noch für einen Heiligen halten. Er
- wird sagen: »Stehlen? -- ja, das tue ich doch nicht. Legt eine Uhr, ein
- paar Münzen, legt jeden beliebigen Gegenstand vor mich hin, ich werde
- ihn nicht anrühren. Ich habe sogar meinen eigenen Diener wegen
- Diebstahls entlassen; ich lebe natürlich auf großem Fuße, aber ich habe
- weder Kinder noch Verwandte, ich brauche für niemand zu sparen und
- zurückzulegen und mit meiner Verschwendung und mit meinem Überfluß
- stifte ich noch Nutzen, denn ich gebe damit den Handwerkern, den
- Gesellen, den Kaufleuten und Fabrikherren Gelegenheit, zu verdienen.
- Geschenke nehme ich nur von den Reichen an, die mich selbst darum bitten
- und für die das noch nicht den Ruin bedeutet. Ich bete immer fleißig,
- auch jetzt bin ich doch in der Kirche, ich bekreuzige mich und mache
- meine Kniefälle, ich helfe auch stets, kein Armer geht an mir vorüber,
- ohne daß er eine Kupfermünze von mir erhält, auch habe ich mich niemals
- geweigert, etwas für irgendeine Wohlfahrtseinrichtung zu geben.« Mit
- einem Wort, er wird sich nach einer solchen Predigt nicht nur für
- gerechtfertigt halten, sondern wohl gar noch stolz auf seine
- Sündlosigkeit sein.
- Aber wenn man den Vorhang vor ihm wegzieht und ihm bloß einen Teil von
- all den furchtbaren Schrecken und Übeln zeigt, die er zwar nicht
- unmittelbar, aber doch indirekt verursacht, dann wird er ganz anders
- reden. Man sage einem kurzsichtigen, aber ehrenhaft denkenden reichen
- Mann, daß er, indem er sein Haus schmückt und seine Lebensweise nach dem
- Vorbild der vornehmen Herren einrichtet, schweren Schaden und schweres
- Ärgernis verursacht, indem er einem andern weniger Reichen denselben
- Wunsch einpflanzt. Denn dieser wird, um nur nicht hinter jenem
- zurückzustehen, nicht nur sein eigenes, sondern auch fremdes Gut
- verschwenden, die Menschen ausplündern und sie zu Bettlern machen;
- außerdem aber sollte man eins jener furchtbaren Bilder der Hungersnot im
- Innern Rußlands vor ihm erstehen lassen, bei der ihm die Haare zu Berge
- stehen müssen, und die es vielleicht nicht geben würde, wenn er nicht
- wie ein vornehmer Mann leben, nicht den Ton in der Gesellschaft angeben
- und die Köpfe anderer Leute verwirren würde. Ebenso zeige man allen
- Modedamen, die sich nicht gern immer in demselben Kleide sehen lassen
- und sich ganze Haufen neuer Kleider anfertigen lassen, ohne ein einziges
- davon wirklich abzutragen, wobei sie jeder kleinsten Laune der Mode
- folgen, ebenso zeige man diesen, wie sie eigentlich gar nicht dadurch
- sündigen, daß sie sich einem solchen eitlen Treiben hingeben und ihr
- Geld verschwenden, sondern dadurch, daß sie auch andere zu einem solchen
- Leben zwingen, daß so mancher Mann einer andern Frau aus diesem Grunde
- Bestechungsgelder von einem Beamten, dem eigenen Kollegen, angenommen
- hat [gewiß, dieser Beamte war reich, aber um das Geld aufzubringen,
- mußte er einem weniger Reichen an die Kehle springen und ihn
- ausplündern. Dieser mußte seinerseits irgendeinem Assessor oder einem
- Landrat die Kehle zudrücken und der Landpolizeihauptmann wiederum war
- gezwungen, die ganz Armen und Besitzlosen auszuplündern] und man lasse
- auch vor all diesen Modedamen ein Bild der Hungersnot erstehen. Dann
- werden sie nicht mehr an Hüte oder an ein neues, modernes Kleid denken.
- Sie werden einsehen, daß auch das Geld, das sie den Armen hinwerfen, und
- auch die humanen Wohlfahrtseinrichtungen, die sie in den Städten auf
- Kosten der ausgeplünderten Provinzen errichten, sie nicht von der
- furchtbaren Verantwortung vor Gott befreien werden. Nein, der Mensch ist
- nicht gefühllos. Der Mensch wird im tiefsten erschüttert sein, wenn Sie
- ihm die Sache darstellen, wie sie ist. Und er wird sich heute mehr
- erschüttert fühlen, denn sein Herz, sein Wesen ist milder und weicher
- geworden, und die Hälfte seiner Sünden rührt von seiner Unkenntnis und
- nicht von seiner Lasterhaftigkeit her. Er wird den, der ihn dazu
- anhalten wird, in sich zu gehen und seinen Blick auf sich selbst, in
- sein Inneres zu richten, liebevoll wie seinen Retter umarmen. Der
- Prediger braucht den Vorhang nur ein wenig zu lüften und ihm nur eins
- von den Verbrechen zu zeigen, die er jeden Augenblick begeht, und er
- wird nicht mehr den Mut haben, mit seiner Sündlosigkeit zu prahlen. Er
- wird sein verschwenderisches Leben nicht mehr mit elenden, armseligen
- Sophismen zu verteidigen suchen, wie wenn ein solches Leben notwendig
- wäre, um den Handwerkern Brot zu verschaffen, er wird erkennen, daß der
- Gedanke, daß man ein halbes Dorf oder einen halben Kreis zugrunde
- richten müsse, um irgendeinem Tischler Hambs Brot zu verschaffen, nur in
- dem traurigen Kopfe eines Nationalökonomen des 19. Jahrhunderts, nicht
- aber in dem gesunden Gehirn eines vernünftigen Menschen entstehen
- konnte. Wie, wenn der Prediger die ganze Kette jener unzähligen
- indirekten Verbrechen, die der Mensch durch seine Unvorsichtigkeit,
- seinen Stolz, sein Selbstvertrauen begeht, vor ihm aufrollen und auf
- alle Gefahren der gegenwärtigen Zeit hinweisen würde, wo jeder von uns
- mit einem Schlage so viele Seelen zugrunde richten kann, nicht nur seine
- eigene, ja wo man sogar, ohne selbst unehrlich zu sein, bloß durch seine
- Unvorsichtigkeit andere zu ehrlosen Menschen und Schurken machen kann,
- kurz, wie wäre es wohl, wenn er nur ganz vorsichtig darauf hinweisen
- würde, auf welch gefährlichem Wege sich alle Menschen befinden! Nein,
- die Menschen werden nicht taub gegen seine Worte sein. Keins seiner
- Worte wird in die Luft gesprochen sein. _Sie_ aber können viele Priester
- hierauf aufmerksam machen, indem Sie sie auf alle die Machenschaften der
- Menschen unserer Zeit, die Sie unterwegs kennen lernen werden,
- aufmerksam machen. Aber Sie können sich hierdurch nicht nur den
- Priestern, sondern auch anderen Menschen nützlich erweisen. Dies sind
- Tatsachen, deren Kenntnis heutzutage jedem von Nutzen ist.
- Man muß dem Menschen das Leben zeigen: das Leben, nicht wie es sich
- unter dem Gesichtspunkt einer vergangenen, sondern unter dem aller
- Wirrsale und Verwirrungen unserer _gegenwärtigen_ Zeit darstellt; nicht
- wie es dem oberflächlichen Blick eines Weltmanns, sondern wie es einem
- Manne erscheint, der es von dem höchsten Standpunkt eines Christen
- betrachtet, in Erwägung zieht und bewertet. Die Unkenntnis Rußlands, wie
- sie in Rußland selbst verbreitet ist, ist ganz ungeheuer. Alle Leute
- leben in einer fremden Welt ausländischer Journale und Zeitungen, nicht
- aber in ihrem eigenen Lande. Keine Stadt kennt die andere, kein Mensch
- kennt seine Mitmenschen. Menschen, die innerhalb derselben vier Wände
- wohnen, scheinen durch Meere voneinander getrennt zu sein. Sie aber
- können sie auf Ihrer Reise miteinander bekannt machen und wie ein
- gewandter Kaufmann einen wohltuenden gegenseitigen Verkehr und
- Gedankenaustausch zwischen ihnen anbahnen. In _einer_ Stadt können Sie
- Kenntnisse sammeln, um sie in einer andern mit Profit wieder an den Mann
- zu bringen. Sie können alle reicher machen und sich zugleich selbst weit
- mehr bereichern als alle. So Großes können Sie auf Schritt und Tritt
- vollbringen -- und das sehen Sie nicht. Erwachen Sie doch. Eine Hülle
- liegt über Ihren Augen. Es liegt nicht in Ihrer Macht, die Liebe
- herbeizurufen, damit sie komme und Wohnung in Ihrem Herzen nehme. Sie
- können die Menschen nicht anders lieben lernen, als dadurch, daß Sie es
- lernen, ihnen zu dienen. Wie könnte ein Diener seinen Herrn
- liebgewinnen, wenn dieser ihm beständig fernbleibt und wenn er noch nie
- für ihn gearbeitet hat. Daher liebt ja auch eine Mutter ihr Kind so
- innig, weil sie es so lange unter ihrem Herzen getragen, weil sie alles
- für es hingegeben hat, weil sie so viel für es gelitten hat. Wachen Sie
- auf! Ihre Klosterzelle ist -- Rußland.
- 1845.
- XXI
- Was eine Gouverneursgattin ist
- An Fr. A. O. S.
- Ich freue mich, daß Ihre Gesundheit jetzt besser ist. Die meine ... aber
- sprechen wir nicht von unserer Gesundheit. Wir sollten sie ebenso
- vergessen wie uns selbst. Also Sie kehren wieder in Ihre
- Gouvernementshauptstadt zurück. Sie müssen sie mit neuer Kraft lieben
- lernen; sie gehört zu Ihnen, sie ist Ihnen anvertraut, sie muß Ihre
- wahre Heimat werden. Sie haben unrecht, wenn Sie schon wieder meinen,
- daß Ihre Anwesenheit für das soziale Tun und Leben daselbst ganz ohne
- Nutzen, daß die Gesellschaft bis auf die Wurzel verderbt sei. Sie sind
- einfach müde -- das ist alles. Die Frau eines Gouverneurs findet
- überall, auf Schritt und Tritt ein Feld der Betätigung. Sie wirkt sogar
- auch dann noch, wenn sie überhaupt nichts tut. Sie wissen doch selbst
- schon, daß es sich nicht darum handelt, sich viele Unruhe, sich viel zu
- schaffen zu machen und sich beständig voller Hitze und Eifer auf alle
- möglichen Dinge zu werfen. Sie haben zwei lebendige Beispiele vor sich,
- die Sie selbst erwähnt haben. Ihre Vorgängerin, Frau Sch., hat einen
- ganzen Haufen von Wohlfahrtseinrichtungen gegründet und zugleich damit
- alle möglichen Schreibereien, eine große Aktenwirtschaft veranlaßt,
- allerhand Ökonomen, Sekretäre angestellt und den Grund zu Veruntreuungen
- und einem törichten unsinnigen Getue gelegt, sie hat sich in Petersburg
- durch ihre Wohltätigkeit berühmt gemacht und in K. eine große Verwirrung
- angerichtet. Die Fürstin O. dagegen, die _vor_ Ihnen Gouverneurin der
- Stadt K. war, hat keinerlei Wohlfahrtseinrichtungen und keine Asyle
- gegründet, sie hat außerhalb der Stadt kaum von sich reden gemacht, auch
- hatte sie gar keinen Einfluß auf ihren Mann und sie hat sich auch an der
- eigentlichen Regierungstätigkeit und den offiziellen Geschäften gar
- nicht beteiligt, und doch kann bis auf den heutigen Tag kein Mensch in
- der Stadt ihrer ohne Tränen gedenken, und jedermann -- von dem Kaufmann
- bis herab zum letzten Habenichts -- sagt auch heute noch immer: »Nein,
- wir werden nie eine zweite Fürstin O. bekommen.« Und wer sagt so etwas?
- Dieselbe Stadt, für die sich, wie Sie annehmen, nichts tun läßt,
- dieselbe Gesellschaft, die Ihrer Meinung nach für alle Zeiten und
- unwiederbringlich verdorben ist. Wie denn nun? Läßt sich denn wirklich
- nichts machen? Sie sind müde, das ist alles, und Sie fühlen sich müde,
- weil Sie sich gar zu eifrig ins Zeug gelegt, weil Sie Ihren eigenen
- Kräften gar zu viel zugetraut haben. Ihr weibliches Temperament ist mit
- Ihnen durchgegangen ... Ich wiederhole Ihnen noch einmal, was ich Ihnen
- schon oft gesagt habe: Sie haben einen großen Einfluß. Sie sind die
- erste Persönlichkeit in der Stadt. Dank dem äffischen Wesen der Mode und
- der bei uns in Rußland herrschenden äffischen Nachahmungssucht im
- allgemeinen wird man alles an Ihnen, jede kleinste Kleinigkeit,
- nachahmen. Sie werden auf allen Gebieten tonangebend, Gesetzgeberin
- sein. Wenn Sie nun recht für Ihre eigenen Angelegenheiten sorgen werden,
- so werden Sie schon allein hierdurch wirken, weil Sie damit auch andere
- veranlassen werden, sich mehr und gründlicher mit ihren Angelegenheiten
- zu beschäftigen. Bekämpfen Sie den Luxus (solange Sie nichts anderes zu
- tun finden), auch das ist schon eine hohe Aufgabe, die dazu nicht einmal
- viel Arbeit und Unruhe erfordert, noch viele Kosten verursacht. Fehlen
- Sie auf keinem Ball und in keiner Versammlung. Erscheinen Sie stets und
- zwar nur, um sich mehrmals in ein und demselben Kleide sehen zu lassen.
- Ziehen Sie das gleiche Kleid drei-, vier-, fünf-, sechsmal an. Loben Sie
- an jedem Dinge nur das, was einfach und billig ist. Kurz, bekämpfen Sie
- diesen abscheulichen nordländischen Luxus, diesen Krebsschaden Rußlands,
- diesen Quell aller Bestechlichkeit, aller Ungesetzlichkeiten und
- Schändlichkeiten, die es bei uns gibt. Wenn Ihnen auch nur dies _eine_
- gelingen sollte, so werden Sie damit bereits mehr wahren Nutzen stiften,
- als selbst die Fürstin O. Und das erfordert, wie Sie selbst sehen, nicht
- einmal irgendwelche Opfer, ja nicht einmal viel Zeit. Liebe Freundin!
- Sie sind müde. Aus Ihren früheren Briefen ersehe ich, daß Sie für den
- Anfang bereits sehr viel Gutes geleistet haben (wenn Sie sich nicht
- allzusehr beeilt hätten, hätten Sie noch mehr geleistet). Ihr Ruf ist
- bereits über die Grenzen von K. gedrungen, und mancherlei ist auch mir
- zu Ohren gekommen. Aber Sie sind noch gar zu hastig. Sie lassen sich
- noch zu sehr fortreißen. Alles Häßliche und jede kleine Unannehmlichkeit
- macht noch einen viel zu starken Eindruck auf Sie und drückt Sie zu
- leicht nieder. Liebe Freundin! Denken Sie immer wieder an meine Worte,
- von deren Richtigkeit Sie sich, wie Sie selbst sagen, überzeugt haben.
- Betrachten Sie die ganze Stadt so, wie ein Arzt ein Krankenhaus
- betrachtet. Tun Sie dies, aber tun Sie außerdem noch etwas anderes, und
- zwar folgendes: Suchen Sie sich selbst davon zu überzeugen, daß alle
- Kranken, die im Krankenhaus liegen, Ihre Verwandten, daß sie Menschen
- sind, die Ihrem Herzen nahe stehen. Dann wird sich vor Ihren Augen alles
- ändern. Sie werden sich mit den Menschen aussöhnen und nur noch gegen
- ihre Krankheiten ankämpfen. Wer hat Ihnen gesagt, daß diese Krankheiten
- unheilbar sind? Das haben Sie sich selbst eingeredet, weil Sie keine
- Mittel wider sie in der Hand hatten. Wie? Sind Sie etwa ein Arzt, der
- allwissend ist? Warum haben Sie sich denn nicht an andere Leute mit der
- Bitte um Hilfe gewandt. Habe ich Sie denn vergeblich darum gebeten, mich
- über alles zu unterrichten, was es in Ihrer Stadt gibt, mir dazu zu
- verhelfen, daß ich Ihre Stadt kennen lerne, damit ich mir einen
- vollständigen Begriff von dieser Stadt machen kann. Warum haben Sie das
- nicht getan, um so mehr, da Sie doch selbst davon überzeugt sind, daß
- ich in vielen Beziehungen eine größere Wirkung auszuüben vermag als Sie.
- Um so mehr, da Sie mir selbst eine gewisse Menschenkenntnis zuschreiben,
- wie sie nicht allen eigen ist. Um so mehr endlich, da Sie ja selbst
- sagen, daß ich Ihnen in Ihren Herzensangelegenheiten mehr geholfen habe
- als sonst jemand. Glauben Sie wirklich, daß ich nicht auch Ihren
- unheilbaren Kranken zu helfen vermöchte? Sie haben wohl vergessen, daß
- ich zu beten vermag und daß mein Gebet bis zu Gott dringen kann. Gott
- aber kann meinem Verstande Einsicht schenken, und mein von Gott
- erleuchteter Verstand könnte Besseres vollbringen, als ein Verstand, der
- nicht von Ihm belehrt ist.
- Bisher haben Sie mir in Ihren Briefen nur einen ganz allgemeinen Begriff
- von Ihrer Stadt gegeben und ganz allgemeine Züge mitgeteilt, wie sie
- jeder Provinzhauptstadt eigen sein können. Aber auch diese allgemeinen
- Züge sind noch nicht vollständig. Sie haben sich darauf verlassen, daß
- ich Rußland kenne wie meine fünf Finger. Und doch weiß ich von Rußland
- so gut wie gar nichts. Wenn ich auch früher vielleicht etwas davon
- gewußt habe, so ist dieses seit meiner Abreise ganz anders geworden.
- Selbst in der Zusammensetzung der Gouvernementsverwaltung sind große
- Veränderungen vorgegangen. Viele Instanzen und viele Beamte sind jetzt
- nicht mehr vom Gouverneur abhängig, sondern sind andern Departements und
- Ressorts und den Ressorts anderer Ministerien zugeteilt worden. Es sind
- neue Posten geschaffen worden, und es gibt mancherlei neue Beamte. Kurz,
- ein Gouvernement und eine Gouvernementshauptstadt erscheinen heute nach
- vielen Richtungen hin in einem anderen Lichte, und ich habe Sie doch
- gebeten, mich recht _vollständig_ mit Ihrer Situation bekannt zu machen.
- Nicht mit irgendeiner _idealen_, sondern mit Ihrer _eigentlichen
- wirklichen_ Situation, damit ich Ihre ganze Umgebung und alles vom
- Kleinsten bis zum Größten zu übersehen vermag.
- Sie sagen selbst, daß Sie während der kurzen Zeit Ihres Aufenthalts in
- K. Rußland besser kennen gelernt haben, als während Ihres ganzen
- früheren Lebens. Warum haben Sie denn dann Ihre Kenntnisse nicht mit mir
- geteilt? Sie sagen, Sie wüßten nicht einmal, an welchem Ende Sie
- anfangen sollen, Sie sagen, daß der große Haufen von Kenntnissen, die
- Sie gesammelt haben, noch ganz ungeordnet in Ihrem Kopfe liegt
- (Notabene: das ist die Ursache Ihrer Mißerfolge). Ich will Ihnen helfen,
- sie zu ordnen, nur möchte ich Sie darum ersuchen, mir zunächst folgende
- Bitte zu erfüllen und zwar so gewissenhaft, als Ihnen dies möglich ist,
- und nicht in der Weise, wie dies eine Ihrer Geschlechtsgenossinnen -- d.
- h. eine leidenschaftliche Frau, die von zehn Worten acht überhört und
- nur auf zwei antwortet, weil sie ihr zufällig angenehm sind oder
- gefallen haben, tun würde, sondern so, wie unsereiner, d. h. ein kalter,
- leidenschaftsloser Mann oder noch besser, wie ein energischer
- vernünftiger Beamter dies zu tun pflegt, der sich nichts besonders zu
- Herzen nimmt, sondern gleichmäßig auf alle Punkte antwortet.
- Sie sollten um meinetwillen noch einmal darangehen, Ihre
- Gouvernementshauptstadt zu studieren. Erstens sollten Sie mich mit allen
- bedeutenden Persönlichkeiten Ihrer Stadt, mit ihren Vor-, Vater- und
- Familiennamen sowie mit allen Beamten -- vom ersten bis zum letzten --
- bekannt machen. Dies ist ein Bedürfnis für mich. Ich muß ebenso ihr
- Freund werden, wie Sie ausnahmslos die Freundin eines jeden sein müssen.
- Zweitens sollten Sie mir schreiben, was ein jeder von ihnen für einen
- Beruf hat. Dies alles sollten Sie persönlich von ihnen selbst und nicht
- von irgendeinem andern zu erfahren suchen. Knüpfen Sie dazu mit jedem
- ein Gespräch an und fragen Sie ihn aus, worin seine Berufstätigkeit
- besteht, lassen Sie sich alle Gegenstände nennen, auf die sie sich
- bezieht, sowie ihre Grenzen angeben. Das wäre die erste Frage. Bitten
- Sie ihn dann weiter, er möge Ihnen angeben, wodurch, wie und wieviel
- Gutes man unter den gegenwärtigen Verhältnissen in diesem Beruf zu tun
- vermag. Das wäre die zweite Frage. Fragen Sie ihn ferner, wieviel Unheil
- man in diesem selben Beruf anrichten könne und auf welche Weise. Das
- wäre die dritte Frage. Wenn Sie dies alles in Erfahrung gebracht haben,
- so begeben Sie sich auf Ihr Zimmer und schreiben Sie es sofort für mich
- auf. Hierdurch werden Sie mit einem Schlage zwei Aufgaben erfüllen.
- Erstens werden Sie _mir_ hierdurch die Möglichkeit geben, mich Ihnen in
- der Zukunft einmal nützlich zu erweisen, und zweitens werden Sie aus den
- eigenen Antworten jedes Beamten erfahren, wie er seinen Beruf auffaßt,
- woran es ihm fehlt, kurz er wird sich mit seiner Antwort selbst
- charakterisieren. Er kann Ihnen sogar manchen Wink geben, was sich
- bereits gleich jetzt tun ließe ... Aber darum handelt es sich nicht.
- Beeilen Sie sich fürs erste nicht zu sehr. Tun Sie selbst dann noch
- nichts, wenn es Ihnen so erscheint, als ob Sie etwas tun könnten und als
- ob Sie in der Lage wären, irgendwo zu helfen. Es ist besser, wenn Sie
- zunächst noch einen genaueren Einblick in die Dinge zu gewinnen suchen,
- begnügen Sie sich fürs erste damit, mir alles mitzuteilen. Außerdem
- bitte ich Sie, mir entweder am Rande desselben Blattes oder auf einem
- anderen Stück Papier Ihre eigenen Bemerkungen und Beobachtungen über
- jeden einzelnen Mann mitzuteilen -- auch was die andern über ihn sagen,
- kurz alles, was sich vom Standpunkt des äußeren Beobachters von ihm
- sagen läßt.
- Ferner bitte ich Sie, mir ganz ähnliche Mitteilungen über die gesamte
- weibliche Hälfte Ihrer Stadt zukommen zu lassen. Sie sind so klug
- gewesen und haben ihnen allen einen Besuch gemacht und sie fast alle
- kennen gelernt. Übrigens bin ich der Überzeugung, daß Sie sie doch nicht
- genügend kennen gelernt haben. Frauen gegenüber lassen Sie sich schon
- durch den ersten Eindruck leiten, die, die Ihnen nicht gefällt, lassen
- Sie fallen. Sie suchen nur immer nach der Elite und nach den
- allerbesten. Das muß ich Ihnen zum Vorwurf machen, liebe Freundin! Sie
- müssen alle lieben, und die ganz besonders, die viel Häßliches und
- Schlechtes an sich haben. Vor allem sollten Sie sie gründlicher kennen
- lernen, weil davon vieles abhängt und weil sie einen großen Einfluß auf
- ihre Männer haben können. Übereilen Sie sich nicht, suchen Sie ihnen
- keine guten Lehren zu erteilen, sondern fragen Sie sie zunächst einmal
- ordentlich aus. Sie haben ja die Gabe, einen Menschen zum Reden zu
- veranlassen. Suchen Sie sich über die Verhältnisse einer jeden zu
- orientieren, womit sie sich beschäftigt, ja suchen Sie selbst ihre
- Denkungsart und ihre Geschmacksrichtung kennen zu lernen: ihre
- Neigungen, was einer jeden von ihnen gefällt und was das Steckenpferd
- einer jeden ist. Dies muß ich alles wissen.
- Meiner Ansicht nach muß man einen Menschen völlig und bis in sein
- Innerstes durchschauen, um ihm helfen zu können. Ohne dies kann ich es
- nicht einmal verstehen, wie man jemand auch nur zu raten vermag: An
- jedem Ratschlag, den man ihm erteilt, wird er in einem solchen Fall
- immer nur die schwierigste Seite sehen, und er wird ihm nicht leicht, ja
- sogar unausführbar erscheinen. Mit einem Wort, suchen Sie die Frauen bis
- auf den Grund zu durchschauen, damit ich ein vollständiges Bild von
- Ihrer Stadt erhalte.
- Außer den Charakteren und den Persönlichkeiten beiderlei Geschlechts
- bitte ich Sie auch jeden Vorfall, der sich bei Ihnen ereignet, und der
- die Menschen oder den allgemeinen Geist der Provinz auch nur nach
- irgendeiner Seite hin zu charakterisieren geeignet ist, schlicht und
- einfach zu verzeichnen, ganz so, wie er sich abgespielt hat oder wie er
- Ihnen von zuverlässigen Leuten berichtet worden ist. Geben Sie mir auch
- ein paar Stichproben von zwei oder drei Klatschgeschichten, welche Ihnen
- gerade mitgeteilt werden, damit ich weiß, was für Klatschereien bei
- Ihnen im Schwange sind. Sorgen Sie dafür, daß diese Aufzeichnungen Ihnen
- zur dauernden Gewohnheit werden, und setzen Sie ein für allemal eine
- bestimmte Stunde des Tages dafür fest. Suchen Sie sich eine
- systematische und möglichst vollständige Vorstellung von der ganzen
- Stadt in ihrem ganzen Umfange zu bilden, damit Sie sofort übersehen
- können, ob Sie auch nicht vergessen haben, etwas aufzuschreiben, und
- damit ich endlich ein möglichst vollständiges Bild von Ihrer Stadt
- erhalte.
- Wenn Sie mich dann auf solche Weise mit allen Personen, ihrer Tätigkeit,
- ihrer Auffassung von ihr und ihrem Beruf und endlich auch mit dem
- Charakter der Ereignisse, die sich bei Ihnen abspielen, bekannt gemacht
- haben, dann will ich Ihnen etwas sagen, und Sie werden erkennen, daß
- vieles Unmögliche doch möglich und daß vieles Unverbesserliche doch noch
- gutzumachen ist. Bis dahin aber will ich nichts sagen, und zwar gerade
- darum, weil ich mich irren kann, und das möchte ich nicht gern. Ich
- möchte nur solche Worte zu Ihnen sprechen, die gerade ins Ziel treffen,
- nicht höher und nicht tiefer, gerade in den Punkt und den Gegenstand,
- auf den sie gerichtet sind. Ich möchte Ihnen so raten können, daß Sie
- sofort erklären: das ist nicht schwer, das läßt sich leicht ausführen.
- Übrigens möchte ich Ihnen hier doch schon im voraus ein paar Winke
- geben, die allerdings nicht für Sie, sondern für Ihren Gatten bestimmt
- sind: bitten Sie ihn vor allem darauf zu achten, daß die Räte in der
- Gouvernementsverwaltung ehrliche Leute sind; das ist die Hauptsache.
- Sowie diese Räte ehrlich sind, werden wir auch ehrliche
- Polizeihauptleute, ehrliche Assessoren usw. bekommen, mit einem Wort, so
- wird jedermann ehrlich sein. Sie müssen nämlich wissen (wenn Sie dies
- nicht schon wissen sollten), daß die allerungefährlichste Art,
- Bestechungsgelder anzunehmen, die ist, wenn ein Beamter auf Befehl des
- Vorgesetzten von einem Kollegen ein Geschenk annimmt; in solch einem
- Fall gelingt es dem Schuldigen stets, sich seiner Strafe zu entziehen.
- Dies geht zuweilen in einer unendlichen Stufenleiter von oben nach
- unten. Der Polizeihauptmann und die Assessoren sind häufig bloß deswegen
- gezwungen, zu schwindeln und Geschenke anzunehmen, weil man ihnen selbst
- was abnimmt und weil sie Geld brauchen, denn sie müssen zahlen, wenn sie
- eine Stelle erhalten wollen. Diese Kauf- und Verkaufsgeschäfte können
- sich offen vor aller Augen abspielen und doch von niemand bemerkt
- werden. Aber hüten Sie sich um Gottes willen, deswegen gegen jemand
- vorzugehen und ihn deshalb zu verfolgen. Sorgen Sie nur dafür, daß in
- den oberen Regionen unbedingte Ehrlichkeit herrscht, dann werden auch in
- den unteren alle von selbst ehrlich sein. Strafen Sie und verfolgen Sie
- niemand, ehe die rechte Zeit kommt und ehe das Übel ganz zur Reife
- gekommen ist. Suchen Sie unterdessen lieber durch Ihren moralischen
- Einfluß zu wirken. Ihr Gedanke, daß ein Gouverneur stets Gelegenheit
- hat, viel Unheil anzurichten, daß er nur wenig Gutes tun kann, daß er
- kaum die Möglichkeit hat, Gutes und Heilsames zu leisten, da ihm auf
- diesem Gebiete die Hände gebunden sind, ist nicht ganz richtig. Ein
- Gouverneur kann immer einen _moralischen_ Einfluß ausüben, ja dieser
- Einfluß ist sogar sehr groß, ebenso wie auch Sie einen großen
- _moralischen_ Einfluß ausüben können, obwohl Sie über keinerlei
- gesetzliche Vollmachten verfügen. Glauben Sie mir, wenn Ihr Gatte
- irgendeinem Herrn keinen Besuch macht, so wird gleich die ganze Stadt
- davon reden: man wird sich sofort fragen, warum und aus welchem Grunde
- dies nicht geschehen ist, und derselbe Herr wird schon aus bloßer Furcht
- davor zurückschrecken, eine Gemeinheit zu begehen, der er sich sonst
- ohne Furcht und Zaudern schuldig gemacht und die er aus Respekt vor dem
- Gesetz und der Obrigkeit sicher nicht unterlassen hätte. Die Art, wie
- Sie, d. h. Sie und Ihr Gatte, gegen den Kreisrichter des N.schen Kreises
- gehandelt haben, den Sie ausdrücklich in die Stadt kommen ließen, um ihn
- mit dem Staatsanwalt auszusöhnen, und ihn um seiner Geradheit,
- Anständigkeit und Ehrlichkeit willen durch eine herzliche und
- freundliche Aufnahme und Bewirtung zu ehren, wird ihre Wirkung nicht
- verfehlen. Dies können Sie mir glauben. Was mir hierbei besonders
- gefallen hat, ist folgendes: daß der Richter (der, wie es sich
- herausgestellt hat, ein äußerst gebildeter und aufgeklärter Mensch ist)
- so angezogen war, daß man ihn, wie Sie sich ausdrücken, nicht einmal ins
- Vorzimmer eines Petersburger Salons hineingelassen hätte. Ich hätte ihm
- in diesem Augenblick den Schoß seines abgetragenen Fracks küssen mögen.
- Glauben Sie mir, die beste Art, wie man heute handeln kann, besteht
- nicht darin, sich heftig und leidenschaftlich über die Bestechlichkeit
- und die Schlechtigkeit der Menschen zu entrüsten, und auch nicht darin,
- gegen sie vorzugehen und sie zu verfolgen; statt dessen sollte man sich
- lieber bemühen, jeden Zug von Ehrlichkeit öffentlich bekannt zu machen
- und einem geraden und ehrlichen Menschen offen und vor aller Welt
- freundschaftlich die Hand zu drücken. Glauben Sie mir, sobald es im
- ganzen Gouvernement bekannt wird, daß der Gouverneur wirklich so
- handelt, wird er den gesamten Adel auf seiner Seite haben. Unser Adel
- hat einen wunderbaren Zug an sich, der mich stets in Staunen versetzt
- hat. Es ist dies ein Gefühl für Anstand und Vornehmheit, und zwar nicht
- für jene Vornehmheit, von der auch der Adel anderer Länder durchdrungen
- ist, d. h. nicht für die Vornehmheit der Geburt oder der Abstammung,
- auch nicht für den europäischen _point d'honneur_, sondern für die echte
- sittliche Vornehmheit. Selbst in solchen Provinzen und in solchen
- Gegenden, wo jeder Aristokrat einzeln genommen ein ganz minderwertiger
- Mensch zu sein scheint, erheben sich alle wie ein Mann, wenn man sie nur
- zu einer wahrhaft edlen Tat aufruft, wie elektrisiert, und Menschen, die
- sonst nichts wie Gemeinheiten begehen, sind mit einem Male der
- herrlichsten Taten fähig. Daher wird jede edle Handlung des Gouverneurs
- zuallererst beim Adel Widerhall finden, und das ist sehr wichtig. Der
- Gouverneur muß unbedingt einen moralischen Einfluß auf den Adel ausüben.
- Nur hierdurch kann er die Aristokraten bewegen, sich auch mit
- unbedeutenden Ämtern oder wenig verlockenden Stellungen zu begnügen. Das
- aber ist durchaus notwendig. Denn wenn ein Adliger aus derselben Provinz
- eine Stelle annimmt, um andern Leuten ein Vorbild zu geben, wie man
- seine dienstlichen Verpflichtungen erfüllt, so wird er, was er auch für
- ein Mensch sein mag, selbst wenn er träge ist und vielerlei Mängel hat,
- seine Pflicht und Schuldigkeit tun, wie dies ein fremder, aus einem
- andern Ort in die Provinz versetzter Beamter niemals vermag, und wenn er
- sein ganzes Leben lang im Bureau verbracht hätte. Mit einem Wort, man
- darf niemals aus dem Auge verlieren, daß das dieselben Beamten sind, die
- im Jahre 1812 alles zum Opfer gebracht haben, alles, d. h. ihre ganze
- Habe, die sie besaßen.
- Wenn es einmal vorkommt, daß ein Beamter wegen irgendwelcher
- unehrenhafter Handlungen vor Gericht gestellt wird, so muß dies stets
- _unter Enthebung von seinem Amt_ geschehen. Das ist von großer
- Bedeutung, denn wenn er vor Gericht gestellt wird, ohne daß er seines
- Amts enthoben wird, so werden alle andern Beamten für ihn Partei nehmen.
- Er wird noch lange Winkelzüge zu machen und Mittel zu finden suchen, um
- alles derartig in Verwirrung zu bringen, daß es überhaupt nicht mehr
- möglich ist, die Wahrheit ans Licht zu bringen; wird er dagegen unter
- _Enthebung von seinem Amt_ vor Gericht gestellt, so wird er plötzlich
- die Nase hängen lassen, niemand wird mehr Angst vor ihm haben, auf allen
- Seiten werden sich Beweise gegen ihn häufen, alles wird plötzlich an den
- hellen Tag kommen und die Sache wird sich völlig aufklären. Um eins aber
- bitte ich Sie, liebe Freundin, verlassen Sie um Christi willen nie einen
- aus dem Amt gejagten Beamten gänzlich, mag er so schlecht sein, wie er
- will: denn er ist ein Unglücklicher. Aus den Händen Ihres Gemahls muß er
- in Ihre Hände gelangen. Sprechen Sie nicht selbst mit ihm und empfangen
- Sie ihn nicht, sondern behalten Sie ihn von ferne im Auge. Sie haben gut
- daran getan, die Aufseherin an der Irrenanstalt hinauszuwerfen, weil sie
- die Brötchen, die für diese Unglücklichen bestimmt waren, an andre Leute
- verkauft hat -- ein Verbrechen, das um so abscheulicher ist, wenn man in
- Betracht zieht, daß die Geisteskranken ja nicht einmal imstande waren,
- sich deswegen zu beklagen. Daher mußte ihre Entlassung öffentlich und
- vor aller Welt erfolgen. Aber lassen Sie nie einen Menschen völlig
- fallen, machen Sie ihm die Rückkehr nicht ganz unmöglich und behalten
- Sie den Ausgestoßenen im Auge. Denn mitunter kann ein solcher aus
- Kummer, Verzweiflung und Scham noch größere Verbrechen begehen. Handeln
- Sie entweder durch Ihren Beichtvater oder überhaupt durch irgendeinen
- klugen Geistlichen, veranlassen Sie diesen, ihn aufzusuchen und Ihnen
- beständig über ihn Bericht zu erstatten. Vor allem aber sorgen Sie
- dafür, daß er nie ohne Arbeit und Tätigkeit ist. Nehmen Sie sich in
- diesem Fall nicht das tote Gesetz, sondern den lebendigen Gott zum
- Vorbild, der den Menschen mit allen Geißeln des Unglücks schlägt, ihn
- aber bis an sein Lebensende nie verläßt. Ein Verbrecher mag sein, wie er
- will, solange die Erde ihn noch trägt und Gottes Donner ihn noch nicht
- vernichtet hat, so bedeutet das, daß er sich hier in der Welt noch
- aufrecht zu erhalten vermag, auf daß jemand durch sein Los gerührt
- werde, ihm helfe und ihn rette. Sollten Sie übrigens bei den
- Aufzeichnungen, die Sie für mich machen werden, oder bei Ihren eigenen
- Forschungen über alle möglichen Mißstände und Gebrechen allzusehr durch
- die traurigen Seiten unseres Lebens erschüttert werden und sollte sich
- Ihr Herz mit Empörung erfüllen -- so rate ich Ihnen in solch einem
- Falle, sich hierüber so häufig wie möglich mit dem Erzpriester zu
- unterhalten. Dieser ist, wie ich aus Ihren Worten ersehe, offenbar ein
- kluger Mann und ein gütiger Priester. Führen Sie ihn durch Ihr ganzes
- Krankenhaus und klären Sie ihn über alle Leiden Ihrer Kranken auf.
- Selbst wenn er keine großen Kenntnisse und Erfahrungen in der Heilkunst
- besitzen sollte, so müssen Sie ihn dennoch über alle Krankheitsanfälle,
- alle Symptome und alle Krankheitserscheinungen unterrichten. Suchen Sie
- ihm alles bis aufs letzte so lebendig darzustellen, daß es ihm
- fortwährend vor Augen steht, daß er sich in Gedanken fortwährend mit
- Ihrer Stadt beschäftigen muß, daß sie ihm immer lebendig und gegenwärtig
- ist, wie sie auch Ihre Gedanken beständig beschäftigen muß, damit all
- sein Denken stets ganz von selbst darauf gerichtet ist, unaufhörlich für
- sie zu beten. Glauben Sie mir, seine Sonntagspredigt wird hierdurch den
- Zuhörern immer mehr und mehr zu Herzen gehen, und es wird ihm gelingen,
- in viele Dinge Licht hineinzubringen und persönlich, ohne auf jemand
- hinzuweisen, jedem seine eigene Schlechtigkeit und Gemeinheit von
- Angesicht zu Angesicht gegenüberzustellen, so daß sich ein jeder mit
- Ekel von dem, was sein Eigenstes ist, abwenden wird. Achten Sie
- gleichfalls auf die Stadtpfarrer, suchen Sie sie unbedingt alle kennen
- zu lernen. Von ihnen hängt alles ab, und die Rettung unserer Seele liegt
- in ihren Händen und nicht in den Händen irgendeines anderen. Achten Sie
- trotz der Einfalt und Unwissenheit so mancher keinen von ihnen zu
- gering. Es ist leichter, _sie_ ihrer Pflicht wiederzugeben, als
- irgendeinen von uns. Wir weltlichen Menschen besitzen viel Stolz,
- Ehrgeiz, Eigenliebe und vertrauen zu sehr auf unsere Vollkommenheit.
- Infolgedessen will niemand von uns auf die Worte und die Ermahnungen
- seiner Brüder hören, so wahr und richtig sie auch immer sein mögen. Dazu
- kommen noch die vielen Zerstreuungen und Vergnügungen ... Ein
- Geistlicher dagegen mag sein wie er will, er hat doch immerhin ein
- gewisses Gefühl dafür, daß er demütiger und bescheidener sein muß, als
- alle anderen Menschen. Außerdem wird er ja auch täglich während des
- Gottesdienstes, den er abhält, daran erinnert, mit einem Wort, er ist
- weit eher dazu imstande, sich auf den rechten Weg zurückzufinden, als
- wir, und indem er selbst dahin zurückkehrt, kann er auch uns alle auf
- ihn zurückführen. Daher müssen Sie, selbst wenn Sie ganz unfähige Leute
- unter ihnen antreffen, diese nicht geringschätzen, sondern ordentlich
- mit ihnen reden. Fragen Sie einen jeden, was er für eine Gemeinde hat,
- lassen Sie sich ein vollständiges Bild von ihr entwerfen, lassen Sie
- sich erzählen, was für Leute in seinem Pfarrdorf leben, wie er sie
- versteht und in welchem Maße er sie kennt. Vergessen Sie niemals, daß
- ich bisher noch gar nicht weiß, was das Bürgertum und die Kaufmannschaft
- in Ihrer Stadt eigentlich darstellen. Daß sie auch schon anfangen, die
- Mode mitzumachen und Zigaretten zu rauchen, das ist eine Erscheinung,
- der man überall begegnet. Ich wünschte, Sie könnten mir einen von ihnen
- mitten aus seinem Milieu lebendig herausgreifen, damit ich ihn vom Kopf
- bis zu den Füßen in all seinen Einzelzügen vor mir sehen könnte. Also
- noch einmal: suchen Sie sie möglichst vollständig und bis ins einzelne
- kennen zu lernen. Eine Seite der Sache werden Sie von den Priestern
- erfahren, eine andere vom Polizeimeister, wenn Sie sich nur die Mühe
- geben, die Sache gründlich mit ihnen durchzusprechen. Einen dritten Zug
- werden Sie von ihnen selbst erfahren, wenn Sie es nicht verschmähen, mit
- einem von ihnen eine Unterhaltung anzuknüpfen, was Sie meinetwegen
- Sonntags beim Verlassen der Kirche tun können. Alle Daten, die Sie so
- sammeln werden, werden dazu dienen, das Musterbild des Bürgers und
- Kaufmanns, wie er in Wahrheit sein soll, vor Ihnen erstehen zu lassen.
- Selbst im Krüppel werden Sie das Ideal erkennen, dessen Karikatur dieser
- Krüppel darstellt. Wenn Sie aber das Gefühl haben, daß Sie so weit sind,
- dann lassen Sie den Priester holen und sprechen Sie mit ihm darüber. Sie
- werden ihm gerade das sagen, was er wissen muß. Sie werden ihm das Wesen
- eines jeden Berufs klarmachen, d. h. Sie werden ihm zeigen, was ein
- jeder Beruf bei uns sein muß, und Sie werden eine Karikatur dieses
- Berufs vor ihm erstehen lassen, d. h., Sie werden ihm zeigen, wozu er
- durch unsere Mißbräuche geworden ist. Darüber hinaus brauchen Sie nichts
- hinzuzufügen. Er wird schon selbst auf das Rechte kommen, wenn sein
- eigener Lebenswandel besser werden wird. Unsere Priester bedürfen
- solcher Gespräche, besonders mit fertigen in sich abgeschlossenen
- Menschen, die es verstehen, die Grenzen und Pflichten eines jeden Berufs
- und Amtes in wenigen, aber klaren und treffenden Zügen abzustecken.
- Häufig weiß mancher von ihnen nur deshalb nicht, wie er sich gegen seine
- Gemeinde und seine Zuhörer verhalten soll, und bringt nichts als
- Gemeinplätze vor, die sich nach keiner Richtung hin unmittelbar auf den
- Gegenstand beziehen. Suchen Sie sich auch in seine eigene Lage zu
- versetzen. Helfen Sie seiner Frau und seinen Kindern, wenn seine
- Gemeinde arm ist, und denen, die da roh und trotzig tun, drohen Sie mit
- dem Erzpriester. Im allgemeinen aber suchen Sie vor allem durch Ihren
- moralischen Einfluß zu wirken. Erinnern Sie sie daran, daß ihre
- Pflichten groß und furchtbar sind, daß sie strengere Rechenschaft werden
- ablegen müssen, als irgendein Mensch aus einem anderen Beruf, daß
- heutzutage ja auch der Synod und selbst der Kaiser ganz besonders auf
- den Lebenswandel der Priester achten, daß ein großes Revirement
- bevorsteht, weil nicht nur die höhere Obrigkeit, sondern auch alle
- Privatleute im Staate ohne Ausnahme zu merken beginnen, daß der Grund
- alles Übels darin liegt, daß die Priester nicht mehr recht ihre Pflicht
- und Schuldigkeit tun ... Klären Sie sie möglichst häufig über die
- furchtbaren Wahrheiten auf, bei denen unsere Seele unwillkürlich
- erschauert. Kurz -- vernachlässigen Sie die Stadtpfarrer unter keinen
- Umständen: mit ihrer Hilfe kann die Frau eines Gouverneurs einen großen
- moralischen Einfluß auf die Kaufmannschaft, das Bürgertum und die
- niederen Stände der Stadtbewohner ausüben, einen so großen Einfluß, wie
- Sie sich's kaum vorstellen können. Ich will nur einiges davon erwähnen,
- was sie durchzusetzen vermag, und Sie auf die Mittel aufmerksam machen,
- mit deren Hilfe sie dies vollbringen kann: erstens, -- aber da fällt mir
- ein, daß ich ja gar keinen Begriff davon habe, was das Bürgertum und die
- Kaufmannschaft in Ihrer Stadt darstellen. Meine Worte könnten Ihnen
- vielleicht nicht recht gelegen kommen, daher ist es besser, ich
- unterdrücke sie ganz. Ich will Ihnen nur das eine sagen, daß Sie selbst
- einmal erstaunt sein werden, wenn Sie erkennen werden, welch große
- Aufgaben und Taten Ihnen in diesem Wirkungskreis bevorstehen, Taten, die
- weit mehr Nutzen bringen können, als irgendwelche Asyle und alle
- möglichen Wohlfahrtseinrichtungen, obwohl sie mit keinerlei Geldopfern
- und Arbeit verbunden sind, sondern einem sogar zum Vergnügen, zu einer
- Erholung und zu einer geistigen Zerstreuung werden.
- Versuchen Sie es auch, die Elite, d. h. die Besten unter den Bewohnern
- der Stadt zu sozialer Tätigkeit anzuhalten: beinahe jeder von ihnen kann
- gleich Ihnen sehr viel erreichen, und es ist möglich, sie aufzurütteln;
- wenn Sie mir nur ein vollständiges Bild von ihrem Charakter, ihrer
- Lebensweise und ihrer Beschäftigung geben wollen, so werde ich Ihnen
- sagen, wie und wodurch man sie zur Tätigkeit anspornen kann: in jedem
- Russen gibt es verborgene Saiten, die er selbst nicht kennt, die man
- jedoch nur anzuschlagen braucht, um ihn aufzurütteln und aufzuwecken.
- Sie haben mir schon ein paar gescheite und edle Menschen in Ihrer Stadt
- genannt. Ich bin überzeugt, daß sich noch weit mehr finden werden. Legen
- Sie keinen Wert auf ein abstoßendes Äußeres, legen Sie auch keinen Wert
- auf unangenehme Manieren, auf ein grobes, plumpes und ungeschicktes
- Benehmen, ja nicht einmal auf die Sucht, zu renommieren und sich durch
- große Kühnheit und Bravour hervorzutun, oder auf ein allzu freies
- ungeniertes Auftreten. Wir alle haben uns in der letzten Zeit ein etwas
- unangenehmes hochnäsiges Benehmen angewöhnt, dennoch ist unsere Seele in
- ihrem Innersten weit mehr guter Regungen und Gefühle fähig als jemals
- früher, trotzdem wir sie in allerhand wertlosem Plunder erstickt oder
- sogar einfach befleckt und in den Kot gezerrt haben.
- Vor allem: Verachten Sie die Frauen nicht. Ich schwöre Ihnen, die Frauen
- sind weit besser als wir Männer; sie sind viel hochherziger, haben viel
- mehr Wagemut und sind weit fähiger zu edlen Taten als wir. Messen Sie
- dem keine Bedeutung bei, daß sie sich von dem hohlen modischen Treiben
- umgarnen ließen. Wenn es Ihnen gelingt, die Sprache der Seele zu ihnen
- zu reden, wenn es Ihnen glückt, der Frau auch nur im geringsten ihre
- hohe Aufgabe, die ihrer heute in der Welt harrt, ihre himmlische
- Bestimmung klarzumachen: uns eine Erweckerin zu allem Edlen, zur
- Geradheit und Ehrlichkeit zu werden und den Menschen zu edlem Tun und
- Streben aufzurufen, so wird dieselbe Frau, die Sie noch soeben für ganz
- hohl und nichtig gehalten haben, in edler Begeisterung aufflammen, in
- sich gehen, erkennen, daß sie ihre Pflichten vernachlässigt hat, sich zu
- edlen Taten aufraffen, all ihren Flitter weit von sich werfen, ihren
- Mann zu treuer Erfüllung seiner Pflichten anhalten, und alle dazu
- veranlassen, daß sie umkehren und sich wieder in den Dienst einer Sache
- stellen. Ich schwöre Ihnen, unsere Frauen werden uns hochherzig ins
- Gewissen reden und uns die Peitsche spüren lassen, sie werden uns mit
- der Geißel der Scham und des Gewissens antreiben wie eine stumpfsinnige
- Hammelherde, noch bevor ein jeder von uns erwachen und erkennen wird,
- daß er schon längst von selbst hätte vorwärts laufen und nicht erst auf
- den Schlag der Peitsche warten sollen. Sie werden die Liebe aller
- gewinnen. Und diese Liebe wird innig und stark sein; es ist ja auch
- nicht anders möglich, als daß alle Sie lieben, wenn sie Ihre Seele
- kennen lernen. Bis dahin aber müssen Sie alle, bis zum letzten, lieben,
- ohne alle Rücksicht, ob einer Sie liebt oder nicht.
- Jedoch mein Brief ist schon zu lang geworden. Ich fühle, daß ich
- anfange, Dinge zu sagen, die weder Ihrer Stadt noch Ihnen selbst im
- gegenwärtigen Augenblick sehr gelegen kommen mögen. Und doch sind Sie
- selbst schuld daran, da Sie mir über nichts ausführliche Nachrichten
- zukommen lassen. Bisher lebe ich immer noch wie in einem einsamen Walde.
- Ich höre fortwährend von unheilbaren Krankheiten und weiß doch nicht,
- woran eigentlich ein jeder leidet. Ich habe jedoch die Gewohnheit, nie
- auf ein bloßes Gerücht hin an irgendein unheilbares Leiden zu glauben,
- und ich nenne eine Krankheit niemals unheilbar, bis ich mich nicht durch
- eigenhändiges Befühlen und Betasten davon überzeugt habe. Also noch
- einmal: Suchen Sie mir zuliebe die ganze Stadt gründlich kennen zu
- lernen, beschreiben Sie mir alles und jedermann und ersparen Sie keinem
- einzigen Menschen folgende drei unvermeidliche Fragen: Worin sein Beruf
- besteht, wieviel Gutes und wieviel Böses man in seiner Stellung
- vollbringen kann. Machen Sie es wie eine fleißige Schülerin, schaffen
- Sie sich zu diesem Zwecke ein Heft an und vergessen Sie nie, daß Sie in
- Ihren Unterhaltungen mit mir möglichst umständlich sein müssen. Denken
- Sie stets daran, daß ich dumm, daß ich _ganz_ dumm bin, solange mich
- nicht jemand in ausführlichster Weise über einen Gegenstand orientiert.
- Oder stellen Sie sich lieber vor, daß ein Kind oder ein völlig
- unwissender Mensch vor Ihnen steht, dem man alles, bis auf die kleinste
- Kleinigkeit, erklären und auseinandersetzen muß: nur dann wird Ihr Brief
- seinen Zweck ganz erfüllen. Ich weiß nicht, warum Sie mich für einen
- solchen Alleswisser halten. Wenn es mir einmal gelungen ist, Ihnen etwas
- vorauszusagen, und wenn meine Voraussagungen einmal wirklich
- eingetroffen sind, so liegt das ausschließlich daran, daß Sie mich
- damals in Ihre Geistes- und Gemütsverfassung eingeweiht haben. Ist denn
- das etwas so Großes, gewisse Dinge vorauszusehen! Man muß bloß die
- gegenwärtigen Verhältnisse recht aufmerksam beobachten, dann wird die
- Zukunft ganz von selbst vor unserem Geiste erstehen. Ein Narr, der an
- die Zukunft denkt, ohne die Gegenwart in Rechnung zu ziehen! Ein solcher
- Mensch muß entweder etwas Törichtes oder Unwahres sagen, oder aber in
- Rätseln reden. Ich muß Sie übrigens noch wegen folgender Zeilen
- ausschelten, die ich Ihnen hier vor Augen führen will. »_Es ist traurig
- und sogar bitter, die Zustände in Rußland aus der Nähe ansehen zu
- müssen. Im übrigen aber sollte man nicht darüber sprechen. Wir sollten
- hoffnungsvoll und heiteren Auges in die Zukunft schauen, die in den
- Händen des allbarmherzigen Gottes liegt_«. In den Händen des
- allbarmherzigen Gottes liegt alles: alles Gegenwärtige, Vergangene und
- Zukünftige. Das ist ja unser ganzes Unglück, daß wir die Gegenwart nicht
- sehen wollen, sondern nur in die Zukunft schauen. Daher kommt ja dies
- ganze Unheil, daß das eine traurig und bitter und anderes wieder einfach
- häßlich und widerwärtig ist. Und wenn es nicht so geht, wie wir es gerne
- möchten, so lassen wir die Hände sinken, verzweifeln an allem und
- blicken starr in die Zukunft. Darum sendet uns Gott auch keine Klarheit,
- daher hängt ja auch die Zukunft für uns alle gleichsam in der Luft:
- manche fühlen zwar, daß sie schön sein wird dank einigen hochstehenden
- Menschen, die sie auch schon instinktiv vorausahnen und diesem Gefühl
- nur noch keine streng zahlenmäßige oder arithmetische Begründung geben
- können. Wie man jedoch diese Zukunft herbeiführen soll, das weiß kein
- einziger. Es geht uns ähnlich damit wie mit den sauren Trauben. Dabei
- vergißt man eine Kleinigkeit: man vergißt, daß die Straßen und Wege, die
- in diese _heitere_ Zukunft führen, ja gerade durch diese _dunkle und
- verworrene_ Gegenwart hindurchgehen, die niemand kennen will. Jedermann
- hält sie für so häßlich, widerwärtig und der Beachtung nicht wert, und
- ist sogar ärgerlich, wenn man sie allen vor Augen führt. So lehren Sie
- mich doch wenigstens diese Gegenwart kennen. Sie dürfen sich nicht durch
- das viele Häßliche und Schmutzige abschrecken lassen, und Sie sollen mir
- keine Niederträchtigkeit ersparen. Das Gemeine und Schmutzige ist nichts
- Ungewohntes für mich: ich selbst habe genug Gemeines und Schmutziges in
- mir. Solange ich noch wenig Einblick in alles Niederträchtige und
- Widerwärtige hatte, brachte mich alles Gemeine und Häßliche in
- Verlegenheit, ich fühlte mich durch vieles verstimmt, und es erfaßte
- mich ein Grauen bei dem Gedanken an Rußland. Seitdem ich aber tiefer in
- all den Schmutz und die Niedertracht hineinzublicken versuchte, bin ich
- zu höherer geistiger Klarheit gelangt. Vor mir taten sich Auswege auf.
- Ich sah Mittel und Wege und erfüllte mich mit noch größerer Ehrfurcht
- vor der Vorsehung, und jetzt danke ich Gott sogar am meisten dafür, daß
- er es mir ermöglicht hat, die Gemeinheit und Niedertracht -- sowohl
- meine eigene wie die meiner armen Brüder -- wenigstens teilweise kennen
- zu lernen. Und wenn ich heute auch nur ein Fünkchen Verstand besitze,
- wie er nicht allen Menschen eigen ist, so rührt das daher, weil ich mich
- bemüht habe, möglichst tief in diesen Schmutz und diese Gemeinheit
- hineinzublicken; wenn es mir gelungen sein sollte, einigen von denen,
- die meinem Herzen nahe stehen, darunter auch Ihnen eine geistige Hilfe
- und Stütze zu sein -- so war dies nur möglich, weil ich tiefer in diesen
- Schmutz und diese Gemeinheit hineingeblickt habe. Und wenn ich
- schließlich gelernt habe, die Menschen mit einer nicht bloß
- eingebildeten, erträumten, sondern mit einer wahrhaften und wirklichen
- Liebe zu lieben, so war mir auch dieses schließlich nur dadurch möglich,
- daß ich recht tief in den Abgrund der Niederträchtigkeit und Gemeinheit
- hinabgesehen habe.
- Schrecken Sie also nicht vor Schmutz und Niedertracht zurück. Vor allem
- aber wenden Sie sich nicht mit Ekel von den Menschen ab, die Ihnen aus
- irgendeinem Grunde widerwärtig und gemein erscheinen. Ich versichere
- Ihnen, es wird einmal die Zeit kommen, wo viele von den sogenannten
- »Reinen« ihr Gesicht mit den Händen bedecken und bittere Tränen weinen
- werden, gerade weil sie sich so rein erschienen, weil sie sich ihrer
- Reinheit und ihres hohen Strebens nach irgendwelchen hohen Gütern
- gerühmt und sich deshalb für bessere Menschen gehalten haben. Denken Sie
- stets daran und gehen Sie daher, wenn Sie Ihr Gebet verrichtet haben,
- mit neuem frischerem Mut als früher an die Arbeit. Lesen Sie meinen
- Brief fünf- oder sechsmal durch, denn alles in ihm ist sprunghaft, und
- es ist keine strenge logische Gedankenfolge in ihm, woran Sie übrigens
- selbst schuld sind. Sie müssen sich den Kern, den Inhalt dieses Briefes
- ganz zu eigen machen. Meine Fragen müssen zu Ihren Fragen und meine
- Wünsche zu Ihren Wünschen werden, damit jedes Wort und jeder Buchstabe
- Sie unablässig verfolgt und so lange quält, bis Sie meine Bitte erfüllen
- und tuen, was ich verlange.
- 1846.
- XXII
- Der russische Gutsbesitzer
- An B. N. B.
- Die Hauptsache ist, daß du bereits auf deinem Gute angelangt bist und es
- dir zum unumstößlichen Vorsatz gemacht hast, Gutsbesitzer zu werden. Das
- übrige wird sich schon von selbst ergeben. Laß dich nicht irremachen
- durch den Gedanken, daß das alte Band, das ehemals den Gutsherrn mit dem
- Bauern verknüpfte, für immer zerrissen ist. [Daß es zerrissen ist, ist
- wahr, und daß die Gutsbesitzer selbst daran schuld sind, das ist auch
- wahr, aber] daß es für alle Zeiten und für immer zerrissen sein sollte
- -- das glaube doch nicht und achte du nicht auf solche Redensarten. Nur
- ein Mensch, der nicht über seine eigene Nasenlänge hinaussieht, kann so
- etwas behaupten. Wie? Es sollte schwer sein, sich die Liebe eines
- Russen, der für alles Gute, das man ihm beibringt, so dankbar zu sein
- vermag, -- es sollte schwer sein, sich die treue Liebe und
- Anhänglichkeit eines Russen zu erwerben? Im Gegenteil, man kann den
- Russen so an sich ketten, daß man nachher nur noch einen Gedanken hat:
- wie man ihn wieder loswerden soll. Wenn du nur alles genau ausführst,
- was ich dir jetzt sagen werde, dann wirst du noch am Ende dieses Jahres
- erkennen, daß ich recht hatte. Du mußt die Aufgabe, die einem
- Gutsbesitzer gestellt ist, in ihrem wahren und rechten Sinne erkennen
- und in der rechten Weise in Angriff nehmen. Vor allem mußt du die Bauern
- um dich versammeln und ihnen klarmachen, was du bist und wer sie sind.
- Du mußt ihnen erklären, daß du nicht deshalb ihr Gutsherr geworden bist,
- weil du befehlen oder den Gutsbesitzer spielen wolltest, sondern
- deshalb, weil du schon vorher Gutsbesitzer warst, weil du als
- Gutsbesitzer geboren bist und weil Gott dich zur Verantwortung ziehen
- würde, wenn du deinen Beruf gegen einen andern vertauschen wolltest,
- denn ein jeglicher muß Gott an _der_ Stelle, an die er gestellt wird,
- und nicht an einer andern fremden dienen. Ebenso müßten auch sie, die
- Bauern, da sie doch nun einmal durch ihre Geburt unter der Gewalt des
- Gutsherrn stehen, sich dieser Obergewalt unterordnen, unter der sie
- geboren seien, denn es gibt keine Obrigkeit ohne von Gott. Bei dieser
- Gelegenheit mußt du ihnen die entsprechende Stelle im Neuen Testament
- zeigen, so daß ein jeder bis auf den letzten sich davon überzeugen kann.
- Ferner mußt du ihnen sagen, daß du sie zur Arbeit und zur Tätigkeit
- anhältst, nicht weil du Geld für irgendwelche Genüsse und Vergnügungen
- brauchst [um ihnen das zu beweisen, solltest du vor ihren Augen ein paar
- Banknoten verbrennen], du mußt es vielmehr so einrichten, daß sie
- wirklich den Eindruck gewinnen, das Geld hätte nicht den geringsten Wert
- für dich. Sage ihnen, du ließest sie bloß darum arbeiten, weil es Gottes
- Wille sei, daß der Mensch in schwerer Arbeit und im Schweiße seines
- Angesichts sein Brot verdienen solle, und lies ihnen unmittelbar darauf
- die entsprechende Stelle aus der Heiligen Schrift vor, damit sie sich
- davon überzeugen. Sage ihnen die ganze Wahrheit, sage ihnen, Gott werde
- wegen des letzten Lumpen im Dorfe Rechenschaft von dir fordern und
- deswegen würdest du um so schärfer darauf achten, daß sie redlich
- arbeiten; nicht nur für dich, sondern auch für sich selbst. Denn du
- weißt, und sie wissen es ja auch, daß ein Bauer, der nicht arbeitet und
- sich dem Müßiggang ergibt, zu allem fähig ist -- er kann zum Dieb, zum
- Trunkenbold werden, er kann seine Seele zugrunde richten und dir eine
- schwere Verantwortung vor Gott aufbürden. Bekräftige alles, was du
- sagst, stets und ohne Verzug durch Worte der Heiligen Schrift. Weise mit
- dem Finger auf die Buchstaben und die Zeilen, die diese Worte enthalten.
- Halte jeden dazu an, daß er sich zuvor bekreuzige, einen Kniefall tue
- und das Buch küsse, in dem es geschrieben steht. Kurz, sie müssen klar
- erkennen, daß du dich bei allem, was sich auf sie bezieht, nach dem
- Willen Gottes richtest und nicht aus irgendwelchen europäischen oder
- anderen Launen und Einfällen heraus handelst. Der Bauer wird das
- verstehen. Er bedarf der vielen Worte nicht. Sage ihm die ganze
- Wahrheit: sage ihm, daß die Seele des Menschen das Wertvollste auf der
- ganzen Welt ist und daß du vor allem darauf achten wirst, daß keiner von
- ihnen seine Seele verderbe und sie den ewigen Qualen überantworte. Bei
- jeglichem Tadel und jeder Rüge, die du einem Menschen erteilst, der des
- Diebstahls, der Faulheit oder der Trunksucht überführt worden ist, mußt
- du ihn nicht dir, sondern Gott von Angesicht zu Angesicht
- gegenüberstellen. Zeige ihm, daß er sich gegen Gott und nicht gegen dich
- versündigt, und tadele nicht ihn allein, sondern rufe auch sein Weib,
- seine Familie und seine Nachbarn herbei. Rede seinem Weibe ins Gewissen,
- frage sie, warum sie ihren Mann nicht davon abgehalten, Übles zu tun,
- und ihm nicht mit Gottes Zorn gedroht habe. Rede auch den Nachbarn ins
- Gewissen, weil sie es zugelassen haben, daß ihr Bruder, der doch mitten
- unter ihnen weilt, ein Leben wie ein Hund geführt und seine Seele um
- nichts und wieder nichts verdorben habe. Beweise ihnen, daß sie deswegen
- vor Gott Rechenschaft ablegen müssen. Suche es zu erreichen, daß sich
- alle miteinander dafür verantwortlich fühlen und daß alle Gegenstände,
- die den Menschen umgeben, ihn vorwurfsvoll anzublicken scheinen und es
- ihm nicht gestatten, sich allzusehr gehen zu lassen. Sorge dafür, daß
- von allen musterhaften Landwirten und von den besten und tüchtigsten
- Bauern eine mächtige Wirkung ausgehe und daß ihnen eine große
- Verantwortlichkeit zufalle. Mache es ihnen ganz klar, daß es nicht
- allein ihre Aufgabe ist, selbst einen guten und ehrenhaften Lebenswandel
- zu führen, sondern daß sie auch andere lehren müssen, gut zu leben, daß
- ein Trunkenbold keinen Trunkenbold belehren kann, und daß das ihre
- Pflicht sei. Den Lumpen und Trunkenbolden befiehl, daß sie den braven
- und tüchtigen Bauern die gleiche Achtung erweisen, wie dem Dorfschulzen,
- dem Verwalter, dem Priester und sogar dir selbst. Schon wenn sie einen
- solchen braven und musterhaften Bauern oder Landwirt aus der Ferne
- erblicken, sollen alle Bauern ihre Mützen vom Kopfe reißen und ihm den
- Weg freigeben. Wer es aber wagt, ihm irgendwelche Mißachtung zu erweisen
- oder seinen klugen und gescheiten Worten kein Gehör zu schenken, den
- mußt du in Gegenwart aller ausschelten und zu dem mußt du folgendermaßen
- sprechen: »O du ungewaschenes Maul, du selbst lebst in Dreck und Asche,
- daß man nicht einmal sieht, wo du deine Augen hast, und du willst dem
- keine Ehre erweisen, dem Ehre gebührt! Beuge dich tief vor ihm und bitte
- ihn, daß er dir den rechten Weg weise. Denn wenn er dich nicht zur
- Vernunft bringt, mußt du zugrunde gehen wie ein Hund.« Die braven Bauern
- aber mußt du zu dir rufen und wenn es ältere Männer sind, vor dir Platz
- nehmen lassen und dich mit ihnen beraten, wie Sie die andern belehren
- und sie im Rechten unterweisen und also erfüllen können, was Gott uns
- geboten hat. Führe das bloß ein Jahr lang durch, und du wirst selbst
- sehen, wie gut alles gehen wird. Selbst die Landwirtschaft wird
- hierdurch nur gewinnen. Kümmere dich nur um die Hauptsache, alles andere
- wird dir von selbst in den Schoß fallen. Christus hat nicht vergebens
- gesagt: _Dies alles wird euch von selbst zufallen._ Wie wahr das ist,
- dafür ist das Leben der Bauern ein noch beredteres Zeugnis als unser
- Leben. Für den Bauern sind ein wohlhabender Bauer und ein guter Mensch
- -- Synonyme, und wo in einem Dorfe einmal das christliche Leben Einkehr
- gehalten hat, da tragen die Bauern das Silber mit Schaufeln fort.
- Übrigens will ich dir auch in bezug auf Landwirtschaft einen Rat geben,
- nur mußt du ihn ordentlich verstehen, dann wird er dir nicht zum Schaden
- gereichen. Zwei Menschen danken es mir schon, der eine ist K., den du
- auch kennst. Mit welchen Zweigen der Landwirtschaft du dich beschäftigen
- mußt und wie du dies zu tun hast, darüber will ich dir nichts sagen: das
- weißt du besser als ich. Zudem kenne ich auch dein Gut nicht so genau
- wie meine eigene Handfläche und in bezug auf allerhand Neuerungen bist
- du ja vernünftig und hast du ja selbst eingesehen, daß man nicht nur am
- Alten festhalten, sondern es auch bis auf den Grund kennen lernen muß,
- um aus ihm selbst die Mittel zu seiner Verbesserung zu gewinnen. Ich
- will dir lieber einen Rat geben, der die Beziehungen des Gutsherrn zu
- seinen Bauern in den landwirtschaftlichen Angelegenheiten und bei den
- Arbeiten betrifft, was zunächst einmal von viel größerer Bedeutung ist
- als alles übrige. Denke an das Verhältnis, das früher zwischen den
- Gutsherren und Landwirten und ihren Bauern herrschte: du mußt ein
- Patriarch sein, selbst den Anfang machen und in allen Dingen vorangehen.
- Mache es dir zur Regel und vergiß nie, wenn eine gemeinsame Sache in
- Angriff genommen wird, also bei der Aussaat, bei der Heu- oder Kornernte
- usw. das ganze Dorf zu einem Festmahl einzuladen. An solchen Tagen muß
- in deinem Hofe ein gemeinsamer Tisch für alle Bauern gedeckt sein, ganz
- so wie am Ostermontag, und du selbst mußt mit ihnen speisen, mit ihnen
- zur Arbeit hinausgehen und ihnen auch bei der Arbeit überall
- voranschreiten, sie alle zu tüchtigem, eifrigem Schaffen anspornen, für
- die, die sich durch ihren Mut und ihre Tüchtigkeit auszeichnen, ein Wort
- des Lobes und für die Trägen und Faulen eine Rüge bereit halten. Und
- wenn dann der Herbst kommt und die Feldarbeiten zu Ende gehen, mußt du
- den Abschluß der Arbeiten durch ein ebensolches oder ein noch größeres
- Festmahl feiern, das von einem feierlichen Dankgebet begleitet wird. Du
- sollst den Bauer nicht schlagen; ihm einen Schlag in das Gesicht
- versetzen, das ist noch keine große Kunst, das kann auch der Stanowoi,
- der Assessor und selbst der Dorfschulze. Der Bauer ist daran gewöhnt, er
- kratzt sich nur hinter den Ohren, und das ist alles. Lerne es lieber,
- durch deine Worte Eindruck auf ihn machen. Du verstehst dich doch auf
- treffliche Worte. Schilt ihn vor versammeltem Volke aus, aber so, daß
- das ganze Volk ihn auslacht und verspottet. Das wird weit nützlicher für
- ihn sein als alle möglichen Püffe und Maulschellen. Du mußt stets
- sämtliche Synonyme von: »_braver Bursche_« für den, der ermuntert, und
- alle Synonyme von: »altes Weib« für den, der getadelt werden muß, bereit
- halten, damit das ganze Dorf weiß, daß ein Faulpelz und ein Trunkenbold
- ein altes Weib und ein erbärmlicher Kerl sind. Suche womöglich ein noch
- schlimmeres Wort hervor, kurz, du darfst ihm sagen, daß er alles ist,
- was ein Russe nicht sein soll. Hocke nicht zu lange in der Stube,
- sondern erscheine recht oft bei den Arbeiten der Bauern und richte es,
- wo du auch hinkommst, stets so ein, daß bei deinem Kommen alles
- lebhafter und heiterer wird, sich mutig und frisch betätigt und daß
- jeder sich bei der Arbeit besonders auszuzeichnen sucht. Suche ihnen
- allen Mut und Kraft einzuflößen, indem du ihnen zurufst: »Kommt,
- Jungens, laßt uns einmal alle zusammen anpacken.« Nimm selbst die Axt
- oder die Sense zur Hand, das wird dir gut tun und weit besser für deine
- Gesundheit sein als diese Heilgymnastik, diese Motion, als Marienbad und
- die vielen trägen und bequemen Spaziergänge.
- Deine Bemerkungen über die Schulen sind ganz richtig. Es ist wirklich
- ein Unsinn, dem Bauern das Lesen beizubringen, damit er die Möglichkeit
- habe, allerhand törichte Bücher zu lesen, die europäische
- Menschenfreunde für das Volk herausgeben. Die Hauptsache aber ist, daß
- der Bauer ja gar keine Zeit dazu hat. Nach der schweren Arbeit wird kein
- Buch ihm in den Kopf hinein wollen, und wenn er nach Hause kommt, sinkt
- er wie tot hin und schläft den Schlaf des Gerechten. Dir selbst wird es
- so ergehen, wenn du häufiger zur Arbeit gehen wirst. Der Dorfpfarrer
- kann dem Bauer weit mehr sagen, was ihm wirklich von Nutzen sein kann,
- als all dieser Bücherkram. Wenn einer dagegen wirklich vom Bildungsdrang
- ergriffen wird und zwar nicht etwa darum, um ein Bureaumensch zu werden
- sondern weil er _die_ Bücher lesen will, in denen das Gesetz, das Gott
- den Menschen gegeben hat, geschrieben steht, dann ist das freilich eine
- andere Sache. Einen solchen mußt du erziehen wie deinen eigenen Sohn,
- und alle Sorgfalt und alle Mittel auf ihn verwenden, die du für eine
- ganze Schule verwandt hättest. Unser Volk ist gar nicht so dumm, wenn es
- vor jedem beschriebenen Stück Papier davonläuft wie vor dem Teufel. Es
- weiß, daß dies der Quell aller menschlichen Verwirrung, aller Kabalen
- und Haarspaltereien ist. Eigentlich sollte es überhaupt nicht wissen,
- daß es noch andere Bücher als die heiligen Bücher gibt.
- [Apropos: der Priester; du hast unrecht, wenn du dich darum bemühst, daß
- er durch einen andern ersetzt wird und wenn du den Erzpriester darum
- bitten willst, er möge dir einen erfahreneren und gebildeteren Priester
- senden. Einen solchen wird er dir nicht verschaffen können, denn ein
- solcher Priester ist überall unentbehrlich. Schlage es dir aus dem
- Kopfe, daß du einen Priester finden könntest, der deinem Ideal völlig
- entspricht. Kein Seminar und keine Schule kann einen solchen
- heranbilden. Im Seminar wird nur der erste Grund zu seiner Bildung
- gelegt. Die eigentliche Bildung und Erziehung dagegen erwirbt er sich
- erst durch das Leben selbst. Du mußt selbst sein Lehrer sein, da du doch
- eine so klare Vorstellung von den Pflichten eines Dorfpfarrers hast.
- Wenn der Pfarrer schlecht ist, so sind meist die Gutsbesitzer selbst
- schuld daran. Statt ihn bei sich im Hause aufzunehmen wie einen nahen
- Verwandten, und in ihm das Bedürfnis nach einer edleren Unterhaltung zu
- erwecken, aus der er etwas lernen könnte, überlassen sie ihn, jung und
- unerfahren, wie er ist, den Bauern, wenn er selbst noch nicht einmal
- weiß, was der Bauer eigentlich ist. Sie bringen ihn in eine solche Lage,
- daß er genötigt ist, dem Bauern zu schmeicheln und sich bei ihm beliebt
- zu machen, während er doch vielmehr von vornherein eine gewisse
- Autorität über ihn ausüben sollte, und nachher klagt man, daß die
- Priester schlecht sind, daß sie die Manieren der Bauern annehmen und
- sich gar nicht mehr von den gewöhnlichen Bauern unterscheiden. Ja, da
- möchte ich doch fragen: wer würde unter solchen Verhältnissen nicht
- verrohen, selbst wenn er eine gute Vorbereitung und Erziehung besäße?
- Dagegen mußt du es folgendermaßen machen. Richte es so ein, daß der
- Priester jeden Tag mit dir zu Mittag speist. Du mußt geistliche Bücher
- mit ihm lesen, diese Lektüre interessiert und befriedigt uns doch heute
- weit mehr als alles andere. Was aber die Hauptsache ist, du mußt den
- Priester überall mitnehmen, wenn du zur Arbeit gehst, damit er von
- Anfang an als dein Gehilfe bei dir weile und sich persönlich von deinem
- Verhalten gegen die Bauern überzeugen könne. Hierdurch wird er klar
- erkennen, was ein Gutsbesitzer und was ein Bauer ist, und wie die
- Beziehungen zwischen beiden sein müssen. Zugleich aber werden auch die
- Bauern ihm mehr Achtung entgegenbringen, wenn sie sehen werden, daß er
- Hand in Hand mit dir geht und mit dir zusammenarbeitet. Sorge dafür, daß
- er zu Hause keine Not leide, daß sein Haushalt auf sicherem Grunde ruhe
- und daß er dadurch die Möglichkeit habe, beständig mit dir zusammen zu
- sein. Glaube mir, er wird sich so an dich gewöhnen, daß er sich
- langweilen wird, wenn du nicht da bist. Hat er sich aber einmal an dich
- gewöhnt, so wird er sich ganz unmerklich auch deine Sachkenntnis und
- Menschenkenntnis und vieles andere Gute aneignen. Denn du besitzst ja
- gottlob sehr viel von diesen Dingen und du hast die Gabe, dich so klar
- und gut auszudrücken, daß ein jeder nicht nur deine Gedanken, sondern
- selbst deine Ausdrucksweise und sogar deine Worte von dir annimmt.
- Was nun die Predigt anbelangt, die du für notwendig hältst, so möchte
- ich dir hierüber folgendes sagen. Ich bin eher der Meinung, daß es für
- einen Priester, der noch nicht völlig für seine Tätigkeit ausgebildet
- ist, und der die Leute, die ihn umgeben, noch nicht kennt, besser ist,
- überhaupt keine Predigten zu halten. Hast du einmal darüber nachgedacht,
- wie schwierig es ist, eine kluge Predigt zu halten, besonders vor
- Bauern? Nein, gedulde dich lieber noch ein wenig, mindestens so lange,
- bis der Priester und du euch ordentlich umgesehen habt. Bis zu dieser
- Zeit aber möchte ich dir raten, was ich schon einem anderen geraten habe
- und was ihm, wie ich glaube, von Nutzen gewesen ist. Nimm dir die
- heiligen Kirchenväter, besonders aber den Johannes Chrysostomus vor. Ich
- sage: besonders den Chrysostomus, denn dieser war, da er es mit dem
- ungebildeten Volk zu tun hatte, das das Christentum nur äußerlich
- angenommen hatte, innerlich aber noch immer dem rohen Heidentum anhing,
- immer bemüht, sich besonders den Begriffen einfacher und roher Menschen
- anzupassen, und er spricht so lebendig über die notwendigsten, ja häufig
- sogar über sehr hohe Dinge, daß man ganze Partien aus seinen Predigten
- direkt auf unsern Bauern anwenden und an ihn richten kann, denn er wird
- sie verstehen. Nimm also den Chrysostomus vor und lies ihn zusammen mit
- deinem Pfarrer, und zwar mit dem Bleistift in der Hand, damit du alle
- derartigen Stellen anstreichen kannst. Solche Stellen kommen bei
- Chrysostomus in jeder Predigt dutzendweise vor. Laß ihn dem Volke diese
- Stellen vortragen. Sie brauchen nicht lang zu sein, es genügt, wenn sie
- eine Seite oder selbst eine halbe Seite betragen. Je kürzer sie sind, um
- so besser. Der Priester muß sie jedoch, bevor er sie dem Volke vorträgt,
- mehrmals mit dir zusammen durchlesen, damit er es lernt, sie nicht nur
- mit innerem Gefühl und Begeisterung vorzutragen, sondern seinen Worten
- auch jenen überzeugenden Ton zu verleihen, wie wenn er für eine ihn
- persönlich angehende Sache eintrete, von der das ganze Heil seines
- Lebens abhängt. Du wirst sehen, dies wird viel wirksamer sein als eine
- eigene Predigt. Man muß nur wenig, aber in möglichst treffenden Worten
- zum Volke reden, sonst kann es sich ebenso an die Predigt gewöhnen wie
- unsere höchsten Kreise sich an sie gewöhnt haben, die genau so
- hinfahren, um sich irgendeinen berühmten europäischen Prediger
- anzuhören, wie sie in die Oper oder in das Schauspiel fahren. Bei K. K.
- predigt der Priester überhaupt nicht, sondern erwartet die Bauern, da er
- sie von Grund aus kennt, in der Beichte. Während der Beichte aber redet
- er jedem von ihnen derartig ins Gewissen, daß dieser die Kirche verläßt,
- wie wenn er aus einem Schwitzbad käme. S** hat einmal absichtlich
- dreißig Arbeiter aus seiner Fabrik, und zwar die schlimmsten Gauner und
- Trunkenbolde, zu ihm in die Beichte geschickt und sich dann selbst in
- der Vorhalle aufgestellt, um sich die Gesichter anzusehen, die sie
- machen würden, wenn sie aus der Kirche kämen. Alle kamen rot wie die
- Krebse heraus, und doch hatte er sie gar nicht einmal lange im
- Beichtstuhl festgehalten, sondern sich vier bis fünf Mann auf einmal
- vorgenommen. Während der folgenden zwei Monate aber soll sich, wie S**
- selbst erzählt, keiner von ihnen in der Kneipe haben sehen lassen, so
- daß die Gastwirte des Bezirks gar nicht begreifen konnten, was bloß
- geschehen war.]
- Doch nun sei es genug. Arbeite nur ein Jahr lang recht eifrig, dann wird
- das Werk und die Arbeit schon ganz von selbst so vonstatten gehen, daß
- du gar nicht erst Hand anzulegen brauchst. Du wirst reich werden wie ein
- Krösus, ganz im Gegensatz zu jenen kurzsichtigen Leuten, die da
- annehmen, daß die Interessen des Gutsbesitzers denen des Bauers
- widersprechen. Du wirst ihnen nicht durch Worte, aber durch die Tat
- beweisen, daß sie unrecht haben und daß ein Gutsbesitzer, wenn er seine
- Aufgabe nur mit dem Auge des Christen anschaut, nicht allein die alten
- Bande, von denen man sagt, daß sie für immer zerrissen seien, durch das
- gemeinsame Band Christi zu kräftigen und zu befestigen vermag, das
- stärker und kräftiger ist als jedes andere. Und so wirst du, der du
- bisher in keinem Wirkungskreise eifrig und mit Hingebung gearbeitet
- hast, als Gutsbesitzer dem Kaiser einen Dienst leisten, wie ihn kein
- Mann in hohen Ämtern und Würden zu leisten vermag. Sage was du willst,
- ihm achthundert Untertanen zu schenken, die allesamt wie _ein_ Mann
- allen Menschen ihrer Umgebung durch ihren wahrhaft musterhaften
- Lebenswandel zum Vorbild dienen können -- das ist kein unnützes Werk,
- sondern eine durchaus berechtigte und große Tat.
- 1846.
- XXIII
- Der Historienmaler Iwanow
- An M. Ju. Weligurski
- Ich schreibe Ihnen über Iwanow. Wie unbegreiflich ist doch das Schicksal
- dieses Menschen! Endlich schienen sich alle über ihn klar zu sein, alle
- waren überzeugt, daß das Bild, an dem er arbeitet, eine geradezu
- unerhörte Erscheinung sei, nahmen Anteil an dem Künstler, alles bemühte
- sich darum, ihm die Mittel zu verschaffen, um sein Bild zu vollenden,
- [damit der Künstler nicht während der Arbeit sterbe -- ich meine dies
- ganz buchstäblich: nicht vor Hunger sterbe] und noch immer bekommt man
- nicht das geringste aus Petersburg zu hören; ich flehe Sie an: [um
- Christi willen suchen Sie doch festzustellen, was das zu bedeuten hat.
- Es sind so törichte Gerüchte hierher gedrungen, wie wenn die Maler und
- alle Professoren der Akademie der Künste aus Furcht, das Bild Iwanows
- könnte alles in Schatten stellen, was unsere Kunst bisher hervorgebracht
- hat, und aus Neid darauf hinarbeiten, daß ihm die Mittel zur Vollendung
- des Bildes nicht zur Verfügung gestellt werden. Das ist eine Lüge, davon
- bin ich fest überzeugt. Unsere Künstler sind vornehme, anständige
- Menschen und wenn sie erfahren, was der arme Iwanow durch seine
- beispiellose Selbstentäußerung und Arbeitsliebe zu erdulden gehabt hat,
- er, der tatsächlich Gefahr lief, vor Hunger zu sterben, so würden sie
- ihr eigenes Geld brüderlich mit ihm teilen und nicht noch andere zu
- einer solchen Grausamkeit verleiten. Ja, warum hätten sie Iwanow auch zu
- fürchten,] er wandelt seine eigenen Bahnen und steht niemand im Wege. Er
- strebt weder nach einer Professur noch nach materiellen Vorteilen. Er
- will überhaupt nichts mehr, denn er ist der ganzen Welt abgestorben
- außer seiner Arbeit. Er bittet bloß [um eine armselige Pension] -- um
- eine Pension, wie sie ein Schüler und ein Anfänger erhält und nicht er,
- der Meister, der an einem so ungeheuren Werke arbeitet, wie es bisher
- noch niemand unternommen hat. Und dies [Hunger]gehalt, das ihm alle zu
- verschaffen bestrebt sind, um das sich alle für ihn bemühen, kann er
- sich trotz der Bemühungen aller nicht erbetteln. Sagen Sie, was Sie
- wollen, ich sehe in alledem den Willen der Vorsehung, die es so bestimmt
- hat, daß Iwanow alles erdulden, alle Leiden bis zur Neige auskosten und
- alles ertragen sollte. Einen anderen Grund dafür kann ich nicht finden.
- Bisher hat man ihm immer den Vorwurf gemacht, er arbeite zu langsam. Man
- hat immer gesagt: wie? er sitzt acht Jahre lang an seinem Bilde, und
- noch immer ist das Gemälde nicht vollendet. Jetzt beginnt dieser Vorwurf
- endlich zu verstummen, wo man sieht, daß der Künstler auch nicht einen
- einzigen Augenblick von seiner Zeit verloren hat, daß die Skizzen zu dem
- Bilde, die er angefertigt hat, allein einen ganzen Saal, daß man eine
- ganze Ausstellung mit ihnen füllen könnte, und daß die ungewöhnliche
- Größe des Bildes, dem kein zweites an Flächenumfang gleichkommt (das
- Bild ist größer als die Gemälde von Brjulow und Bruni), außerordentlich
- viel Zeit und Arbeit erforderte, besonders bei den geringen Geldmitteln,
- die es dem Maler nicht erlaubten, sich mehrere Modelle zugleich, vor
- allem aber nicht solche, wie er sie brauchte, zu halten. Mit einem Wort
- -- jetzt beginnen alle endlich zu erkennen, wie töricht der Vorwurf
- einem solchen Künstler gegenüber war, der wie ein fleißiger Arbeiter
- sein ganzes Leben lang bei der Arbeit verbracht hat, so daß er kaum noch
- wußte, ob es in der Welt noch einen anderen Genuß gibt als die Arbeit --
- wie töricht der Vorwurf war, er sei faul und arbeite zu langsam. Die,
- die ihm Langsamkeit vorgeworfen haben, werden sich noch mehr schämen,
- wenn sie erfahren, was der andere geheime Grund dieser Langsamkeit war.
- Mit der Arbeit an diesem Gemälde verknüpfte sich der eigenste, innerste,
- geistige Lebenszweck des Künstlers -- eine Erscheinung, wie sie in der
- Welt nur äußerst selten vorkommt und deren Grund nicht im freien
- Ermessen des Menschen, sondern in dem Willen Dessen zu suchen ist, der
- über allen Menschen steht. Es war offenbar höhere Bestimmung, daß sich
- an diesem Bilde die eigentliche Erziehung des Künstlers sowohl nach der
- Seite manueller Kunstfertigkeit wie nach der Seite der Ideen, die die
- Kunst ihrer wahren und höchsten Bestimmung entgegenführen, vollziehen
- sollte. Schon der Gegenstand des Gemäldes ist, wie Sie wissen, höchst
- bedeutend. Der Maler hat sich eine Stelle aus den Evangelien zum Vorwurf
- gewählt, die einer Darstellung ganz besondere Schwierigkeiten bietet und
- die bisher noch von keinem Künstler, nicht einmal von einem Meister
- einer der uralten, von so inniger Frömmigkeit erfüllten künstlerischen
- Epochen behandelt worden ist, nämlich -- das erste Erscheinen Christi
- vor dem Volke. Das Bild stellt die Wüste am Ufer des Jordans dar. Im
- Vordergrunde des Ganzen steht die Gestalt Johannes des Täufers, der vor
- versammeltem Volke predigt und im Namen Dessen, Den noch niemand gesehen
- hat, tauft. Er ist von einer Menge nackter oder solcher Menschen, die
- damit beschäftigt sind, sich an- oder auszuziehen oder die bereits
- ausgezogen sind, die aus dem Wasser hervorkommen oder im Begriff sind,
- ins Wasser zu steigen, umgeben. Unter dieser Menge befinden sich auch
- die künftigen Jünger des Heilands selbst. Jedermann lauscht, während er
- mit seiner Verrichtung beschäftigt ist und verschiedene Körperbewegungen
- ausführt, voll innerer Spannung den Reden des Propheten, als wollte er
- ihm jedes Wort von den Lippen ablesen, alle Gesichter spiegeln die
- verschiedensten Gefühle wider: ein Teil der Anwesenden ist bereits
- vollkommen überzeugt, andere zweifeln noch, ein dritter Teil schwankt
- schon, andere wieder halten ihre Häupter voll Reue und Zerknirschung
- gesenkt. Es sind auch solche darunter, denen man anmerkt, daß die harte
- Rinde der Gefühllosigkeit, die ihr Herz umgibt, noch nicht geborsten
- ist. Und während nun alles von so verschiedenen Gemütsbewegungen
- ergriffen ist, erscheint Er, in Dessen Namen die Taufe bereits vollzogen
- ward, in der Ferne -- und das ist der eigentliche Höhepunkt des Bildes.
- Der Künstler hat den Augenblick gewählt, wo der Vorläufer Christi mit
- dem Finger auf den Heiland hinweist und die Worte spricht: »_Siehe, das
- ist das Lamm, das der Welt Sünde trägt._« Die ganze Menge aber hält,
- ohne ihren Gesichtsausdruck zu verändern, ihre Augen auf Den geheftet,
- und richtet alle ihre Gedanken auf Ihn, auf Den der Prophet hinweist. Zu
- dem früheren Ausdruck, der noch nicht von den Gesichtern verschwunden
- ist, kommt nun noch ein neuer hinzu, der den neuen Eindruck
- widerspiegelt. Die Gesichter der Auserwählten, die ganz vorne stehen,
- leuchten von einem wunderbaren Licht, während die andern noch bemüht
- sind, in den Sinn der unverständlichen Worte einzudringen und nicht
- begreifen können, wie ein einziger alle Sünden der Welt auf sich nehmen
- kann, und während die Dritten zweifelnd ihr Haupt schütteln, als wollten
- sie sagen: »Wie könnte ein Prophet aus Nazareth kommen!« Er aber
- schreitet mit himmlischer Ruhe und wie in eine wunderbare Ferne entrückt
- langsamen und festen Schrittes auf die Menschen zu.
- Wahrlich es ist keine Kleinigkeit, auf den Gesichtern diesen ganzen
- Prozeß _der Bekehrung des Menschen zu Christus_ darzustellen! Es gibt
- Menschen, die davon überzeugt sind, daß für einen großen Künstler alles
- erreichbar ist: die Erde, das Meer, der Mensch [ja selbst ein Frosch,
- eine Rauferei, ein Zechgelage oder eine Kartenpartie] wie ein an den
- himmlischen Vater gerichtetes Gebet, mit einem Wort, daß ihm alles
- leicht erreichbar sei, wenn er bloß ein talentvoller Künstler ist und
- die Akademie besucht hat. Ein Künstler kann nur darstellen, was er
- selbst _gefühlt_ und wovon er sich im Geiste eine vollständige Idee
- gebildet hat, im andern Falle wird sein Bild ein totes akademisches
- Gemälde bleiben. Iwanow hat alles getan, was ein anderer Künstler für
- ausreichend gehalten hätte, um sein Gemälde zu vollenden. Die gesamte
- materielle Seite daran, alles, was sich auf eine strenge und weise
- Verteilung der Gruppen auf dem Bilde bezieht, ist mit höchster
- Vollendung durchgeführt. Auch die Gesichter haben jenen typischen
- Ausdruck, der dem Geist des Evangeliums entspricht, auch ist der
- jüdische Typus überall festgehalten. Man erkennt sofort an den
- Gesichtern, welches Land der Schauplatz dieser Vorgänge ist. Iwanow ist
- ausdrücklich zu diesem Zwecke überall herumgereist, um jüdische
- Gesichter zu studieren. Alles, was sich auf eine harmonische Verteilung
- der Farben, der menschlichen Gewänder und die wohlüberlegte Art, wie sie
- den menschlichen Körper umhüllen und von ihm gehalten werden, bezieht,
- ist mit einer solchen Sorgfalt studiert, daß jede Falte die
- Aufmerksamkeit des Kenners auf sich lenken muß. Endlich ist auch die
- landschaftliche Seite, auf die ein Historienmaler gewöhnlich nur wenig
- achtet, die malerische Wüste, in die die Gruppen hineingestellt sind, so
- ausgeführt, daß selbst die Landschaftsmaler, die sich in Rom aufhalten,
- staunen. Iwanow hat zu diesem Zwecke viele Monate in den ungesunden
- Pontinischen Sümpfen und in den Wüsteneien Italiens zugebracht,
- zahlreiche Skizzen von sämtlichen wilden und öden Gegenden, die sich in
- Roms Umgebung finden, entworfen, er hat jedes Steinchen und jedes
- Baumblatt studiert, kurz -- er hat alles getan, was er tun konnte, und
- alles nachgezeichnet, wofür er ein Vorbild finden konnte. Wie aber
- sollte er das darstellen, wofür bisher noch nie ein Künstler ein Modell
- finden konnte! Wo konnte er ein Modell dafür finden, was die Hauptsache,
- die eigentliche Aufgabe seines ganzen Gemäldes bildet? Wie konnte er den
- Vorgang der Bekehrung der Menschheit zu Christus in seiner Gesamtheit
- zur Darstellung bringen? Wo sollte er ihn hernehmen? Aus dem Kopfe?
- Sollte er ihn aus seiner Phantasie erzeugen, ihn mit dem Gedanken
- erfassen? Nein, das sind alles Torheiten. Dazu ist der Gedanke zu kalt
- und zu frostig und die Phantasie zu arm und zu matt. Iwanow hat seine
- Einbildungskraft so gewaltig angestrengt, als er nur vermochte, er war
- bestrebt, aus den Gesichtern aller Menschen, denen er begegnete, die
- hohen Gemütsbewegungen der Seele abzulesen. Er ist in die Kirchen
- gegangen, um die Menschen während des Gebets zu beobachten, und mußte
- schließlich erkennen, daß dies alles viel zu kraftlos, zu ohnmächtig,
- daß es ungenügend sei und in seiner Seele nicht die volle Idee von dem,
- was er brauchte, hervorbringen und befestigen konnte, und das wurde der
- Anlaß zu bitteren Seelenqualen, und war der Grund, warum sein Bild so
- langsame Fortschritte machte. Nein, solange sich die wahre Bekehrung zu
- Christus nicht im Künstler selbst vollzogen hat, wird es ihm nie
- gelingen, sie auf der Leinwand darzustellen. Iwanow hat inbrünstig zu
- Gott gebetet, Er möge ihm diese volle Bekehrung zuteil werden lassen, er
- hat stille Tränen vergossen und Ihn angefleht, Er möge ihm die Kraft
- verleihen, die ihm von Ihm selbst eingegebene Idee auszuführen, und in
- einem solchen Moment konnte man ihm den Vorwurf machen, daß er zu
- langsam arbeite, und ihn zur Eile drängen! Iwanow hat Gott angefleht, Er
- möge jene kalte Härte und Mattherzigkeit, an der heute viele von den
- Edelsten und Besten leiden, im Feuer Seiner Gnade zerschmelzen und zu
- Asche verbrennen und ihn mit der Begeisterung erfüllen, die ihm die
- Kraft verleihen würde, diese Bekehrung so darzustellen, daß auch der
- Nichtchrist beim Anblick seines Bildes gerührt und erschüttert dastünde,
- und in solchen Augenblicken konnten sogar Leute, die ihn persönlich
- kennen, ja selbst seine Freunde ihm Vorwürfe machen und glauben, er sei
- träge und faul, ja sie konnten sich ernstlich fragen, ob man ihn nicht
- durch Hunger und dadurch, daß man ihm alle Mittel entzöge, dazu zwingen
- könne, sein Bild zu vollenden! Sogar die Mitleidigsten unter ihnen
- sagten: »Er ist selbst schuld: das große Bild ist etwas für sich, in der
- Zwischenzeit könnte er kleinere Bilder malen und sie verkaufen, dann
- brauchte er nicht vor Hunger zu sterben.« So konnten die Leute reden,
- ohne zu ahnen, daß ein Künstler, dem sein Werk nach dem Willen Gottes zu
- einer innersten Seelen- und Herzensangelegenheit geworden ist, schon
- nicht mehr imstande ist, sich mit irgend etwas anderem zu beschäftigen,
- daß es für ihn keine Zwischenzeit gibt; sein Denken ist gar nicht mehr
- fähig, sich auf andere Gegenstände zu richten, so sehr er sich auch dazu
- zwingen und so sehr er es auch vergewaltigen mag. So ist auch ein treues
- Weib, das ihren Mann wahrhaft liebt, nicht mehr imstande, einen andern
- lieb zu gewinnen. Nie wird sie ihre Zärtlichkeit für Geld verkaufen,
- nicht einmal, wenn sie sich selbst und ihren Mann hierdurch vor der
- Armut bewahren könnte. Dies war der Seelenzustand Iwanows. Sie werden
- sagen: »Ja warum hat er dies alles denn nicht niedergeschrieben? Warum
- hat er seine wirkliche Lage nicht klar dargestellt. Dann hätte man ihm
- sofort Geld geschickt? Das wäre schön, wenn's so wäre. Es soll doch
- einmal einer von uns versuchen, der noch keinen Beweis seines Könnens
- gegeben hat, der sich selbst noch nicht darüber klar zu werden vermag,
- was in ihm steckt, sich mit Leuten anderer Berufe auseinanderzusetzen,
- die aus sehr natürlichen Gründen nicht einmal zu begreifen vermögen, daß
- es eine höchste Stufe der Kunst gibt, eine solche Stufe, die sie
- unendlich weit über das Niveau emporhebt, auf dem die Kunst unserer
- heutigen modesüchtigen Zeit steht. Sollte er etwa sagen: »Ich will ein
- Werk schaffen, das euch einst in Erstaunen setzen wird, von dem ich
- jedoch heute nicht zu euch sprechen kann, weil mir selbst heute noch
- manches nicht ganz klar ist. Ihr aber mögt die ganze Zeit über, während
- der ich an meiner Arbeit sitze, geduldig warten und mir das Geld zu
- meinem Lebensunterhalt verschaffen?« Dann würden sich wahrscheinlich
- viele Liebhaber finden, die ebenso sprechen würden, und glauben Sie
- etwa, daß es einen so törichten Menschen gibt, der ihnen Geld geben
- würde? Aber selbst angenommen, Iwanow hätte sich in dieser Zeit der
- Unklarheit klar ausdrücken und sagen können: »durch höhere Eingebung
- ward mir eine Idee zuteil, die mich unablässig verfolgt -- ich will die
- Bekehrung des Menschen zu Christus auf der Leinwand darstellen. Ich
- fühle, daß ich das nicht tun kann, ehe ich mich selbst wahrhaft zu ihm
- bekehrt habe. Wartet daher, bis sich diese Bekehrung in mir selbst
- vollzogen hat und gebt mir bis dahin das Geld, das ich zu meinem
- Lebensunterhalt und um arbeiten zu können, brauche.« Ja, hätten wir ihm
- nicht alle wie aus einem Munde zugerufen: »Was ist denn das für ein
- törichtes Gerede? Hältst du uns etwa für Narren? Wie hängt denn das
- zusammen: die Seele und ein Gemälde? Die Seele ist etwas für sich und
- ein Gemälde ist auch eine Sache für sich. [Warum sollten wir auf deine
- Bekehrung warten, du sollst auch ohne das ein Christ sein. Wir sind doch
- auch alle wahrhafte Christen.«] So hätten wir alle zu Iwanow gesprochen,
- und jeder von uns hätte eigentlich recht gehabt. Wären nicht diese
- schwierigen Lebensverhältnisse und diese innere Seelenfolter gewesen,
- die ihn mit Gewalt dazu getrieben haben, Gott mit innigerer, glühenderer
- Sehnsucht zu suchen, und die ihm die Fähigkeit gaben, seine Zuflucht zu
- Ihm zu nehmen und so in Ihm zu leben, und in Ihm aufzugehen, wie keiner
- von den modernen profanen Künstlern in Ihm lebt, und sich durch bittre
- Tränen die Gefühle zu erringen, die er sich ehedem durch bloßes
- Nachdenken und bloße Überlegung zu erringen suchte, so wäre er nie
- imstande gewesen, das darzustellen, wozu er jetzt auf der Leinwand
- bereits den Grund gelegt hat, und er hätte sowohl sich wie die andern
- betrogen trotz seines glühenden Wunsches, sie nicht zu täuschen. Glauben
- Sie nicht, daß es leicht ist, sich während eines solchen inneren
- Übergangszustandes, wenn nach Gottes Willen ein Umgestaltungsprozeß in
- dem innersten Wesen des Menschen eingesetzt hat, sich andern Menschen
- mitzuteilen. Ich kenne das selbst sehr gut und habe es sogar an mir
- selbst erfahren. Meine Werke hängen in ganz wunderbarer Weise mit meinem
- Seelenleben und meiner inneren Selbsterziehung zusammen. Mehr als sechs
- Jahre lang vermochte ich nicht für die Welt zu schaffen. Die ganze
- Arbeit fand in mir und für mich selbst statt. Und doch -- vergessen Sie
- dies nicht -- und doch lebte ich damals, ausschließlich von den
- Einkünften, die mir meine Werke brachten. Fast alle Welt wußte, daß ich
- Not litt, und doch waren alle überzeugt, daß dies seinen Grund
- ausschließlich in meinem Eigensinn hat, daß ich mich nur hinzusetzen und
- irgendeine kleine Sache niederzuschreiben brauchte, um sehr viel Geld zu
- verdienen. Allein ich war nicht imstande, auch nur eine einzige Zeile zu
- schreiben, und als ich einmal dem Rat eines unvernünftigen Menschen
- folgen und mich dazu zwingen wollte, ein paar kleine Aufsätze für eine
- Zeitschrift zu schreiben, wurde mir dies so schwer, daß mich mein Kopf
- schmerzte und mir all meine Sinne wehe taten. Ich schmierte einige
- Seiten voll, zerriß sie wieder und ruinierte nach zwei, drei Monaten
- einer solchen Folter meine ganze Gesundheit, die ohnedies schon schlecht
- genug war, so daß ich mich zu Bett legen mußte. Dazu kamen noch
- allerhand Nervenbeschwerden und Leiden, die daraus entsprangen, daß es
- mir völlig unmöglich war, mich gegen irgendeinen Menschen in der Welt
- über meinen Zustand und meine Lage zu äußern; dies alles brachte mich so
- herunter, daß ich mich beinahe am Rande des Grabes befand. Und dieses
- passierte mir zweimal nacheinander. Einmal befand ich mich zu alledem
- noch in einer Stadt, wo ich nicht einen einzigen mir nahestehenden
- Menschen hatte. Auch war ich völlig mittellos und lief beständig Gefahr,
- nicht nur an meiner Krankheit und meinen seelischen Qualen, sondern
- sogar vor Hunger zu sterben. Das ist schon sehr lange her [ich wurde
- damals durch den Kaiser gerettet, von dem mir unerwartet Hilfe kam.
- Hatte ihm eine innere Stimme gesagt, daß sein armer Untertan in seiner
- unscheinbaren nichtamtlichen Stellung von dem heißen Streben beseelt
- war, ihm ebenso treu und redlich zu dienen, wie andere ihm in ihren
- hervorragenden amtlichen Stellungen dienten, oder war es einfach eine
- Regung der Gnade und Güte, wie wir sie bei ihm gewohnt sind, genug,
- diese Hilfe richtete mich plötzlich auf. Es war mir in diesem Augenblick
- sehr angenehm, mich ihm und keinem andern verpflichtet zu fühlen. Zu den
- Gründen, die mich veranlaßten, mit neuer Kraft an die Arbeit zu gehen,
- kam auch noch folgender Gedanke hinzu. Wenn Gott mich für würdig halten
- sollte, mir die Liebe und Zuneigung vieler Menschen zu erwerben und mich
- der Liebe derer würdig zu erweisen, die mich liebten, dann wollte ich
- ihnen sagen: »Vergeßt es niemals, ich wäre jetzt vielleicht nicht mehr
- auf der Welt, wenn der Kaiser nicht dagewesen wäre«]. In solch eine Lage
- kommt man mitunter. Außerdem muß ich Ihnen noch sagen, daß ich gerade zu
- dieser Zeit oft den Vorwurf zu hören bekam, ich sei ein Egoist: Viele
- konnten es mir nicht verzeihen, daß ich mich nicht an Unternehmungen
- beteiligen wollte, die sie, wie sie glaubten, im Interesse der
- Allgemeinheit planten. Meine Einwände, ich könne nicht schreiben und ich
- dürfe nicht für Zeitschriften und Almanache arbeiten, wurden für eine
- Laune gehalten. Selbst der Umstand, daß ich im Ausland lebte, wurde auf
- ein sybaritisches Bedürfnis zurückgeführt, die Schönheiten Italiens zu
- genießen. Ich konnte es nicht einmal meinen nächsten Freunden
- klarmachen, daß mir nicht nur aus Rücksicht auf meine Krankheit eine
- zeitweilige Trennung von ihnen selbst ein Bedürfnis war, gerade weil ich
- nicht in ein falsches Verhältnis zu ihnen kommen und ihnen keine
- Unannehmlichkeiten bereiten wollte -- selbst dies vermochte ich ihnen
- nicht klarzumachen!
- Ich hatte selbst die Empfindung, mein Seelenzustand sei so seltsam
- geworden, daß ich ihn keinem Menschen auf der Welt in klarer und
- verständlicher Weise hätte mitteilen können. Wenn ich mich bemühte,
- einem Menschen wenigstens einen Teil von meinem Selbst zu enthüllen, so
- stand es mir sofort klar vor Augen, daß ich den Menschen, zu denen ich
- sprach, mit meinen Worten nur den Kopf verwirrte und umnebelte, und ich
- bereute bitterlich, daß ich auch nur den Wunsch gehabt hatte, aufrichtig
- zu sein. Ich möchte darauf schwören: es gibt Situationen von solcher
- Schwierigkeit, die sich nur mit der Lage eines Menschen vergleichen
- lassen, der in einem lethargischen Schlaf versunken daliegt, der selbst
- sieht, wie er lebendig begraben wird -- und nicht einmal einen Finger
- rühren und ein Zeichen geben kann, daß er noch lebt. Nein, Gott bewahre
- uns vor dem bloßen Versuch, im Moment eines solchen inneren
- Übergangszustandes einem Menschen unser Herz zu öffnen. Zu Gott allein
- sollte man seine Zuflucht nehmen; zu niemand sonst. So kam es, daß
- viele, selbst solche Menschen, die mir sehr nahe standen, ungerecht
- gegen mich wurden und doch waren sie eigentlich ganz unschuldig daran:
- ich selbst hätte genau so gehandelt, wenn ich an ihrer Stelle gewesen
- wäre.
- Und ebenso verhält es sich mit dem Fall Iwanow: wenn er vor Armut und
- aus Mangel an Mitteln sterben sollte, so würden sich alle sofort empört
- gegen die wenden, die dies zugelassen haben. Vorwürfe und Anklagen gegen
- die andern Künstler würden laut werden, und man würde sie der
- Gefühllosigkeit und des Neides bezichtigen. Am Ende würde gar ein
- dramatischer Dichter ein rührsames Drama über dieses Sujet schreiben,
- das Publikum bis zu Tränen rühren und Zorn und Abscheu wider die Feinde
- Iwanows erregen. Und doch wäre dies alles nichts wie lauter Lüge und
- Unwahrheit, weil in Wahrheit doch eigentlich niemand an seinem Tode
- schuld wäre. Nur _ein_ Mensch hätte Anlaß, sich einer unehrenhaften
- Handlungsweise anzuklagen und sich die Schuld zuzuschreiben. Dieser
- Mensch wäre -- ich. Ich habe mich in einer ganz ähnlichen Lage befunden,
- habe alles am eigenen Leibe erfahren und habe es doch den andern nicht
- klarmachen können, und das ist der Grund, weswegen ich Ihnen jetzt
- schreibe. Suchen Sie diese Sache zu arrangieren und in Ordnung zu
- bringen, sonst nehmen Sie eine schwere Verantwortung auf Ihre Seele. Ich
- habe sie durch diesen Brief von meinem Herzen abgewälzt. Nun liegt sie
- auf Ihnen. [Richten Sie es so ein, daß Iwanow nicht nur jene armselige
- Pension, um die er bittet, bewilligt wird, sondern außerdem auch noch
- eine Prämie dafür, daß er so lange an seinem Gemälde gearbeitet hat und
- daß er während dieser Zeit an nichts anderem arbeiten wollte, trotzdem
- ihn die Menschen und seine eigene Not dazu drängten]. Sparen Sie nicht
- mit dem Gelde: es wird reiche Zinsen tragen. Schon fängt man überall an,
- den Wert des Bildes zu erkennen, schon spricht ganz Rom davon, obwohl es
- sich doch nur nach dem jetzigen Stadium, das die Idee und Absicht des
- Künstlers noch nicht in vollem Maße widerspiegelt, ein Urteil erlauben
- kann, schon sagt ganz Rom, daß eine ähnliche Erscheinung seit den Zeiten
- Raphaels und Leonardo da Vincis noch nicht dagewesen sei. Das Gemälde
- wird vollendet werden [-- dann wird auch der ärmste Fürstenhof in Europa
- gern soviel dafür bezahlen, wie man heute für ein neu entdecktes Gemälde
- eines großen alten Meisters auszugeben pflegt]. Solche Gemälde erzielen
- selten Preise unter 100000 oder 200000. [Richten Sie es so ein, daß ihm
- die Prämie nicht für sein Gemälde, sondern für seine Selbstaufopferung
- und seine beispiellose Liebe zur Kunst zugesprochen wird, auf daß dies
- Beispiel allen Künstlern zur Lehre diene. Wir haben eine solche Lehre
- nötig, damit alle erkennen, wie man die Kunst lieben soll: daß man allen
- Lockungen des Lebens absterben müsse wie Iwanow, daß man nicht aufhören
- dürfe, zu lernen, und sich stets für einen Schüler halten solle wie
- Iwanow, daß man die größten Entbehrungen auf sich nehmen, ja selbst an
- Feiertagen sich beim Mittagessen den Extragang versagen muß wie Iwanow,
- daß man, wenn einem alle Mittel ausgegangen sind, eine einfache
- Leinwandjacke anziehen und alle leeren Rücksichten des Anstands außer
- acht lassen muß wie Iwanow, daß man alle Leiden auskosten und selbst bei
- einer so hohen und feinen Seelenbildung, bei einer so außerordentlichen
- feinsinnigen Empfindlichkeit für alles, alle bitteren Niederlagen
- ertragen, ja selbst ruhig dulden muß, daß einzelne einen für verrückt
- erklären und überall das Gerücht verbreiten, man sei nicht bei
- Verstande, so daß man es auf Schritt und Tritt mit eigenen Ohren hören
- muß, wie Iwanow dies getan hat. Für alle diese großen Verdienste sollte
- ihm eine Prämie zugesprochen werden. Dies ist besonders ein Bedürfnis
- für unsere jungen Künstler und für die, die ihre Künstlerlaufbahn erst
- eben beginnen, damit sie ihre Gedanken nicht bloß darauf richten, sich
- feine Krawatten und Röcke anzuschaffen und Schulden zu machen, um ihr
- Ansehen in der Gesellschaft zu heben, sondern damit sie erkennen, daß
- die Hilfe und Unterstützung der Regierung nur solchen unter ihnen zuteil
- wird, die nicht an feine Röcke denken und von Zechgelagen mit ihren
- Kameraden träumen, sondern die sich ganz ihrer Aufgabe widmen und in ihr
- ganz aufgehen wie ein Mönch in der Klosterzelle. Es wäre sogar gut, wenn
- die Summe, die Iwanow bewilligt würde, recht groß wäre, damit sich alle
- anderen unwillkürlich hinter den Ohren kratzen. Fürchten Sie nicht, daß
- er diese Summe nur für seinen eigenen Bedarf verwenden könnte.
- Vielleicht wird er sich selbst nicht einmal eine Kopeke davon nehmen.
- Diese Summe wird ganz darauf verwandt werden, um den wirklichen
- Arbeitern auf dem Gebiete der Kunst, die der Künstler besser kennt als
- irgendein Beamter, zur Unterstützung zu dienen, und er wird besser
- darüber verfügen, als ein Beamter dies vermöchte. Weiß Gott, was ein
- Beamter alles auf dem Kerbholz haben kann; er kann eine Modedame zur
- Frau, oder er kann Freunde haben, die große Feinschmecker sind und denen
- er ein feines Mittagessen vorsetzen muß. Ein Beamter kann einen großen
- Aufwand machen und vielen Glanz entfalten, und wird dann womöglich noch
- behaupten, daß dies notwendig sei, um das Ansehen der russischen Nation
- hochzuhalten, um den Ausländern Sand in die Augen zu streuen, und Geld
- dafür verlangen. Mit dem dagegen, der selbst auf dem Gebiet tätig ist,
- auf dem er später anderen behilflich sein soll, der den Schrei der
- Bedürftigkeit und keiner vorgespiegelten, sondern der wirklichen Not
- vernommen, der selbst gelitten und gesehen hat, wie andere leiden, der
- mit ihnen gelitten und sein letztes Hemd mit dem armen Arbeiter geteilt
- hat, während er selbst nichts zu essen und nichts anzuziehen hatte, wie
- dies Iwanow getan hat, -- mit dem verhält es sich ganz anders. Ihm kann
- man dreist Millionen anvertrauen und sich ruhig schlafen legen. Von
- dieser Million wird keine Kopeke umsonst verloren gehen]. Also seien Sie
- billig. Meinen Brief aber zeigen Sie sowohl meinen wie Ihren Freunden,
- besonders aber denen, denen die Verwaltung eines Ressorts anvertraut
- ist. Denn fleißige Arbeiter wie Iwanow kommen in allen Berufen vor, und
- man sollte doch nicht zulassen, daß solche Menschen vor Hunger sterben.
- Wenn es einmal passieren sollte, daß einer von ihnen sich von den andern
- zurückzieht und sich intensiver und eifriger seiner Sache widmet, ja
- selbst in dem Falle, wenn es seine _eigene_ Sache ist und er nur sagt,
- daß diese Sache, die scheinbar bloß seine eigene Sache ist, einem
- allgemeinen Bedürfnis dient, müssen Sie so tun, als ob er den Menschen
- wissentlich diente, und für seinen notwendigen Lebensunterhalt sorgen.
- Damit Sie sich aber überzeugen, daß hierbei kein Betrug im Spiele ist,
- weil sich unter dieser Maske leicht auch ein fauler Mensch, der nichts
- tut, einschleichen kann, so sehen Sie zu, was für einen Lebenswandel er
- führt. Seine Lebensweise wird Ihnen alles sagen. Wenn er ebenso wie
- Iwanow alle Anstandsrücksichten und alle Konventionen der vornehmen Welt
- verachtet und hintan setzt, wenn er eine einfache Jacke anzieht, jeden
- Gedanken an Vergnügungen und Zechgelage, selbst den Gedanken, sich ein
- Weib zu nehmen, um eine Familie oder einen Hausstand zu begründen, von
- sich gewiesen hat und ein wahrhaft mönchisches Leben führt, Tag und
- Nacht an seiner Arbeit sitzt und jeden Augenblick dem Gebet widmet, dann
- sind keine langen Überlegungen am Platz, sondern dann muß man ihm die
- Mittel zur Arbeit verschaffen. Man soll ihn auch nicht drängen und
- anfeuern, sondern man soll ihn in Ruhe lassen: Gott wird ihn auch ohne
- uns vorwärts treiben. Ihre Aufgabe ist es nur, dafür zu sorgen, daß er
- nicht vor Hunger stirbt. Sie sollen ihm auch keine große Pension
- bewilligen, setzen Sie ihm eine bescheidene, ja armselige Pension aus
- und halten Sie die Lockungen und Verführungen der Welt von ihm fern. Es
- gibt Menschen, die ihr ganzes Leben lang Bettler bleiben müssen. Der
- Bettlerstand ist eine Seligkeit, die die Welt noch nicht recht begriffen
- hat. Aber wen Gott für würdig gehalten hat, ihre Süßigkeit zu kosten,
- und wer seinen Bettelsack wirklich lieben gelernt hat, der wird ihn für
- keine Schätze dieser Welt verkaufen wollen.
- 1846.
- XXIV
- Was die Frau ihrem Manne im häuslichen Leben des Alltags und bei
- den heutigen Zuständen in Rußland sein kann
- Ich habe lange darüber nachgedacht, wen von Ihnen beiden ich tüchtig
- auszanken soll, Sie oder Ihren Mann. Schließlich aber habe ich mich
- entschlossen, mir Sie vorzunehmen: denn eine Frau ist eher dazu fähig,
- sich auf sich selbst zu besinnen und sich aufzuraffen. Obwohl Sie beide
- auf dem Gipfel der Seligkeit zu schweben glauben, ist Ihre Lage meiner
- Ansicht nach nicht nur keineswegs glücklich, sondern noch weit elender
- als die jener Menschen, die tief im Unglück und im Elend zu stecken
- meinen. Sie besitzen alle beide viele gute Eigenschaften, sowohl solche
- des Gemüts als auch des Herzens, Sie besitzen auch geistige Fähigkeiten,
- und es fehlt Ihnen nur das eine, ohne das dies alles zu nichts dienen
- kann. Es fehlt Ihnen an der inneren Disziplin. Keiner von Ihnen ist Herr
- über sich selbst. Es fehlt Ihnen an Charakter, wenn man unter Charakter
- einen _starken Willen_ zu verstehen hat. Ihr Mann hat ein Gefühl für
- diesen inneren Mangel gehabt. Er hat sich gerade deswegen verheiratet,
- um in seiner Frau ein Wesen zu finden, das ihn zur Tätigkeit und zu
- wirklichen Leistungen anspornt. Und _Sie_ haben ihn geheiratet, damit er
- Ihnen in allen Angelegenheiten des Lebens ein Erwecker und Anreger
- werde. Sie erwarten beide gerade das voneinander, was keiner von Ihnen
- besitzt. Ich sage Ihnen, dieser Zustand ist nicht nur keineswegs
- glücklich, sondern sogar gefährlich. Sie beide zerfließen und gehen im
- Leben auf wie ein Stück Seife im Wasser. Alle ihre Vorzüge und ihre
- guten Eigenschaften werden spurlos verloren gehen in der Unordnung und
- der Zuchtlosigkeit Ihrer Handlungen, die allein Ihren Charakter
- ausmachen werden, und so werden Sie beide die leibhaftige Ohnmacht und
- Kraftlosigkeit darstellen. Bitten Sie Gott um _Kraft und Willensstärke_.
- Durch Gebet kann man alles von Gott erlangen, selbst Kraft und
- Willensstärke, die sich ein schwacher und kraftloser Mensch bekanntlich
- auf keine Weise anzueignen vermag. Vor allem handeln Sie vernünftig:
- _bete und rudere auf das Ufer zu_, sagt ein russisches Sprichwort.
- Sprechen Sie jeden Morgen, mittags und abends immer wieder in Ihrem
- Innern: Lieber Gott, fasse all meine Kräfte und mein ganzes Ich in mir
- selbst zusammen und stärke mich!« Und dann tun Sie ein ganzes Jahr lang
- so, wie ich es Ihnen gleich angeben werde, ohne nachzugrübeln, wozu und
- zu welchem Zwecke Sie so handeln. Den ganzen Haushalt müssen Sie auf
- Ihre Schultern nehmen. Alle Ausgaben und Einnahmen sollen durch Ihre
- Hände gehen. Legen Sie sich kein allgemeines Kassenbuch an, sondern
- machen Sie gleich zu Beginn des Jahres einen Überschlag über den
- gesamten Haushalt. Suchen Sie sich eine Übersicht über all Ihre
- Bedürfnisse zu verschaffen. Überlegen Sie sich im voraus, wieviel Sie
- bei Ihrem Einkommen in einem jeden Jahr ausgeben dürfen und ausgeben
- müssen, und rechnen Sie sich alles in runden Summen aus. Teilen Sie Ihr
- ganzes Geld in sieben nahezu gleiche Haufen. Der erste Haufen sei zur
- Deckung der Ausgaben für die Wohnungsmiete, die Heizung,
- Wasserversorgung, Holz sowie alles, was sich auf die vier Wände Ihres
- Hauses und die Sauberkeit Ihres Hofes bezieht, bestimmt. Der zweite
- Haufen muß das Geld für die Kost und sämtliche Lebensmittel, den Gehalt
- des Kochs und den Lebensunterhalt aller, die mit Ihnen in Ihrem Hause
- leben, enthalten. Der dritte Haufen sei für den Stall, für den Wagen,
- den Kutscher, die Pferde, Heu, Hafer, kurz für alles, was sich auf
- diesen Teil des Haushalts bezieht, bestimmt. Aus dem vierten Haufen
- müssen die Unkosten für die Garderobe, d. h. für alles, was Sie beide
- brauchen, wenn Sie sich in der Gesellschaft sehen lassen oder wenn Sie
- zu Hause sitzen, beglichen werden. Der fünfte Haufen enthalte Ihr
- Taschengeld, der sechste Geld für allerhand außerordentliche Ausgaben,
- die ja häufig vorzukommen pflegen: wie etwa bei Anschaffung neuer Möbel,
- einer neuen Equipage, oder für die Unterstützung eines Verwandten, wenn
- er plötzlich in die Lage kommen sollte, ihrer zu bedürfen. Der siebente
- Haufen aber sei Gott geweiht, d. h. er diene zur Deckung der Ausgaben
- für die Kirche und für die Armen. Sorgen Sie dafür, daß Ihnen diese
- sieben Haufen niemals durcheinander geraten, sondern stets gesondert für
- sich bestehen bleiben, wie sieben besondere Ministerien. Führen Sie über
- jeden von ihnen besondere Rechnung. Unter keinem Vorwand aber machen Sie
- eine Anleihe bei dem einen zugunsten des andern; selbst wenn sich Ihnen
- während dieser Zeit auch noch so günstige Kaufgelegenheiten bieten
- sollten, oder wenn ein Gegenstand Sie durch seine Wohlfeilheit noch so
- sehr zum Kaufe reizen sollte -- dürfen Sie ihn nicht kaufen. Das können
- Sie sich erst erlauben, wenn Sie sich innerlich genügend gefestigt und
- gekräftigt haben. Jetzt aber dürfen Sie keinen Augenblick vergessen, daß
- Sie dies alles nur tun, um sich einen starken Charakter zu erwerben, und
- daß diese Erwerbung fürs erste weit wichtiger für Sie ist als jede
- andere. Seien Sie daher in solchen Fällen geradezu eigensinnig, bitten
- Sie Gott, er möge Sie eigensinnig machen. Selbst dann, wenn die
- Notwendigkeit an Sie herantritt, einem Armen zu helfen, dürfen Sie doch
- nicht mehr ausgeben, als der für diesen Zweck bestimmte Haufen enthält.
- Ja selbst dann, wenn sich Ihnen das Bild eines herzzerreißenden Jammers
- und Elends darbietet, dessen Zeugin Sie sein müssen, und wenn Sie sehen,
- daß hier durch Geld etwas auszurichten und zu helfen wäre, dürfen Sie
- dennoch unter keinen Umständen einen von den andern Haufen angreifen.
- Fahren Sie lieber in der ganzen Stadt herum, besuchen Sie alle Ihre
- Bekannten und suchen Sie ihr Mitleid zu erwecken; bitten Sie, flehen Sie
- sie an, seien Sie sogar zu jeder Selbsterniedrigung bereit, damit Ihnen
- dies eine Lehre sei, und Sie sich ewig daran erinnern, wie Sie einmal
- vor die bittere Notwendigkeit gestellt waren, einem Unglücklichen Ihre
- Hilfe zu versagen; wie Sie sich deswegen allen möglichen Erniedrigungen
- aussetzen und sogar den öffentlichen Spott auf sich lenken mußten, auf
- daß Ihnen dies nie aus dem Sinn komme, und Sie hierdurch lernen, alle
- Ihre Ausgaben von jedem Haufen einzuschränken und im voraus daran zu
- denken, so daß am Ende des Jahres von jedem noch etwas für die Armen
- übrig bleibe und das Geld nicht nur gerade knapp zur Deckung der
- Ausgaben ausreiche. Wenn Sie dieses beständig im Kopfe behalten werden,
- werden Sie niemals ohne dringende Not in einen Kaufladen fahren und sich
- plötzlich einen Schmuckgegenstand für Ihren Tisch oder Kamin kaufen,
- wozu bei uns sowohl unsere Frauen wie unsere Männer so leicht geneigt
- sind. [Die letzten sogar noch mehr, diese sind nicht einmal Frauen,
- sondern alte Weiber.] Ihre Wünsche und Launen werden auf diese Weise
- unwillkürlich und kaum merklich immer mehr und mehr zusammenschrumpfen,
- und schließlich wird es so weit kommen, daß Sie selbst das Gefühl haben
- werden, Sie brauchten nicht mehr als _einen_ Wagen und ein Paar Pferde
- und bei der Mittagstafel nicht mehr als vier Gänge, dann werden Sie
- erkennen, daß man seine Gäste ebensogut mit einem einfach servierten
- Diner, mit einem einzigen Extragang und einer Flasche Wein, der ohne
- alle Finessen in einfachen Gläsern verschenkt wird, zu befriedigen
- vermag. Sie werden nicht vor Scham vergehen, wenn sich in der Stadt das
- Gerücht verbreitet, bei Ihnen sei es nicht _comme il faut_, sondern Sie
- werden selbst darüber lachen, da Sie sich aufs tiefste davon überzeugen
- werden, das wahre _comme il faut_ sei das, das Der von dem Menschen
- fordert, Der ihn erschaffen hat, nicht aber irgendein Mensch, der
- allerhand Satzungen und Systeme für die Diners erfindet, nicht einmal
- der, der Etiketten austiftelt, die jeden Tag wechseln, ja nicht einmal
- Madame Sichler in eigener Person. Schaffen Sie sich ein besonderes
- Kassenbuch für jeden einzelnen Geldhaufen an. Ziehen Sie jeden Monat die
- Bilanz über die Einnahmen und Ausgaben, die sich auf die einzelnen
- Haufen beziehen, prüfen Sie am letzten Tage jedes Monats alles nach und
- vergleichen Sie jedes Ding mit jedem andern, damit Sie erkennen lernen,
- um wievielmal notwendiger und nützlicher es ist als ein anderes, und
- damit Sie sich ganz klar darüber werden, auf welchen Gegenstand Sie im
- Fall der Not zuerst verzichten müssen, und so die Kunst lernen, zu
- erkennen, was vom Notwendigen das Allernotwendigste ist.
- Halten Sie sich während eines ganzen Jahres streng an diese Grundsätze.
- Werden Sie stark, werden Sie eigensinnig und beten Sie während der
- ganzen Zeit zu Gott, er möge Ihnen einen starken Willen verleihen --
- dann werden Sie wirklich stark und fest werden. Worauf es ankommt, ist
- dies: daß in dem Menschen wenigstens _etwas_ stark und unerschütterlich
- werde. Hierdurch kommt ganz unwillkürlich auch Ordnung in alles andere.
- Wenn Sie in Angelegenheiten materiellen Charakters stark werden, werden
- Sie unwillkürlich in den geistigen und seelischen Angelegenheiten
- sicheren Boden gewinnen. Machen Sie sich eine feste Zeiteinteilung,
- setzen Sie für jedes Ding eine bestimmte Stunde fest, und gehen Sie
- nicht von ihr ab; bleiben Sie nicht den ganzen Morgen bei Ihrem Mann,
- sondern schicken Sie ihn ins Departement und spornen Sie ihn zur
- Tätigkeit an. Erinnern Sie ihn jeden Augenblick daran, daß er sich ganz
- der allgemeinen Sache und dem ganzen Staatshaushalt widmen muß -- [sein
- eigener Haushalt dagegen sei nicht seine Sorge: dieser muß nicht auf
- seinen, sondern auf Ihren Schultern ruhen], daß er ja gerade darum
- geheiratet habe, um sich aller kleinen Sorgen zu entschlagen und sich
- ganz dem Vaterlande zu widmen, und daß ihm die Frau nicht dazu geschenkt
- ward, um ihm ein Hemmnis zu sein, durch das er in seinem Dienst
- behindert wird, sondern gerade um ihn für den Dienst zu stärken und zu
- kräftigen. Ein jedes von Ihnen arbeite den Morgen über für sich, jeder
- in seinem Kreise, damit Sie sich vor dem Mittagessen in froher Stimmung
- wieder begegnen und sich so übereinander freuen, als hätten Sie sich
- viele Jahre lang nicht gesehen, damit Sie sich auch etwas zu erzählen
- haben und nicht dasitzen und einander angähnen: erzählen Sie ihm alles,
- was Sie in Ihrem Hause und in Ihrem Haushalt vollbracht haben, und
- lassen Sie sich alles von ihm erzählen, was er in seinem Departement für
- den allgemeinen Haushalt geleistet hat. Sie müssen unbedingt darüber
- unterrichtet sein, worin das Wesen seiner beruflichen Tätigkeit besteht,
- Sie müssen wissen, was sein Ressort ist, was für Angelegenheiten er an
- jenem Tag zu erledigen hatte und worin sie bestanden. Achten Sie diese
- Dinge nicht gering und denken Sie stets daran, daß die Frau ihrem Manne
- eine Stütze und Helferin sein muß. Wenn Sie sich während eines Jahres
- alles von ihm erzählen lassen und aufmerksam zuhören, so werden Sie im
- folgenden Jahre bereits imstande sein, ihm einen Rat zu erteilen, und
- werden wissen, wie Sie ihn trösten und ermutigen können, wenn ihm im
- Dienst eine Unannehmlichkeit zustößt, wie Sie ihm behilflich sein
- können, über sie hinwegzukommen und das zu ertragen, womit er sonst
- nicht fertig geworden wäre, da ihm der Mut dazu gefehlt hätte. So werden
- Sie ihm eine wahre Erweckerin zu allem Schönen und Guten werden.
- Fangen Sie schon heute an und tun Sie, wie ich es Ihnen soeben gesagt
- habe. Werden Sie stark, beten Sie, flehen Sie unablässig zu Gott, er
- möge Ihnen helfen, sich innerlich zu sammeln und sich selbst
- festzuhalten. Heute fängt bei uns alles an, sich zu lockern und aus den
- Fugen zu gehen. Die Menschen sind heutzutage allzumal solch traurige
- jämmerliche Waschlappen geworden, sie haben sich selbst zu Stützen alles
- Gemeinen und zu Sklaven der kleinsten und törichtesten Umstände und
- Verhältnisse gemacht, und es gibt heute nirgends etwas wie wahre
- Freiheit im wirklichen Sinne dieses Wortes. Diese Freiheit hat einer
- meiner Freunde, mit dem Sie nicht persönlich bekannt sind, den aber ganz
- Rußland kennt, folgendermaßen definiert: »Die Freiheit besteht nicht
- darin, daß man zu jeder willkürlichen Laune _Ja_ sagt, sondern darin,
- daß man auch _Nein_ zu ihr zu sagen vermag.« Und er hat recht wie die
- Wahrheit selbst. Heutzutage ist niemand imstande, sich selbst ein solch
- starkes _Nein_ zuzurufen. Ich vermag nirgends einen _Mann_ zu entdecken.
- So muß denn das schwache Weib ihn daran mahnen. Heute ist alles so
- seltsam und so wundersam geworden, heute muß die Frau dem Manne
- befehlen, er solle ihr Haupt und ihr Gebieter sein.
- 1845.
- XXV
- Ueber ländliche Rechtspflege und Gerichtsbarkeit
- Aus einem Briefe an M.
- Vernachlässigen Sie die Rechtspflege und Gerichtsbarkeit unter keinen
- Umständen. Beauftragen Sie nie einen Verwalter oder einen andern Mann
- aus dem Dorfe mit dieser Angelegenheit. Das ist eine Sache, die noch
- wichtiger ist als die Landwirtschaft. Halten Sie selbst Gericht. Allein
- hierdurch können Sie das Band zwischen Gutsbesitzer und Bauer kräftigen.
- Richten -- das ist etwas Göttliches, und ich weiß nicht, was es Höheres
- gibt. Nicht umsonst wird im Volke _der_ so hoch geehrt, der es versteht,
- ein gerechtes Urteil zu fällen. Nicht nur alle Bauern Ihres Gutes, sogar
- die Bauern aus anderen umliegenden Dörfern werden zu Ihnen hinströmen,
- wenn sie erfahren, daß Sie es verstehen, Recht zu sprechen. Achten Sie
- keinen von denen, die zu Ihnen kommen, für zu gering und übernehmen Sie
- das Richteramt in allen Fällen, selbst bei einem unbedeutenden Streit
- oder bei einer Rauferei. Bei solchen Gelegenheiten können Sie dem Bauern
- vieles sagen, was seiner Seele zu Nutz und Frommen gereichen kann und
- was Sie ihm zu einer andern Zeit nicht zu sagen vermöchten, da Sie
- nichts finden könnten, woran Sie anknüpfen sollen.
- Sitzen Sie über jeden Menschen in zwiefacher Weise zu Gericht und
- entscheiden Sie über jede Sache gleichfalls in doppelter Weise. Das
- Gericht muß erstens ein menschliches Gericht sein. Durch ein solches
- Gericht muß der Schuldige verurteilt und dem Unschuldigen zu seinem
- Rechte verholfen werden. Sorgen Sie dafür, daß dies in Gegenwart von
- Zeugen geschieht, und daß hierbei auch andere Bauern zugegen sind, damit
- es allen klar werde wie der lichte Tag, in welchem Punkte der eine recht
- und der andere unrecht hat. Daneben müssen Sie aber noch in anderer
- Weise nach einem andern Rechte Gericht halten, nämlich nach göttlichem
- Rechte: hierbei müssen Sie _beide_, den Schuldigen sowohl wie den, der
- _recht_ hat, verurteilen. Beweisen Sie dem zweiten aufs deutlichste, daß
- er selbst daran Schuld war, daß der andere ihn beleidigt hat, und zeigen
- Sie dem ersten, daß er eine doppelte Schuld auf sich geladen hat: vor
- Gott und vor den Menschen. Sprechen Sie dem einen Ihren Tadel aus, weil
- er seinem Bruder nicht verzeihen wollte, wie Christus es uns geboten
- hat. Dem andern aber sprechen Sie Ihre Mißbilligung aus, weil er
- Christus selbst in seinem Bruder gekränkt hat. Beiden aber erteilen Sie
- eine Rüge, weil sie sich nicht von selbst miteinander ausgesöhnt,
- sondern das Gericht angerufen haben, und nehmen Sie beiden das
- Versprechen ab, daß sie dem Priester in der Beichte alles beichten und
- bekennen werden. [Wenn Sie in solcher Weise Recht sprechen werden,
- werden Sie aus höchster Vollmacht richten, wie Gott selbst, denn Gott
- wird Sie dazu bevollmächtigen.] Sie werden hieraus vielen Nutzen ziehen,
- vieles, das Ihnen zugute kommen wird, und viel unmittelbares und
- wahrhaftes Wissen daraus schöpfen. [Wenn viele Staatsleute nicht gleich
- mit dem Aktenschreiben, sondern damit beginnen würden, über die
- einfachen Leute Recht zu sprechen, so würden sie den Geist des Landes,
- die Eigenart ihres Volkes und die menschliche Seele im allgemeinen weit
- besser kennen lernen und nicht Neuerungen bei uns einführen, die sie
- fremden Ländern entlehnen und die nicht zu uns passen.] Die Rechtspflege
- könnte bei uns weit besser sein als in allen anderen Staaten, denn von
- allen Völkern ist es allein das russische, in dem der so wahre Gedanke
- entsprungen und lebendig ist, daß es keinen gerechten Menschen gibt und
- daß Gott allein gerecht ist. Dieser Gedanke hat sich wie ein
- unerschütterlicher Glaube durch unser ganzes Volk verbreitet. Von ihm
- erfüllt, mit ihm ausgerüstet, gewinnt selbst ein einfacher und nicht
- übermäßig gescheiter Mensch Autorität im Volke, und wird hierdurch
- befähigt, Streitigkeiten zu schlichten. Nur wir Menschen der höheren
- Kreise haben kein Gefühl, kein Verständnis für diesen Gedanken, weil wir
- uns nach dem Vorbild Europas allerhand törichte ritterliche Begriffe von
- der Gerechtigkeit zurechtgelegt haben. Wir streiten bloß darüber, wer
- recht hat und wer schuldig ist. Wenn wir jedoch alle unsere
- Streitigkeiten genau untersuchen, so können wir sie alle auf einen
- Nenner bringen, nämlich auf den, daß alle beide Teile schuldig sind. Und
- dann erkennt man, daß die Kommandantin in Puschkins Erzählung »Die
- Hauptmannstochter« ganz recht hatte, als sie den Leutnant aussandte, um
- den Streit des Polizeisoldaten mit dem Weibe zu schlichten, die im Bade
- wegen einer Schöpfkelle aneinander geraten waren, und die ihm dabei
- folgende Instruktion mitgab: »Untersuche, wer recht und wer unrecht hat,
- und bestrafe alle beide.«
- 1845.
- XXVI
- Rußlands Schrecken und Grauen
- An die Gräfin ***
- Auf Ihren langen Brief, den Sie mit solch innerem Grauen geschrieben
- haben, antworte ich, obwohl Sie mich bitten, ihn, nachdem ich ihn
- gelesen habe, sofort zu vernichten, und obwohl Sie mich darum ersuchen,
- Ihnen die Antwort nicht anders als durch die Hand einer zuverlässigen
- Persönlichkeit und nicht durch die Post zuzustellen, nicht nur
- keineswegs in aller Heimlichkeit, sondern, wie Sie sehen, in einem
- gedruckten Buche, das vielleicht von der Hälfte aller Menschen in
- Rußland, die da lesen können, gelesen werden wird. Was mich dazu
- veranlaßte, war der Umstand, daß mein Brief vielleicht auch manchen
- andern als Antwort dienen wird, die sich ebenso wie Sie durch die
- gleichen Befürchtungen und Schrecken beunruhigen lassen. Das, was Sie
- mir im geheimen mitteilen, ist nur ein Teil der ganzen Angelegenheit.
- Wenn ich Ihnen alles erzählen wollte, was ich weiß (und ich weiß ohne
- Zweifel noch bei weitem nicht alles), dann würde sich Ihr Geist
- verfinstern, es würde Ihnen dunkel vor den Augen werden, und Sie würden
- nur noch daran denken, wie Sie aus Rußland entfliehen könnten. Wohin
- aber soll man fliehen? Das ist die Frage. Die Lage Europas ist noch
- schwieriger als die Rußlands. Der Unterschied ist bloß der, daß es dort
- noch niemand einsieht. Alle, und davon sind selbst die Staatsleute nicht
- auszunehmen, bewegen sich noch immer an der Oberfläche eines
- oberflächlichen Wissens, d. h. sie kommen nicht aus jenem in einem
- fehlerhaften Zirkel verlaufenden Wissen heraus, wie es von den
- Zeitschriften in Form frühreifer Folgerungen und übereilter
- Feststellungen angeschwemmt worden ist, die, durch das trügerische
- Prisma aller möglicher Parteien entstellt, gar nicht in ihrem wahren und
- wirklichen Lichte erscheinen. Warten Sie nur, bald werden gerade in
- jenen so wohlgeordneten Staaten, deren äußerer Schein und Glanz uns in
- solche Begeisterung versetzt, die wir uns in allem nachzuahmen bemühen
- und deren Einrichtungen wir uns anzupassen suchen, von unten herauf,
- solche furchtbare Schreie ertönen, daß selbst jenen berühmten
- Staatsleuten, deren Auftreten in den Gerichten und Parlamenten Sie so
- entzückt hat, der Kopf schwindeln wird. In Europa bereiten sich jetzt
- überall solche Wirren vor, gegen die kein menschliches Mittel etwas wird
- ausrichten können, wenn sie erst ausgebrochen sein werden, und gegen die
- alle Schrecken nichts sind, die wir in Rußland vor unseren Augen sehen.
- In Rußland schimmert doch noch hie und da etwas wie ein Lichtstrahl
- hindurch. Es gibt doch noch Mittel und Wege zur Rettung, und diese
- Schrecken sind, Gott sei Dank, gerade heute und nicht zu einer späteren
- Zeit zum Vorschein gekommen. Ihre Worte: »Alle lassen den Mut sinken wie
- in Erwartung eines unvermeidlichen Schicksals« treffen in der Tat das
- Richtige, ebenso wie Ihre andre Bemerkung. Jeder denkt nur daran, seine
- eigene Habe in Sicherheit zu bringen, er denkt nur an seinen eigenen
- Vorteil, wie auf dem Schlachtfeld nach einer verlorenen Schlacht ein
- jeder nur daran denkt, wie er sein eigenes Leben retten könne: »_sauve
- qui peut_«. So liegen die Dinge heute wirklich, und so muß es auch sein.
- Gott hat gewollt, daß es so sei. Jeder soll jetzt an sich selbst und
- zwar gerade an seine eigene Rettung denken. Aber nun handelt es sich um
- eine andere Art der Rettung. Wir sollen heute nicht etwa ein Schiff
- besteigen, aus unserem Lande fliehen und all unsern verächtlichen
- irdischen Besitz in Sicherheit zu bringen suchen, sondern ein jeder von
- uns soll seine Seele retten, ohne sein Land zu verlassen. Er soll sich
- selbst zu retten suchen, während er mitten im Herzen des eigenen Staates
- weilt. Auf dem Schiff seines Berufs und seiner Tätigkeit soll heute ein
- jeder von uns dem Strudel entfliehen, indem er beständig auf den
- himmlischen Steuermann hinblickt. Selbst der, der nicht im Staatsdienst
- steht, soll jetzt in den Dienst des Staates treten und sich an sein Amt
- klammern, wie ein Ertrinkender nach einer Planke greift, denn ohne dies
- kann keiner gerettet werden. Heutzutage muß ein jeder von uns den Dienst
- auf sich nehmen, aber nicht in der Weise, wie in dem Rußland von ehedem,
- sondern gleichsam, wie wenn er Bürger eines andern himmlischen Reiches
- wäre, dessen Haupt Christus selbst ist, und daher müssen wir alle unsere
- Pflichten gegen die Obrigkeit, die über uns gesetzt ist, gegen die
- Menschen, die uns gleichgestellt sind und die sich um uns herum bewegen,
- sowie gegen die Menschen niederen Standes, die unter uns stehen, so
- erfüllen, wie uns kein anderer als Christus selbst dies geboten hat.
- Daher ist es jetzt auch nicht mehr am Platze, dem eine große Bedeutung
- beizumessen, wenn irgend jemand unserem Ehrgefühl oder unserer
- Eigenliebe einen kleinen Stich versetzt -- wir müssen immer im Auge
- behalten, daß wir unser Amt um Christi willen auf uns genommen haben und
- daß wir es darum so verwalten müssen, wie kein anderer als Christus es
- uns geboten hat. Nur auf diese Weise kann ein jeder von uns seine Seele
- retten, und wehe dem, der nicht jetzt schon seine Gedanken darauf
- richtet. Sein Geist wird sich verdunkeln, seine Gedanken werden sich
- verfinstern, und er wird keinen Fleck auf der Erde finden, wohin er vor
- seinen eigenen Schrecken und Grauen entfliehen kann. Denken Sie an die
- _ägyptische Finsternis_, die uns König Salomon so gewaltig geschildert
- hat, als der Herr, um einen Teil der Menschen zu strafen, unerhörte und
- unbegreifliche Schrecken und Finsternisse auf sie herabsandte.
- Stockfinstere Nacht umfing sie plötzlich inmitten des hellen Tages; von
- allen Seiten starrten ihnen furchtbare Fratzen entgegen, morsche
- klapprige Schreckgespenster mit traurigen Gesichtern schwebten ihnen
- unaufhörlich vor Augen, ohne stählerne Ketten fesselte sie alle eine
- furchtbare Angst und raubte ihnen alles: Alle Gefühle, alle Regungen,
- alle Kräfte schwanden ihnen dahin außer der einen einzigen Furcht, und
- dies alles geschah nur mit denen, die Gott strafen wollte. Die andern
- sahen während derselben Zeit keinerlei Schreckbilder, sondern wandelten
- im Licht und im Tage.
- Sehen Sie zu, daß mit Ihnen nichts Ähnliches geschehe. Beten Sie lieber
- und bitten Sie Gott, daß er Sie erleuchten möge, wie Sie sich in Ihrer
- Stellung zu verhalten haben und wie sie in ihr alles so erfüllen können,
- wie Christus es uns geboten hat. Jetzt ist kein Platz mehr für Scherze.
- Jetzt wird die Sache ernst. Statt sich durch die Unordnung um uns herum
- erschrecken zu lassen, sollten wir lieber zuvor Einkehr in uns selbst
- halten. So blicken denn auch Sie in Ihre Seele hinein, weiß Gott,
- vielleicht werden Sie in ihr dieselbe Unordnung entdecken, um deren
- willen Sie die andern schelten. Vielleicht nistet darin ein häßlicher,
- zuchtloser Zorn, der sich jeden Augenblick zur Freude des Feindes
- Christi Ihrer Seele bemächtigen kann. Vielleicht ist sie von jener
- schwächlichen Neigung beherrscht, sich bei jeder Gelegenheit dem
- Kleinmut und der Mutlosigkeit dieser traurigen Tochter des Unglaubens zu
- ergeben. Vielleicht lebt in ihr der eitle Wunsch, allem nachzujagen, was
- glänzt und was Ruhm und Ansehen in der Welt genießt. Vielleicht birgt
- sie Hochmut und Stolz auf die besten Eigenschaften Ihrer Seele, ein
- Stolz, der alles Gute, alle Güter, die wir besitzen, zu vernichten
- vermag. Es ist unvergleichlich viel besser, darüber zu erschrecken, was
- in uns selbst, als darüber, was außer uns und um uns herum vorgeht. Was
- aber die Schrecken und Grauen Rußlands anbelangt, so sind auch sie nicht
- ohne Nutzen. Sie waren für viele ein Erziehungsmittel, wie sie keine
- Schule uns darzubieten vermag. Selbst die Schwierigkeit der
- Verhältnisse, die dem Verstande neue Schleichwege eröffnet hat, hat bei
- vielen schlummernde Fähigkeiten geweckt, und zur selben Zeit, wo an dem
- einen Ende Rußlands noch weiter Polka getanzt und weiter Preference
- gespielt wird, erstehen, ohne das man es merkt, in den verschiedensten
- Wirkungskreisen Männer von echter Lebensweisheit und wahre Helden des
- Lebens. Lassen Sie noch einige zehn Jahre vergehen, und Sie werden
- sehen, wie Europa zu uns kommen wird, nicht mehr um Hanf und Talg,
- sondern um Weisheit bei uns einzukaufen, die heute auf den europäischen
- Märkten nicht mehr feilgeboten wird. Ich könnte Ihnen viele Leute
- nennen, die einstmals die Zierde Rußlands sein und ihm zu
- unvergänglichem Heil gereichen werden. Aber zur Ehre Ihres Geschlechts
- sei es gesagt, daß die Zahl solcher _Frauen_ größer ist als die der
- Männer. Eine ganze Perlenschnur solcher Frauen halte ich in dem Fach
- meines Gedächtnisses verschlossen. Sie alle, um mit Ihren Töchtern zu
- beginnen, die es mir so lebendig zum Bewußtsein gebracht haben, wieviel
- mächtiger die Seelenverwandtschaft ist als jede Blutsverwandtschaft
- (Gott gebe, daß die beste Schwester die Bitte Ihres Bruders mit solcher
- Bereitwilligkeit erfüllen möge, wie Sie jeden kleinsten Wunsch meiner
- Seele erfüllt haben) -- Sie, Ihre Töchter, ferner alle die, von denen
- Sie kaum etwas gehört haben, und endlich die, von denen Sie vielleicht
- nie etwas hören werden, die aber noch weit vollkommener sind als die,
- von denen Sie etwas gehört haben -- Sie alle gleichen einander kaum, und
- jede von ihnen ist für sich genommen eine außergewöhnliche Erscheinung.
- Nur Rußland allein konnte eine solche Mannigfaltigkeit von Charakteren
- hervorbringen, und nur in unserer heutigen Zeit mit all ihren
- schwierigen Verhältnissen, ihrer Entnervung, ihrer allgemeinen
- Korruption und bei der allgemeinen Nichtigkeit und Armseligkeit unserer
- Gesellschaft konnten sie erstehen. Sie alle aber werden überragt von
- einer, die ich nicht persönlich kenne und nicht gesehen habe, und von
- der nur ein dunkles Gerücht bis zu mir gedrungen ist. Ich habe nie
- geglaubt, daß es auf der Erde etwas derart Vollkommenes geben kann. Eine
- so kluge und großmütige Tat zu vollbringen und sie so zu vollbringen,
- wie sie dies verstanden hat: es so einzurichten, daß nicht einmal der
- Verdacht, sie könne an dieser Sache beteiligt sein, auf sie falle, und
- das ganze Verdienst auf die andern abzuwälzen, so daß diese sich des von
- jener vollbrachten Werks rühmen, als ob es ihr eigenes wäre, in der
- festen Überzeugung, daß sie selbst es vollbracht haben, -- es sich so
- klug im voraus zu überlegen, wie man dem entgehen könne, daß der Name
- der Urheberin bekannt wird, während die Sache selbst notwendig laut von
- sich künden und sie bekanntmachen mußte, und dies alles dennoch zu
- vollbringen und unbekannt zu bleiben, nein, eine ähnliche hohe Weisheit
- habe ich noch nie kennen gelernt, bei keinem von unsereinem, d. h. bei
- keinem Mann, ja mir erschienen in diesem Augenblick alle idealen
- Frauengestalten, die je von einem Dichter geschaffen wurden, als blaß
- und matt; im Vergleich zu dieser Wirklichkeit erscheinen sie wie der
- Fiebertraum der Phantasie gegenüber der vollen Klarheit des Verstandes.
- Wie armselig erschienen mir in diesem Augenblick auch alle die Frauen,
- die dem Glanz und Ruhm nachjagen. Und wo konnte ein solches Wunder
- erstehen? In einem unscheinbaren Flecken, in einem Winkel Rußlands und
- gerade zu einer Zeit, wo es für den Menschen besonders schwierig
- geworden ist, sich durchzuwinden und durchzusetzen, wo sich alle unsere
- Verhältnisse so verwirrt und so verwickelt haben und wo solche Schrecken
- und Grauen in Rußland erstanden sind, die sie so sehr in Angst und
- Unruhe versetzen.
- 1846.
- XXVII
- An einen kurzsichtigen Freund
- Du hast dich mit dem kurzsichtigen Auge der heutigen Menschen bewaffnet
- und glaubst nun, ein richtiges Urteil über die Ereignisse zu haben.
- Deine Schlüsse sind morsch und hinfällig, deine Rechnung ist ohne Gott
- gemacht. Was berufst du dich auf die Geschichte? Die Geschichte ist tot,
- sie ist nur ein verschlossenes Buch für dich; ohne Gott in Rechnung zu
- stellen, wirst du nie einen großen tiefen Sinn in ihr finden, sondern
- nur armselige kleine und nichtige Ergebnisse. [Rußland ist nicht
- Frankreich, das französische Element ist nicht das russische Element.]
- Du hast es sogar vergessen, die Eigenart eines jeden Volkes in Betracht
- zu ziehen, und glaubst nun, daß ein und dieselben Ereignisse die gleiche
- Wirkung auf jedes Volk ausüben müssen. Der Hammer, der auf ein Stück
- Glas herabfällt und es in Stücke schlägt, schmiedet das Eisen, auf das
- er herniedersaust. Deine Gedanken [über die Finanzen] beruhen auf der
- Lektüre ausländischer Bücher und englischer Zeitschriften und sind darum
- tote Gedanken. Du solltest dich schämen, daß du, ein so kluger Mensch,
- dich noch immer nicht selbst gefunden hast und es noch nicht gelernt
- hast, mit deinem eigenen Verstande, der sich doch so frei und urwüchsig
- entfalten könnte, zu denken, sondern daß du ihn mit allerhand
- fremdländischem Plunder verstopft und verunreinigt hast. Ich sehe auch
- nicht, daß du bei deinen Projekten mit Gott rechnest. Auch aus den
- Worten deines Briefes kann ich trotz des Geistes und des blendenden
- Witzes nicht erkennen, daß du an Gott gedacht hast, während du den Brief
- schriebst. Ich vermisse die himmlische Erleuchtung und Weihe in deinen
- Gedanken. Nein, du wirst [in deiner Stellung] nichts Gutes vollbringen,
- obwohl du dies gerne möchtest, und deine Taten werden nicht die Früchte
- tragen, die du von ihnen erwartest. Mit den schönsten Absichten kann man
- Böses vollbringen, wie dies schon vielen passiert ist. In der letzten
- Zeit haben nicht etwa die Dummen, sondern gerade die klugen Leute viel
- Verwirrung angerichtet, und dies alles kam nur daher, weil sie ihren
- Kräften und ihrem Verstande zu sehr vertrauten. Du bist stolz, aber
- worauf bist du stolz? Wenn du noch stolz auf deinen Verstand wärest,
- aber nein, du hast deinen wahrhaft bedeutenden und großen Verstand mit
- allerhand Plunder verunreinigt und ihn zu einem Fremdling gemacht, der
- dir selbst fremd ist. Du bist stolz auf einen fremden, toten Verstand
- und gibst ihn für deinen eigenen aus. Gib acht auf dich; du gehst einen
- gefährlichen Weg. Du hast den Ehrgeiz, ein Staatsmann zu werden, und du
- wirst auch Staatsmann werden, weil du tatsächlich die Fähigkeiten dazu
- besitzt. Aber um so strenger mußt du jetzt über dich wachen. Führe die
- Neuerungen nicht ein, von denen dein Kopf schon ganz voll war [noch ehe
- du deine Stellung angetreten hattest], und denke stets daran, daß man
- heute durch eine unvorsichtige Handlung unendlich viel Böses anrichten
- kann. Schon aus deinen gegenwärtigen Projekten spricht mehr
- Ängstlichkeit als Vorsicht. Alle deine Gedanken sind darauf gerichtet,
- in der Zukunft einer großen drohenden Gefahr zu entgehen. Statt dessen
- solltest du lieber nicht um die Zukunft, sondern um die Gegenwart
- besorgt sein. Gott will es, daß wir für die Gegenwart sorgen sollen. Von
- dem, dessen Seele durch die Angst um die Zukunft verdunkelt wird, hat
- die heilige Kraft bereits ihre Hand abgezogen. Wer mit Gott im Bunde
- ist, der schaut heiter in die Zukunft und ist schon in der Gegenwart der
- Schöpfer einer glänzenden Zukunft. Du aber bist stolz: du willst auch
- jetzt noch nichts sehen, du hast ein zu großes Selbstvertrauen: du
- glaubst schon alles zu wissen, du meinst, daß alle Zustände und
- Verhältnisse [in Rußland] dir bekannt sind. Du glaubst, daß es niemand
- gibt, von dem du etwas lernen könntest. Du bist aus allen Kräften darum
- bemüht, jenen (Staats)-Leuten ähnlich zu sein, die sich durch eine kurze
- glänzende Laufbahn berühmt gemacht haben und ebenso schnell wieder
- verschwanden, die alle Mittel dazu besaßen, um sehr viel Gutes zu
- vollbringen, ja die sogar von dem glühenden Wunsche durchdrungen waren,
- Gutes zu wirken, und sogar ihr ganzes Leben lang wie die Ameisen
- arbeiteten und doch trotz alledem keine Spur von sich hinterlassen
- haben, ja deren Namen bereits völlig vergessen ist: wie ein Ring auf dem
- Wasser, so ist die Spur von ihrem Leben inmitten Rußlands verschwunden,
- und noch immer weisen uns die Europäer zu unserer Beschämung auf ihre
- großen Männer hin, obwohl manch einer von uns, der keineswegs ein großer
- Mann ist, klüger ist als sie. Sie aber haben doch wenigstens etwas
- _Dauerndes_ hinterlassen, wir aber schichten einen ganzen Haufen von
- Taten übereinander auf -- die doch zugleich mit uns wie Staub vom
- Angesicht der Erde hinweggeweht werden. »Du bist stolz,« sage ich dir,
- und muß es dir immer wieder sagen: »du bist stolz.« Wache über dich und
- rette dich noch rechtzeitig vor deinem Stolz. Beginne damit, daß du dich
- zu allererst davon zu überzeugen suchst, daß du der dümmste von allen
- bist und daß du von nun ab erst ernsthaft daran gehen mußt, klüger zu
- werden. Höre jeden Mann der Tat so aufmerksam an, wie wenn du überhaupt
- nichts wüßtest und alles von ihm lernen wolltest. Aber meine Worte sind
- noch ein Rätsel für dich. Sie werden keinen Eindruck auf dich machen.
- Dann wäre es nötig, daß dich irgendein Unglück trifft oder daß du von
- einer schweren Erschütterung heimgesucht wirst. Bete zu Gott, er möge
- dir diese Erschütterung senden, daß dir irgendeine unerträgliche
- Unannehmlichkeit [im Dienste] zustoßen möge, daß sich ein Mensch finden
- möge, der dich aufs tiefste beleidigt und in Gegenwart aller beschimpft,
- so daß du nicht weißt, wo du dich vor Scham verstecken sollst und mit
- einem Schlage die zartesten und empfindlichsten Saiten deiner Eitelkeit
- entzweireißest. Er wird dir ein wahrhafter Bruder und Retter sein. O wie
- sehr haben wir es nötig, einmal öffentlich und in Gegenwart aller eine
- Ohrfeige zu empfangen.
- 1844.
- XXVIII
- An einen hochgestellten Mann
- Nehmen Sie um Gottes willen jede Stellung an, die man Ihnen anbietet,
- und lassen Sie sich nicht irre machen. Ob Sie nun in den Kaukasus zu den
- Tscherkessen fahren, oder, auch weiterhin die Stellung eines
- Generalgouverneurs bekleiden werden, Sie sind jetzt überall notwendig.
- Was aber die Schwierigkeiten anbetrifft, von denen Sie reden, so ist
- jetzt alles schwierig. Heute ist alles so kompliziert geworden, es gibt
- überall so viel Arbeit. Je tiefer ich mit meinem Verstande in das Wesen
- der gegenwärtigen Verhältnisse eindringe, um so weniger vermag ich zu
- entscheiden, welches Amt, welcher Beruf heute der schwierigste und
- welcher der leichteste ist. Für einen Menschen, der kein Christ ist, ist
- heutzutage alles schwierig; für einen solchen dagegen, der Christus in
- all seine Angelegenheiten und in alle Taten seines Lebens hineinträgt,
- ist alles leicht. Ich will nicht sagen, daß Sie schon im vollen Sinne
- des Wortes ein Christ sind, aber Sie sind doch nahe daran, es zu sein.
- Sie werden nicht mehr von Ehrgeiz gestachelt. Weder die Aussicht auf
- Titel, Ehren und Auszeichnungen treibt Sie vorwärts. Sie denken nicht
- mehr daran, sich vor Europa auszuzeichnen und in Szene zu setzen und
- eine historische Persönlichkeit aus sich zu machen. Kurz, Sie haben
- bereits jene Stufe, jenen Seelenzustand erreicht, in dem sich ein Mensch
- befinden muß, der heute Rußland von Nutzen sein will. Was also brauchen
- Sie zu fürchten? Ich verstehe nicht einmal, wie ein Mensch sich vor
- etwas fürchten kann, der bereits erkannt hat, daß man überall als Christ
- handeln muß. Ein solcher Mann ist an jeder Stelle ein Weiser und ist in
- allen Dingen sachkundig. Wenn Sie in den Kaukasus reisen -- so sehen Sie
- sich dort zunächst einmal gründlich und aufmerksam um. Ihre christliche
- Demut und Bescheidenheit wird Sie vor jeder Hastigkeit und Übereilung
- bewahren. Sie werden vor allem lernen wie ein Schüler. Sie werden keinen
- alten Offizier an sich vorüber gehen lassen, ohne ihn über seine
- persönlichen Zusammenstöße mit dem Feinde ausgefragt zu haben, denn Sie
- wissen, daß nur aus der Kenntnis der Einzelheiten die Kenntnis des
- Ganzen gewonnen werden kann. Sie werden sich von jedem von ihnen ihre
- Taten und Erlebnisse während des Kriegs- und Biwaklebens erzählen
- lassen, Sie werden die Tsitsianower und die Jermolower ausfragen ebenso
- wie die Offiziere der heutigen Epoche, und wenn Sie alle Daten, die Sie
- brauchen, gesammelt, wenn Sie alle Details kennen gelernt haben werden,
- werden Sie die einzelnen Ziffern und Posten zusammenfassen und die Summe
- daraus ziehen. Aus dieser wird sich ganz von selbst ein Feldzugsplan für
- den Feldherrn ergeben. Sie werden sich nicht erst den Kopf zu zerbrechen
- brauchen, es wird Ihnen klar sein, wie der lichte Tag, wie Sie zu
- handeln haben. Und wenn Sie den ganzen Plan in Ihrem Kopfe haben werden,
- so werden Sie sich auch dann noch nicht übereilen. Ihre christliche
- Demut wird Ihnen dies nicht erlauben. Sie werden ihn niemand mitteilen,
- werden alle bedeutenden Offiziere um Rat fragen, wie sie an Ihrer Stelle
- handeln würden, werden keine Meinung und keinen Rat gering achten, von
- wem er auch kommen möge, selbst wenn er von einem Menschen in niedriger
- Stellung herrührt, denn Sie wissen, daß Gott zuweilen auch einem
- einfachen Manne einen klugen Gedanken eingeben kann. Zu diesem Zwecke
- werden Sie jedoch keinen Kriegsrat einberufen, da Sie wissen, daß es ja
- nicht auf Debatten und Streitereien ankommt, sondern Sie werden der
- Meinung jedes einzelnen, der mit Ihnen reden will, Gehör schenken. Kurz,
- Sie werden jeden anhören, dann aber so handeln, wie es Ihnen Ihr eigener
- Verstand gebietet. Ihre eigene Vernunft aber wird Ihnen sicherlich klug
- raten, denn Sie werden alle anhören. Sie werden nicht einmal imstande
- sein, unvernünftig zu handeln, denn unvernünftige Handlungen entspringen
- nur aus Hochmut und übermäßigem Selbstvertrauen, aber die christliche
- Demut wird Sie überall retten und Sie vor Verblendung bewahren, der
- sogar viele sehr kluge Menschen zum Opfer fallen, die, wenn sie nur eine
- Hälfte einer Sache kennen gelernt haben, bereits glauben, die ganze
- Sache zu kennen und voller Hast und Übereilung zur Tat drängen, während
- doch selbst von einer Sache, die wir scheinbar von Grund aus zu kennen
- glauben, uns die gute Hälfte unbekannt und verborgen sein kann. Nein,
- Gott wird Sie vor dieser groben Verblendung bewahren. Weswegen also
- brauchen Sie sich vor dem Kaukasus zu fürchten?
- Oder nehmen wir an, Sie würden auch weiterhin irgendwo in Rußland
- Generalgouverneur bleiben, so wird Sie auch hier die gleiche christliche
- Weisheit erleuchten. Ich weiß sehr wohl, daß es jetzt äußerst schwierig
- ist, in Rußland den Vorgesetzten zu spielen, -- weit schwieriger als
- jemals und vielleicht auch schwieriger als im Kaukasus: es kommen soviel
- Mißbräuche vor, die Durchstechereien und die Bestechlichkeit haben so
- überhand genommen, daß ihre Beseitigung unsere menschliche Kraft
- übersteigt. Ich weiß auch, daß heutzutage eine besondere Art
- ungesetzlicher Geschäftspraxis unter Umgehung der Gesetze üblich
- geworden ist und sich bereits beinahe gesetzliche Geltung verschafft
- hat, so daß die Gesetze nur noch zum Scheine da sind, und wenn man sich
- die Dinge, über die andere oberflächlich hinwegsehen, ohne etwas Böses
- zu ahnen, bloß aufmerksam anschaut, so muß auch dem gescheitesten
- Menschen der Kopf schwindeln. Aber Sie werden auch hier klug zu handeln
- verstehen. Die christliche Demut und Bescheidenheit wird Sie auch in
- solchen Fällen lehren, nicht den Schlüssen des stolzen Verstandes Folge
- zu leisten, sondern sich geduldig umzusehen und auf Ihrer Hut zu sein.
- Sie wissen, wie vielen fremden Einflüssen ein jeder Mensch heutzutage
- ausgesetzt ist und wie sie alle auf seine Berufstätigkeit zurückwirken,
- und daher werden Sie sich dafür interessieren, die Männer, die die
- wichtigsten Ämter bekleiden, alle kennen zu lernen und zwar sie nach
- allen Richtungen kennen zu lernen: in ihrem häuslichen und in ihrem
- Familienleben, in ihrer Art, zu denken, in ihren Neigungen und ihren
- Gewohnheiten. Zu diesem Zwecke werden Sie sich jedoch keiner Spitzel
- bedienen. Nein, Sie werden sie selbst ausfragen, und sie werden Ihnen
- alles sagen, und sich Ihnen offen mitteilen, denn in Ihrem Wesen liegt
- etwas, was allen Vertrauen einflößt. Hierdurch werden Sie alles
- erfahren, was ein Schreier oder ein sogenannter Polterer niemals
- erfahren würde. Sie werden nie einen einzelnen wegen einer
- ungesetzlichen Handlung verfolgen, ehe Ihnen nicht die ganze Kette vor
- Augen liegt, innerhalb deren der von Ihnen ins Auge gefaßte Beamte nur
- ein notwendiges Glied ist. Sie wissen bereits, daß sich die Schuld
- heutzutage auf alle verteilt, daß man unmöglich gleich zu Anfang sagen
- kann, wer mehr Schuld trägt als die andern: es gibt Schuldige, die
- unschuldig und es gibt Schuldige, die schuldig sind. Aus diesem Grunde
- werden Sie jetzt weit vorsichtiger und bedächtiger sein, als Sie es
- jemals gewesen sind. Sie werden tiefer und genauer in die Seele des
- Menschen hineinzublicken suchen, da Sie wissen, daß _sie_ der Schlüssel
- zu allem ist. _Die Seele_ muß man heute kennen lernen, immer wieder die
- Seele, denn ohne dies kann man nichts ausrichten. Die Seele aber kann
- nur ein Mensch kennen lernen, der bereits begonnen hat, an seiner
- eigenen Seele zu arbeiten, wie Sie dies jetzt tun. Wenn Sie in dem
- Gauner nicht nur den Gauner, sondern zugleich den Menschen sehen, wenn
- sie alle seine geistigen Kräfte und Fähigkeiten, die ihm dazu gegeben
- wurden, um Gutes zu vollbringen und die er angewandt hat, um Übles zu
- tun, oder überhaupt hat brachliegen lassen, erkennen werden, dann wird
- es Ihnen gelingen, ihm so ins Gewissen zu reden und ihn gegen sich
- selbst auszuspielen, daß er nicht wissen wird, wo er sich vor sich
- selbst verbergen soll. Die Sache wird plötzlich eine ganz andere Wendung
- nehmen, wenn man dem Menschen zeigen wird, worin er sich nicht gegen die
- andern, sondern gegen sich selbst vergangen hat. Hierdurch kann man ihn
- so sehr in seinem ganzen Wesen erschüttern, daß er plötzlich Mut und
- Lust bekommen wird, ein anderer zu werden, und dann erst werden Sie
- erkennen, wie dankbar die Natur eines Russen selbst noch im Gauner sein
- kann. Ihre gegenwärtige Tätigkeit als Generalgouverneur wird etwas
- gänzlich anderes darstellen als Ihre ehemalige Tätigkeit. Der
- Hauptfehler in Ihrer ehemaligen Regierungstätigkeit (die indessen sehr
- viel Nutzen gebracht hat, obwohl Sie sie jetzt verurteilen und lästern),
- bestand meiner Ansicht nach gerade darin, daß Sie das Wesen Ihres Berufs
- nicht ganz richtig bestimmt hatten. Sie hielten den Generalgouverneur
- für den dauernden Vorgesetzten und den eigentlichen wirtschaftlichen
- Verwalter und Regenten der Provinz, dessen wohltätiger Einfluß nur bei
- einem längeren Aufenthalt an ein und demselben Orte der Provinz spürbar
- werden kann. Einer unser Staatsmänner hat dieses Amt folgendermaßen
- definiert: »Der Generalgouverneur ist der Minister des Innern, der sich
- auf der Durchreise befindet.« Diese Definition ist genauer und
- entspricht mehr dem, was die Regierung selbst von den Vertretern dieses
- Amtes verlangt. Dieses Amt ist mehr ein provisorisches als ein
- dauerndes. Der Generalgouverneur wird darum in die Provinz entsandt, um
- den Pulsschlag des Staats innerhalb der Provinz zu beschleunigen, in den
- Gouvernements den ganzen Regierungsapparat in schnellste Bewegung zu
- setzen, und zwar sowohl in den Instanzen der Provinz, die miteinander in
- Verbindung stehen, wie in denen, die unabhängig sind und unter der
- Verwaltung der einzelnen Ministerien stehen; allen einen Anstoß zu
- geben, durch seine unumschränkte Macht die schwierige Situation vieler
- Instanzen in ihrem Verkehr mit den weit entfernten Ministerien zu
- erleichtern, und ohne neue Prinzipien und ohne von sich selbst aus etwas
- Eigenes einzuführen, alles innerhalb der gesetzlichen Grenzen, die
- bereits vorgeschrieben und ein für allemal gezogen sind, in eine
- schnellere Bewegung zu bringen. Diese Gewalt, die in der höchsten
- Kontrolle und Überwachung alles dessen besteht, was schon vorhanden und
- bereits eingeführt ist, haben Sie mit der mühevollen Pflicht des
- Regenten verwechselt, der sich selbst in dem ganzen Haushalt
- zurechtfinden und mit ihm fertig werden muß und der alle kleinen
- Ausgaben auf sich zu nehmen hat. Sie haben einen Teil davon, was zu den
- Obliegenheiten des Gouverneurs und nicht zu denen des Generalgouverneurs
- gehört, an sich gerissen, und haben damit die Bedeutung Ihres höchsten
- Amtes verringert, Sie haben Ihre Stellung für eine lebenslängliche
- gehalten. Sie wollten in Ihren eigenen Schöpfungen und Einrichtungen ein
- Denkmal, ein Erinnerungszeichen an Ihren Aufenthalt hinterlassen. Ein
- edles Streben. Aber wenn Sie schon damals das gewesen wären, was Sie
- jetzt sind, d. h. wenn Sie mehr Christ gewesen wären, dann hätten Sie
- für ein anderes Denkmal Sorge getragen. Wege, Brücken und allerhand
- Verkehrsmittel zu schaffen und sie so klug anzulegen, wie Sie dies getan
- haben, ist in der Tat eine notwendige Sache, aber manchen inneren Weg zu
- ebnen, auf dem der Russe bei seinem Streben nach voller Entfaltung
- seiner Kräfte bisher noch aufgehalten und daran gehindert wird, aus den
- Landstraßen wie aus allen anderen Äußerlichkeiten der Bildung, um die
- wir heute so eifrig bemüht sind, Nutzen zu ziehen, ist eine noch
- notwendigere Sache. Wenn Puschkin sah, daß man sich nicht um das Wesen
- einer Sache, sondern um etwas bemühte, was nur eine Folge der
- eigentlichen, der Hauptsache war, pflegte er sich gewöhnlich des
- russischen Sprichworts zu bedienen: »Wenn nur erst der Zuber da ist, an
- den Schweinen wird es nicht fehlen.« Die Brücken, die Wege und all diese
- Verkehrsmittel, das sind die Schweine und nichts anderes: wenn nur erst
- Städte da sind, dann werden sie schon von selbst kommen. In Europa hat
- man sich viel um sie bemüht und viel Sorgen um sie gemacht. Als jedoch
- die Städte entstanden, entstanden auch die Verkehrswege von selbst:
- Privatleute haben sie erbaut ohne jede Unterstützung der Regierung, und
- jetzt haben sie sich in solch ungeheurem Maße vermehrt, daß man sich
- schon ernstlich die Frage vorzulegen beginnt: Wozu brauchen wir nur so
- schnelle Verkehrsmittel? Was hat die Menschheit durch all diese
- Eisenbahnen und andere Bahnen gewonnen, was hat sie auf allen Gebieten
- ihrer Kulturentwicklung gewonnen, und was hat es für einen Wert, daß
- heute eine Stadt verarmt, und eine andere dafür zu einem Trödelmarkt
- wird und daß die Zahl der Müßiggänger auf der ganzen Welt so zunimmt. In
- Rußland wäre dieser ganze Plunder schon längst von selbst entstanden und
- zwar mit all dem Zubehör von Bequemlichkeiten, wie sie selbst in Europa
- nicht vorhanden sind, wenn sich nur viele von uns zuerst, wie es sich
- gehört, um ihre inneren Angelegenheiten bekümmert hätten. »Denket zuerst
- daran,« sagt der Heiland, »alles andere wird euch von selbst zufallen.«
- Ihre Leistungen auf moralischem Gebiete waren viel bedeutender. Wen ich
- auch gehört habe, alle urteilen mit großer Achtung über Ihre
- Verfügungen, alle sagen, Sie hätten viele Mißbräuche ausgerottet und
- sehr viel wahrhaft edle und vorzügliche Beamte angestellt. Ich habe
- davon gehört, obwohl Sie es mir aus Bescheidenheit nicht mitgeteilt
- haben. Aber Sie hätten noch mehr geleistet, wenn Sie damals in Betracht
- gezogen hätten, daß Ihre Tätigkeit nur provisorischer Art ist und daß
- Sie nicht nur dafür hätten sorgen sollen, daß alles gut steht, solange
- Sie da sind, sondern vielmehr dafür, daß auch nach Ihrem Scheiden alles
- in bester Ordnung sei. Sie hätten sich fortwährend vorstellen sollen,
- daß Ihr Amt nach Ihnen von einem schwachen und unfähigen Nachfolger
- besetzt werden wird, der die von Ihnen eingeführte Ordnung nicht nur
- nicht aufrechterhalten, sondern Sie auch in Verfall kommen lassen wird,
- und daher hätten Sie von vornherein daran denken müssen, etwas so
- Starkes und Dauerndes zu schaffen und das Geschaffene so zu befestigen
- und so stark zu verwurzeln, daß nach Ihnen schon niemand mehr imstande
- wäre, umzustoßen, was Sie einmal in Gang gebracht haben. Sie hätten die
- Axt an die Wurzel des Übels legen sollen und nicht an die Stämme und
- Zweige, und Sie hätten dem allgemeinen Getriebe einen solchen Impuls
- geben sollen, daß die Maschine nach Ihrem Fortgang von selbst arbeitet
- und daß kein Aufseher es mehr nötig hätte, neben ihr zu stehen, um sie
- zu beaufsichtigen, und hierdurch erst hätten Sie sich ein ewiges Denkmal
- Ihrer Generalgouverneurschaft errichtet. Jetzt weiß ich, daß Sie ganz
- anders handeln werden, aber darum dürfen Sie dieses Amt nicht gering
- achten, wenn es Ihnen aufs neue angeboten wird. Noch niemals war ein
- Generalgouverneur eine so wichtige und notwendige Persönlichkeit wie in
- unserer Zeit. Ich will Ihnen einige Leistungen nennen, zu denen
- heutzutage niemand fähig ist außer dem Generalgouverneur.
- Die erste ist folgende: Alle Stände und Berufe in ihre gesetzlichen
- Grenzen zurückzuführen und einem jeden Provinzbeamten die Pflichten, die
- sein Beruf ihm auferlegt, zu vollem Bewußtsein zu bringen; das ist
- keineswegs unnütz. In der letzten Zeit sind alle Berufe und Ämter der
- Provinz in ganz unmerklicher Weise aus ihren Grenzen und Schranken
- getreten, die ihnen vom Gesetze vorgeschrieben werden. Die Kompetenzen
- der einen sind viel zu sehr beschnitten und begrenzt, andere wieder in
- ihrer Bewegungsfreiheit auf Kosten der Übrigen allzusehr erweitert
- worden. Die eigentlichen Hauptinstanzen haben durch die Schaffung einer
- großen Zahl abhängiger und provisorischer Stellungen an Macht und Kraft
- verloren. In der letzten Zeit hat es sich besonders fühlbar gemacht, daß
- gerade dort, wo man hemmend eingreifen sollte, die Macht und die
- Kompetenzen viel zu unbeschränkt waren und die Handlungsfreiheit zu groß
- war, und andererseits machte sich wiederum der Umstand bemerkbar, daß
- einem die Hände gebunden waren, wo man fördernd eingreifen mußte. Es ist
- jetzt soviel schwieriger geworden, jeden Beruf in den ihm durch das
- Gesetz angewiesenen Wirkungskreis zurückzuführen, weil die Beamten
- selbst an ihren Begriffen von ihrem Beruf irre geworden sind. Sie
- übernehmen ihn als Erbschaft von ihrem Vorgänger und zwar genau in der
- Gestalt, die ihm von jenem gegeben worden ist. Sie nehmen mehr oder
- weniger Rücksicht auf diese Form und Gestalt und nicht auf das
- eigentliche Urbild, das ihnen schon völlig aus dem Bewußtsein
- entschwunden ist. Aus diesem Grunde haben schon viele wohlmeinende und
- sogar kluge Vorgesetzte die Ämter, die man bloß sich selbst
- wiederzugeben brauchte, gänzlich aufgehoben oder doch von Grund aus
- umgestaltet. Das aber kann nur von dem höchsten und souveränen
- Vorgesetzten ausgehen, wenn er es nicht verschmäht, sich selbst
- gründlich über das Wesen eines jedes Berufes zu unterrichten. Alle
- unsere Ämter und Berufe stellen in ihrer ursprünglichen Form wirklich
- gute und schöne Einrichtungen dar und sind geradezu wie geschaffen für
- unser Land. Sehen wir uns zu diesem Zwecke einmal den ganzen Organismus
- eines Gouvernements etwas näher an.
- Die erste Person ist der Gouverneur. Seine Kompetenzen sind sehr
- umfangreich. Er ist der Vorgesetzte und der unumschränkte Regent und
- Leiter von allem, was mit der wirtschaftlichen und polizeilichen
- Verwaltung des ganzen Gouvernements, d. h. sowohl mit der städtischen
- (hierunter verstehe ich alles, was sich auf die inneren Einrichtungen
- der Städte und die Aufrechterhaltung der Ordnung in ihnen bezieht) als
- auch mit der Verwaltung der Landschaften zusammenhängt, wozu ich alles
- rechne, was in den Gegenden, die außerhalb des Stadtbildes liegen,
- geschieht: die Erhebung der Steuern, die Verteilung der Lasten, die
- Anlage von Straßen und allerhand Bauangelegenheiten und Reparaturen. Im
- ersten Falle hängen der Polizeimeister der Provinz und die Bürgermeister
- aller Städte völlig von ihm ab und stehen ihm gänzlich zur Verfügung; im
- zweiten Falle kann er über den Hauptmann der Landpolizei
- und die Assessoren der Landschaft verfügen, die durch die
- Gouvernementsverwaltung, welche nach der Art der Kollegialverwaltungen
- aus Räten zusammengesetzt ist und kein eigenes Bureau mit einem Sekretär
- darstellt, mit ihm verkehren, so daß die Verantwortlichkeit bei jedem
- schweren Mißbrauch, den sich der Gouverneur zuschulden kommen läßt,
- unbedingt auf die Räte und die Beamten fällt und daß er trotz all seiner
- unumschränkten Gewalt dennoch in gewissem Sinne beschränkt ist. Er ist
- mehr als ein bloßes Mitglied der Verwaltung und ein Zeuge des
- Geschäftsganges in den andern staatlichen Organen, die gar nicht von ihm
- abhängen und unter ihren eigenen besonderen Ministerien stehen. Wenn
- diese Instanzen irgendwelche Abmachungen treffen oder Verträge
- schließen, die sich auf die Verpachtung oder den Rückkauf von
- Staatsländereien, Seen oder überhaupt über irgendwelche Ein- oder
- Verkäufe beziehen und irgendwelche Abkommen hierüber eingehen, so muß er
- schon zugegen sein. Es darf kein staatlicher Auftrag vergeben und kein
- Vertrag geschlossen werden, ohne daß _er_ anwesend ist. Demnach werden
- auch die Instanzen, die hinsichtlich ihrer inneren Geschäftsführung gar
- nicht von ihm abhängen, doch durch seine Anwesenheit daran gehindert,
- irgendwelche Mißbräuche zu begehen.
- Der ganze Apparat der Justiz, wie z. B alle Kreisgerichte und ihre
- höchste Instanz, das Zivilgericht, scheint, da dieses völlig von seinem
- Ministerium abhängig ist, ganz unabhängig vom Gouverneur zu sein, und
- doch werden diese Instanzen auf Schritt und Tritt durch den Gouverneur
- daran gehindert, Mißbräuche zu begehen, da dieser während seiner
- Inspektionsreisen durch die Provinz, die mindestens zweimal im Jahre
- stattfinden, das Recht hat, dem Gericht einen Besuch abzustatten und zu
- verlangen, daß ihm zwei oder drei Gerichtsentscheidungen vorgelegt
- werden, die er auf gut Glück herausgreifen kann, um sie bei sich zu
- Hause mit seinem Sekretär nachzuprüfen und auf diese Weise alle in
- Schrecken zu halten. Kurz, obwohl er keinerlei Oberhoheit über die
- Instanzen hat, die von anderen Vorgesetzten abhängen, hat er doch das
- Recht, überall Mißbräuche zu verhindern, wo solche immer vorkommen
- mögen. Auf den Adel kann er lediglich einen moralischen Einfluß ausüben.
- Im übrigen ist es so eingerichtet, daß er es in seinem amtlichen Verkehr
- mit dem Adel, mit dem eigenen Vertreter des Adels, dem Adelsmarschall
- der Provinz zu tun hat und sich lediglich durch diesen mit dem ganzen
- Adel in Beziehung und ins Einvernehmen setzt; an diesem Punkte tritt die
- Weisheit des Gesetzgebers mit besonderer Deutlichkeit zutage, denn auf
- eine andere Weise wäre es dem Generalgouverneur gänzlich unmöglich, sich
- mit dem Adel in Beziehung und ins Einvernehmen zu setzen, wenn man
- nämlich die große Verschiedenheit in der Erziehung, in den Sitten, der
- Denkweise und die ungeheure Mannigfaltigkeit und Vielgestaltigkeit der
- Charaktere in unserem Adelstande in Betracht zieht, wie sie in keinem
- europäischen Adelsgeschlechte vorkommt und wie sie sich bei uns in
- unserem Adel verkörpert hat. Der Rang des Adelsmarschalls ist dem des
- Gouverneurs beinahe gleich, denn der Adelsmarschall hat nächst dem
- Gouverneur Anspruch auf den ersten Platz in der Provinz; schon allein
- dadurch werden beide auf die Notwendigkeit hingewiesen, gute
- Freundschaft zu halten, da ihre gesellschaftlichen Beziehungen sonst
- etwas Gezwungenes haben, und da sie sich in ihrem amtlichen Verhältnis
- unfrei und beengt fühlen würden. Auch die Ämter des Polizeihauptmanns
- und der Assessoren, die beide vom Adel gewählt werden, aber ganz von dem
- Gouverneur abhängen, weisen darauf hin, wie notwendig es ist, daß beide
- Teile sich gegenseitig unterstützen. Der Adelsmarschall kann auch in
- solchen Fällen sehr viel ausrichten, wo seine eigene Macht beschränkt
- ist, indem er sich auf den Gouverneur beruft und mit ihm droht; und
- ebenso vermag der Gouverneur durch den Adelsmarschall weit erfolgreicher
- und kraftvoller auf den Adel einzuwirken.
- Fehler und Versehen können überall vorkommen, überall können sich
- Unrecht, Lüge und Trug einschleichen; selbst der Gouverneur kann fehlen
- und irren. Doch auch dieser Fall ist vorgesehen: dafür gibt es eine
- besondere Persönlichkeit, die von niemand abhängt, und die allen, selbst
- dem Gouverneur gegenüber ihre Unabhängigkeit wahren muß -- das ist der
- Staatsanwalt, der das Auge des Gesetzes ist, ohne das kein Stück
- Aktenpapier über die Grenzen der Provinz hinausgelangen kann. Keine
- Angelegenheit kann vor einer Instanz des Gouvernements zur Verhandlung
- kommen, ohne ihm vorgelegt zu werden. Es kann kein Beschluß gefaßt
- werden, ohne daß er zuvor jede Seite mit dem Vermerk »Gelesen« versehen
- hat. Er selbst aber hat niemand in der ganzen Provinz über sich; er hat
- niemand Rechenschaft abzulegen außer dem Justizminister; nur mit diesem
- steht er in unmittelbarem Verkehr, und er kann jederzeit gegen alles,
- was in der Provinz unternommen wird, Beschwerde einlegen.
- Mit einem Wort, es fehlt nirgends an etwas, und aus allem spricht die
- Weisheit des Gesetzgebers; aus der Einsetzung der einzelnen staatlichen
- Autoritäten sowohl wie aus der Art ihres Verkehrs miteinander. Ich rede
- nicht einmal von den Institutionen, die auf einen noch größeren
- Weitblick der Regierung schließen lassen; ich will nur an das
- Gewissensgericht erinnern, denn etwas Ähnliches ist mir in keinem
- anderen Staate bekannt geworden. Meiner Überzeugung nach ist das der
- Gipfel der Menschenliebe und der Herzenskenntnis. Alle Fälle, in denen
- ein Konflikt mit dem Gesetz als eine Last und als Härte empfunden werden
- würde, alle Angelegenheiten, an denen Jugendliche oder Geisteskranke
- beteiligt sind, alles, worüber nur das menschliche Gewissen zu
- entscheiden vermag, und jene Fälle, wo selbst die Anwendung des
- gerichtlichen Gesetzes zur Ungerechtigkeit würde; kurz alles, was im
- höchsten Sinne des Christentums in liebevoller und friedlicher Weise und
- unter Vermeidung aller Weiterungen vor höheren Instanzen entschieden und
- erledigt werden muß -- fällt unter die Kompetenzen dieses Gerichts. Wie
- weise ist doch die Einrichtung, daß die Wahl des »Gewissensrichters« vom
- Adel abhängt, denn der Adel wählt hierzu gewöhnlich einen Mann, den die
- allgemeine Stimme für den menschenfreundlichsten und uneigennützigsten
- Menschen erklärt. Wie gut ist es ferner, daß er keinerlei Gehalt oder
- Lohn für seine Mühe erhält, und daß diese Tätigkeit für den Menschen mit
- keinerlei weltlichen Lockungen verbunden ist! Eine Zeitlang war ich von
- dem lebhaften Wunsch beseelt, dieses Amt zu übernehmen. Wieviel
- verwickelte Streitfälle kann man da schlichten! Die Parteien werden ihre
- Streitigkeiten ohne Rücksicht auf ihren eigenen Vorteil dem
- Gewissensgericht unterbreiten, so wie es bekannt wird, daß der Richter
- tatsächlich nach bestem Wissen und Gewissen entscheidet und daß er sich
- durch die Verwaltung seines göttlichen Richteramts berühmt gemacht hat.
- Denn wer von uns sehnt sich nicht nach Frieden und Versöhnung?
- Kurz, je genaueren Einblick man in den Verwaltungsorganismus unserer
- Provinzen gewinnt, um so mehr staunt man über die Weisheit der
- Gesetzgeber: man hat das Gefühl, Gott selbst habe die Herrscher und
- Regenten mit unsichtbarer Hand geleitet und gelenkt. Hier fehlt es an
- nichts, ist alles vollendet, alles ist so darauf angelegt, daß wir uns
- gegenseitig die Hand reichen, uns zu guten Handlungen anfeuern und uns
- gegenseitig helfen und fördern, nur die Wege zu Mißbräuchen sollen uns
- verbaut werden. Ich kann mir nicht einmal denken, was ein besonderer
- Beamter hier noch sollte, jede neue Person wäre hier nicht am Platze,
- jede Neuerung wäre eine überflüssige Zutat. Und doch haben sich, wie Sie
- ja selbst wissen, in den Provinzen Regierungsbeamte gefunden, die es
- verstanden, diesen ganzen Mechanismus noch durch eine Schar von Beamten
- mit besonderen Aufträgen und eine lange Reihe von provisorischen
- Kommissionen und Untersuchungskommissionen zu belasten, die die
- Funktionen jeder Instanz noch weiter geteilt und zerlegt und den Beamten
- so den Kopf verwirrt haben, daß sie jeden Begriff von den genauen
- Grenzen ihres Berufs verloren. Es ist sehr gut, daß Sie es nicht auch so
- gemacht haben, Sie verstanden die Sache nämlich schon damals viel
- besser, als die andern. Sie wissen zu gut: einen neuen Beamten
- anstellen, der einem andern auf die Finger sehen soll, damit er nicht
- soviel stiehlt, das bedeutet soviel, wie _zwei_ Diebe statt eines
- schaffen. Überhaupt ist dies System der gegenseitigen Beschränkung und
- Überwachung eine höchst kleinliche Methode. Man kann die Wirkungssphäre
- eines Menschen nicht durch die eines anderen beschränken, schon im
- folgenden Jahre wird sich die Notwendigkeit herausstellen, auch den
- unter Aufsicht und Kontrolle zu stellen, den man angestellt hat, um die
- Macht des ersten zu beschränken, und so würden die gegenseitigen
- Einschränkungen kein Ende nehmen. Das ist ein trauriges und törichtes
- System; gleich allen andern negativen Systemen konnte es sich nur in
- Kolonialstaaten herausbilden, die sich aus allerhand zusammengelaufenen
- Völkern zusammensetzten, kein nationales Ganzes bildeten und von keinem
- gemeinsamen Volksgeist beseelt wurden, bei solchen Völkern gibt es weder
- so etwas wie Selbstaufopferung noch vornehme Gesinnung, solche Nationen
- lassen sich nur von ihrem persönlichen Eigennutz leiten. Man muß
- Zutrauen zum Adel menschlicher Gesinnung haben, sonst kann es überhaupt
- keinen Adel der Gesinnung geben. Wer da weiß, daß man ihn mit Mißtrauen
- ansieht, wie einen Gauner, und ihm überall Aufseher zugesellt, die ihn
- überwachen sollen, der läßt unwillkürlich die Hände sinken. Man muß den
- Menschen die Hände lösen und sie nicht noch fester binden. Man muß
- darauf dringen, daß sich jeder allein beherrschen lernt, damit er nicht
- von andern festgehalten zu werden braucht; er muß weit strenger gegen
- sich sein, als das Gesetz, und selbst einsehen lernen, worin er sich an
- seinem Amte versündigt. Kurz, man muß ihm einen Begriff von dem Wesen
- seiner höheren Aufgabe beibringen. Das aber vermag allein der
- Generalgouverneur, wenn er es nicht verschmäht, sich selbst über das
- wahre Wesen jedes Amts und Berufs zu unterrichten, sich an die Stelle
- jedes Beamten zu versetzen, den er zum vollen Verständnis seiner
- Pflichten erziehen möchte, und in Gedanken mit ihm zusammen den Dienst
- zu verrichten. Hierdurch wird Ihr ganzer Verkehr mit den Beamten einen
- persönlichen Charakter annehmen; Sie werden dazu keiner Sekretäre und
- keiner Schreibereien auf totem Aktenpapier bedürfen; infolgedessen
- werden Sie nur ein kleines eigenes Bureau haben, das keine Ähnlichkeit
- mit jenen ungeheueren riesenhaften Kanzleien haben wird, wie sie sich
- andere Regierungsbeamte einrichten. Diese ungeheueren Bureaus aber sind,
- wie Sie selbst wissen, ein großer Schaden, denn sie tragen dazu bei,
- allen Beamten ihre eigentliche Arbeit abzunehmen, eine neue Instanz und
- folglich neue Schwierigkeiten zu schaffen, ja sie sind der Anlaß,
- daß ganz unmerklich neue Persönlichkeiten mit wichtigen
- Machtvollkommenheiten auftauchen, z. B. irgendein gewöhnlicher Sekretär,
- den häufig niemand bemerkt und durch dessen Hände dennoch alle Akten
- gehen; ein solcher Sekretär schafft sich eine Geliebte an, dies führt zu
- Intrigen und Streitigkeiten, und bald ist der Teufel in eigener Person
- da, der doch jederzeit auf der Lauer liegt. Das Ende vom Liede aber ist
- dies: daß abgesehen von der Heraufbeschwörung neuer Verwirrungen und
- Verwickelungen noch unübersehbare Summen von Staatsgeldern verschlungen
- werden. Gott bewahre Sie davor, sich ein Bureau einzurichten. Setzen Sie
- sich nie anders als persönlich mit jemand auseinander. Wie kann man bloß
- gering von einem Gespräch mit einem Menschen denken, besonders wenn es
- sich dabei um etwas, was ihm nahe liegt, um seinen Beruf und seine
- Pflichten, und folglich um seine Seele selbst handelt? Wie kann man nur
- ein törichtes Zeitungsgeschwätz und totes Gerede über allerhand
- Schwindelnachrichten, wie sie aus den verlogenen europäischen
- Zeitschriften geschöpft werden, einem solchen Gespräch vorziehen? Die
- Pflicht der Menschen ist ein Gegenstand, über den man sich so
- unterhalten kann, daß es beiden Teilnehmern so scheint, als sprächen sie
- in Gottes eigener Gegenwart mit den Engeln. Nun denn, so reden auch Sie
- auf diese Weise mit Ihren Untergebenen, d. h. reden Sie so mit ihnen,
- daß ihre Seele Nahrung und Belehrung aus dem Gespräch schöpft! Vor allem
- aber -- und dies dürfen Sie nie vergessen -- sprechen Sie russisch mit
- ihnen. Damit meine ich nicht jene Sprache, der wir uns jetzt in der
- Praxis des täglichen Lebens bedienen und die hierbei der Verhunzung
- verfällt, auch nicht die Büchersprache oder die Sprache, die sich zu
- einer Zeit herausgebildet hat, als bei uns noch allerhand Mißbräuche an
- der Tagesordnung waren, sondern jene echte wahrhafte russische Sprache,
- deren unsichtbare Schwingungen das ganze russische Land durchdringen,
- trotz unserer Ausländerei in unserem eigenen Lande, jene Sprache, die
- zwar noch nicht mitbeteiligt ist an dem Werke unseres Lebens und die wir
- doch alle als die wahre russische Sprache empfinden. In dieser Sprache
- heißt der Vorgesetzte: _Vater_. Seien auch Sie ihnen das, was ein Vater
- seinen Kindern ist. Ein Vater aber führt keine papierene Korrespondenz
- mit seinen Kindern, sondern verständigt sich direkt und unmittelbar mit
- einem jeden von ihnen. Wenn Sie es so machen werden, werden Sie jedem
- das echte Verständnis für seinen Beruf mitteilen und eine wahrhaft große
- Leistung vollbringen.
- Und nun will ich Ihnen noch eine Aufgabe nennen, die niemand lösen kann,
- außer einem Generalgouverneur, und die heute nicht bloß einem Bedürfnis,
- sondern geradezu einer dringenden Notwendigkeit entspricht; es ist dies
- die Aufgabe, dem Adel eine richtige Auffassung von seiner Bestimmung
- beizubringen. Der Adel in seinem wahrhaft russischen Wesenskern ist
- etwas sehr Schönes, trotz der fremdländischen Schale, von der er
- zeitweilig überwachsen ist. Aber unser Adel hat noch kein Gefühl dafür.
- Vielen dämmert zwar schon eine dunkle Ahnung davon auf, andre jedoch
- wissen noch immer nicht das Geringste davon, wiederum andere nehmen sich
- den Adelsstand fremder Länder zum Vorbild, und schließlich gibt es noch
- solche, die sich nicht einmal die Frage stellen, ob es überhaupt einen
- Adel auf der Welt zu geben brauchte? Aber selbst wenn sich unter ihnen
- einige Leute befinden, die ein Paar vernünftige und klare Gedanken über
- diese Frage haben, so dringen diese Gedanken doch noch nicht in die
- Massen, und die Masse hört sie noch nicht. In der letzten Zeit hat sich
- in unserem Adelsstande zu alledem wieder ein Geist des Mißtrauens gegen
- die Regierung verbreitet. Während der letzten europäischen Revolutionen
- und Wirren aller Art waren einige Bösewichte besonders bemüht, in den
- Kreisen unseres Adels das Gerücht zu verbreiten, als suche die Regierung
- die Bedeutung des Adels herabzusetzen und ihn bis zur völligen
- Bedeutungslosigkeit herabzudrücken. Allerhand Flüchtlinge, Emigranten
- und Leute, die es nicht gut mit Rußland meinten, schrieben allerlei
- Aufsätze und füllten die Spalten der ausländischen Zeitungen mit ihnen
- an, in der Absicht, Feindschaft zwischen der Regierung und dem Adel zu
- säen: einerseits wollte man dem russischen Kaiser beweisen, daß es eine
- phantastische Partei von Bojaren gäbe, die an der regierenden Gewalt
- selbst rüttelten, und andererseits wollte man dem Adel einreden, daß der
- Kaiser ihm nicht wohlwolle und diesen Stand überhaupt nicht schätze, das
- heißt, diese Leute wollten eine solche Suppe in Rußland einbrocken und
- solche Wirren hervorrufen, die ihnen Gelegenheit geben sollten, selbst
- eine Rolle zu spielen. Man spekulierte darauf, daß Furcht und
- gegenseitiges Mißtrauen etwas Schreckliches sind und allmählig selbst
- die heiligsten Bande zu zerreißen vermögen. Aber Gott sei Dank, die
- Zeiten sind vorüber, wo ein paar verrückte Menschen einen ganzen Staat
- in Aufruhr bringen konnten. Dieser Versuch blieb nichts als ein
- phantastisches Projekt; dennoch aber haben die Funken des gegenseitigen
- Mißtrauens und Mißverstehens gezündet, und ich kenne viele Adelige, die
- ganz ernstlich davon überzeugt sind, daß der Kaiser den Adelstand nicht
- liebt, und die sogar tief betrübt darüber sind. Bringen Sie diese Sache
- ins reine und klären Sie diese Leute über die ganze Wahrheit auf, ohne
- ihnen das Geringste vorzuenthalten. Sagen Sie ihnen, daß der Kaiser
- diesen Stand mehr liebt als alle anderen Stände, aber freilich nur den
- Adel in seinem echt russischen Wesen, nur jene schöne edle Form und
- Gestalt des Adels, die dem eigentlichen Geiste unseres Landes
- entspricht. Es kann ja auch gar nicht anders sein. Sollte er etwa die
- Zierde, die Blüte seines Landes nicht lieben? Denn bei uns ist der Adel
- die Blüte des eigenen Volkes und nicht ein fremdes eingewandertes
- Element. Allein der Adel muß selbst zeigen, was er ist, und die
- Bedeutung seines Berufs beweisen, denn so wie er jetzt ist, bei diesem
- völligen Mangel eines einheitlichen gemeinsamen Besitzes, bei dieser
- Verschiedenartigkeit der Anschauungen, der Erziehung, der Lebensweise
- und der Gewohnheiten, bei dieser falschen und verworrenen Ansicht über
- sich selbst kann der Adel niemand eine wirkliche, wahrhafte Vorstellung
- davon mitteilen, was der Adel in unserem Lande eigentlich darstellt.
- Daher kann auch der weiseste Mann heute nicht wissen, was er mit diesen
- Leuten anfangen soll. Der Adel muß sich selbst seine wahre und volle
- Bedeutung wieder erobern. Und dabei können Sie allen in wahrem Sinne
- behilflich sein, denn Sie sind doch selbst ein russischer Edelmann, und
- da Sie Verständnis für die Bedeutung unseres Adels besitzen, werden Sie
- sie auch den Leuten am besten klarmachen können. Dazu bedarf es nicht
- etwa vieler Worte, denn das, was Sie ihnen erklären werden, liegt ja
- schon im Keim angelegt in ihrer Brust. Unser Adel ist in der Tat eine
- ganz ungewöhnliche Erscheinung. Dieser Stand hat sich bei uns ganz
- anders herausgebildet als in anderen Ländern. Er führt seinen Ursprung
- nicht etwa auf eine gewaltsame Invasion eines fremden Stammes zurück, er
- ist nicht aus Vasallen und ihrem Heeresgefolge hervorgegangen, die sich
- in beständiger Auflehnung gegen die höchste Gewalt befinden und die
- Bedrücker der unteren Klassen sind; unser Adel leitet seinen Ursprung
- von Diensten her, die er dem Kaiser und dem ganzen Lande geleistet hat,
- von Leistungen, die auf sittlichen Vorzügen und Verdiensten und nicht
- auf roher Gewalt beruhten. Unser Adel kennt den Stolz auf irgendwelche
- Vorzüge und Privilegien seines Standes nicht, wie man ihn wohl in
- anderen Ländern findet, der Hochmut der deutschen Aristokraten ist ihm
- fremd; bei uns prahlt niemand mit seinem Geschlecht oder mit dem alten
- Ursprung seiner Familie, obwohl unsere Aristokratie die älteste ist --
- dies tun höchstens ein paar Anglophile, die diese Gewohnheit während
- ihrer Reisen in England angenommen haben; es mag wohl hin und wieder
- einmal vorkommen, daß sich jemand seiner Ahnen rühmt, doch auch dann nur
- solcher, die ihrem Kaiser und ihrem Land wirkliche treue Dienste
- geleistet haben, dagegen soll er es nur versuchen, mit einem Ahnherrn zu
- prahlen, der ein schlechter Kerl war, seine eigenen Standesgenossen
- würden sofort ein Epigramm gegen ihn loslassen. Es gibt nur eine Sache,
- der sich ein jeder zu rühmen wagt, -- das ist das Gefühl für sittlichen
- Anstand, das ihm Gott selbst in die Brust gelegt hat. Und wenn es darauf
- ankommt, diese höchste innere Vornehmheit durch die Tat zu beweisen, so
- bleibt bei uns kein einziger hinter dem andern zurück, selbst wenn es
- der schlechteste von ihnen allen ist und wenn er ganz tief in Schmutz
- und Asche drinsteckt. Der Adel ist bei uns etwas wie ein Gefäß für
- diesen sittlichen Anstand, der sich über das ganze russische Land
- verbreiten muß, damit alle anderen Stände einen Begriff davon erhalten,
- warum der höchste Stand die Blüte des Volkes genannt wird. Wenn Sie
- ihnen annähernd das sagen werden, was ich Ihnen hier sage, und was die
- lauterste Wahrheit ist, und wenn Sie sie auf den Wirkungskreis hinweisen
- werden, der sich jetzt vor ihnen allen auftut: auf den Wirkungskreis, in
- dem sie ihren Namen verewigen und ihm ein dauerndes Leben in der
- Nachwelt sichern können, wenn Sie es ihnen völlig klarmachen werden, daß
- das ganze russische Land um Hilfe schreit und daß man dem Lande nur
- durch große, hochherzige Taten helfen kann, daß man aber vor allem denen
- mit großen Taten vorangehen soll, denen Adel und Vornehmheit schon bei
- der Geburt geschenkt wurden, so werden Sie sehen, daß ihre Herzen mit
- dem Ihren zusammenklingen werden, wie zwei Becher bei einem Festmahl.
- Verheimlichen Sie ihnen nichts, sondern eröffnen Sie ihnen die volle
- Wahrheit. Sollen sie etwa dieselben Dinge aus lügenhaften Berichten
- ausländischer Zeitungen erfahren und soll man etwa allerhand Brauseköpfe
- ihnen den Kopf verwirren lassen? Decken Sie ihnen die ganze Wahrheit
- auf. Sagen Sie ihnen, daß Rußland wirklich unter den räuberischen
- Praktiken und unter den Betrügereien zu leiden hat, die heute mit einer
- Dreistigkeit ihr Haupt erheben, wie noch nie zuvor, und daß dem Kaiser
- das Herz so weh tut, wie niemand von ihnen es ahnt oder glaubt und auch
- nur ahnen kann. Ja und könnte es denn anders sein beim Anblick dieses
- Knäuels neuer Verworrenheiten und Verwickelungen, die sich zwischen den
- Menschen aufgetürmt, sie voneinander getrennt und jedermann die
- Möglichkeit geraubt haben, Gutes und wahrhaft Nützliches für sein
- Vaterland zu leisten, angesichts endlich dieser allgemeinen
- Verfinsterung und Entfremdung gegenüber dem Geist des Vaterlandes,
- angesichts endlich all dieser Erpresser und Gauner, dieser käuflichen
- Rechtsverdreher und Räuber, die wie die Raben von allen Seiten
- herbeigeflogen kommen, um uns bei lebendigem Leibe zu fressen und im
- Trüben nach ihrem elenden Vorteil zu fischen. Wenn Sie ihnen das sagen
- und ihnen sodann beweisen werden, daß Sie jetzt vor der großen Aufgabe
- stehen, dem Kaiser einen wahrhaft edlen und hohen Dienst zu leisten:
- nämlich ebenso hochherzig wie ihre Väter einstmals in Reih und Glied
- wider die Feinde des Landes traten, nunmehr in die unscheinbarsten
- Posten und Stellungen einzurücken, selbst wenn diese von elenden
- Pöbelmenschen entehrt und in den Kot gezerrt sein sollten, so werden Sie
- sehen, wie unser Adel sich aufraffen wird. Man wird sich kaum retten
- können von all den Leuten, die den Wunsch haben, sich dem Staatsdienst
- zu widmen und die allerunbedeutendsten Stellungen einzunehmen. Und nach
- geleisteten Diensten werden sie keinen Lohn, keine Auszeichnungen, ja
- nicht einmal irgendwelche Vorrechte und Privilegien für sich verlangen,
- zufrieden, daß sie ihre hohen inneren Vorzüge ans Licht stellen konnten.
- Kurz -- machen Sie ihnen bloß die Hoheit ihrer Bestimmung klar, und Sie
- werden sich von der Vornehmheit ihres Wesens überzeugen. Sie können sie
- auch auf eine zweite große Aufgabe hinweisen, der sie sich widmen
- können: auf die Erziehung der ihnen anvertrauten Bauern; sie sollen
- Menschen aus ihnen machen, die ganz Europa zum Vorbild ihres Standes
- werden, denn heute fangen manche Leute in Europa ernsthaft an, über die
- alte patriarchalische Lebensordnung nachzudenken, deren Fundamente
- überall, außer in Rußland, verschwunden sind, und man beginnt schon laut
- über die Vorzüge unseres ländlichen Lebens zu reden, nachdem man die
- Ohnmacht und Unfähigkeit aller heutigen Institutionen und Einrichtungen,
- sich aus eigener Kraft zu verbessern und zu reformieren, erkannt hat.
- Daher müssen wir den Adel dazu bewegen, das wahrhaft russische
- Verhältnis zwischen Gutsbesitzer und Bauer zu erforschen, nicht aber den
- verlogenen unwahren Zustand, wie er sich infolge ihrer schmählichen
- Gleichgültigkeit gegen ihre eigenen Güter, die sie der Obhut fremder
- Tagelöhner und Verwalter überließen, herausgebildet hat, -- wirklich und
- wahrhaftig für die Bauern zu sorgen, wie für ihre eigenen
- Blutsverwandten und nicht wie für fremde Leute; ja Sie sollten sie
- lehren, ihre Bauern anzusehen wie ein Vater seine Kinder. Hierdurch
- allein können sie diesen Stand dazu machen, was er wirklich sein soll,
- diesen Stand, der bei uns wie mit Vorbedacht weder den Namen der Freien
- noch der Sklaven, sondern den Namen Krestjane (Bauern), nach dem eigenen
- Namen Christi trägt. Dies alles kann der Generalgouverneur dem Adel sehr
- gut klarmachen, wenn er nur zur rechten Zeit daran denkt, sich's
- überlegt und selbst zum vollen Verständnis der Bedeutung unseres Adels
- gelangt. Und dies wird die zweite unter Ihren großen Leistungen sein.
- Und nun zur dritten Leistung, die gleichfalls niemand außer dem
- Generalgouverneur zu vollbringen vermag. Alle europäischen Staaten haben
- heute unter der Kompliziertheit aller Gesetze und Verordnungen zu
- leiden. Überall macht sich eine eigentümliche Erscheinung bemerkbar: die
- eigentlichen bürgerlichen Gesetze sind über ihre Grenzen und Schranken
- hinausgewachsen und sind in fremde Gebiete eingedrungen, die außer ihrem
- Bereich liegen. Einerseits haben sie einen Einbruch in ein Gebiet
- vollzogen, das lange Zeit unter der Herrschaft der Volkssitten stand,
- andererseits aber sind sie in ein Bereich eingedrungen, das ewig unter
- dem Zepter der Kirche verbleiben muß. Dieser Prozeß hat sich nicht etwa
- gewaltsam vollzogen, dieser Austritt der bürgerlichen Gesetze aus ihrem
- Bett geschah ganz von selbst, da sich überall leere unausgefüllte Lücken
- darboten, die einem solchen Einbruch keinen Widerstand bereiteten. Die
- Mode unterwühlte die alten Sitten, die Geistlichkeit wandte sich immer
- mehr von dem geraden einfachen Leben in Christo ab und überließ so alle
- privaten Verhältnisse der Menschen und das Privatleben ihrem Schicksal.
- Die bürgerlichen Gesetze nahmen beide, wie verlassene Waisen unter ihre
- Obhut, und gerade dies war der Grund, weswegen die Gesetze so verwickelt
- wurden. Denn an und für sich sind sie gar nicht sehr zahlreich und
- weitläufig, und wenn wir wieder dazu zurückkehren, was von Rechts wegen
- der Herrschaft der Sitte untersteht und ein ewiges Besitztum der Kirche
- ist, wird das ganze bürgerliche Gesetz in einem Buche Platz finden
- können, das nur lediglich die großen Abweichungen von der sozialen
- Ordnung und die eigentlichen staatlichen Verhältnisse enthält. Heute
- sieht jedermann, daß eine große Menge von Fällen, von Mißbräuchen und
- Intrigen nur dadurch entstehen konnte, daß die philosophisch gebildeten
- Gesetzgeber Europas von vornherein sämtliche möglichen Abweichungen bis
- in ihre feinsten Einzelheiten feststellen wollten und damit jedermann,
- selbst den besten und vornehmsten Leuten, einen Weg zu unendlichen und
- ganz unberechtigten Prozessen ebneten; früher hätten diese Leute es für
- unanständig gehalten, einen solchen Prozeß zu beginnen, heute dagegen
- wagen sie es dreist, da sie aus irgendeinem Paragraphen, oder einer
- Verfügung die Möglichkeit oder die Hoffnung herauslesen, ein einstmals
- verlorenes Gut wieder zu erlangen oder auch nur einem andern sein
- Besitzrecht streitig zu machen. Und nun geht so ein Mensch gleich aufs
- Ganze, wie ein Held sich zum Sturm rüstet, und nimmt überhaupt keine
- Rücksicht auf seinen Gegner; mag dieser dabei auch sein letztes Hemd
- verlieren oder mit seiner ganzen Familie betteln gehn. Ein leidlich
- menschenfreundlicher Mensch ist heute fähig, ganz offen die größten
- Grausamkeiten zu begehen, ja er rühmt sich ihrer noch, während er sich
- schon des bloßen Gedankens schämen würde, wenn ein Diener der Kirche
- beide Parteien, statt ihnen ihren persönlichen Vorteil vorzuhalten, vor
- das Angesicht Christi stellen wollte und wenn es Sitte würde, daß, wie
- es in der Tat die Regel sein sollte, in allen verwickelten, dunklen,
- kasuistischen Fragen, kurz in allen Fällen, wo die Weiterungen vor den
- Instanzen drohen, die _Kirche_ und nicht das bürgerliche Gesetz die
- Menschen miteinander zur Versöhnung bringt. Es ist nur die Frage: wie
- ist das zu bewerkstelligen? Wie soll man es einrichten, daß dem
- bürgerlichen Rechte tatsächlich nur die Fälle zugewiesen werden, die
- wirklich unter das bürgerliche Recht fallen, daß der Herrschaft der
- Sitte wiedergegeben werde, was unter der Herrschaft der Sitte verbleiben
- muß, und daß der Kirche wieder zurückerstattet werde, was ihr ewiglich
- angehört? Kurz, wie soll alles wieder an seinen rechten Platz gebracht
- werden? In Europa ist es unmöglich, solches zu vollbringen: Dazu müßten
- Ströme von Blut vergossen werden, Europa würde in unnützen Kämpfen
- erliegen und doch nichts erreichen. In Rußland aber ist die Möglichkeit
- hierzu vorhanden: in Rußland könnte es sich ganz unmerklich und
- schmerzlos vollziehen -- nicht durch irgendwelche Neuerungen,
- Umwälzungen oder Reformen, ja nicht einmal mit Hilfe von allerhand
- Sitzungen oder durch Bildung von Komitees, nicht durch Debatten,
- Zeitungsgerede und Zeitungsgeschwätz, in Rußland kann ein jeder
- Generalgouverneur eines Gebietes, das seiner Obhut anvertraut ist, den
- Grund dazu legen; und wie einfach! -- Durch nichts andres als nur durch
- sein eignes Leben. Durch die patriotische Schlichtheit seiner
- Lebensweise und die einfache Art seines Umgangs mit allen Leuten kann er
- die Herrschaft der Mode mit ihrer leeren, hohlen Etikette beseitigen und
- die russischen Sitten befestigen, die wirklich gut sind und mit Nutzen
- auf unser gegenwärtiges Leben angewandt werden können. Er kann eine
- mächtige Wirkung in der Richtung ausüben, daß die Beziehungen zwischen
- den Stadtbewohnern untereinander wie die der Gutsbesitzer unter sich
- schlichter und einfacher werden, denn die Beseitigung dieser
- komplizierten gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie heute bestehen,
- muß unbedingt auch die Streitigkeiten und die Unzufriedenheit
- beseitigen, die sich wie ein Wirbelwind zwischen den Bewohnern der
- Städte erhoben haben. Und ebenso wie zur Einführung und Befestigung der
- Sitten kann der Generalgouverneur dazu beitragen, daß die Kirche heute
- ihre rechtmäßige Stellung im Leben des Russenvolkes wiedergewinnt: er
- kann dies erstlich durch sein eigenes Beispiel, durch sein Leben, und
- zweitens auch durch bestimmte Maßnahmen erreichen -- aber nicht etwa
- durch erzwungene und gewaltsame Maßregeln, sondern durch solche, die
- weit wirksamer sind als jede Gewalt. Hierüber wollen wir später einmal
- miteinander reden, wenn Sie wirklich eine Stellung angenommen haben
- werden; bis dahin aber will ich Ihnen nur dies sagen: wenn schon die
- einfache Sitte mächtiger ist als jedes geschriebene Gesetz -- und was
- ist denn übrigens die Sitte, wenn man sie ganz streng betrachtet?
- Mitunter hat sie überhaupt keine Bedeutung für unsere Zeit, man kennt
- den Grund nicht, weswegen sie eingeführt wurde, man weiß nicht, woher
- sie stammt, und fühlt und merkt nichts von einer Autorität, die sie
- eingesetzt hätte; mitunter aber ist sie sogar ein Überbleibsel aus den
- Zeiten des Heidentums, das im absoluten Gegensatz zum Christentum und zu
- allen Grundlagen des modernen Lebens steht -- wenn nun nach alledem
- schon die Sitte etwas so Mächtiges ist, daß es schwierig ist, sie selbst
- im Laufe von vielen Jahren auszurotten -- wie würden sich wohl die Dinge
- gestalten, wenn man Sitten einführen wollte, die sich auf die Vernunft
- gründen, die einstimmig und einmütig von allen anerkannt werden und die
- höhere Billigung und den Segen Christi und Seiner Kirche erhalten
- würden? Eine solche Sitte würde sich von Jahrhundert zu Jahrhundert
- fortpflanzen, und keine Macht der Erde würde sie vernichten können, was
- die Welt auch für Erschütterungen heimsuchen sollten. Aber das ist ein
- gewaltiger Gegenstand, über ihn muß man vernünftig reden, und dazu bin
- ich zu dumm. Vielleicht werde ich später einmal, wenn Gott mir hilft und
- mich erleuchtet, etwas darüber zu sagen haben. An Arbeit wird es Ihnen
- also nicht fehlen. Darin also suchen Sie stark zu werden; greifen Sie
- daher mit fester Hand zu, wenn Ihnen das Amt eines Generalgouverneurs
- angeboten werden sollte. Sie werden es jetzt so verwalten, wie es
- verwaltet sein muß, und sich dabei im Einklang mit den Wünschen und
- Forderungen der Regierung befinden -- d. h. Sie werden das ganze Gebiet
- wie eine frischen Mut spendende Kraft durchziehen, alles aufrütteln,
- alle erfrischen, Begeisterung um sich verbreiten, allem einen frischen
- Impuls geben und dann in eine andere Provinz reisen, um dort das Gleiche
- zu wirken. Sie werden selbst sehen, daß dieser Beruf immer nur
- provisorisch sein kann, sonst hätte er keinen Sinn, denn der innere
- Organismus eines Gouvernements ist etwas in sich Abgeschlossenes und
- Vollendetes, und bedarf keines weiteren Regierungsbeamten außer dem
- Bürgergouverneur. So gehen Sie denn mit Gott und fürchten Sie sich vor
- nichts! Aber selbst wenn Sie ein andres Amt übernehmen sollten, halten
- Sie sich stets an die gleichen Grundsätze. Vergessen sie niemals, daß
- die Zeit ihres Wirkens begrenzt ist. Richten Sie alles so ein, ordnen
- Sie alle Angelegenheiten in der Weise, daß sich alles, nicht nur so
- lange Sie da sind, sondern auch nach Ihrem Weggang in geordneter Weise
- abwickelt, daß Ihr Nachfolger kein Ding von seiner Stelle zu rücken
- vermag, sondern sich unwillkürlich auch selbst innerhalb der von Ihnen
- gezogenen Grenzen betätigen und die von Ihnen vorgezeichnete,
- vernünftige Richtung einhalten muß. Christus wird Sie lehren, Ihr Werk
- dauernd, für alle Zeiten zu begründen und zu befestigen. Seien Sie allen
- Ihren Untergebenen, seien Sie Ihren Beamten im wahren Sinne des Wortes
- ein Vater und seien Sie einem jeden dabei behilflich, seine Pflicht und
- Schuldigkeit treu und redlich zu tun. Reichen Sie jedem freundlich die
- Bruderhand, wenn er sich von seinen eigenen Fehlern und Lastern befreien
- will. Suchen Sie auf alle Einfluß zu gewinnen, aber nur in der Absicht,
- jeden zu lehren, wie er selbst auf sich Einfluß gewinnen kann. Sorgen
- Sie ferner dafür, daß keiner sich allzusehr auf Sie verläßt und stützt
- wie auf seinen eigenen Stab, so wie die römisch-katholischen Damen sich
- ganz auf ihre Beichtväter stützen, ohne deren Erlaubnis sie es nicht
- einmal wagen, aus einem Zimmer ins andere zu gehen, warten sie doch
- stets auf die Beichtstunde, um sich beim Priester Rat einzuholen; der
- Mensch muß vielmehr wissen, daß die Wärterin ihm nur für eine bestimmte
- Zeit und nicht für immer beigegeben wird, und daß, wenn der Lehrer ihn
- im Stiche läßt, der Zeitpunkt gekommen ist, wo er noch eifriger und
- sorgfältiger auf sich acht geben muß als früher, stets eingedenk, daß es
- nun niemand mehr gibt, der über ihn wacht, und jede Lehre, die ihm
- gegeben ward, treu wie ein Heiligtum in seinem Gedächtnis bewahrend.
- Sorgen Sie auch dafür, daß es beim Abschied, wenn Sie Ihr Amt
- niederlegen sollten, keine Tränen und kein Gejammer gibt, sondern daß
- ein jeder noch frischer und mutiger in die Zukunft sehe, und daher
- sparen Sie sich alles, was Sie einem jeglichen zu seiner Belehrung sagen
- möchten, sorgsam für den Tag des Abschieds auf: an diesem Tage werden
- alle Ihre Worte ihnen heilig sein, und was sie sonst nicht anerkannt und
- wonach sie sich sonst nicht gerichtet hätten, das werden sie jetzt
- willig aufnehmen und danach handeln. Für mich ist die Stunde des
- Abschieds von meinen Freunden -- der schönste Augenblick; jeder meiner
- Freunde, der jetzt von mir Abschied nimmt, tut es frohen Mutes, und
- seine Seele ist heiter. Das werden Ihnen alle bezeugen, die in der
- letzten Zeit Abschied von mir genommen haben. Ich bin sogar davon
- überzeugt, daß wenn ich einmal sterben werde, alle die mich lieb gehabt
- haben, fröhlich und heiteren Mutes von mir Abschied nehmen werden.
- Keiner von Ihnen wird weinen, und alle werden nach meinem Tode weit
- fröhlicher sein als bei meinen Lebzeiten, und endlich will ich Ihnen
- noch etwas über die Liebe und die allgemeine Sympathie für uns sagen,
- nach der viele so sehr haschen. Sich die Liebe anderer erschmeicheln zu
- wollen -- das ist ein falsches Streben, das den Menschen nicht
- beschäftigen sollte. Streben Sie danach, -- die andern Menschen zu
- lieben, und nicht danach, daß andere Menschen _Sie_ lieben. Wer einen
- Lohn für seine Liebe verlangt, der ist ein gemeiner Mensch und noch weit
- vom Christentum entfernt. O wie dankbar bin ich, daß Gott mir schon in
- meiner Jugend diese merkwürdige und mir selbst kaum verständliche
- Abneigung gegen jegliche unpassende, überflüssige Gefühlsergüsse
- eingepflanzt hat; ich habe ihnen stets zu entfliehen gesucht, wie etwas
- Unangenehmem und Widerwärtigem, selbst wenn sie von Verwandten oder
- Freunden herrührten! Wie wichtig ist es doch, daß unsere ganze Liebe
- keinem Wesen dieser Erde angehören darf! Sie sollte sich von einem
- Vorgesetzten auf den andern übertragen, und sowie ein Vorgesetzter
- merkt, daß sie sich ihm zuwendet, sollte er sie sofort von sich auf den
- über ihm stehenden höheren Vorgesetzten abzulenken suchen, bis sie so
- endlich zu ihrer rechtmäßigen Quelle gelangt und bis ein von allen
- geliebter Kaiser sie feierlich und angesichts der ganzen Welt Gott
- selbst darbringt.
- 1845.
- XXIX
- Wessen Los auf Erden das beste ist
- Aus einem Briefe an U--
- Ich vermag Ihnen durchaus nicht zu sagen, wessen Los auf Erden das
- schönere ist und wem das bessere Teil beschieden ward. Früher als ich
- noch törichter und dümmer war, zog ich einen Beruf einem andern vor;
- jetzt dagegen erkenne ich, daß das Los aller Menschen gleich
- beneidenswert ist. Alle erhielten den gleichen Lohn -- sowohl der, dem
- ein Talent anvertraut ward und der ein zweites hinzuerwarb, wie der, dem
- fünf Talente verliehen wurden und der noch fünf weitere dafür
- zurückbrachte. Ich glaube sogar, daß das Los des ersten noch besser ist,
- gerade weil er auf Erden keinen Ruhm genossen und nicht von dem
- Zaubertrank irdischer Ehren gekostet hat, wie der letzte. Wie wunderbar
- ist doch die göttliche Gnade, die jedem den gleichen Lohn bestimmte, der
- redlich seine Schuldigkeit getan hat, ob er nun der Zar oder der ärmste
- Bettler ist. Dort werden sie alle gleich sein, denn sie alle werden
- eingehen in die Freude ihres Herrn und werden alle _gleichermaßen_ in
- Gott sein. Freilich hat Christus selbst an einer andern Stelle gesagt:
- »_Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen_«, aber wenn ich mir diese
- Wohnungen vorstelle, wenn ich darüber nachdenke, was die Wohnungen
- Gottes sein mögen, kann ich mich nicht der Tränen enthalten, und ich
- weiß, daß ich mich nie entscheiden könnte, welche ich wählen soll, wenn
- ich wirklich einmal gewürdigt sein sollte, am himmlischen Reiche
- teilzunehmen, und wenn die Frage an mich erginge: »welche von ihnen
- möchtest du wählen?« Ich weiß nur das eine, daß ich antworten würde:
- »die letzte, Herr, wenn sie nur in Deinem Hause ist.« Ich glaube, man
- kann sich nichts Schöneres wünschen, als jenen Auserwählten zu dienen,
- die bereite gewürdigt wurden, Seinen Ruhm in all Seiner majestätischen
- Größe zu schauen, zu ihren heiligen Füßen liegen und sie zu küssen!
- 1845.
- XXX
- Ein Geleitspruch
- Auf deinen Brief werde ich dir jetzt nicht antworten, die Antwort
- erhältst du später. Ich sehe und begreife alles: deine Leiden sind groß.
- Bei einer solch zarten, feinfühligen Seele so grobe Beschuldigungen
- anhören, mit so hohen Gefühlen unter so groben, plumpen Menschen weilen
- zu müssen, wie die Bewohner dieses armseligen Städtchens, in dem du dich
- niedergelassen hast und deren rohe täppische Berührung, ohne daß sie es
- wissen, schon allein ausreicht, um die edelsten Schätze und
- Kostbarkeiten des Herzens in Scherben zu schlagen; dulden zu müssen, daß
- mit plumper Bärentatze auf die zarten Saiten der Seele losgeschlagen
- wird, die dem Menschen dazu verliehen werden, um himmlische Laute
- auszuströmen, bis sie verstimmt sind und reißen, und über dies alles
- noch all die Gemeinheiten und Schändlichkeiten mit ansehen zu müssen,
- die sich täglich ereignen und die Verachtung derer dulden zu müssen, die
- selbst der Verachtung wert sind -- ich weiß wohl, daß ist alles sehr
- bitter. Und deine physischen Leiden sind nicht weniger qualvoll. Dein
- Nervenleiden, deine Melancholie und diese furchtbaren Ohnmachtsanfälle,
- die dich jetzt heimsuchen -- das alles ist hart, sehr hart, ich vermag
- dir nichts andres zu sagen, als daß es wirklich sehr hart, sehr bitter
- ist! Aber hier hast du einen Trost. Das alles ist nur der Anfang; du
- wirst noch mehr Kränkungen zu erdulden haben, dir stehen noch härtere
- Kämpfe [mit der Bestechlichkeit] mit allerhand Schuften und Gaunern und
- schamlosen Leuten bevor, Leuten, für die es nichts Heiliges gibt, die
- nicht nur einer solchen Schändlichkeit fähig sind, von der du schreibst
- [d. h. eine fremde Unterschrift zu fälschen] -- die den Mut haben, ein
- so furchtbares Verbrechen auf einen Unschuldigen zu laden, mit eigenen
- Augen anzusehen, wie das Opfer ihrer Verleumdung bestraft wird und nicht
- mit der Wimper zu zucken -- ja die nicht nur einer solchen Niedertracht,
- sondern noch weit niederträchtigerer Handlungen fähig sind, deren bloße
- Beschreibung einem mitleidigen Menschen für immer den Schlaf rauben
- könnte (o wenn doch solche Leute nie geboren würden!) Alle himmlischen
- Heerscharen zittern vor Schrecken beim Gedanken an die furchtbaren
- Strafen, die sie in jener Welt erwarten und vor denen sie niemand mehr
- zu retten vermag. Unzählige neue und ganz unvorhergesehene Niederlagen
- warten deiner. In deiner exponierten [und unscheinbaren] Stellung kann
- alles passieren. Deine Nervenanfälle und deine Leiden werden noch
- stärker werden, deine Melancholie wird noch zunehmen, deine Mutlosigkeit
- wird sich bis zur Verzweiflung steigern, und deine Schmerzen und Qualen
- werden noch furchtbarer und vernichtender werden. Allein denke stets
- daran, daß wir nicht in diese Welt berufen werden, um Feiertage und
- Feste zu feiern -- wir werden hierher berufen, um Schlachten zu
- schlagen, den Sieg werden wir _dort_ feiern. Daher dürfen wir keinen
- Augenblick vergessen, daß wir ausgezogen sind, um zu kämpfen, und hier
- gibt es nichts zu wählen und zu überlegen, wo uns weniger Gefahren
- drohen! Wie ein guter Soldat muß sich ein jeder von uns in den Kampf
- stürzen, wo er am heißesten tobt. Der himmlische Feldherr schaut von
- oben auf uns alle herab, und Seinem Blick entgeht nicht die geringste
- von unseren Handlungen. Du darfst daher das Schlachtfeld nicht meiden,
- sondern mußt mutig in den Kampf stürmen; auch darfst du dir nicht etwa
- einen schwachen Feind aussuchen, sondern du mußt dir einen Starken zum
- Gegner wählen. Der Kampf mit einem kleinen Schmerz und mit geringen
- Leiden wird dir keine großen Ehren eintragen. [Für einen Russen ist es
- nicht sehr rühmlich, sich mit einem friedfertigen Deutschen einzulassen,
- wenn man im voraus weiß, daß er davonlaufen wird; es mit einem
- Tscherkessen aufzunehmen, vor dem alle zittern, weil sie ihn für
- unüberwindlich halten, den Kampf mit einem solchen Tscherkessen
- aufzunehmen und ihn zu besiegen, das ist eine Leistung, deren man sich
- rühmen kann!] Nun denn, vorwärts mein tapferer Kämpe! Gott helfe dir,
- mein braver Kamerad! Gott voran, mein herrlicher Freund!
- XXXI
- Wesen und Eigenart der russischen Poesie
- Trotz des äußeren Anscheins der Nachahmung besitzt unsere Dichtung sehr
- viel Eigenartiges. Ihr natürlicher Quell regte sich schon in der Brust
- des Volkes, als noch ihr Name in keines Menschen Munde war. Ein Strahl
- dieses Quells bricht in unsern Liedern hervor, in denen zwar wenig Liebe
- zum Leben und zu den Dingen dieser Welt, dafür aber eine mächtige
- Sehnsucht nach einer grenzenlosen, zügellosen Freiheit, ein Streben,
- sich von den Tönen in eine unendliche Ferne forttragen zu lassen, lebt.
- Sein Strom bricht auch in unsern Sprichworten hervor, die von dem
- ungewöhnlich reichen Verstande unseres Volkes zeugen, der alles in ein
- Werkzeug für seine Zwecke zu verwandeln gewußt hat: die Ironie, den
- Spott, die Anschaulichkeit, die Treffsicherheit eines plastischen
- Denkens, um ein von Leben strotzendes Werk zu erschaffen, das das ganze
- Wesen des Russen ergreift und erschüttert, indem es seine
- empfindlichsten Stellen zu treffen weiß. Sein Strom bricht endlich auch
- aus den Reden der Diener unserer Kirche hervor -- Reden, die so einfach,
- so schmucklos und doch so bedeutsam sind, durch das Streben, sich bis zu
- dem Gipfel leidenschaftsloser, heiliger Ruhe zu erheben, den zu
- erklimmen, jedes Christen Bestimmung ist, sowie durch die Bemühung,
- nicht etwa die Leidenschaften des Herzens zu entfachen, sondern den
- Menschen zu höchster, geistiger Nüchternheit und Besonnenheit zu
- erziehen. Dies alles versprach unserer Dichtung eine eigenartige und
- urwüchsige Entwicklung, wie sie den andern Völkern unbekannt war. Aber
- nicht von diesen drei Quellen, die bereits in uns ruhten, leitet unsere
- wohllautende Poesie, die uns heute einen so hohen Genuß bereitet, ihren
- Ursprung her, so wenig als die Struktur unserer gegenwärtigen
- bürgerlichen Ordnung sich auf Elemente zurückführen läßt, die unserem
- Lande schon früher eigen waren. Unsere bürgerliche Ordnung ist ja auch
- nicht durch eine geregelte allmähliche Entwicklung der Dinge, nicht
- durch eine langsame wohlüberlegte Verpflanzung europäischer Sitten in
- unser Land entstanden -- was schon aus dem einfachen Grunde unmöglich
- war, weil die europäische Aufklärung bereits eine viel zu hohe Stufe der
- Reife erreicht hatte, weil ihre Wogen schon zu hoch gingen, als daß sie
- nicht früher oder später von allen Seiten über Rußland hereinbrechen und
- ohne einen solchen Führer, wie Peter es war, in allen Dingen eine viel
- größere Unordnung hervorrufen mußten, als sie sich später tatsächlich
- bemerkbar machte. Unsere bürgerliche Ordnung entsprang aus einer
- Erschütterung, aus jener gewaltigen Erschütterung des ganzen Staates,
- die der Zar, dieser große Reformator, hervorrief, als Gottes Wille ihm
- den Gedanken eingab, sein junges Volk in den Kreis der europäischen
- Staaten einzureihen und es plötzlich mit allem bekannt zu machen, was
- sich Europa durch lange Jahre blutiger Kämpfe und Leiden errungen hatte.
- Eine so plötzliche Umkehr war eine Notwendigkeit für das russische Volk,
- und die europäische Aufklärung war der Feuerstahl, der diese ganze
- Volksmasse treffen mußte, die im Begriff war, einzuschlafen. Der Stahl
- verleiht dem Stein kein Feuer, wenn aber der Stahl den Stein nicht
- trifft, gibt der Stein kein Feuer von sich. Und sogleich schlug aus dem
- Volk eine Flamme empor. Diese Flamme war die Freude, die Freude über das
- Erwachen, die im Anfang freilich noch unbewußt war. Noch hatte keiner
- das Gefühl, daß er dazu erwacht sei, um im Licht der europäischen
- Bildung sich selbst besser kennen zu lernen, nicht aber Europa zu
- kopieren. Jeder fühlte nur, daß er erwacht war. Aber schon diese bloße
- Umwälzung des ganzen Staates, die durch einen einzigen Menschen, und
- zwar durch den Zaren selbst, bewirkt war, der zeitweilig sogar großmütig
- auf seine Zarenwürde verzichtete, um jedes Handwerk kennen zu lernen und
- mit der Axt in der Hand in allen Dingen voranzugehen, damit keine von
- den Wirrungen und Verwicklungen entstünde, die selbst die
- geringfügigsten Veränderungen der Staatsform zu begleiten pflegen --
- schon diese Umwälzung war in der Tat eine Sache, die der Freude und der
- Begeisterung wert war. Eine Staatsumwälzung, die gewöhnlich das in
- Mitleidenschaft gezogene Volk auf Jahre unter Ströme von Blut setzt,
- wenn sie die Folge innerer Parteikämpfe ist, wurde hier im Angesicht von
- ganz Europa in so geordneter Weise vollzogen, wie das glänzende Manöver
- eines vortrefflich geschulten Heeres. Rußland erhob sich plötzlich zur
- Würde eines großen Staates, seine Stimme wurde dem Donner gleich, ein
- Glanz strahlte von ihm aus: der Widerschein der europäischen Bildung.
- Alles in dem jungen Staate geriet in Begeisterung, allen entrang sich
- ein Schrei des Staunens, wie ihn ein Wilder angesichts neueingeführter
- kostbarer Schätze ausstößt. Diese Begeisterung spiegelt sich in unserer
- Poesie oder richtiger: sie hat diese Poesie erst erschaffen. Das ist der
- Grund, warum diese Poesie mit dem ersten Gedicht, das veröffentlicht
- wurde, einen so feierlichen Klang annimmt. Spricht doch aus ihr das
- Bestreben, einen Ausdruck für die Begeisterung über das neue Licht, das
- sich über Rußland ergossen hatte, für das Staunen über die große
- Aufgabe, die dem Lande bevorstand und für den Dank zu finden, den es dem
- Zaren für dies alles schuldete. Seit dieser Zeit wurde das Streben nach
- dem Licht unser eigentliches Element, der sechste Sinn des Russen, und
- es erschuf unsere gegenwärtige Poesie, indem es ihr jenes neue
- lichtbringende Prinzip einhauchte, das wir in keiner der drei Quellen,
- von denen zu Beginn die Rede war, entdecken konnten.
- Was ist Lomonossow, wenn wir ihn an sich betrachten? Ein schwärmerischer
- Jüngling, begeistert von dem Licht der Wissenschaft und der hohen
- Aufgabe, die er vor sich sieht. Wie durch Zufall wird er Poet. Die
- Freude über den ersten Sieg der Russen läßt ihn seine erste Ode aufs
- Papier werfen, hastig entlehnt er bei unsern deutschen Nachbarn Form und
- Metrum, wie sie in jener Zeit bei ihnen üblich waren, ohne zu überlegen,
- ob sie sich für unsere russische Sprache eignen oder nicht. Seine
- künstlichen rhetorischen Oden lassen auch nicht eine Spur schöpferischer
- Kraft erkennen, aber die Begeisterung bricht doch schon allenthalben
- hervor, wo er einen Gegenstand berührt, der seiner wissensdurstigen
- Seele nahesteht. Das Nordlicht, mit dem er sich in seinen
- wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigte, kommt ihm in Sinn, und die
- Frucht dieses Einfalls ist die Ode: _Abendbetrachtungen über Gottes
- Größe_, die von Anfang bis Ende eine hohe Majestät und Würde atmet und
- die kein anderer außer Lomonossow hätte schreiben können. Ein ähnlicher
- Einfall wird der Anlaß für die Epistel an Schuwalow: _Über den Nutzen
- des Glases._ Jede Erwähnung Rußlands, das seinem Herzen so nahesteht und
- das er immer durch die Perspektive seiner glänzenden Zukunft sieht,
- erfüllt ihn mit wunderbarer Kraft. Mitten unter kalten nüchternen
- Strophen begegnen wir Versen, die uns plötzlich in eine andere Welt
- versetzen. Man hat das Gefühl, als ob -- um uns seiner eigenen Worte zu
- bedienen --
- Der Götterjüngling David leicht
- Der Harfe heil'ge Saiten meistert
- Und aus Jesaias Mund begeistert
- Ein Psalm empor zum Himmel steigt.
- Er überschaut das ganze russische Land von einem Ende bis zum andern,
- wie von einem lichten Gipfel herab, begeistert und entzückt von seiner
- grenzenlosen Weite und seiner jungfräulichen Natur, und es scheint, als
- wolle sein Entzücken kein Ende nehmen. Aus seinen Schilderungen spricht
- mehr die Ansicht eines gelehrten Naturforschers als die eines Dichters,
- aber die treuherzige reine Kraft seiner Begeisterung verwandelt den
- Naturforscher in einen Dichter, und was das Merkwürdigste ist, indem er
- seine Verse in die strengen Maße des deutschen Jambus preßt, tut er der
- Sprache durchaus keine Gewalt an; die Sprache fließt innerhalb der engen
- Grenzen dieses Versmaßes mit der gleichen Würde und Freiheit dahin, wie
- ein wasserreicher Fluß in seinem breiten Bette. Ja, sie klingt in seinen
- Versen noch schöner und freier als in seiner Prosa, und Lomonossow heißt
- daher nicht umsonst der Vater unserer Verskunst. Das Merkwürdige ist,
- daß der Urheber unserer Sprache zugleich auch ihr Herr und Gesetzgeber
- wird. Lomonossow steht an der Spitze unserer Dichter wie die Vorrede zu
- einem Buche. Seine Poesie ist die aufsteigende Morgenröte: sie gleicht
- einem Wetterleuchten, das zwar nicht allem Helligkeit verleiht, sondern
- sein Licht nur auf einzelne Strophen wirft. Rußland erscheint bei ihm
- nur in seinen allgemeinen geographischen Umrissen; er scheint
- ausschließlich darum bemüht zu sein, eine Skizze von dem gewaltigen
- Reich zu entwerfen, und seine Grenzen durch Punkte und Linien
- abzustecken, während er die Ausmalung den andern überläßt. Er selbst ist
- gleichsam nur ein erster prophetischer Entwurf der Dinge, die da kommen
- sollen.
- Durch den Einfall Lomonossows wurde bei uns die Ode eingeführt. Feste,
- Siegesfeiern, Geburtstage hoher Persönlichkeiten, ja sogar eine
- Illumination oder ein Feuerwerk werden Gegenstände dieser Oden. Die
- Verfasser dieser Dichtungen brachten es jedoch bestenfalls nur zu einer
- gewissen Bravour, ohne daß ihre Produkte von wahrer Begeisterung
- getragen wurden. Höchstens _Petrow_ macht eine Ausnahme, dem es nicht an
- einer gewissen Kraft und einem gewissen poetischen Feuer fehlt. Er war
- ein wirklicher Dichter trotz der Härte und Trockenheit seiner Verse. Die
- andern erreichten bestenfalls nur die kalte äußere Rhetorik der Oden
- Lomonossows, und an Stelle des Wohllauts seiner Sprache tritt ein leeres
- zuchtloses Wortgeklapper, das unser Ohr peinigt. Aber schon hatte der
- Stahl den Feuerstein getroffen. Schon hatte der Funke der Poesie
- gezündet. Noch hatte Lomonossow die Leier nicht aus der Hand gelegt, als
- Dershawin seine ersten Lieder dichtete.
- In der Epoche Katharinas, deren Regierung einer glänzenden Sammlung der
- vorzüglichsten Werke russischer Schöpferkraft gleicht, als sich auf
- allen Gebieten bedeutende russische Talente regten, in glorreichen
- Schlachten ruhmgekrönte Feldherren auftraten, große Staatsmänner in der
- inneren Organisation des Reiches tätig waren, geschickte Diplomaten sich
- beim Abschluß von Verträgen auszeichneten, in den Akademien Gelehrte und
- Sprachforscher eine rege Tätigkeit entfalteten, da trat auch der Dichter
- Dershawin auf. Er hatte das gleiche malerische würdevolle Äußere wie
- alle Männer aus der Zeit Katharinas, die in einer noch ungezügelten
- Freiheit den Spielraum für ihre freie Entwicklung fanden. Bei ihnen
- allen gibt es noch viel Unfertiges, und in den Details Unausgeführtes,
- wie man es wohl in Werken findet, die allzufrüh in die Öffentlichkeit
- gebracht werden. Die Möglichkeit einer Vergleichung Lomonossows und
- Dershawins, die sich einem bei der ersten Bekanntschaft mit beiden
- Dichtern aufdrängt, schwindet sofort, wenn man Dershawin eingehender
- kennen lernt. Er bildet vielmehr in allem, selbst in seiner Erziehung,
- den vollkommenen Gegensatz zu dem ersteren. Während sich Lomonossow
- völlig den Wissenschaften widmet und das Dichten ausschließlich als eine
- Zerstreuung und eine Erholung betrachtet, gibt _er_ sich gänzlich der
- Dichtkunst hin und hält eine vielseitige wissenschaftliche Bildung für
- unnütz und überflüssig. Rußlands Größe und Staatsmacht kommt auch bei
- ihm zum Ausdruck, aber nun treten nicht nur die geographischen Umrisse
- des Reiches hervor, sondern auch die Menschen und ihr Leben werden
- sichtbar. Was ihn beschäftigt, ist nicht die abstrakte Wissenschaft:
- sondern die Kenntnis des Lebens. Seine Oden wenden sich bereits an die
- Menschen aller Berufe und Stände und zeugen von dem Streben, ein Gesetz
- des richtigen Handelns aufzustellen, nach dem sich der Mensch in allem,
- selbst in seinen Genüssen zu richten hat. Bei ihm macht sich schon eine
- wirkliche schöpferische Kraft bemerkbar, er besitzt etwas noch
- Gewaltigeres und Überirdischeres als Lomonossow, und man begreift nicht,
- woher der hyperbolische Schwung seiner Rede stammt. Ist es ein Nachklang
- unseres sagenhaften russischen Rittertums, das noch immer wie eine
- dunkle Weissagung über unserem Lande schwebt und uns eine bessere
- Zukunft vorhält, zu der wir bestimmt sind -- oder ist es ein Echo seines
- alten tatarischen Ursprungs? Jener Steppen, in denen noch heute die
- armseligen Überreste nomadisierender Horden umherirren, die ihre
- Einbildungskraft an Erzählungen von klafterhohen Helden, die tausend
- Jahre alt werden, entzünden? -- was es auch sein mag: dieser
- Charakterzug Dershawins hat etwas Wunderbares! Mitunter holt er seine
- Ausdrücke und Wendungen Gott weiß wie weit her: nur um möglichst nahe an
- seinen Gegenstand heranzukommen. Hier ist alles kolossal und ungeheuer,
- aber dort, wo ihn die Kraft der Begeisterung überkommt, da dienen diese
- ungeheuerlichen Massen nur dazu, um den Gegenstand mit einer schier
- unbegreiflichen Kraft zu beleben, so daß es uns so vorkommt, als blicke
- er uns mit tausend Augen an. Man überlese den »_Wasserfall_«: man hat
- den Eindruck, als wäre hier eine ganze Epopöe in eine gewaltig
- dahinstürmende Ode zusammengedrängt. Gemessen an dieser Ode erscheinen
- alle Dichter neben ihm wie Pygmäen, die Natur erscheint hier wie eine
- höhere Wirklichkeit neben der, die wir mit unseren Augen sehen, die
- Menschen gewaltiger als die, die wir kennen, und unser Dasein verglichen
- mit dem mächtigen Leben, wie es dort dargestellt ist, wie das eines
- fernen Ameisenhaufens. Von Dershawin kann man sagen: er ist der Sänger
- des Erhabenen. Bei ihm ist alles erhaben: die Gestalt Katharinens und
- Rußlands, das sich in seinen acht Meeren spiegelt; seine Feldherrn sind
- königliche Adler, kurz, bei ihm ist alles groß und majestätisch. Man hat
- jedoch das Gefühl: was seine Gedanken am meisten beschäftigte, was ihn
- am meisten bewegte, war der Wunsch, einen im Kampf des Lebens gestählten
- starken Menschen zu gestalten, bereit, es nicht nur mit seiner Zeit,
- sondern mit allen Zeitaltern aufzunehmen, ihn so zu zeichnen, wie er
- nach seiner Ansicht aus den ureigenen Wurzeln unserer russischen Natur
- erwachsen müßte, genährt und groß geworden auf dem unerschütterlichen
- Felsen unserer Kirche. Oft läßt er die Person, an die die Ode gerichtet
- ist, beiseite, um an ihre Stelle seinen unbeugsamen wahrhaftigen Helden
- zu setzen. Dann spricht er seine tiefen Wahrheiten mit einer Stimme aus,
- die sich hoch über das gewöhnliche Maß erhebt. Das, was wir einen
- Gemeinplatz zu nennen gewohnt sind, erhält seine hohe heilige Bedeutung
- wieder, und wir lauschen seinen ewigen Worten, als wenn der Mund der
- Kirche selbst zu uns spräche. Verglichen mit den Werken anderer Dichter
- erscheint alles bei ihm groß und gigantisch: seinen poetischen Metaphern
- fehlt es an der vollen plastischen Rundung, sie scheinen sich gleichsam
- in einer Art vergeistigter Kontur zu verlieren, erhalten aber gerade
- dadurch etwas noch Großartigeres und Erhabeneres. So schildert zum
- Beispiel der Dichter den greisen Caspius, wie er über den Sturm empört,
- über das Meer rast:
- Wild springt er auf die Wellen los,
- Schlägt mit dem Dreizack nach den Schiffen,
- Stürmt himmelwärts, stürzt in den Schoß
- Des Hades mit gesträubten Haaren,
- Und durchs Gebirge hallt sein Schrei.
- Hier schien sich ein _plastisches_ Bild des greisen Caspius gestalten zu
- wollen, aber die Zeichnung verlor sich in abstrakt geistigen Konturen:
- das Ohr hört nichts als den Donner des brausenden Meeres, und wie dem
- grauköpfigen Greise, so sträuben sich auch dem Leser die Haare, der
- erschüttert ist von der rauhen Größe des Bildes. Bei ihm ist alles
- monumental. Sein Stil ist von einer Größe, wie bei keinem unserer
- Dichter. Wenn wir diesen Stil mit dem Messer des Anatomen sezieren, so
- sehen wir, daß dies in einer fremdartigen Verkuppelung pathetischer
- Worte mit schlichten, ja trivialen begründet ist, wessen sich kein
- anderer außer Dershawin erkühnen würde. Wer außer ihm würde es wagen,
- sich so auszudrücken, wie er es an einer Stelle tut, wo er von seinem
- großen Helden spricht: der nach Vollendung seiner irdischen Aufgabe
- den Tod wie einen Gast erwartet
- und sinnend sich den Schnurrbart streicht.
- Wer außer Dershawin hätte es gewagt, eine so ernste Angelegenheit wie
- die Erwartung des Todes zu einer so trivialen Geste wie das Streichen
- des Schnurrbarts in Beziehung zu setzen? Aber wie ungeheuer gewinnt
- hierdurch der Held an Anschaulichkeit und welch melancholisch-tiefes
- Gefühl bleibt in unserer Seele zurück! Man muß jedoch sagen, daß sowohl
- diese wie alle andern gigantischen Züge, die ihn weit über alle unsere
- Dichter erheben, bei ihm etwas Zügelloses und Formloses annehmen, sowie
- ihn die Inspiration verläßt: Alles gerät in Unordnung: Satzbau, Sprache,
- Stil, alles knarrt wie ein schlechtgeölter Karren, und sein Vers gleicht
- einem entseelten Leichnam. Seine Werke tragen die Spuren seiner
- unvollkommenen geistigen und sittlichen Bildung. Der Mann, der andern
- Selbstbeherrschung predigte, wußte sich selbst nicht zu beherrschen, hat
- sich nie ganz selbst gefunden und hat mühsam und mit der ganzen Kraft
- seiner Begeisterung den Weg zu seinem Ich suchen müssen, um das
- aussprechen zu können, was sich der Seele des Dichters von selbst
- entringen müßte. Hätte er sich die wahre Bildung zu erringen gewußt, es
- würde keinen größeren Dichter als Dershawin gegeben haben. So aber
- gleicht er nur einem gewaltigen unförmlichen Felsblock, vor dem zwar
- niemand ohne Bewunderung stehen bleiben wird: jedoch kein Mensch wird
- lange vor ihm verweilen, sondern bald zu andern reizvolleren Eindrücken
- fortzueilen suchen.
- Noch hatte Dershawin die Leier nicht aus der Hand gelegt, und schon
- hatte sich alles um ihn verändert: das Zeitalter Katharinas, die
- königlichen Feldherren, der höfische Luxus und das ganze höfische Leben
- waren dahingeschwunden wie ein Traum, die Epoche Alexanders war
- angebrochen: sauber, spiegelblank und manierlich. Die Menschen zogen
- sich mehr in sich selbst zurück und wetteiferten, aus dem Gefühl heraus,
- daß sie sich bisher allzusehr gehen gelassen hatten, ihren Handlungen
- und Bewegungen Schönheit und edlen Anstand zu verleihen. Die Franzosen
- galten in allen Dingen als Vorbild, und wie einst die Pariser Stutzer
- den Ton in unserer Gesellschaft angaben, so beherrschten eine Zeitlang
- die flinken französischen Poeten unsere Dichtung. Zur Rechtfertigung
- unseres sicheren dichterischen Gefühls sei jedoch an dieser Stelle
- erwähnt, daß uns nur einer dieser Dichter wirklich als Vorbild gedient
- hat: _Lafontaine_, und zwar nur deshalb, weil er der Natur am nächsten
- stand: _Dmitriew_, _Chemnitzer_ und _Bogdanowitsch_ dichteten in der
- gleichen Art und behandelten ähnliche Stoffe wie er. Die russische
- Sprache erhielt plötzlich eine gewisse Freiheit und die Fähigkeit, mit
- angenehmer Leichtigkeit von Gegenstand zu Gegenstand überzugehen -- eine
- Leichtigkeit, die Dershawin noch unbekannt war. Man pflegte nicht nur
- die Ode, sondern versuchte sich in allen Arten und Formen der Poesie.
- _Dmitriew_ bewies überall viel Talent, Geschmack, Einfachheit und
- Anstand, und hierdurch wurde der Schwulst und das falsche Pathos
- überwunden, das durch die talentlosen Nachahmer Dershawins und
- Lomonossows üblich geworden war. Aber die Oberflächlichkeit der Epoche
- vermochte unserer Dichtung keinen reicheren Inhalt darzubieten: sie
- blieb allein auf das Gesellschaftsleben beschränkt, und man konnte sie
- bald einem gewandten und gescheiten Weltmann vergleichen, der im Salon
- sitzt und plaudert, nicht etwa um andern sein Herz zu öffnen oder sie zu
- tüchtigen Handeln anzufeuern, sondern lediglich, um Konversation zu
- machen und zu beweisen, daß er über jeden Gegenstand etwas zu sagen
- habe. Die letzten Töne Dershawins waren verhallt wie die verklingenden
- Töne einer Orgel und unsere Poesie schien plötzlich aus der Kirche in
- den Ballsaal versetzt. Nur der eine _Kapnist_ ließ den Duft eines
- wahrhaft beseelten Gefühls und eine eigenartige anthologische Anmut
- verspüren, wie sie bisher noch nicht bekannt war. Man denke zum Beispiel
- an sein Landhaus Obuchowka:
- Mein liebes Häuschen, strohgedecket,
- Ist nicht zu groß, noch ist's zu klein,
- Der Freund wird stets willkommen sein
- Und selbst den armen Bettler schrecket
- Kein Türschloß fort, will er hinein.
- Aber unsere Poesie vermochte nicht lange auf diesem Gipfel eines
- oberflächlichen Gesellschaftslebens zu verweilen. Schon war ihre
- Empfänglichkeit durch jenen Schlag Peters mit dem Stahl europäischer
- Bildung geweckt, und sie erkannte plötzlich, daß sie von den Franzosen
- nichts als eine gewisse Leichtigkeit entlehnen und für ihre Entwicklung
- nutzbar machen konnte, und so wandte sie sich den Deutschen zu. In der
- deutschen Literatur ging um diese Zeit etwas Merkwürdiges vor. Eine
- unklare Sehnsucht, geheimnisvolle Überlieferungen, wunderbare
- unerklärliche Ereignisse, dunkle Schatten aus einer unsichtbaren Welt,
- Träume und Schrecken, wie sie die Kindheit des Menschen zu begleiten
- pflegen, bildeten den Gegenstand der deutschen Dichtung. Man hätte eine
- solche Poesie für die Laune eines Schulbuben halten können, wenn nicht
- jenes kindliche Lallen in ihr vernehmbar gewesen wäre, durch das die
- unsterbliche nach lebendiger Nahrung dürstende Seele von sich Kunde
- gibt. Wie ein neugieriges Kind blieb unsere feinfühlige Dichtung von
- dieser Erscheinung gebannt. Ihr nationaler Instinkt rief plötzlich in
- ihr die Erinnerung an etwas Verwandtes wach. Bei alledem wären wir uns
- nie mit den Deutschen begegnet, wenn nicht ein Poet in unserer Mitte
- erstanden wäre, der uns diese neue wunderbare Welt durch den klaren
- Kristall seines Wesens gezeigt hätte, das uns weit verständlicher war,
- als das deutsche. Dieser Dichter ist _Shukowski_: die stärkste
- Individualität in unserer Literatur. Durch die geheimnisvolle Fügung des
- Höchsten war ihm von seinen Kindheitstagen an eine ihm selbst
- unbegreifliche Sehnsucht nach dem Unsichtbaren, Mystischen in die Seele
- gelegt. Wie der Held seiner Ballade _Wadim_ vernahm er immer einen
- himmlischen Glockenton in seinem Herzen, der ihn in die Ferne rief.
- Dieser Lockung folgend, stürzte er sich auf alles Unerklärliche und
- Geheimnisvolle, wo immer es ihm begegnete, um es in Töne zu fassen, die
- eine verwandte Saite in unserer Seele erklingen ließen. Alles dieser Art
- entlehnt er fremden Dichtern, vor allem den Deutschen, und das Meiste
- davon sind Übersetzungen. Aber diese Übersetzungen tragen so sehr die
- Spur jener inneren Sehnsucht an sich, werden so heftig von ihrer Kraft
- belebt und durchglüht, daß selbst Deutsche, die des Russischen mächtig
- sind, zugestehen, die Originale erschienen neben ihnen wie Kopien,
- während seine Übersetzungen den Charakter echter Originale besitzen. Man
- weiß nicht, ob man ihn einen Übersetzer oder einen ursprünglichen
- Dichter nennen soll; der Übersetzer gibt seine eigene Persönlichkeit
- auf, während sie bei Shukowski stärker hervortritt als bei irgendeinem
- unserer Dichter. Wenn wir die ganze Reihe seiner Dichtungen durchlaufen,
- so werden wir finden, daß das eine von _Schiller_, ein anderes von
- _Uhland_, ein drittes von _Walter Scott_, ein viertes von _Byron_
- entlehnt ist; und alle diese Werke sind bis auf das einzelne Wort
- getreue Abbilder ihrer Vorlagen. Die Persönlichkeit jedes Dichters ist
- durchaus erhalten; als Übersetzer hatte Shukowski ja auch keine
- Gelegenheit, sich vorzudrängen. Liest man jedoch mehrere Gedichte
- nacheinander und fragt man sich, wessen Gedichte man gelesen habe, dann
- fallen einem weder Schiller, noch Uhland, noch Walter Scott ein, sondern
- ein Dichter, der sich von allen diesen unterscheidet, dessen Platz nicht
- zu ihren Füßen ist, sondern der ein Recht hat, als Gleicher neben
- Gleichen an ihrer Seite zu sitzen. Wie es jedoch möglich war, daß seine
- eigene Persönlichkeit all diese Dichterpersönlichkeiten durchdringen
- konnte, das bleibt ein Geheimnis, das sich jedem Leser aufdrängt. Es
- gibt keinen Russen, der sich nicht aus den Werken Shukowskis selbst ein
- getreues Abbild seiner geistigen Persönlichkeit bilden könnte. Man muß
- auch sagen, daß sich in keinem der von ihm übertragenen Dichter eine so
- starke Sehnsucht regt, in ein wolkenfernes, unsichtbares Traumland zu
- entfliehen. Bei keinem von ihnen finden wir diesen festen Glauben an
- übersinnliche Kräfte, die den Menschen überall schützend umschweben.
- Wenn man Shukowski liest, so hat man beständig das Gefühl, für das
- Dershawin die Worte gefunden hat:
- »Dem Schutz des Himmels übergeben
- Ward deines Lebens Sicherheit
- Und Legionen Engel schweben
- Ob deinem Haupte hilfsbereit.«
- Er hat durch seine Übersetzungen eine Wirkung ausgeübt, wie ein
- ursprünglicher urwüchsiger Dichter. Indem er unserer Dichtkunst dieses
- ihr bis dahin ganz unbekannte Streben nach einer unsichtbaren
- geheimnisvollen Welt einpflanzte, befreite er sie von dem Materialismus
- nicht nur ihrer Gedanken und ihrer Sprache, sondern auch ihrer Versform,
- die damit etwas Leichtes und Unkörperliches wie eine Vision erhielt. Mit
- diesen Übersetzungen legte er den Grund zu allem Originalen, schuf er
- neue Formen und Metren, die dann später auch von allen andern russischen
- Dichtern angewandt wurden. Sein träger Geist hinderte ihn daran, vor
- allem ein schöpferisches Talent zu sein -- es fehlte ihm nicht an
- schöpferischer Kraft, er war nur zu träge im Erfinden. Im Beginn seiner
- Schriftstellerlaufbahn gab er schon Beweise seiner Produktivität:
- _Swetlana_ und _Ludmilla_ trugen zuerst die erwärmenden Klänge unserer
- slawischen Seele durch die Lande und sie berührten uns weit verwandter
- als die Lieder anderer Dichter -- ein Beweis dafür, daß sie zu einer
- Zeit, als unser poetisches Empfinden noch schwach entwickelt war, einen
- mächtigen Eindruck auf alle machten. Die Elegie ist eine Schöpfung
- Shukowskis. Es gibt übrigens einen noch tieferliegenden Grund, auf den
- diese Trägheit des Verstandes zurückzuführen ist: es ist seine
- Veranlagung zur Kritik, die, nachdem sie sich einmal in seinem Geiste
- festgesetzt hatte, ihn dazu drängte, auch noch bei jedem fertigen Werk
- liebevoll zu verweilen. Daher sein feiner kritischer Instinkt, der
- Puschkin so sehr in Erstaunen setzte. Puschkin zürnte ihm sehr, daß er
- keine Kritiken schrieb. Seiner Meinung nach konnte niemand ein Kunstwerk
- so gut zerlegen und beurteilen wie Shukowski. Diese Begabung für Kritik
- und Analyse tritt besonders in seinen farbigen Naturschilderungen
- hervor, die seine eigensten, selbständigsten Leistungen sind. Bezaubert
- von einer Landschaft, bemächtigt er sich ihrer und läßt nicht eher von
- ihr ab, als bis er wie mit dem Seziermesser noch ihr kleinstes,
- verschwindendes Detail herausgehoben hat. Wer das Gedicht an die Sonne
- zu schreiben vermochte, wer so das bunte Spiel der Sonnenstrahlen und
- die Magie der Bilder, belauschen konnte, die sie zu jeder Tageszeit
- hervorzaubert, wer in seinem »Bericht über den Mond« die magische Pracht
- der Mondnächte und die Reihe der Bilder, die sie begleiten, so eingehend
- und anschaulich zu schildern vermochte: der mußte natürlich im hohen
- Maße die Begabung zur _Kritik_ besitzen. Seine »Slawin« mit ihren
- Schilderungen von Pawlowsk ist vollkommene Malerei; die andächtige
- träumerische Stimmung, die alle seine Bilder durchweht, verbreitet ein
- warmes und erwärmendes Licht um sich, das den Leser mit einer
- unbegreiflichen Ruhe erfüllt. Alle unsere Leidenschaften beruhigen sich
- und eine geheimnisvolle Kraft scheint uns den Mund zu verschließen.
- In der letzten Zeit trat ein Wendepunkt in Shukowskis dichterischer
- Entwicklung ein. In dem Maße, als sich die in einem leuchtenden Dämmer
- verschwebende Ferne, die er bis dahin nur in einer unklaren poetischen
- Distanz erschaut hatte, zu immer reinerer Klarheit läuterte, begann er,
- den Geschmack und die Vorliebe für die Gespenster und Phantome der
- deutschen Balladen zu verlieren. Seine Neigung zur Träumerei machte
- einer geistigen Heiterkeit Platz. Die Frucht dieser Stimmung war die
- »Undine«, ein Werk, das ganz Eigentum Shukowskis war. Der deutsche
- Dichter, der die gleiche Sage in Prosaform behandelt hatte, konnte ihm
- nicht zum Vorbild dienen: erst Shukowski hat diesem Stoff zu seiner
- vollen Klarheit und Heiterkeit verholfen. Von hier an wird ihm eine
- kristallene Durchsichtigkeit der Sprache eigen, die dem Gegenstand eine
- Klarheit verleiht, welche er nicht einmal bei dem ersten Darsteller des
- Stoffes besitzt, dem er ihn entlehnt. Selbst sein Vers verliert das
- Ätherische, Unbestimmte, das er früher besaß: er schreitet kräftiger und
- sicherer einher. In Shukowski schienen sich alle Vorbedingungen zu
- vereinigen, um mit Hilfe dieses Verses eine Dichtung von höchster
- Vollkommenheit zu gestalten. Bei seiner Art des Schaffens, bei solchem
- Erfülltsein des ganzen Menschen mit dem Geist der Antike und bei einer
- so erleuchteten und hohen Lebensanschauung hätte uns ein solches Werk
- sicherlich die ursprüngliche patriarchalische Welt des Altertums in
- einer vertrauten und heimischen Beleuchtung näherbringen müssen -- eine
- Leistung, die weit höher zu bewerten ist, als jede eigene Schöpfung und
- die Shukowski eine universelle Bedeutung verleihen würde. Shukowski
- verhält sich zu unsern andern Dichtern wie ein Goldschmied zu andern
- Handwerksmeistern: das heißt wie ein Meister, der sich nur mit der
- letzten Verarbeitung des Materials beschäftigt. Es ist nicht seine
- Aufgabe, den Edelstein aus Bergestiefen ans Licht zu fördern: er hat dem
- Diamanten lediglich die Fassung zu geben, die ihn in seinem vollen
- Glanze erstrahlen läßt und jedem seinen ganzen Wert vor Augen führt. Ein
- solcher Dichter konnte nur aus dem russischen Volke hervorgehen, dem
- vielleicht nur darum eine geniale Empfänglichkeit verliehen ward, um all
- dem, was die andern Völker noch nicht in ihrem Wert erkannt, nicht
- verarbeitet oder übersehen hatten, eine edlere Form zu verleihen.
- Während Shukowski noch in der ersten Periode seiner Dichtung stand,
- während er noch bemüht war, die Poesie aus den Fesseln des Irdischen und
- Greifbaren zu befreien und sie in die Sphäre unkörperlicher Gesichte zu
- erheben, suchte ein anderer Dichter, Batjuschkow, wie im bewußten
- Gegensatz zu ihm sie fester in der Erde und im Physischen zu verwurzeln,
- indem er uns den ganzen bezaubernden Reiz einer plastischen
- Körperlichkeit verspüren ließ. Während jener sich ganz in den ihm selbst
- noch nicht völlig klaren Idealen verlor, tauchte dieser vollkommen in
- der üppigen Pracht des Sichtbaren unter, das er so deutlich empfand und
- das ihn so stark ergriff. Er suchte das Schöne in allen Gestalten und
- Formen, selbst in den abstraktesten, in die unmittelbare lebendige Lust
- des Genusses aufzulösen. Er empfand, um sich seiner eigenen Worte zu
- bedienen, »des Denkens und des Dichtens Wollust«. Es schien, als ob eine
- innere Kraft im Schoße unserer Poesie diesen Dichter erschaffen hätte,
- um sie von einer allzuweit gehenden Übertreibung zu bewahren, damit uns
- der eine die nordischen Klänge der europäischen Sänger brächte, während
- der andere unser Ohr mit den süßen Tönen des Südens labte, indem er uns
- die Bekanntschaft mit Ariost, Tasso, Petrarka, Parni und den sanften
- Klängen des alten Hellas vermittelte, auf daß selbst der Vers, der eine
- gewisse ätherische Unbestimmtheit anzunehmen begann, sich mit einer fast
- skulpturhaften Plastik, wie wir sie bei den Alten finden, und mit jenem
- klingenden Wohllaute erfüllte, der uns im neuen Europa aus den Dichtern
- des Südens entgegentönt.
- Zwei ganz verschieden geartete Dichter hatten zwei durchaus verschiedene
- Prinzipien in unsere Poesie hineingetragen; aus diesen beiden Prinzipien
- bildete sich mit einem Schlage ein drittes: Puschkin trat auf den Plan.
- Er bildet die Mitte: ohne die abstrakte Idealität des ersten und ohne
- die schwellend-üppige Wollust des andern. Bei ihm hat alles sein
- Gleichgewicht gewonnen, ist alles gedrängt, konzentriert wie in dem
- russischen Menschen, der in der Wiedergabe seiner Empfindungen sparsam
- mit Worten ist, und sie lange in sich hegt und zusammendrängt. Durch
- eine lange Aufspeicherung nehmen sie einen explosiven Charakter an, wenn
- sie herausbrechen. Ich will hier ein Beispiel anführen. Der Kasbek,
- einer der höchsten Berge des Kaukasus, machte einen starken Eindruck auf
- den Dichter. Er entdeckte auf dem Gipfel ein Kloster, das ihm wie die in
- der Luft schwebende Arche Noahs erschien. Ein anderer Dichter hätte bei
- dieser Gelegenheit viele Seiten mit glühenden Versen bedeckt: Puschkin
- aber sagt alles in zehn Zeilen und beendet sein Gedicht mit folgender
- unerwarteter Apostrophe:
- Ersehntes fernes Friedensreich!
- Könnt ich zu deiner Gnadenstelle
- Mich aus der Schluchten Haft befrein
- Und in der ätherlichten Zelle
- Allzeit dem Schöpfer nahe sein!
- (Fiedler.)
- Das und nur das durfte ein Russe sagen, während ein Franzose, ein
- Engländer oder ein Deutscher einen langen Bericht über ihre Empfindungen
- gegeben hätten. Noch nie haben wir einen Dichter gehabt, der so sparsam
- in Wort und Ausdruck war wie Puschkin, der sich selbst so wenig
- beobachtete, nur um nie etwas Überflüssiges oder Übertriebenes zu sagen,
- da er in beiden Fällen die Banalität scheute.
- Was war nun der Gegenstand seiner Dichtung? Das Ganze, nicht das
- Einzelne war das Objekt seiner Dichtung. Unser Denken versagt vor der
- ungeheuren Mannigfaltigkeit seiner Stoffe. Was hat ihn nicht ergriffen
- und was hat ihn nicht gefesselt? Von den über den Wolken thronenden
- Gipfeln des Kaukasus oder einem malerischen Tscherkessen, bis zu der
- elenden Hütte des Nordens und einer Schenke mit Balaleikaspiel und
- Trepak; -- überall und allerorten: wird ihm der Ball, die Hütte, die
- Steppe, der Reisewagen, kurz, alles zum Objekt seiner Dichtung. Auf
- alles, was im Innern des Menschen vorgeht, von den höchsten und
- erhabensten Charakterzügen bis zum kleinsten Seufzer menschlicher
- Schwäche, bis zur kleinsten Regung des Aberglaubens, die ihn beunruhigt,
- reagiert er mit der gleichen Stärke wie auf jeden Vorgang der äußeren
- und sichtbaren Natur. Alles formt sich ihm zu einem abgeschlossenen
- Bilde, alles wird ihm zum Gegenstand, aus dem Größten schlägt er
- elektrische Funken jenes poetischen Feuers, das in jeder von Gottes
- Schöpfungen lebt: jedem Ding weiß er seine schönste Seite abzugewinnen,
- die nur dem Dichter bekannt ist, ohne daß er dabei an eine Anwendung auf
- das praktische Leben oder an die Befriedigung eines menschlichen
- Bedürfnisses denkt. Er verrät niemand, warum dieser Funke aufsprühte,
- und reicht keinen von denen, die taub für die Poesie sind, eine Leiter,
- die dorthin führt. Er kümmerte sich um niemand, es gab für ihn nur einen
- Wunsch: den mit poetischen Gefühl Begabten zuzurufen: »Schaut hin, wie
- herrlich ist doch Gottes Schöpfung!«, und sich dann sogleich, ohne noch
- etwas hinzuzufügen, dem nächsten Gegenstand zuzuwenden, um abermals
- auszurufen: »Schaut hin, wie herrlich ist Gottes Schöpfung!« Was daher
- an seinen Werken immer wieder in Erstaunen setzt, ist der Widerspruch
- der Gefühle, die sie in dem Leser hervorrufen. Nach der Ansicht von
- sonst vielleicht klugen Leuten, denen es jedoch an poetischem Empfinden
- fehlt, sind seine Dichtungen unvollendete, leicht hingeworfene Fragmente
- -- Kinder des Augenblicks. Nach der Ansicht dichterisch empfindender
- Menschen dagegen stellen sie reiche, wohldurchdachte, vollendete
- Dichtungen dar, die alle Elemente eines wirklichen Kunstwerks ich sich
- vereinigen.
- Puschkin gegenüber verstummten alle Fragen, die bis dahin noch an keinen
- von unsern Dichtern gerichtet worden waren, und die von dem Geist eines
- erwachenden Zeitalters Zeugnis ablegen. Wozu diente, welchen Sinn hatte
- seine Poesie? Was für eine neue Richtung, welche neue Wendung hat
- Puschkin der Welt des Geistes gegeben? Was hat er ausgesprochen, dessen
- sein Zeitalter bedurfte, wonach es verlangte? Hat er einen heilsamen
- oder wohl gar einen destruktiven Einfluß auf dieses Zeitalter ausgeübt?
- Hat er, wenn auch nur durch seinen eigenen Charakter oder seine
- Persönlichkeit auf andre Menschen gewirkt: durch die Genialität seiner
- Verirrungen, wie z. B. Byron oder selbst viele andre Dichter zweiten
- Ranges und minderwertige Poeten? Warum ward er der Welt geschenkt, und
- was hat er mit seinem Auftreten bewiesen? Puschkin ward der Welt
- geschenkt, um durch sein Dasein zu demonstrieren, was der Dichter ist,
- und sonst nichts -- _was der Dichter ist_, sofern man ihn nicht als
- Produkt einer bestimmten Epoche oder bestimmter Verhältnisse aber auch
- nicht als Produkt seines eigenen persönlichen Charakters, d. h. als
- Mensch betrachtet, sondern unabhängig von allen diesen Faktoren in
- Betracht zieht, damit, wenn später einmal irgendein höherer Seelenanatom
- der Sache auf den Grund gehen und sich darüber klar werden wollte, was
- der Dichter in seinem innersten Wesen eigentlich ist: dieses zarte
- feinnervige Geschöpf, das auf alles in der Welt reagiert, selbst ewig
- einsam bleibt, und bei keinem Verständnis findet -- damit es ihm dann an
- nichts fehle, da er in Puschkin alle diese Züge vereint finden würde.
- Puschkin war der einzige, dem diese unabhängige Geistesart und eine so
- fein gestimmte Seele beschieden ward, in der alles ein Echo fand und die
- bei jedem Ton, der die Luft durchbebte, mitschwang. Wenn wir an einen
- Dichter denken, stellen wir ihn uns mehr oder weniger leibhaftig vor.
- Vor wem ersteht nicht bei dem Gedanken an Schiller sofort diese reine
- kindliche Seele, die stets von den höchsten und letzten Idealen träumte,
- sich eine Welt aus ihnen erschuf und damit zufrieden war, daß sie in
- dieser poetischen Welt leben durfte? Wer denkt, wenn er Byron liest,
- nicht an Byron selbst, diesen stolzen, mit allen Gaben des Himmels
- begnadeten Mann, der doch der Vorsehung nie seinen geringfügigen
- körperlichen Fehler vergeben konnte, tönt doch der Groll des Dichters
- über dies Gebrechen bis in seine Dichtungen hinein. Selbst Goethe,
- dieser Proteus unter den Poeten, der alles umfassen wollte, die ganze
- Welt der Natur und die gesamte Welt der Wissenschaft, bringt gerade in
- diesem wissenschaftlichen Streben seine Persönlichkeit zu so deutlichem
- Ausdruck, eine Persönlichkeit, die eine echt deutsche Würde atmet und
- nach echt deutscher Art den Anspruch erhebt, allen Zeitaltern und
- Epochen genug zu tun. Alle unsere Dichter: Dershawin, Schukowski,
- Batjuschkow haben ihre eigene Persönlichkeit, ihre eigene Physionomie.
- Nur Puschkin hat keine. Was wollte man auch aus seinen Dichtungen für
- Züge herauslesen, die für ihn persönlich charakteristisch wären? Man
- versuche es doch einmal, seinen Charakter als Mensch zu fassen. Statt
- seiner wird man sich immer wieder jener wunderbaren Gestalt
- gegenübersehen: der Gestalt des Menschen, in dessen Seele alles ein Echo
- findet, und der allein einsam und unverstanden bleibt. Alle seine Werke
- sind ein reiches Arsenal aller Werkzeuge, Waffen und Rüstungen der
- Dichtung. Nun denn, so tretet herein und wählet euch das Werkzeug, das
- euch paßt, und zieht mit ihm hinaus in die Schlacht; nur der Dichter
- selbst mischt sich nicht mit der Waffe in der Hand in den Kampf. Und
- warum hat er das nicht getan? -- Das ist eine andre Frage. Er selbst
- beantwortet sie mit den Versen:
- Nicht unser Teil ist das Getümmel
- Des Pöbels Hast und Waffenklang,
- Uns gab zur süßen Pflicht der Himmel
- Begeistrung, Inbrunst und Gesang.
- (Eliasberg.)
- Puschkin verstand seine Bedeutung besser als die, die ihm solche Fragen
- vorlegten, und widmete sich voller Liebe seiner Aufgabe. Selbst in
- Zeiten, wo er im Dunst der Leidenschaften versank, war die Poesie ihm
- heilig -- wie ein Tempel. Nie betrat er unrein und ungeschmückt dies
- Heiligtum; und er brachte nie etwas Unüberlegtes und Übereiltes aus
- seinem Leben mit sich, wenn er ihn betrat; nie durfte sich die rohe
- ungezügelte Wirklichkeit in ihrer Nacktheit dort hineinwagen. Und doch
- ist alles darin -- seine eigene Geschichte. Allein das bleibt allen
- verborgen. Der Leser atmet nichts als Wohlgeruch, was jedoch alles im
- Busen des Dichters zu Asche verbrennen mußte, damit diese Wohlgerüche
- aus ihm aufsteigen konnten, das ahnt keiner. Und wie hütete er sie in
- seinem Innern; wie sorgsam hegte er sie in sich! Kein italienischer
- Dichter hat seine Sonette so sorgfältig gefeilt, wie er an diesen
- leichten Werken gearbeitet hat, die uns wie Kinder des Augenblicks
- anmuten. Welche peinliche Genauigkeit liegt in jedem Wort! Wie bedeutend
- ist jeder Ausdruck! Wie ist hier alles abgerundet, wie vollkommen und in
- sich geschlossen. Jedes Gedicht ist eine Perle, es ist schwer, zu
- entscheiden, welche Elegie die vorzüglichste ist -- sie gleichen alle
- den glänzenden Zähnen des schönen Mädchens, die der König Salomo mit den
- jungen Schafen vergleicht, welche eben aus dem Taufbecken steigen und
- alle gleich schön sind.
- Wie hätte er über die Dinge sprechen können, die unsere moderne
- Gesellschaft interessieren und die für sie von Bedeutung sind, wenn er
- für jegliches Ding dieser Welt ein offenes Ohr haben wollte, wenn alles
- ein Echo bei ihm finden sollte und wenn jeder Gegenstand ihn in gleicher
- Weise anzog? Er wollte in seinem »Onegin« den modernen Menschen
- darstellen und ein modernes Problem lösen -- allein er vermochte es
- nicht. Er stieß seine Helden von ihrem Postament herunter, trat selbst
- an ihre Stelle und fühlte sich in ihrer Person auf's tiefste von allem
- ergriffen, was den Poeten ergreift. So wurde dies Poem zu einer Sammlung
- heterogenster Gefühle, zarter Elegien, boshafter Epigramme und
- malerischer Idylle; wenn man es durchgelesen hat, behält man wiederum
- nichts zurück als das Bild des Dichters, dessen Seele auf alles reagiert
- und für alles Verständnis hat. Seine vollkommensten Schöpfungen: »_Boris
- Godunow_« und die Dichtung »Poltawa« sind gleichfalls treue Spiegelungen
- der Vergangenheit. Er hatte durchaus nicht die Absicht, durch sie zu
- seiner Zeit zu reden; er dachte nicht daran, seinen Landleuten einen
- Dienst zu leisten, als er sich diese beiden Stoffe auserwählte, man hat
- auch nicht das Gefühl, daß er eine besondere Sympathie für einen der
- hier dargestellten Helden empfunden und gerade aus diesem Grunde den
- Plan zu diesen beiden Dichtungen gefaßt hätte, die so meisterhaft und so
- künstlerisch gestaltet und durchgearbeitet sind. Das Staunen und die
- Verwunderung über diese beiden historischen Ereignisse trieben ihn dazu,
- sie zu gestalten, denn er wollte, daß auch andere Menschen über sie
- staunen und sich über sie wundern sollten.
- Die Lektüre der Dichter aller Zeitalter und Nationen erzeugte bei ihm
- dieselbe Resonanz. Der spanische Held Don Juan, dies unerschöpfliche
- Thema unzähliger dramatischer Dichtungen, gab ihm plötzlich die Idee
- ein, den ganzen Stoff in einem kurzen dramatischen Bilde konzentriert
- darzustellen, in dem die unwiderstehliche lockende Macht dieses
- Verführers und die Schwäche des Weibes mit einer unerhörten
- Seelenkenntnis geschildert ist und in dem Spanien mit ungewöhnlicher
- Anschaulichkeit vor uns ersteht. Goethes Faust brachte ihn plötzlich auf
- den Gedanken, die Grundidee des deutschen Dichters auf zwei oder drei
- Seiten zusammenzudrängen, und man ist erstaunt, mit welcher
- Treffsicherheit sie erfaßt und trotz der Unbestimmtheit und
- Sprunghaftigkeit, die sie bei Goethe hat, zu einem festen kernhaften
- Ganzen zusammengefaßt ist. Die strengen Terzinen Dantes legten ihm die
- Idee nahe, im gleichen Versmaß und im Geiste Dantes die kindlichen
- Anfänge seines dichterischen Schaffens während seines Aufenthalts in
- Zarskoje Selo zu schildern, die Wissenschaft als strenge Frau, die die
- Kinder in die Schule treibt, und sich selbst als Schuljungen
- darzustellen, der aus der Klasse entronnen ist, sich in den Garten
- geflüchtet hat, und nun vor den antiken Statuen steht, die Zirkel und
- Lyra in der Hand tragen, und die ihm mehr zu sagen haben und eine
- lebendigere Sprache führen, als die Wissenschaft. Das beweist wieder,
- wie früh schon diese große Feinfühligkeit und diese Fähigkeit, auf alle
- Dinge der Welt mit äußerster Feinheit zu reagieren, in ihm erwachten.
- Und wie wahr und treu spiegelt er alles wieder! Wie empfindlich ist sein
- Gehör. Man spürt förmlich den Duft, man glaubt die Farbe der Länder, der
- Zeiten und Völker förmlich mit dem Auge zu schauen. In Spanien ist er
- ein Spanier, unter Griechen ist er ein Grieche, im Kaukasus ist er der
- freie Bergbewohner im vollsten Sinne des Worts; weilt er unter den
- Menschen vergangener Epochen, so geht von ihm selbst ein Hauch der
- versunkenen Zeit aus; blickt er in die Hütte des Bauern -- so ist er
- jeder Zoll ein Russe; alle Züge unseres Wesens finden sich bei ihm
- vertreten, und das alles ist häufig in ein einziges Wort, in ein
- einziges mit wunderbarer Feinheit gewähltes, treffendes Adjektivum
- zusammengefaßt.
- Diese Fähigkeit entwickelte sich immer kräftiger in ihm, und er hätte
- sicherlich noch einmal das ganze russische Leben dichterisch gestaltet,
- wie er ja auch auf jeden einzelnen Zug dieses Lebens reagiert und ihm
- Beachtung geschenkt hat. Der Gedanke eines Romans, in dem er die
- schlichte kunstlose Geschichte vom einfachen ehrlichen russischen Leben
- erzählen wollte, beschäftigte ihn während dieser Zeit unablässig. Er
- schrieb nur deshalb keine Gedichte mehr, um sich durch nichts ablenken
- zu lassen, um sich einen schlichteren Erzählerton anzugewöhnen, und er
- befleißigte sich in der Prosa einer solchen Einfachheit, daß man an
- seinen ersten Erzählungen so gar nichts zu loben fand. Puschkin freute
- sich darüber und schrieb dann die »_Hauptmannstochter_«, sicherlich das
- beste Werk unserer Erzählungsliteratur. Gemessen an der
- »Hauptmannstochter« erscheinen alle unsere Romane und Erzählungen wie
- fades Gesalbader. Die Reinheit und Kunstlosigkeit der Darstellung haben
- hier eine solche Höhe erreicht, daß die Wirklichkeit daneben fast wie
- gekünstelt und wie eine Karikatur erscheint. Zum erstenmal treten uns
- hier wahrhaft russische Charakter entgegen: der einfache Kommandant der
- Festung, die Hauptmannsgattin, der Leutnant, die Festung selbst mit
- ihrer einzigen Kanone, die Unruhe und Verworrenheit der Epoche und die
- schlichte Größe dieser einfachen Leute, -- das alles ist nicht nur
- lauterste Wahrheit, sondern beinahe etwas noch Höheres als sie. Und so
- muß es auch wirklich sein: das ist ja gerade die Bestimmung des
- Dichters, uns selbst, unser Ich -- aus uns herauszuheben und uns unser
- Selbst in geläuterter veredelter Gestalt zurückzugeben. In Puschkin
- deutete alles darauf hin, daß er für diesen Beruf geboren, daß dies sein
- Streben war. Fast zugleich mit der Hauptmannstochter entstanden die
- wundervollen Fragmente zweier Romane, die er uns hinterlassen hat: »Die
- Handschrift des Dorfes Gorochino« und »Der Mohr des Zaren«, sowie der
- mit Bleistift geschriebene Entwurf zu dem großen Roman »Dubrowski«.
- Während der letzten Jahre hatte er viel vom russischen Leben kennen
- gelernt, und er sprach so gescheit und so klug über alle Dinge, daß man
- jedes Wort hätte aufschreiben mögen: denn seine Worte waren mindestens
- so bedeutend wie seine besten Verse. Was aber noch merkwürdiger war, das
- war der Bau, der in seiner eigenen Seele emporwuchs und von dem aus sich
- ein noch helleres Licht über das Leben verbreitet hätte. Die Anklänge
- daran kann man in einem, erst nach seinem Tode veröffentlichten Gedicht
- vornehmen [hier wird in fast apokolyptischen Tönen die Flucht aus einer
- dem Untergang geweihten Stadt und zum Teil auch sein eigener
- Seelenzustand geschildert]. Wieviel Schönes reifte in diesem Menschen
- heran, was Rußland zum Heil und Segen hätte gereichen können. -- Aber in
- dem Maße, als er sich dem Mannesalter näherte und von überall her Kräfte
- zu großen Taten sammelte, dachte er um so weniger darüber nach, wie er
- mit den kleinen und nichtigen Dingen fertig werden sollte. Ein
- plötzlicher Tod riß ihn mit einem Schlage von uns hinweg, und jeder Mann
- im ganzen Staate erfuhr plötzlich, daß wir einen großen Mann verloren
- hatten. Der Einfluß des Dichters Puschkin auf die Gesellschaft war
- äußerst geringfügig. Das Publikum beachtete ihn nur zu Beginn seiner
- dichterischen Laufbahn, als er mit seinen ersten Jugenddichtungen noch
- an die Töne der Byronschen Leier erinnerte; als er sich jedoch selbst
- gefunden hatte und nun nicht mehr Byron, sondern Puschkin selbst wurde,
- da wandte sich das Publikum von ihm ab. Allein sein Einfluß auf die
- Dichter war sehr groß. Karamsin hat auf dem Gebiet der Prosa lange nicht
- das geleistet, was Puschkin auf dem Gebiet des Verses gewirkt hat. Die
- Nachahmer Karamsins lieferten traurige Karikaturen seiner Manier, und
- ihr Stil und ihre Gedanken nahmen etwas unangenehm Süßliches an.
- Puschkin dagegen wirkte auf alle Dichter seiner Zeit wie ein vom Himmel
- fallendes poetisches Feuer, an dem sich alle andern Dichter, die selbst
- Charakter und eigene Farbe hatten, entzündeten wie die Lichter. Ein
- ganzer Sternenkreis von Dichtern scharte sich um ihn: _Delwig_, dieser
- Sybarit unter den Poeten, der jeden Ton seiner fast hellenischen Leier
- förmlich auszukosten schien und den Trank der Poesie nicht etwa mit
- einem Zug hinabstürzte, sondern tropfenweise schlürfte, wie ein
- Weinkenner seine Blume genießt und seinen Duft einsaugt. _Koslow_, eine
- harmonische Natur, aus dessen Mund ungewohnte Töne einer zu Herzen
- gehenden Musik, wie man sie bisher noch nie vernommen hatte, an unser
- Ohr klangen. _Baratynski_, ein Dichter von strenger, fast finsterer
- Eigenart, der schon früh ein tief in seinem Wesen wurzelndes Streben
- nach innen an den Tag legte, dessen Gedanken ganz auf die Welt unserer
- Seele gerichtet waren und der sich bereits um ihre äußere Formung
- bemühte, noch ehe sie in ihm selbst völlig ausgereift waren. Finster und
- noch unfertig, wie er war, trat er vor das Publikum, entfremdete sich so
- alle Leute, und so gelang es ihm nie, jemand nahezukommen. Alle diese
- Dichter hat Puschkin zum Dichten angeregt, während er andre geradezu
- erst erschaffen hat. Ich meine hier unsere sogenannten anthologischen
- Poeten, die nur wenig produziert haben, aber wenn wir unter diesen
- duftigen Blumen eine Auswahl treffen, so ließe sich wohl ein Buch daraus
- machen, unter das die besten Dichter ruhig ihren Namen setzen könnten.
- Ich brauche nur die beiden Tumanski, A. Krylow, Tjutschew, Pletnjew und
- einige andere zu nennen, die nie ihr eigenes poetisches Licht hätten
- leuchten lassen und nie solch reiner, schöner seelischer Regungen fähig
- gewesen wären, wenn sie ihr Feuer nicht an dem Puschkins hätten
- entzünden können. Selbst ältere Dichter stimmten unter seinem Einfluß
- ihre Leier um. Der bekannte Übersetzer der Odyssee, _Gneditsch_, der
- Nachdichter der _Psalmen_, _Th. Glinka_, der Freischärler und Dichter
- _Dawydow_ und endlich selbst Shukowski, Puschkins Lehrer und Erzieher in
- der Dichtkunst, gingen bei ihm in die Schule, und der Lehrer lernte von
- seinem Schüler. Selbst solche Köpfe wurden zu Poeten, die gar nicht für
- den Dichterberuf geboren waren, sondern vor denen sich eine keineswegs
- geringere Laufbahn eröffnete, wenn man nach den geistigen Kräften und
- Leistungen urteilen darf, die sie mit ihren dichterischen Versuchen
- vollbrachten, so z. B. _Wenewitinow_, der uns so früh entrissen wurde,
- oder Chomjakow, der Gott sei Dank noch am Leben ist und dem noch eine
- herrliche Zukunft bevorsteht, die sich ihm selbst noch nicht völlig
- enthüllt hat. Diese anregende erweckende Kraft Puschkins ist sogar für
- manche gefährlich geworden, besonders für Baratynski und für noch einen
- Dichter, von dem unten die Rede sein wird; sie wurde ihnen dadurch
- gefährlich, weil sie sie veranlaßte, gleich einen Ausdruck für ihre noch
- gänzlich unausgereiften seelischen Regungen zu suchen, obwohl ihre
- Seelen noch gar nicht von einer solchen Poesie erfüllt und durchdrungen
- waren, die allen vertraut und verständlich gewesen wäre; sie hätten
- lieber noch ein wenig an sich und an ihrem inneren Ich arbeiten und eine
- Zeitlang schweigen sollen. Sie standen alle völlig im Bann dieser
- unerhört künstlerischen Gestaltung und Formung dichterischer
- Schöpfungen, deren Puschkin fähig war. Die ganze moderne Gesellschaft
- und alle Bande, die den Menschen unserer Zeit mit ihr verbinden, alle
- Ansprüche und Forderungen, die das Vaterland an ihn stellt, waren
- vergessen, und alles lebte in einer Art poetischem Hellas und
- deklamierte Puschkins Verse.
- Nicht unser Teil ist das Getümmel,
- Des Pöbels Hast und Waffenklang.
- Uns gab zur süßen Pflicht der Himmel
- Begeistrung, Inbrunst und Gesang.
- Unter den Dichtern der Puschkinschen Epoche nimmt _Jasykow_ eine ganz
- besondere Stelle ein. Gleich aus seinen ersten Versen dringt einem der
- Ton einer neuen Leier entgegen, das sind ganz neue Laute, eine freie
- wilde entfesselnde Kraft, eine Kühnheit in jedem Ausdruck, eine helle
- jugendliche Begeisterung, wie sie in solcher Stärke und Vollendung bei
- einer seelischen Beherrschung noch bei keinem Dichter dagewesen war. Es
- ist kein Zufall, daß er den Namen _Jasykow_ (Herr der Zunge) trug: er
- ist Herr über seine Zunge, wie ein Araber über sein wildes Roß, und es
- ist fast so, als brüstete er sich mit seiner Macht über die Sprache. Er
- mag eine Periode beginnen, wie er will: mit dem Kopf oder mit dem
- Schwanze, sie steht in ihrer ganzen anschaulichen Bildhaftigkeit da, er
- führt sie stets zu Ende und rundet sie ab, daß man von Staunen und
- Bewunderung ergriffen wird. Das was die Kraft einer noch ungebrochenen
- mächtigen, schwellenden Jugend ausmacht, einer Jugend, die noch voller
- Zukunft ist, ist der Gegenstand seiner Dichtungen. Alles, was er
- berührt, sprüht und strömt förmlich über von jugendlicher Frische.
- Man denke zum Beispiel an sein Gedicht »Der Fluß«:
- Die Hüllen fort. Mit frischem Mut
- Streckt sich die Hand zu kräft'gen Schlägen,
- Und nun hinab. Und aus der Flut
- Sprüht auf ein Diamantenregen.
- Wie sind so stark, so frisch und kühl
- Die Elemente, die mich wiegen.
- Welch süßes, seliges Gefühl.
- Wenn kosend sie den Leib umschmiegen!
- Oder man denke daran, wie er das Swaikaspiel schildert, das er geradezu
- ein russisches Spiel genannt hat. Kraftvolle junge Burschen bilden einen
- Kreis und
- Durch den Ring nach seinem Ziele
- Saust der Nagel -- er erklingt,
- Bis bei heitrem Scherz und Spiele
- Mild der Frühlingstag versinkt.
- Alles, was den Jüngling zum kühnen Wagnis reizt -- das Meer, ein Sturm,
- Festgelage und klingende Becher, ein brüderliches Bündnis voller
- Tatkraft und Tatenlust, ein felsenfester Glaube an die Zukunft, die
- Bereitschaft, jeden Kampf für das Vaterland zu bestehen -- dies alles
- findet in seinen Gedichten einen Ausdruck von geradezu unerhörter Kraft.
- Als die erste Buchausgabe seiner Gedichte erschien, sagte Puschkin
- ärgerlich: Warum hat er das Buch: _Gedichte von Jasykow_ genannt, er
- hätte es einfach _Rausch!_ betiteln sollen. Ein Mensch von
- durchschnittsmäßiger Kraft wird nie etwas Ähnliches zustande bringen;
- dazu bedurfte es einer Entfesselung aller Kräfte. Ich erinnere mich noch
- lebhaft daran, wie begeistert er war, als er Jasykows Gedicht an Davydow
- gelesen hatte, das gerade in einer Zeitschrift erschienen war. Damals
- sah ich zum erstenmal eine Träne in Puschkins Auge (Puschkin pflegte nie
- zu weinen, er sagt in der Epistel an Ovid von sich selbst: »Als rauher
- Slawe kannt ich keine Tränen, doch ich verstehe sie.«) Ich erinnere mich
- auch, welche Strophen ihn so bis zu Tränen rührten: es sind die beiden
- ersten, in denen sich der Dichter an Rußland wendet, das man bereits für
- schwach und kraftlos erklärt hatte, und in denen er ausruft
- Hört ihr die Trompete schmettern?
- Auf, der Feind ruft, Vaterland!
- Denk wie du beim Kriegeswettern
- Stets dem Gegner hieltest stand.
- Laß zum blut'gen Kampf sich rüsten
- Deine Recken, mutig, frei.
- Ruf aus Steppen sie und Wüsten,
- Von den Flüssen, von den Küsten,
- Aus dem fernsten Land herbei.
- Und dann folgt die Strophe, in der jene unerhörte Tat der Aufopferung
- dargestellt wird, wo der Dichter schildert, wie die eigene Hauptstadt
- mit allen ihren Schätzen, die dem ganzen Lande heilig und teuer sind,
- den Flammen geweiht wird.
- Erd' und Himmel stehn in Flammen,
- Goldgeschmückte, heilge Stadt.
- Moskau! Wie? Du stürzst zusammen?
- Hörst du's, Rußland? Auf zur Tat!
- Rase Feuer der Zerstörung!
- Du erhöhst nur unsern Mut.
- Diese flammende Verheerung
- Bringt uns Rettung, bringt Verklärung,
- Phönix schwingt sich aus der Glut.
- Wem sollten solche Strophen nicht Tränen entlocken? Seine Verse sind wie
- ein alle Kräfte entbindender durcheinanderrüttelnder Rausch, aber in
- diesem Rausch liegt eine höhere Gewalt, die nach oben zieht. Für Jasykow
- ist ein studentisches Gelage nicht so sehr eine Äußerung der Lust am
- Zechen und am Rausch, als vielmehr die Freude über die Kraft, die die
- jungen Arme schwellt, und über die große Zukunft, die der Jugend
- bevorsteht, einer Freude darüber, daß die Studenten einmal fortstürmen
- werden, um
- Der großen Sache treu zu dienen,
- Der Wahrheit, Ehre und dem Rechte.
- Leider geht nur diese Rauschstimmung häufig bis ins Maßlose, und der
- Dichter gibt sich allzusehr der Freude über die ihnen winkende Zukunft
- hin, wie dies bei uns in Rußland so viele Leute tun, ohne über einen
- großartigen Anlauf hinauszukommen.
- Aller Augen waren auf Jasykow gerichtet. Alle Welt erwartete etwas
- Außerordentliches von dem neuen Dichter, dessen Verse voll ritterlicher
- Großsprechereien und voll Verheißungen gewaltiger Taten waren. Allein
- die Erwartungen wurden nicht erfüllt. Es erschienen zwar noch ein paar
- Gedichte von ihm, in denen die alten Töne noch einmal, wenn auch etwas
- abgeschwächt, erklangen; dann aber wurde der Dichter von einer schweren
- Krankheit heimgesucht, die nicht ohne Folgen für seine Geistesverfassung
- blieb. In seinen letzten Versen gab es nichts mehr, was die russische
- Seele ergriff. Sie enthielten nichts als eine Beschreibung der
- Langenweile deutscher Städte, gleichgültige Reiseschilderungen und einen
- Bericht über den einförmigen Verlauf peinvoller Tage. Das alles war dem
- russischen Geiste fremd. Man achtete nicht einmal auf die
- außerordentliche Sorgfalt, mit der in diesen späten Gedichten die Form
- behandelt war. Allein seine Sprache, die hier noch kräftiger ist, wird
- ihm gerade dadurch zur Verräterin: sie dient nur dazu, einen mageren
- Gedanken und einen dürftigen Inhalt einzukleiden und gleicht so dem
- Panzer eines Riesen, der den Leib eines Zwerges umschließt. Es wurde
- sogar die Meinung laut, Jasykow hätte überhaupt keine Gedanken; er könne
- nur hohle tönende Verse schmieden und sei überhaupt kein Dichter. Alles
- begann wider ihn zu murren. Dieser Groll fand in den Zeitschriften ein
- recht törichtes Echo, allein ihm lag wirklich ein berechtigter Kern
- zugrunde. Jasykow hat, wenn er vom Dichter sprach, nie ausgerufen wie
- Puschkin:
- Nicht unser Teil ist das Getümmel,
- Des Pöbels Hast und Waffenklang.
- Uns gab zur süßen Pflicht der Himmel
- Begeisterung, Inbrunst und Gesang.
- Er läßt den Dichter vielmehr sagen:
- Poet, ist alles in dir reif zum Werke,
- Worin der Gott dem Menschen Gunst erweist,
- Des feurigen Gedankens hoher Geist,
- Der Rede Glut, des Wortes Stärke,
- So geh und künde, daß die Welt höre.
- Freilich ist hier von dem idealen Dichter die Rede, aber er hat doch
- sein Ideal aus seinem eigenen Wesen geschöpft. Wenn die Elemente dazu
- nicht in ihm selbst gelegen hätten, dann hätte er sich den Dichter auch
- nicht so denken können. Nein, nicht die Kraft hatte ihn verlassen, nicht
- Mangel an Talent und an Ideen sind schuld an dem dürftigen Inhalt der
- letzten Gedichte, wie anmaßende Kritiker behauptet haben, nicht einmal
- seine Krankheit trägt die Schuld (die Krankheiten sind immer nur dazu
- da, die Arbeit an einem Werk zu beschleunigen -- vorausgesetzt, daß der
- Mensch ihren Sinn richtig erkennt) -- nein, es war etwas anderes, was
- ihm die Kraft raubte: das Licht der Liebe war in seiner Seele erloschen.
- Das war der Grund, weswegen auch das Licht seiner Poesie so viel trüber
- brannte.
- Du mußt das, dessen die Seele bedarf, was ihr not tut, mit solcher Kraft
- und Stärke lieben lernen, wie du einst den Rausch deiner Jugend liebtest
- -- dann werden deine Gedanken denselben Höhenflug nehmen, wie deine
- Verse, und deinem Munde werden feueratmende Worte entströmen. Du wirst
- uns dann die große Leere deines peinvollen Lebens schildern, aber du
- wirst sie so schildern, daß der Mensch erschauert, daß er sich der
- stählernen Kraft, die sich plötzlich in ihm regt, bewußt wird, und Gott
- für das Übel danken wird, das ihm seine Kraft zum Bewußtsein brachte.
- Jasykow hätte nicht in die Fußstapfen Puschkins treten und seinen Vers
- nach seinem Vorbilde behandeln und formen dürfen; seine Domäne ist weder
- die Elegie, noch sind es die Formen der Anthologie, sondern die des
- Dithyrambus und des Hymnus. Das Gefühl haben alle. Und er hätte seine
- Fackel eher an Dershawin als an Puschkin entzünden sollen. Seine Verse
- gehen auch nur dann zu Herzen, wenn sie sich im vollen Glanz der Lyrik
- entfalten; ein Gegenstand gewinnt nur dann Leben, wenn er sich entweder
- bewegt, oder tönt, oder leuchtet, und nicht, wenn er ruht. Das Los der
- verschiedenen Dichter ist sehr ungleich. Der eine hat die Aufgabe, ein
- treuer Spiegel und ein treues Echo des Lebens zu sein, und dazu ward ihm
- ein vielseitiges Talent für das beschreibende Genre verliehen. Ein
- anderer erhält die Bestimmung, eine die Gesellschaft vorwärtstreibende,
- sie erweckende Kraft zu sein, sie zu den höchsten und hochherzigsten
- Regungen anzufeuern -- und dazu ward ihm ein lyrisches Talent verliehen.
- Wenn ein solches Talent seinen Weg nicht findet, so liegt es daran, daß
- es seine geistigen Augen nicht auf sich selbst richtet. Aber die
- Vorsehung sorgt besser für den Menschen. Sie führt ihn durch Unglück,
- Bosheit und Krankheit mit Gewalt dahin, wohin er allein nicht den Weg
- gefunden hätte. In der Lyrik Jasykows machte sich übrigens wieder ein
- Streben zur Umkehr auf den rechten, ihm vorgezeichneten Weg erkennbar.
- Erst neulich haben wir sein Gedicht »Das Erdbeben« kennen gelernt, das
- nach der Ansicht Shukowskis unser bestes Gedicht ist.
- Unter den Dichtern der Puschkinschen Epoche nimmt Fürst Wjasemski eine
- besondere Stelle ein. Obwohl seine literarische Wirksamkeit lange vor
- Puschkin begann, müssen wir ihn doch erst hier nennen, da er erst nach
- dem Auftreten Puschkins den Höhepunkt seiner Entwicklung erreichte.
- Fürst Wjasemski steht in diametralem Gegensatz zu Jasykow: während jener
- durch seine Gedankenarmut auffällt, setzt dieser durch die Fülle seiner
- Ideen in Erstaunen. Der Vers ist für ihn nur Mittel zum Zweck, das erste
- beste Werkzeug, das sich ihm darbietet. Er verwendet nicht die geringste
- Sorgfalt auf seine äußere Form, ebensowenig wie auf die Konzentration,
- auf die Vollendung und Abrundung der Gedanken, um seine Idee dem Leser
- wie ein kostbares Kleinod vor Augen zu stellen: er ist kein Künstler und
- legt wenig Wert auf das alles. Seine Gedichte sind -- Improvisationen,
- obwohl man freilich für derartige Improvisationen sehr große und
- vielseitige Fähigkeiten und einen Kopf von großer Reife und Ausbildung
- mitbringen muß. Er vereinigt in sich eine außerordentliche Menge
- vielseitiger Talente, eine starke Anschauung, Beobachtungsgabe, eine
- Fähigkeit für unerwartete Schlüsse und Folgerungen, Gefühl, Verstand,
- Scharfsinn, Heiterkeit und sogar Melancholie. Jedes dieser Gedichte ist
- ein buntes Gemisch aus all diesen Eigenschaften. Er ist kein geborener
- Poet. Die Vorsehung, die ihn mit allen Talenten begabt hatte, hatte ihm
- gleichsam als Zugabe auch noch die Gabe der Dichtkunst verliehen, um
- etwas Ganzes und Vollkommenes aus ihm zu machen. In seinem Buch: Die
- Biographie Von Wisins tritt die reiche Fülle seiner Talente, über die er
- verfügte, mit besonderer Deutlichkeit zu Tage. Aus diesem Buche spricht
- der Politiker, der Philosoph, der feine Kunstliebhaber und Kritiker, der
- gediegene Staatsmann und sogar der erfahrene Kenner der praktischen
- Seiten des Lebens -- kurz, hier finden sich alle Fähigkeiten vereinigt,
- über die ein tiefer, ernster Historiker im höchsten Sinne dieses Wortes
- verfügen muß. Und wenn dieselbe Feder, die die Biographie Von Wisins
- geschrieben hat, uns die Regierungszeit Katharinas geschildert hätte,
- die uns heute bereits durch ihren Reichtum, ihre Buntheit und durch die
- große Zahl außerordentlicher Menschen und Charaktere, die sich hier
- begegneten, in einem beinahe phantastischen Lichte erscheint, so könnte
- man mit ziemlicher Bestimmtheit sagen, daß Europa wohl nie ein
- historisches Werk von ähnlicher Bedeutung hervorgebracht hätte. Das aber
- ist gerade der wunde Punkt im Schaffen des Fürsten Wjasemski, daß es ihm
- an einer großen, umfassenden Aufgabe fehlt, und das macht sich sogar in
- seinen Gedichten bemerkbar. Man hat das Gefühl, daß sich die einzelnen
- Teile nicht zu einer harmonischen Gesamtwirkung zusammenfügen und merkt
- ihnen einen großen, inneren Zwiespalt an. Die Worte harmonieren nicht
- miteinander, ebensowenig wie die Verse; dicht neben einem starken
- kraftvollen Vers, wie wir ihn in ähnlicher Schönheit bei keinem andern
- Dichter finden, steht eine andere Zeile, die der ersten nicht im
- mindesten gleichkommt; bald greift er uns mit einem Gefühl an die Seele,
- das mitten aus unserem Herzen gerissen scheint; bald wieder stößt er uns
- ab durch einen Ton, der uns innerlich fremd ist, und der dem Gegenstand
- nicht im mindesten entspricht, man fühlt, daß ihm die innere Sammlung
- fehlt, daß er nicht zur vollen, lebendigen Entfaltung seiner Kräfte
- gelangen kann. Tief unten auf dem Grunde des Ganzen macht sich eine
- gewisse Gedrücktheit und Unfreiheit bemerkbar. Das Los eines Menschen,
- dem die reichsten und mannigfaltigsten Talente verliehen werden, und der
- keine große Aufgabe finden kann, die alle seine Fähigkeiten bis auf die
- letzte in Anspruch nimmt, ist schlimmer, als das des ärmsten Bettlers.
- Nur eine solche Sache, die den Menschen in sein Inneres zurückführt und
- ihn veranlaßt, in sich selbst einzukehren, bringt wahre Erlösung. Nur
- bei solch einer Arbeit, sagt der Dichter, können
- Der Seele Flügel sich entfalten,
- Erstarkt der Wille, und das Walten
- Des Schicksals zeichnet klar sich ab.
- Während unsere Poesie ihren Weg unter der Führung und Leitung der
- Dichter aller Zeiten und Völker so schnell und in so eigenartiger Weise
- zurücklegte, während die Klänge aller Länder, in denen es eine
- Dichtkunst gibt, ihr Ohr trafen und sie selbst sich in allen Tonarten
- und Akkorden versuchte, stand ein Dichter einsam und abseits von allen
- andern. Er hatte den unscheinbarsten und schmalsten Pfad gewählt und
- schritt solange still und geräuschlos auf ihm dahin, bis er eines Tages
- über alle andern hinausgewachsen war, wie eine starke Eiche sich hoch
- über ein Gehölz erhebt, in dem sie sich anfänglich versteckte. Dieser
- Dichter war -- Krylow. Er hatte die Form der Fabel gewählt, die alle
- Welt bisher für eine alte, kaum noch verwendbare Gattung oder gar für
- ein Kinderspielzeug gehalten und darum vernachlässigt hatte, und er
- brachte es fertig, mit Hilfe dieser Fabel zu einem wirklichen
- Volksdichter zu werden. Das war einer von unsern harten starken
- russischen Köpfen, ein Geist, der dem Geist unserer Sprichwörter so nahe
- verwandt ist; hier regt sich jener Verstand, der die Stärke des Russen
- ausmacht, und sich in der Fähigkeit, Folgerungen zu ziehen, bekundet,
- der sogenannte nachhinkende Verstand. Das Sprichwort stellt nicht etwa
- eine vorgefaßte Meinung oder eine Vermutung über eine Sache dar, sondern
- vielmehr das Fazit, die Summe des Ganzen, den Bodensatz, den
- Niederschlag völlig durchgegorener und bereits vollendeter Tatsachen,
- den endgültigen Extrakt, die Essenz aus der ganzen Sache, aus allen
- ihren Faktoren und nicht bloß aus einem einzigen Faktor. Das kommt auch
- in dem Spruch zum Ausdruck: »Bloße Reden ergeben noch kein Sprichwort.«
- Dieser »nachhinkende« Verstand, dieses Talent für radikale endgültige
- Folgerungen, das dem russischen Volk vor allen andern Völkern eigen ist,
- macht, daß unsere Sprichworte so viel bedeutsamer sind, als die aller
- andern Nationen. Nicht nur in dem reichen Gedankengehalt, sondern auch
- in dem Ausdruck spiegeln sich viele von unseren nationalen
- Eigentümlichkeiten. In ihnen ist alles enthalten: Spott, Ironie, eine
- Mahnung, kurz alles, was geeignet ist, den Menschen aufzurütteln und
- seinen wundesten Punkt zu berühren; wie ein hundertäugiger Argus blickt
- jedes von ihnen den Menschen an. Alle großen Männer von Puschkin bis auf
- Suworow und Peter den Großen haben unsere Sprichwörter geliebt und
- bewundert. Die hohe Würdigung, die man ihnen angedeihen ließ, kommt in
- vielen Aussprüchen zum Ausdruck: »Ein Sprichwort wird nicht umsonst
- geprägt« oder »ein Sprichwort bleibt ewig bestehen.« Es ist ja bekannt,
- daß, wenn man sich darauf versteht, seine Rede durch ein geschickt
- gewähltes Sprichwort zu bekräftigen, man sie dadurch dem Volke mit einem
- Schlage verständlich macht, selbst wenn sie seine Begriffe noch so sehr
- übersteigt.
- Das sind die Wurzeln, aus denen Krylow hervorgewachsen ist. Seine Fabeln
- sind nicht etwa für Kinder geschrieben. Man würde sich eines groben
- Irrtums schuldig machen, wenn man ihn einen Fabeldichter von der Art der
- Lafontaines, Dmitriews, Chemnitzers oder gar eines Ismailow nennen
- wollte. Seine Gleichnisse sind ein festes nationales Besitztum und
- bilden das Buch der Weisheit unsers Volkes. Seine Tiere denken und
- handeln nach echt russischer Weise. Die Streiche, die sie einander
- spielen, sind ein Spiegelbild der Kniffe, der Listen, der Streiche, die
- in Rußland üblich sind und dessen, was in unserem Lande zu passieren
- pflegt. Abgesehen von der getreuen Erfassung des tierischen Charakters,
- die bei ihm so genau und treffend ist, daß nicht nur der Fuchs, der Bär
- und der Wolf, sondern sogar der Topf lebendig werden, lassen alle
- Geschöpfe auch ihre echt russische Wesensart erkennen.
- Selbst der Esel, der bei ihm so wunderbar typisch charakterisiert ist,
- daß er nur seine Ohren aus irgendeiner Fabel hervorzustecken braucht,
- damit der Leser sofort ausruft: das ist Krylows Esel, -- selbst der Esel
- ist, trotzdem er doch den Ländern einer andern Zone angehört, bei Krylow
- ein echter Russe. Nachdem er mehrere Jahre hindurch fremde Gemüsegärten
- geplündert hat, wird er plötzlich von einem mächtigen Ehrgeiz erfaßt, er
- will durchaus einen Orden haben, und tut fürchterlich wichtig, als sein
- Herr ihm ein Glöckchen um den Hals gehängt hat, denn er kommt nicht auf
- den Gedanken, daß ja jetzt jeder seiner Diebstähle und jeder schlechte
- Streich, den er begehen wird, von allen bemerkt werden und daß es nun
- bei jeder Gelegenheit kräftige Schläge auf die Lenden setzen wird. Kurz
- -- überall befindet man sich bei ihm in Rußland, überall fühlt man sich
- an Rußland erinnert. Überdies hat jede seiner Fabeln noch ihren
- historischen Ursprung. Denn trotz seiner Bedachtsamkeit und seiner
- scheinbaren Gleichgültigkeit gegen die Vorgänge und Ereignisse seiner
- Zeit verfolgte der Dichter jede Begebenheit, die sich in seinem
- Vaterlande abspielte mit großer Aufmerksamkeit: alles fand bei ihm eine
- Resonanz, und in seinen Urteilen findet stets das kluge Maß, die rechte
- Mitte ihren Ausdruck, aus ihnen spricht die versöhnende Stimme des
- Mittlers, eine Eigentümlichkeit, die Rußlands Stärke ausmacht, wenn der
- russische Geist sich zu seiner wirklichen Höhe emporschwingt. Durch ein
- streng abgewogenes kräftiges Wort beleuchtet Krylow mit einem Schlage
- den ganzen Gegenstand und bestimmt er sein wahres eigentliches Wesen.
- Als einmal ein paar allzusehr für das militärische Wesen begeisterte
- Leute behauptet hatten, daß der ganze Staat ausschließlich auf die
- militärische Macht gegründet werden müsse und daß in ihr das ganze Heil
- liege, während die Zivilbeamten sich ihrerseits über alles, was mit dem
- Militär zusammenhing, lustig machten, bloß weil ein Paar Leute das ganze
- Militärwesen zu einer Epauletten- und Litzenfrage gemacht hatten, da
- schrieb er seinen berühmten Streit zwischen den Kanonen und den Segeln,
- in dem er beide Parteien mit folgenden vier Zeilen in ihre rechtmäßigen
- Grenzen verweist:
- Darin besteht des Staates wahre Macht,
- Daß alle Teile weise Frieden halten.
- Die Waffen stehen drohend auf der Wacht,
- Die Segel sind der Bürger -- Rechtsgewalten.
- Wie treffend ist diese Entscheidung! Ohne Kanonen ist keine Verteidigung
- möglich, ohne Segel aber kommt man auf der See überhaupt nicht vom
- Flecke. Ein anderes Mal wiederum, als ein Paar Regierungsbeamte, die die
- allerbesten Absichten hatten, sich jedoch durch eine große
- Kurzsichtigkeit auszeichneten, auf den seltsamen Gedanken verfallen
- waren, man müsse sich vor den gescheiten und energischen Leuten in acht
- nehmen und sie bei der Besetzung der Ämter übergehen, bloß weil sich
- gerade damals einzelne von ihnen einige lose Streiche hatten zuschulden
- kommen lassen und sich an einem törichten Unternehmen beteiligt hatten,
- da schrieb Krylow seine nicht weniger bedeutende Fabel: Die beiden
- Rasiermesser, in der er sich gegen die Beamten wendet, die
- Die klugen Menschen fürchten
- Und lieber sich an einen Dummkopf halten.
- Man merkt, daß er überall Partei für den Verstand nimmt, überall mahnt
- er immer wieder, man solle den klugen Mann nur ja nicht unterschätzen,
- sondern man solle ihn richtig behandeln lernen. Dieser Gedanke kommt in
- der Fabel »_Die Musikanten_« zum Ausdruck, die mit den Worten schließt:
- »Ich möcht dich lieber trinken sehn, tust du nur deine Sache ganz
- verstehn.« Das sagt er nicht etwa, um das Trinken und Zechen zu
- verherrlichen, sondern weil ihm das Herz wehe tat, wenn er mit ansehen
- mußte, wie manche Leute sich statt tüchtiger sachverständiger Männer
- allerhand hergelaufenes Gesindel herholten, und sich dann noch dessen
- rühmten und erklärten, sie verständen zwar nichts von ihrer Sache,
- hätten dafür aber ein ausgezeichnetes Benehmen. Er wußte, daß man bei
- einem klugen Menschen alles erreichen könne und daß es nicht schwer sei,
- ihm auch ein gutes Betragen beizubringen, wenn man es nur versteht,
- verständig mit ihm zu sprechen, dagegen sei es sehr schwer, einem
- Dummkopf Verstand beizubringen, selbst wenn man noch so viel auf ihn
- einredet: »Mit einem Diebe -- ist man wie auf hoher See, mit einem
- Dummkopf wie in einem Topf mit abgerahmter Milch.« Aber auch dem
- Gescheiten weiß er ein kräftiges Wort zu sagen, in der Fabel »Teich und
- Fluß« tadelt er ihn heftig, weil er seine Fähigkeiten einschlafen läßt,
- und in der Fabel »Der Schriftsteller und der Räuber« straft er ihn, weil
- er sie zu schlimmen und lasterhaften Zwecken mißbraucht. Überhaupt
- beschäftigten ihn immer nur große und bedeutende Fragen. Aus einem Buch
- kann jeder Mensch Belehrung schöpfen, alle Stände und Ränge im Staate,
- in erster Linie das Oberhaupt, von dem er sagt:
- Wenn ein Monarch sein Volk erfolgreich lenken will,
- Muß er die Zügel fest, doch allzu straff nicht halten,
- ebenso wie der letzte Tagelöhner, der in den untersten Reihen des
- Staatskörpers steht und wirkt. Ihn weist er auf seine hohe Aufgabe hin,
- indem er ihn an die Biene erinnert, die nie darum bemüht ist, ihrer
- Arbeit eine besondere Würde zu verleihen.
- Welch hoher Achtung wert ist auch der niedre Mann,
- Der ungeehrt und im Verborgnen lebt
- Und den für alle Sorgen, Mühn und Plagen
- Der einzige Gedanke nur erhebt!
- Er muß sie für das allgemeine Beste tragen.
- Diese Worte werden ein ewiges Zeugnis für den hohen Sinn Krylows
- bleiben. Kein Dichter hat je vermocht, seinen Gedanken eine so greifbare
- Form zu geben, sie so allgemein verständlich auszudrücken, wie Krylow.
- Der Dichter und der Weise sind in ihm eins geworden. Bei ihm ist alles
- plastisch und anschaulich, seine Schilderungen der Natur in ihren hohen
- Reizen und in ihrer drohenden Größe, ja selbst in ihrer Häßlichkeit und
- in ihrem Schmutz, bis zu den feinsten Wendungen eines Gesprächs, die
- eine lebendige Offenbarung der innersten seelischen Regungen sind. Alles
- ist so treffend ausgedrückt, so richtig beobachtet, die Dinge sind mit
- einer solchen Sicherheit erfaßt, daß es eigentlich unmöglich ist,
- festzustellen, was das Charakterische der Krylowschen Schreibweise
- ausmacht. Der Versuch wäre vergeblich, das Wesen seines Stils zu
- ergründen. Der Gegenstand scheint überhaupt keine sprachliche Hülle zu
- besitzen und ganz nackt, ganz nur er selbst, so wie die Natur ihn
- geschaffen hat, vor unseren Augen zu stehen. Seine Verskunst spottet
- gleichfalls jeder Definition. Es läßt sich nicht sagen, worin ihre
- Eigenart besteht: Ist dieser Vers klangvoll, leicht, oder schwerfällig?
- Er fängt an zu tönen, wo sein Gegenstand zu tönen beginnt, er wird
- lebendig und beweglich, wo sich der Gegenstand bewegt, er wird kraftvoll
- und ehern, wo der Gedanke stark und kräftig ist und er wird plötzlich
- leicht, wo die Kraft und Schwere der Gedanken dem leichten
- oberflächlichen Geschwätz der Toren Platz macht. Seine Sprache folgt
- willig und gehorsam dem Gedanken, sie schwirrt hin und her wie eine
- Fliege; bald bewegt sie sich in langen sechsfüßigen Versmaßen, bald
- wieder in schnellen einfüßigen; in der wohlüberlegten Silbenzahl
- offenbart sich aufs deutlichste ihre unfaßbare Geistigkeit. Man denke
- bloß an den großartigen Schluß der Fabel »Die beiden Fässer«:
- Den großen Mann erkennt man an der Tat
- Und die Gedanken, die sein Hirn erfüllen,
- Denkt er im Stillen.
- Hier glaubt man aus der Anordnung und der Folge der Worte förmlich die
- Größe des in sich selbst versenkten Menschen herauszufühlen.
- Von Krylow werden wir sofort zu einer andern Gattung unserer Poesie,
- nämlich zur satirischen Form hinübergeleitet. Wir Russen besitzen alle
- viel Ironie. Sie kommt schon in unseren Sprichwörtern und Liedern zum
- Vorschein und, was das Merkwürdigste ist, häufig selbst da, wo die Seele
- ganz offenkundig leidet und wo sie gar nicht zur Heiterkeit aufgelegt
- ist. Die Tiefe dieser urwüchsigen Ironie hat sich uns noch nicht völlig
- erschlossen, weil wir auf allen Gebieten den Einflüssen der europäischen
- Bildung unterlegen sind und uns auch in diesem Punkte von unserer
- heimatlichen Wurzel losgelöst haben. Die Tendenz zur Ironie haben wir
- uns indessen doch erhalten, wenn auch in etwas anderer Form. Es ist
- schwer, einen Russen zu finden, in dem sich nicht einerseits die
- Fähigkeit ehrfürchtiger Hingabe an einen Gegenstand mit der Neigung zum
- Spott und ehrlichem Lachen vereinigt fände. Alle unsere Dichter haben
- diese Fähigkeit besessen. Dershawin hat den größeren Teil seiner Oden
- mit diesem kräftigen Salze gewürzt. Wir finden sie aber auch bei
- Puschkin, bei Krylow, beim Fürsten Wjasemski, wir finden sie selbst bei
- solchen Dichtern, deren Charakter eher zu einer sanften Melancholie
- neigt: bei Kapnist, bei Shukowski, bei Karamsin, beim Fürsten Dolgoruki;
- dies ist ein Zug, der uns allen gemeinsam ist. So wird es begreiflich,
- daß unser Volk geborene Satiriker im wahren Sinn dieses Wortes
- hervorbringen konnte. Schon zu jener Zeit, als Lomonossow sich bemühte,
- seine Leier auf einen hohen lyrischen Ton abzustimmen, entdeckte Fürst
- Kantemir mancherlei Stoffe für die Satire und geißelte in seinen
- Dichtungen die Torheit unsrer noch im Werden begriffenen Gesellschaft.
- Wir besitzen Satiren, Epigramme, boshafte karikaturistische Umdichtungen
- der bekanntesten Dichtungen und alle möglichen Parodien voll Spott und
- Ironie aus allen Epochen, sie alle werden wahrscheinlich ewig nur im
- Manuskript erhalten bleiben, obwohl sie von starkem Talent zeugen. Man
- denke nur an die Parodien des Fürsten Gortschakow, an die Satire auf die
- Literaten von Wojeikow »Das Irrenhaus« und an die talentvollen Parodien
- Michael Dmitrijews, in denen sich die Galle Juvenals mit einer
- eigentümlichen slawischen Gutmütigkeit mischt. Indes die Satire brauchte
- bald ein größeres Wirkungsfeld für ihre Entwicklung, und so drang sie
- allmählig auch in das Drama ein. Das Theater hatte bei uns denselben
- Ursprung wie überall; wir begannen zunächst mit Nachahmungen; bald
- jedoch kamen auch originelle Züge zum Vorschein. In der Tragödie regten
- sich sittliche Mächte und eine Erkenntnis des Menschen, wie er sich
- unter dem Einfluß einer bestimmten Epoche, eines bestimmten Zeitalters
- darstellte; in der Komödie ergossen die Dichter ihren milden Spott über
- die lächerlichen Seiten unserer Gesellschaft, ohne sich um die Seele der
- Menschen zu kümmern. Namen wie denen Oserows, Knjaschnins, Kapnists,
- Fürst Schahowskois, Chmelnitzkijs, Sagoskins, A. Pissarews usw., haben
- wir ein achtungsvolles Gedächtnis bewahrt, sie alle aber verblassen vor
- zwei hervorragenden Werken, nämlich vor den beiden Komödien »_Der
- Landjunker_« von Von _Wisin_ und vor Gribojedows »_Verstand bringt
- Leiden_«, die Fürst Wjasemski geistreich zwei moderne Tragödien genannt
- hat. Dies ist mehr als ein leichter milder Spott über die komischen und
- lächerlichen Seiten der Gesellschaft, hier werden die Wunden und
- Krankheiten der Gesellschaft und schwere Mißbräuche in ihrem Innern
- aufgedeckt, die durch die Kraft einer unerbittlichen Ironie mit
- erschütternder Deutlichkeit in ihrer ganzen Nacktheit ans Licht gestellt
- werden. Von diesen beiden Komödien hat jede eine besondere Epoche zum
- Gegenstand; die eine geißelt die Übel, die aus der Unbildung -- die
- andere die, die aus einer mißverstandenen Bildung entspringen. Die
- Komödie Von Wisins richtet sich gegen die rohe Brutalität des Menschen,
- dies Produkt einer stumpfen unerschütterlichen Stagnation der entlegenen
- Teile und Provinzen Rußlands. Sie schildert die Rinde von Roheit und
- Brutalität, die die Gesellschaft umgibt, in so furchtbaren Farben, daß
- man in diesem Stück den Russen kaum noch wiedererkennt. Wer vermag noch
- einen russischen Zug in diesem boshaften Wesen voll tyrannischer Gelüste
- zu entdecken: in dieser Frau Prostakowa, der Peinigerin ihrer Bauern,
- ihres Mannes sowie aller Menschen mit der einzigen Ausnahme ihres
- Sohnes? Und doch fühlt man deutlich, daß in keinem Lande, weder in
- Frankreich noch in England, ein solches Wesen möglich wäre. Diese
- unsinnige Liebe zu ihrem Kinde -- ist unsere eigene, starke russische
- Liebe, die sich in einem Menschen, der seine Menschenwürde eingebüßt
- hat, in so unnatürlicher Weise äußert: in dieser sonderbaren Mischung
- mit einer tyrannischen Sinnesart; denn je mehr sie ihr Kind liebt, um so
- mehr haßt sie alles, was nicht ihr Kind ist. Der Charakter Skotinins
- stellt ein anderes Beispiel der Verrohung dar. Dieser plumpe
- schwerfällige Mensch, der wiederum gar keine starken und wilden
- Leidenschaften kennt, geht völlig in einer stillen Liebe zum Vieh auf,
- die fast etwas Poetisches hat; statt auf den Menschen, richtet sie sich
- auf das Tier: die Schweine bedeuten für ihn ebensoviel wie eine
- Gemäldesammlung für einen Kunstliebhaber. Sodann der Mann der Frau
- Prostakowa -- dies unglückliche, völlig verschüchterte Geschöpf, in dem
- selbst die schwachen Kräfte und Regungen, die noch in ihm waren,
- gänzlich durch die ewigen Nörgeleien seiner Gattin erstickt sind -- in
- ihm ist alles abgestorben! Und endlich dieser Mitrophan, in dessen Natur
- keinerlei Bosheit liegt, der niemand etwas Böses antun will, und der
- doch ganz unmerklich, infolge der übermäßigen Verzärtelung, und weil
- jeder seiner Wünsche erfüllt wird, zum Tyrannen seiner ganzen Umgebung,
- am meisten jedoch der Menschen wird, die ihn am innigsten lieben, d. h.
- seiner Mutter und seiner Wärterin, so daß es ihm geradezu ein Genuß ist,
- sie zu kränken und zu beleidigen. Kurz, diese Menschen scheinen
- eigentlich gar keine Russen zu sein, es ist schwierig, überhaupt noch
- einen russischen Zug in ihnen wiederzufinden, abgesehen etwa von der
- Jeremejewna und dem alten Soldaten. Man erfährt mit Schrecken, daß bei
- ihnen weder der Einfluß der Kirche noch die guten alten Sitten etwas
- auszurichten vermögen, von denen sich bei ihnen nichts als das Häßliche
- und Gemeine erhalten hat; hier hat nur noch das eherne Gesetz zu
- sprechen. In dieser Komödie erscheint alles wie eine monströse Karikatur
- auf das Russentum, und doch enthält sie nichts Karikiertes, alles ist
- mitten aus dem Leben geschöpft und mit tiefster Seelenkenntis
- beobachtet. Dies sind ungeheuerliche schreckliche Beispiele der
- Verrohung, wie sie nur ein Mensch, dessen Wiege in Rußland gestanden
- hat, nie aber der Sohn eines andern Volkes erschaffen konnte.
- Die Komödie von Gribojedow behandelt eine andere gesellschaftliche
- Epoche, sie schildert das Übel, das durch eine schlecht verdaute
- Aufklärung, die oberflächliche Nachäffung mondäner Äußerlichkeiten statt
- des Kernhaften und Wesentlichen hervorgerufen wird, kurz, sie macht sich
- die Donquichotterien unserer europäischen Bildung, die unorganische
- Vermischung der Sitten und Bräuche, die die Russen so sehr ihrem eigenen
- Wesen entfremdet und zu Ausländern gemacht hat, zum Vorwurf. Der Typus
- des Famussow ist ebenso tief erfaßt, wie der der Frau Prostakowa. Mit
- derselben Naivität, wie Frau Prostakowa sich ihrer Unwissenheit, rühmt
- _er_ sich seiner Halbbildung, und zwar sowohl seiner eigenen wie der des
- ganzen Standes, dem er angehört: er ist stolz darauf, daß die jungen
- Mädchen von Moskau die höchsten Töne singen können, daß sie keine zwei
- einfache ungezierte Worte zu sagen vermögen, daß seine Türe allen offen
- steht, den Geladenen wie den Ungeladenen, besonders aber den Ausländern
- und daß in seinem Bureau lauter Verwandte sitzen, die nichts zu tun
- haben. Er ist ein Mann von gutem würdigen Benehmen und zugleich ein
- Schwerenöter; er predigt Moral und ist ein Feinschmecker und ein Freund
- opulenter Diners, die ihm drei Tage lang im Magen liegen. Er ist sogar
- ein Freidenker, wenn er in Gesellschaft ähnlicher alter Herren weilt,
- wie er selbst einer ist, und will doch keinen jungen Freigeist auf
- Schußweite in die Stadt hineinlassen; diesen Namen hält er nämlich für
- jeden bereit, der die Bräuche der vornehmen Welt nicht aufs strengste
- beobachtet. Im Grunde genommen ist dies einer jener ausgebrannten
- Menschen, die trotz all ihres weltmännischen »_comme il faut_« gänzlich
- leer und hohl sind, deren Verweilen in der Hauptstadt und deren
- Beschäftigung mit dienstlichen Angelegenheiten für die Gesellschaft
- ebenso schädlich sind, wie andere Leute sie dadurch schädigen, daß sie
- dem Dienst zu entfliehen suchen und beständig auf dem Lande sitzen, wo
- sie vollends verrohen. Erstens leiden schon ihre Güter darunter, da sie
- ihre Bewirtschaftung gedungenen Arbeitern und Verwaltern überlassen und
- immer nur Geld für Bälle, sowie große und kleine Diners von ihnen
- verlangen; damit zerstören sie das gesunde heilige Band, das einstmals
- den Gutsherrn mit seinen Bauern einte; ferner aber leiden darunter auch
- die dienstlichen Angelegenheiten: indem sie nämlich alle Ämter und
- Posten ausschließlich mit ihren Verwandten besetzen, die nichts zu tun
- haben und sich dem Müßiggang ergeben, berauben sie den Staat der
- wirklichen tätigen Arbeiter und nehmen einem jede Lust, bei einem
- ehrlichen Menschen in den Dienst zu treten; endlich aber diskreditieren
- sie auch noch das Ansehen der Regierung durch ihren zweideutigen
- Lebenswandel -- denn indem sie sich selbst den Anschein geben, als seien
- sie wohlgesinnte Leute, die [dem Zaren] treu ergeben sind, -- verlangen
- sie von den jungen Leuten, daß sie Tugend heucheln sollen, dabei aber
- führen sie selbst einen lasterhaften Lebenswandel, bringen so die Jugend
- gegen sich auf und pflanzen denen, deren Köpfe nicht allzu
- widerstandsfähig und zu allerhand Extremen geneigt sind, -- Mißachtung
- des Alters, wahrer Verdienste und Neigung zu wirklichem Freidenkertum
- ein. Nicht weniger bedeutsam ist ein anderer Typus: _Sagorezki_, dieser
- ausgesprochene Lump, über den alle schimpfen und der doch
- wunderbarerweise überall empfangen wird, ein Lügner und Gauner, der es
- aber versteht, sich bei allen hochgestellten und einflußreichen
- Persönlichkeiten beliebt zu machen, indem er ihnen das zu verschaffen
- weiß, wofür sie eine schmähliche Schwäche haben; ja er ist, wenn es
- darauf ankommt, sogar bereit, ein Patriot und ein Vorkämpfer der
- Sittlichkeit zu werden, einen Scheiterhaufen zu entzünden und alle
- Bücher, die es auf der Welt gibt, und mit ihnen zugleich alle
- Fabeldichter [wegen ihrer ewigen Scherze über die Löwen und Adler] zu
- verbrennen, womit er übrigens verrät, daß er, der sich vor nichts
- scheut, -- nicht einmal vor dem elendsten Geschimpf und Gezänk --
- dennoch den Spott fürchtet, wie der Teufel das Kreuz. Nicht minder
- hervorragend ist eine dritte Figur: der törichte Liberale _Repetilow_,
- dieser Ritter der Hohlheit und Torheit, in welcher Gestalt sie auch
- immer erscheinen mag. Die ganze Nacht über eilt er von Versammlung zu
- Versammlung, und freut sich, Gott weiß wie sehr, wenn es ihm gelingt,
- Anschluß an irgendeine Gesellschaft zu finden, in der viel Lärm gemacht
- und laute Reden über Gegenstände geführt werden, die er nicht versteht,
- und deren Sinn er nicht einmal wiederzugeben vermag; trotzdem aber hört
- er sich all die verrückten Phantastereien begeistert an, und er ist
- überzeugt, daß er sich nun endlich auf dem richtigen Wege befindet, und
- daß hier wirklich eine große soziale Aufgabe vorliegt: ein Problem, das
- zwar noch nicht reif ist, dessen wahre Bedeutung sich jedoch schon
- offenbaren wird, wenn man nur gehörig Lärm macht, sich nachts recht
- häufig versammeln und heftige Diskussionen führen wird. -- Auf derselben
- Höhe steht ein vierter Typus: der dumme [Soldat] _Skalosub_, der seinen
- Dienst so versteht, daß es dabei lediglich darauf ankommt, die
- verschiedenen Abzeichen und Uniformen unterscheiden zu können, der dabei
- aber an einer eigenartigen philosophischen [liberalen] Anschauung über
- die Ränge und Titel festhält. Er erklärt ganz offen, er halte sie für
- die unentbehrlichen Kanäle, die zum Generalsrang führen; und habe er
- erst den, dann möge kommen, was da will. Sonst macht er sich keine
- Sorgen, die Zustände seiner Epoche und seines Zeitalters machen ihm
- nicht viel Kopfzerbrechen, er ist fest davon überzeugt, daß man Ruhe in
- der Welt schaffen könne, wenn man ihr einen Feldwebel zum Voltaire gibt.
- Ein prachtvoller Typus ist ferner auch die alte Chlöstowa, diese
- traurige Mischung aus der Hohlheit und Trivialität zweier Jahrhunderte.
- Von dem ganzen Inhalt der alten Zeiten hat sie lediglich deren Torheit
- und Hohlheit ererbt und für diese fordert sie Achtung von der jungen
- Generation, sie verlangt, daß dieselben Menschen, die sie verachtet, sie
- respektieren sollen, überhäuft jeden, der ihr in den Weg läuft, mit
- Vorwürfen, weil er sich in ihrer Gegenwart nicht richtig hingesetzt oder
- umgedreht habe, es gibt kein Wesen, das sie liebt und achtet, dafür aber
- protegiert sie kleine Negerjungen, Möpse und Leute von der Art einer
- Moltschalin, kurz, sie ist ein widerwärtiges altes Weib im vollen Sinn
- des Wortes. _Moltschalin_ ist gleichfalls ein glänzender Typus. Diese
- stumme gemeine Kreatur ist mit außerordentlicher Treffsicherheit erfaßt.
- Dieser Mensch arbeitet sich ganz still und geräuschlos empor, schlummert
- doch nach Tschatzkys Worten in ihm ein künftiger Sagorezki. Ein solcher
- Haufen von Ungeheuern, deren jedes in sich das Zerrbild einer Meinung,
- eines Prinzips, einer Idee darstellt, ihren vernünftigen Sinn in seiner
- Weise entstellt und in sein Gegenteil verkehrt, mußte eine Reaktion
- hervorrufen und zu dem entgegengesetzten Extrem führen, wie es in seiner
- ganzen Schroffheit durch Tschatzky repräsentiert wird. Tschatzky geht in
- seinem Ärger und in gerechter Empörung gegen alle diese Leute
- gleichfalls viel zu weit und bemerkt nicht, daß er gerade dadurch und
- durch seine unbeherrschte Sprache unerträglich und lächerlich wird. Alle
- Personen des Gribojedowschen Dramas sind ebensosehr Produkte der
- Halbbildung, wie die Personen im Drama Von Wisins Produkte der
- Unbildung, russische Ungeheuer, Krüppel, vorübergehende
- Zeiterscheinungen sind, die aus einer durch neue Fermente
- hervorgerufenen Gärung entsprungen sind. Kein einziger von ihnen stellt
- einen echten, wahrhaft russischen Typus dar: in keinem von ihnen regt
- sich der russische Bürger. Der Zuschauer bleibt gänzlich im Ungewissen,
- wie nun ein Russe in Wahrheit sein soll. Selbst Tschatzky, diese
- Persönlichkeit, die offenbar vorbildlich wirken soll, zeigt nur ein
- Streben, eine Tendenz zu einem bestimmten Ziel, und äußert bloß ihre
- Entrüstung über alles Gemeine und Verächtliche in der Gesellschaft, ohne
- in Wirklichkeit in sich selbst der Gesellschaft ein Muster und Vorbild
- aufzustellen.
- Beide Komödien erfüllen die Forderungen der dramatischen Technik nur
- schlecht, in dieser Beziehung ist ihnen jedes noch so minderwertige
- französische Stück überlegen. Der Kern der Intrige, der Knoten des
- Dramas wird weder straff geknüpft noch kunstvoll gelöst. Man hat den
- Eindruck, als hätten die Komödiendichter sich hierfür nur wenig
- interessiert, als repräsentiere ihnen der Stoff nur einen andern höheren
- Inhalt, der allein für das Auftreten und den Abgang ihrer Person
- maßgebend ist. Die Notwendigkeit der Nebenpersonen und Rollen steht
- gleichfalls in keinem Zusammenhang mit der Hauptperson, mit dem Helden
- des Stücks, sondern wird lediglich daran gemessen, inwieweit diese
- Personen geeignet erscheinen, den Gedanken des Dichters durch ihre
- Anwesenheit zu erläutern und zu ergänzen und das satirische Gesamtbild
- zu vervollständigen. Wäre es anders, d. h. hätten die Dichter die
- notwendigen Forderungen der Bühntechnik erfüllt und jede ihrer Personen,
- die alle so außerordentlich glücklich erfaßt und gestaltet sind, sich
- vor dem Zuschauer in einer lebensvollen Handlung und nicht in bloßen
- Reden und Gegenreden ausleben lassen, so wären diese beiden Komödien
- sicherlich zwei großartige Schöpfungen des russischen Genius geworden.
- Auch jetzt kann man sie zwei echte soziale Komödien nennen; eine so
- ausdrucksvolle und bedeutende Komödie hat es bisher, wie ich glaube,
- noch bei keinem Volke gegeben. Bei den Griechen finden wir zwar Ansätze
- zu einer sozialen Komödie, indessen ließ sich Aristophanes doch mehr
- durch persönliche Sympathien leiten, er geißelte die Mißbräuche und
- Fehler einzelner und behielt dabei nicht immer lediglich das Interesse
- der Wahrheit im Auge: hat er es doch gewagt, was wohl ein genügender
- Beweis dafür ist, den Sokrates zu verspotten. Unsere Komödiendichter
- aber wurden von sozialen und nicht von persönlichen Motiven bewegt, ihre
- Angriffe richteten sich nicht gegen einzelne Personen, sondern gegen
- unzählige Mißbräuche, gegen Verirrungen der Gesellschaft und ihr
- Abweichen vom geraden Wege des Rechts. Die Gesellschaft schien in ihnen
- selbst Fleisch und Blut, schien Körper geworden zu sein; am lyrischen
- Feuer der Entrüstung entzündete sich ihr kraftvoller schonungsloser
- Spott. Da ist eine Fortsetzung jenes Kampfes von Licht und Finsternis,
- den Peter in Rußland entfacht hat, und der jeden hochherzigen Russen
- unwillkürlich zu einem Vorkämpfer des Lichts macht. Beide Komödien sind
- keine eigentlichen Schöpfungen der Kunst, und sind nicht aus der
- Einbildungskraft des Dichters geboren. Es mußte sich schon viel Schmutz
- und Unrat in unserem Lande angehäuft haben, damit zwei solche Werke ganz
- aus sich selbst entstehen und wie ein reinigendes Gewitter an uns
- vorüberziehen konnten. Und das ist der Grund, weswegen in unserer
- Literatur kein Werk mehr auf sie gefolgt ist, das ihnen gleichkam, und
- daß ihnen wahrscheinlich auch lange kein gleiches mehr folgen wird.
- Mit dem Tode Puschkins kommt die Bewegung in unserer Literatur zum
- Stillstand. Das bedeutet jedoch noch keineswegs, daß ihr Geist erloschen
- ist; im Gegenteil, er sammelt sich gleich einem Gewitter in der Ferne,
- und die Trockenheit und die schwüle Luft kündigen sein Nahen an. Schon
- heute gibt es viele talentvolle Leute unter uns. Aber noch verspüren wir
- die Nachwirkung der harmonischen Puschkinschen Töne; noch vermag niemand
- diesem Zauberkreis, den er um uns gezogen hat, zu entrinnen und zu
- zeigen, was er selbst vermag. Ja niemand scheint etwas davon zu merken,
- daß eine neue Zeit angebrochen ist, daß sich neue Lebensgrundlagen
- herausgebildet haben, und daß neue Fragen laut zu werden beginnen, die
- wir bisher nicht vernommen haben; daher haben sie alle noch keine eigene
- Farbe und keine selbständige Individualität. Man tut sogar besser, diese
- Dichter gar nicht beim Namen zu nennen, außer dem einen _Lermontow_, der
- die andern weit überholt hat und der nicht mehr unter den Lebenden
- weilt. Er hat Zeugnisse eines erstklassigen Talentes abgelegt; eine
- große Zukunft hätte ihm bevorgestanden, wenn nicht ein Unstern über ihn
- gewaltet hätte und wenn er sich's nicht in den Kopf gesetzt hätte, daß
- dieser sein Schicksal lenke. Er war sehr früh in solche
- Gesellschaftskreise gekommen, denen man wohl mit Recht nur eine
- vorübergehende und zeitweilige Bedeutung beilegen kann, und die wie ein
- armes Pflänzchen, das sich vom mütterlichen Boden losgerissen hat, dazu
- verurteilt waren, traurig durch öde Wüsten zu irren, im sicheren Gefühl,
- daß sie nie in einem andern Boden Wurzeln schlagen würden und daß es ihr
- Los sei -- zu verwelken und elend zugrunde zu gehen -- daher diese
- herzzerreißende Gleichgültigkeit gegen alles in der Welt, die bei ihm
- schon so früh zum Durchbruch kommt und die wir bisher noch bei keinem
- unserer Dichter antrafen. Freudlose Begegnungen, ein schmerzloser
- Abschied, seltsame und sinnlose Liebesbündnisse, die ohne Zweck und Ziel
- geknüpft und ebenso ziel- und zwecklos wieder gelöst werden, das sind
- die Gegenstände seiner Gedichte, daher konnte Shukowski das Wesen
- dieser Poesie sehr treffend mit dem Ausdruck die Poesie der
- _Illusionslosigkeit_ kennzeichnen. Lermontows Talent machte diese
- Stimmung für eine Weile populär und modern. Wie einst unter dem
- anfeuernden Einfluß Schillers eine Begeisterung durch die ganze Welt
- ging, wie es eine Zeitlang modern war, sich zu begeistern, und wie eine
- Weile nachher unter dem deprimierenden Eindruck der Byronschen Poesie
- die Enttäuschung, die »Entgeisterung«, die _Desillusionierung_ im
- Schwange war, die vielleicht nur die Folge einer übermäßigen
- Begeisterung gewesen sein mag und dann gleichfalls modern wurde, so kam
- endlich auch die Reihe an die Illusions_losigkeit_, dieses eigenste Kind
- der Byronschen Enttäuschung und Desillusionierung. Die Zeit, während der
- diese Stimmung herrschte, war freilich kürzer, als die Dauer der beiden
- andern Modeströmungen, denn die Illusionslosigkeit hat für niemand etwas
- Verlockendes. Lermontow glaubte, daß ein Dämon der Verführung Macht über
- ihn habe, und so hat er es mehr als einmal versucht, sein Bild zu
- gestalten, wie wenn er sich durch die dichterische Darstellung hätte von
- ihm befreien können. Allein dies Bild nahm keine bestimmten scharfen
- Konturen an, ja es fehlte ihm an jener verführerischen Macht über den
- Menschen, die der Dichter ihm verleihen wollte. Man merkt es Lermontow
- an, daß diese Gestalt nicht ein Produkt der eigenen Kraft, sondern der
- Müdigkeit und der Unlust der Menschen ist, den Kampf mit dem Dämon
- aufzunehmen. In einem unvollendeten Gedicht: »Ein Märchen für Kinder«
- hat diese Gestalt mehr plastische Schärfe gewonnen, ist sie sinnvoller
- geworden. Vielleicht hätte sich der Dichter, wenn er diese Erzählung,
- die sicherlich sein bestes Gedicht ist, beendigt hätte, ganz von diesem
- Dämon und damit auch von seiner trostlosen Stimmung befreit (Anzeichen
- einer solchen Befreiung kann man bereits im »_Engel_«, im »_Gebet_« und
- einigen andern Gedichten bemerken), wenn er nur selbst etwas mehr
- Achtung und Liebe für sein Talent besessen hätte. Noch nie hat jemand
- eine _solche_ beinahe prahlerische Mißachtung für sein Können zur Schau
- getragen, wie Lermontow. Man hat nie den Eindruck, daß er etwas wie
- Liebe für die Kinder seiner Phantasie empfinde. Kein einziges seiner
- Gedichte ist liebevoll ausgetragen, sorgsam und mit der Zärtlichkeit
- einer Mutter gehegt und gepflegt. Keins ist in sich gefestigt, ins
- Gleichgewicht gebracht und konzentriert, sogar der Vers hat keine eigene
- feste Physionomie und mutet wie eine matte Reminiszenz an Shukowskis
- oder Puschkins Verse an. Überall herrscht Überfluß und ein unnötiger
- Wortreichtum. Lermontows Prosawerke dagegen sind weit bedeutender. Noch
- nie hat jemand eine so korrekte, schöne, duftige russische Prosa
- geschrieben. Aus ihr spricht eine echte Vertiefung in das Leben und die
- lebendige Wirklichkeit, hier kündigt sich der künftige große Maler und
- Darsteller russischen Lebens an .... Da aber riß der Tod ihn plötzlich
- von uns hinweg. Das Schicksal unserer Dichter hat etwas Schreckliches.
- Sowie einer von ihnen seine eigentliche Bestimmung, seine wahre Aufgabe
- aus den Augen verliert, nach einer andern greift oder in dem Getriebe
- der vornehmen Gesellschaft untertaucht, in die er nicht hingehört und in
- der ein Dichter nicht weilen darf, reißt ihn mit einem Schlage ein
- plötzlicher gewaltsamer Tod aus unserer Mitte. Drei erstklassige
- Dichter: Puschkin, Gribojedow und Lermontow wurden uns einer nach dem
- andern während eines einzigen Dezenniums in der Blüte ihres Mannesalters
- und ihrer Kräfte durch einen gewaltsamen Tod entrissen -- und doch hat
- das auf keinen Menschen einen tiefen Eindruck gemacht: unsere
- leichtsinnige Generation fühlte sich nicht im geringsten erschüttert.
- Doch es wird endlich Zeit, daß wir zum Schluß noch etwas darüber sagen,
- was denn eigentlich unsere Poesie überhaupt darstellt, wozu sie da ist,
- welchem Zwecke sie gedient und was sie für unser ganzes russisches
- Vaterland geleistet hat. Hat sie zu ihrer Zeit den Geist der
- Gesellschaft beeinflußt, hat sie jeden einzelnen je nach dem Platz, den
- er einnahm, veredelt, hat sie zu seiner Erziehung beigetragen, hat sie
- der Gesamtheit, gemäß dem Geist des Landes und den wurzelhaften Kräften
- des Volkes, die die treibenden Mächte des Staates sein müssen, höhere
- Begriffe eingepflanzt? Oder war sie lediglich ein treues Abbild unserer
- Gesellschaft -- eine vollständige detaillierte Kopie, ein klarer Spiegel
- unseres Lebens? -- Sie ist weder das eine noch das andere gewesen und
- hat weder das eine noch das andere getan. Sie ist fast völlig unbekannt
- geblieben, unsere Gesellschaft wußte so gut wie nichts von ihr; unser
- Publikum genoß damals eine andere Erziehung unter der Leitung
- französischer, deutscher und englischer Gouverneure, fremder Auswanderer
- aus aller Herren Länder, aus allen Ständen und Berufen, von Menschen
- ganz verschiedener Sinnesart, ganz verschiedener Grundsätze und
- Anschauungen. -- Unsere Gesellschaft wurde -- was bisher noch mit keinem
- Volke geschehen ist, mitten im eigenen Vaterlande in der Unkenntnis
- ihres eigenen Landes -- erzogen. Selbst die eigene Sprache war
- vergessen, so daß unserer Poesie alle Mittel und Wege abgeschnitten
- waren, um bis ans Ohr unseres Publikums zu gelangen. Wenn es ihr aber
- doch einmal glückte, bis zur Gesellschaft durchzudringen, so geschah
- dies stets auf unnatürlichen Seitenwegen: entweder eine glücklich
- erfundene Musik trug ein Gedicht bis in die Salons der vornehmen
- Gesellschaft, oder die unreife Frucht eines jugendlichen Dichters, ein
- minderwertiges Gedicht, das den fremdländischen -- freigeistigen Ideen,
- die unserer Gesellschaft von irgendeinem fremden Gouverneur beigebracht
- worden waren, nicht entsprach, wurde der Anlaß, daß das Publikum etwas
- von der Existenz eines Dichters erfuhr, der sich in seiner Mitte
- aufhielt.
- Kurz -- unsere Poesie hat weder zur Belehrung und Erziehung unserer
- Gesellschaft beigetragen, noch war sie ein Ausdruck dieser Gesellschaft.
- Sie schwebte die ganze Zeit über gleichsam hoch _über_ der Gesellschaft,
- wie im Gefühl, daß ihre Bestimmung nicht innerhalb der modernen
- Gesellschaft liege, und wenn sie sich einmal bis zu ihr herabließ, so
- nur zu dem Zwecke, um sie mit der Geißel der Satire zu treffen, nicht
- aber, um den Nachkommen durch die Darstellung des gesellschaftlichen
- Lebens ein Vorbild aufzustellen. Es ist höchst merkwürdig: trotz alledem
- waren wir selbst Gegenstand unserer Dichtkunst, und doch erkennen wir
- uns in ihr nicht wieder. Wenn uns ein Dichter unsere besten Seiten vor
- Augen stellt, scheint er uns zu übertreiben und wir wollen nicht recht
- daran glauben, was Dershawin uns über uns selbst sagt. Wenn aber ein
- Schriftsteller die häßlichen und unwürdigen Züge unseres Wesens
- schildert, so glauben wir ihm gleichfalls nicht, und wir halten das
- Bild, das er von uns entwirft, für eine Karikatur. In der Tat, in beiden
- Fällen ist irgendwo eine übertriebene, übersteigerte Kraft oder Potenz
- vorhanden, und doch ist tatsächlich nichts übertrieben. Der Grund für
- die erstere ist der, daß unsere lyrischen Dichter die Gabe haben, schon
- in dem Keim, der dem gewöhnlichen Auge fast verborgen bleibt, die
- künftige herrliche Frucht zu ahnen, und daher jeden Zug unseres Wesens
- in gereinigter, geläuterter Gestalt vor uns erstehen lassen. Der Grund
- der zweiten Erscheinung ist der, daß unsere satirischen Schriftsteller,
- wenn auch in verschwommenen Umrissen, das Ideal des besseren russischen
- Menschen in der Seele trugen und gerade deswegen alles Häßliche und
- Gemeine in den wirklich existierenden Repräsentanten des Russentums nur
- um so deutlicher sahen. Die Kraft einer edlen Empörung verlieh ihnen die
- Fähigkeit, eine Sache weit klarer und schärfer zu beleuchten, als sie
- dem gewöhnlichen Menschen erscheint. Das ist der Grund, weshalb sich in
- der letzten Zeit von allen unseren Charakterzügen -- die Spottlust am
- allerstärksten entwickelt hat. Bei uns lacht und spottet ein jeder über
- seine Mitmenschen; ja im innersten Wesen unseres Landes liegt etwas,
- eine Neigung, über alles zu spotten: über das Alte wie über das Neue,
- und nur dem Achtung und Ehrfurcht zu bezeugen, was nie veraltet und was
- ewig ist. So also hat unsere Dichtkunst nie den russischen Menschen in
- seiner Vollständigkeit dargestellt, weder in dem _Ideal_, das er
- erreichen _soll_, noch in seinem wirklichen _Dasein_, wie er heute in
- Wirklichkeit _ist_. Sie hat lediglich eine schier unendliche Zahl von
- Nuancen unserer verschiedensten Charaktereigenschaften aufgehäuft, sie
- hat nur alle einzelnen Züge unserer vielseitigen Natur wie in einer
- Schatzkammer vereinigt. Unsere Dichter hatten das Gefühl, daß die Zeit
- noch nicht gekommen sei, uns vollständig und allseitig darzustellen, uns
- unserer Eigenart zu rühmen, daß wir uns vielmehr erst organisieren, uns
- selbst finden und Russen werden mußten. Unsere russische Natur ist heute
- erst soweit erweicht und vorbereitet, um die ihr entsprechende Form
- annehmen zu können; noch haben wir nicht Zeit gehabt, die Summe aller
- Elemente und Prinzipien zu ziehen, die von überall her in unser Land
- verpflanzt wurden; noch ist jeder von uns der Schauplatz, auf dem sich
- Fremdes und Eigenes in bunter sinnloser Mischung begegnen, noch sind wir
- nur ein unreifes unvernünftiges Resultat, um dessentwillen Gott diese
- Mischung, dieses Zusammentreffen der Elemente angeordnet hat. Das haben
- unsere Dichter gefühlt; aus diesem Gefühl heraus war es gleichsam ihre
- stete Sorge, in diesem Kampfe die besten Züge unseres Wesens nicht
- untergehen zu lassen. Sie nahmen dies Beste überall, wo sie es fanden,
- und beeilten sich, es ans Tageslicht zu bringen, ohne viel danach zu
- fragen, welchen Platz sie ihm anweisen sollten. So sucht der arme
- Besitzer eines Hauses, das ein Raub der Flammen wird, alles Wertvolle,
- was es birgt, zu retten, ohne sich viel um das übrige zu kümmern. Unsere
- Poesie hat nicht für ihr Zeitalter getönt, sie ließ ihre Stimme
- erschallen, damit wir, wenn die herrliche Zeit endlich anbrechen würde,
- wo der Gedanke einer inneren Erbauung und Verkörperung des Menschen im
- Bilde, für das ihn Gott erschaffen und das er auf sein Geheiß aus den
- eigenen urwüchsigen Materialien unseres Landes errichten sollte, ganz
- Rußland ergreifen und zum sehnlichsten Wünsche aller Russen werden würde
- -- damit wir uns dann darüber klar wären, was alles an Gutem und Schönem
- und Eigenem in uns verborgen liegt, und nicht vergessen, es bei diesem
- Bau zu verwenden. Unsere eigenen Schätze werden sich uns immer mehr
- enthüllen, je aufmerksamer wir uns in unsere Dichter hineinlesen werden.
- In dem Maße, als wir sie mehr und besser kennen lernen werden, werden
- wir auch ihre anderen höheren Eigenschaften verstehen lernen, die bisher
- noch kein Mensch bemerkt hat: wir werden erkennen, daß sie nicht bloß
- die Hüter unserer Schätze und Kostbarkeiten, sondern zum Teil auch
- unsere Baumeister waren, sei es nun, daß sie sich dessen bewußt waren
- oder nicht; jedenfalls aber haben sie in ihrer im Vergleich zu uns so
- viel höheren Natur und Veranlagung einen unserer nationalen
- Charakterzüge zur Darstellung gebracht, der in ihnen zu weit
- kraftvollerer, deutlicherer Entwicklung gekommen ist, um sich uns in
- seinem ganzen Glanz und in seiner ganzen Herrlichkeit zu enthüllen.
- Dieses Streben Dershawins, das Bild eines starken, unbeugsamen Mannes
- von einer ungeheuren, fast biblischen Größe zu zeichnen, hatte nichts
- Willkürliches: den Keim dazu fand er in unserem Volke selbst. Die
- mächtigen Züge eines großen und gewaltigen Menschen sind in ganz Rußland
- überall so lebendig, daß selbst Ausländer, die etwas von Rußland kennen
- gelernt haben, darüber erstaunt sind, noch ehe sie sich mit den Sitten
- und Gebräuchen unseres Landes vertraut gemacht haben. Vor kurzem erst
- hat einer von ihnen seine Memoiren herausgegeben, um Rußland Europa von
- einer recht abschreckenden Seite zu zeigen, aber auch er vermag seine
- Verwunderung über die schlichten Bewohner unserer Bauernhütten nicht zu
- verhehlen[5]. Mit Staunen betrachtete er unsere ehrwürdigen weißhaarigen
- Greise, die an der Schwelle der Hütten sitzen; erschienen sie ihm doch
- wie die gewaltigen Patriarchen der alten biblischen Zeiten. Mehr als
- einmal mußte er gestehen, daß ihm in keinem Lande Europas, das er
- bereist hatte, das Bildnis des Menschen in solch einer an die
- patriarchalisch biblische Größe gemahnenden Erhabenheit erschienen war.
- Und dieser Gedanke kehrt in seinem Buch, das von einem mächtigen Haß
- gegen unser Volk erfüllt ist, mehrfach wieder. Dieser Zug, d. h. diese
- Feinfühligkeit, dieser scharfe _Instinkt_, der sich besonders bei
- Puschkin mit solcher Stärke äußert, ist eine unserer nationalen
- Eigentümlichkeiten. Man denke bloß an die Ausdrücke, mit denen das Volk
- selbst diesen eigentümlichen Zug eines Charakters kennzeichnet, z. B. an
- den Spitznamen _Ohr_, den man einem Menschen beilegt, in dem jede Fiber
- zittert und zu sprechen scheint und der keinen Augenblick untätig sein
- kann. Oder man denke an die Bezeichnung _Allerweltskerl_ für einen
- Menschen, dem alles gelingt, und der mit allem fertig wird, und die Zahl
- derartiger Ausdrücke, die die verschiedensten Nuancen und Schattierungen
- dieses Charakterzugs bezeichnen, ist ganz außerordentlich groß.
- [Fußnote 5: Der Marquis Custin.]
- Das ist ein großer Zug in unserem Wesen: das Bild des russischen Mannes,
- das Dershawin gezeichnet hat, wäre noch nicht vollständig und würde noch
- nicht die ganze herbe Größe atmen, wenn es diesem Manne an dem feinen
- Gefühl, an der Fähigkeit fehlte, lebhaft auf jeden Naturgegenstand zu
- reagieren und bei jedem Schritte voll Staunen über die Schönheit der
- Schöpfungen Gottes zu verharren. Dieser Verstand, der die richtige
- Mitte, das Maß eines jeden Dinges zu finden weiß, wie wir ihn besonders
- bei Krylow finden, das ist der echt russische Verstand. Nur in Krylow
- äußert sich dieser sichere Takt des russischen Geistes, der es versteht,
- das wahre Wesen einer Sache zum Ausdruck zu bringen, und es auszudrücken
- vermag, ohne jemand durch ein Wort zu verletzen und Menschen von anderer
- Sinnesart gegen sich und seinen Gedanken aufzubringen, kurz jener
- sichere Takt, den wir durch unsere weltmännische Erziehung und Bildung
- verloren haben und den sich nur noch unsere Bauern erhalten haben. Unser
- Bauer versteht es, so freimütig mit allen Höhergestellten und über ihm
- Stehenden zu sprechen [selbst mit dem Zaren], wie keiner von uns, und
- dabei verletzt er mit keinem Worte den Anstand, während wir es häufig
- nicht einmal verstehen, mit einem Gleichgestellten zu reden, ohne ihn
- durch einen Ausdruck zu verletzen. Wenn dafür aber einmal in einem von
- uns dieser innere sichere, echt russische geistige Takt wirklich
- vorhanden ist, dann genießt er bei uns die Achtung aller Leute, ihm wird
- kein Mensch es verwehren, etwas zu sagen, was man einem andern nie
- gestatten würde, ihm nimmt niemand etwas übel. Alle unsere
- Schriftsteller haben Feinde gehabt, selbst die gutmütigsten unter ihnen
- und die, die das beste Herz hatten. (Man denke nur an Karamsin und
- Shukowski.) Krylow aber hatte nie einen Feind. Dieser _jugendliche
- Wagemut_ und dieser stürmische Drang, seine Kräfte für alles Hohe und
- Gute einzusetzen, der in den Versen Jasykows pulsiert, das ist die
- überschäumende Kraft unseres russischen Volkes, jene herrliche
- Eigenschaft, die nur ihm allein eigen ist und die uns Alten und Jungen
- ein jugendliches Feuer einhaucht, sowie sich eine Gelegenheit bietet,
- sich für eine große Sache, deren kein andres Volk fähig ist, einzusetzen
- -- solch eine Aufgabe schmilzt plötzlich die ganze bunte, mit sich im
- Streit liegende Masse in einem mächtigen Gefühl zusammen; jeglicher
- Streit, alle engherzigen persönlichen Interessen -- alles ist vergessen,
- und ganz Rußland steht plötzlich da wie ein einziger Mann. Alle diese
- Eigenschaften, die unsere Dichter uns offenbart haben, sind nationale
- Eigentümlichkeiten unseres Volks, die in ihnen bloß schärfer und
- deutlicher zur Ausprägung gekommen sind; die Dichter tauchen ja nicht
- plötzlich wie aus dem Wasser empor, sie gehen aus ihrem Volke hervor.
- Sie sind Funken, die von ihm selbst ausgehen, die ersten Herolde, die
- von seiner Kraft zeugen. Daneben aber haben unsere Dichter auch schon
- dadurch viel Gutes geleistet, daß sie einen bisher noch nie bekannten
- Wohllaut verbreitet haben. Ich weiß nicht, ob die Dichter irgendeiner
- andern Literatur eine so unendliche Mannigfaltigkeit von Klangnuancen
- hervorgebracht haben, wozu ja freilich auch unsere poetische Sprache
- manches beigetragen hat. Jeder von ihnen hat sein eigenes Versmaß und
- seinen Eigenton. Dieser eherne metallische Vers Dershawins, den unser
- Ohr noch bis auf den heutigen Tag nicht vergessen kann; dieser Vers
- Puschkins, der da tropft wie schweres Harz oder wie ein Strahl alten,
- hundertjährigen Tokaiers, dieser leuchtende festliche Vers Jasykows, der
- wie ein Lichtstrahl in die Seele dringt und ganz aus Licht gewebt zu
- sein scheint, dieser mit allen Düften des Mittags gesalbte Vers
- Batjuschkows, süß wie der Honig aus Bergschlüchten, dieser leichte
- ätherische Vers Shukowskis, der wie der kaum vernehmbare Ton einer
- Äolsharfe verschwebt, dieser schwere, uns zur Erde herabziehende Vers
- und häufig von einer bitteren, quälenden russischen Schwermut
- durchdrungene Vers Wjasemskis -- sie alle haben wie verschieden
- abgestimmte Glocken, oder wie die vielen Flöten einer herrlichen Orgel
- einen wundervollen Wohllaut durch das ganze russische Land getragen.
- Dieser Wohllaut ist wahrlich nichts Geringes, wie _die_ glauben mögen,
- die keinen Begriff von der Poesie haben. Dieser Wohllaut lullt das Volk
- in seinen Kinderjahren ebenso ein wie das herrliche Wiegenlied einer
- Mutter, noch ehe es den Sinn des Liedes verstehen lernt, und seine
- wilden Leidenschaften legen sich und kommen von selbst zur Ruhe. Dieser
- Wohllaut ist ebenso notwendig, wie der Weihrauch im Tempel, der unsere
- Seele unmerklich, noch ehe der Gottesdienst begonnen hat, zur Aufnahme
- von etwas Höheren stimmt und vorbereitet. Unsere Poesie hat alle Akkorde
- auserprobt, hat die Einflüsse der Literatur aller Völker erfahren, hat
- der Leier aller Dichter gelauscht, hat sich eine Art von Weltsprache
- geschaffen, um alle Menschen für eine größere Aufgabe vorzubereiten.
- Jetzt kann man nicht mehr von den Torheiten reden, die unsere heutige,
- sich ihrer Verantwortlichkeit noch nicht bewußte junge Dichtergeneration
- leichtsinnig weiterplappert; man kann auch der Kunst nicht mehr dienen
- -- so schön und beglückend ein solcher Dienst auch sein mag --, ohne
- ihre höhere Bestimmung zu verstehen und ohne sich darüber klar zu sein,
- wozu uns die Kunst verliehen ward; ein Puschkin läßt sich nicht
- wiederholen. Nein, weder Puschkin noch irgendein anderer darf uns jetzt
- zum Vorbilde dienen; nun sind andre Zeiten gekommen. Heute kann man uns
- mit nichts mehr imponieren: weder durch die Eigenart und Eigenwilligkeit
- des Verstandes, noch durch die plastische Kraft des Charakters, noch
- durch die stolze Selbstbewußtheit der Geste: heute muß der Dichter eine
- höhere christliche Bildung erhalten. Andere Aufgaben erwachsen der
- Poesie. Wie sie während der Kindheit der Völker dazu diente, die
- Nationen zum Kampf anzufeuern und ihren kriegerischen Geist zu wecken,
- so ist es jetzt ihre Bestimmung, den Menschen zu einem andern, höheren
- Kampf aufzurufen -- zu einem Kampf, in dem es sich schon nicht mehr um
- unsere zeitlichen Güter und unsere zeitliche Freiheit [unsere Rechte und
- Privilegien], sondern um unsere Seele handelt, die unser himmlischer
- Schöpfer selbst für die Perle Seiner Schöpfungen hält. Zahlreiche
- Aufgaben stehen heute der Dichtkunst bevor: sie muß der Gesellschaft
- alles wahrhaft Schöne wieder zurückerstatten, was ihr durch das sinnlose
- Leben von heute geraubt ward. Nein, diese künftigen Dichter werden
- keinem von unseren früheren Poeten ähnlich sehen. Sogar ihre Sprache
- wird anders klingen; sie wird unserer russischen Seele verwandter und
- vertrauter erscheinen, und unsere nationalen Elemente werden viel
- lebendiger und kräftiger in ihr zum Ausdruck kommen. Noch sprudelt jener
- eigene urwüchsige Quell unserer Poesie nicht kräftig und hoch genug, der
- schon zu einer Zeit im Innern unseres Busens kochte und strömte, als
- selbst das Wort _Poesie_ noch in keines Menschen Munde war. Noch immer
- erscheint dieser unerklärliche Freiheitsdrang, der uns aus unseren
- Liedern entgegentönt, und über das Leben und sogar über das Lied selbst
- hinweg in unbekannte Fernen stürmt, noch erscheint uns dieser glühende,
- verzehrende Wunsch nach einem besseren Vaterland, nach dem sich der
- Mensch seit dem Tage seiner Geburt so schmerzlich sehnt -- wie ein
- Rätsel. Noch ist in keinem einzigen Wesen jene vielseitige, poetische
- Harmonie und das Geschlossene unseres Geistes, die in unseren
- vieläugigen Sprichwörtern verborgen ist, völlig Fleisch und Blut
- geworden; haben sie es doch verstanden, in einem so armseligen und
- traurigen Zeitalter so große und bedeutsame Folgerungen und Schlüsse zu
- ziehen, als dem Menschen in Rußland noch so enge Grenzen gezogen waren,
- als er noch gezwungen war, in einem so trüben Sumpfe zu leben; so sind
- sie uns eine lebendige Mahnung, was für gewaltige Folgerungen der
- moderne Mensch in Rußland aus unseren heutigen machtvollen Zeiten ziehen
- kann, in denen die Ergebnisse aller Zeitalter aufgespeichert und wie
- allerhand ungesiebter Plunder ungeordnet in einem Haufen zusammenliegen.
- Noch ist vielen diese Lyrik -- dies Produkt einer höchsten
- Verstandsreife und Nüchternheit -- ein Geheimnis! diese Lyrik, die aus
- unseren Kirchenliedern und kanonischen Gesängen herstammt und die Seele
- unserer Dichter noch unbewußt begeistert, wie ihm die heimatlichen
- Klänge unserer Lieder unbewußt ans Herz greifen. Und endlich ist uns
- auch unsere merkwürdige Sprache noch ein Geheimnis. Sie enthält
- sämtliche Töne und Farben, alle Klangnuancen, von den kräftigsten bis
- herab zu den zartesten und weichsten. Sie ist unendlich und grenzenlos
- und vermag sich, lebendig wie das Leben selbst, in jedem Augenblick zu
- bereichern, indem sie einerseits die hohen gewaltigen Worte aus der
- biblischen Kirchensprache schöpft und sich andererseits die treffendsten
- Ausdrücke aus den zahllosen Dialekten, die es in unseren Provinzen gibt,
- aneignet; so gewinnt sie die Möglichkeit, sich in ein und derselben Rede
- bis zu einer Höhe emporzuschwingen, die keiner andern Sprache
- erreichbar, und andererseits bis zu einer Einfachheit herabzusteigen,
- die selbst dem Sinn des unbegabtesten Menschen verständlich ist; -- eine
- Sprache, die selbst und an und für sich schon dichtet, und die nicht
- umsonst für eine geraume Zeit von den vornehmen Ständen vergessen worden
- war. Es war eine Notwendigkeit, daß wir alles Häßliche und
- Minderwertige, das wir uns zugleich mit der fremdländischen Bildung
- angeeignet hatten, in den fremden Mundarten ausschwatzten und
- ausplauderten, damit alle die unklaren Töne und die ungenauen
- Bezeichnungen für die Dinge -- diese Produkte ungeklärter und
- verworrener Gedanken, die die Sprachen dunkel machen -- die kindliche
- Klarheit unserer Sprache nicht mehr trüben, und daß wir nunmehr mit dem
- Drang zum Nachdenken und von dem Wunsche beseelt, unserem eigenen und
- nicht mehr einem fremdem Verstande zu folgen, zu ihr zurückkehren
- konnten. Das alles sind vorerst nur noch Werkzeuge, Material, noch
- Felsblöcke oder ein in der Erzader steckendes Edelmetall, aus dem einmal
- eine andre machtvolle Sprache geschmiedet werden wird. Und diese Sprache
- wird bis tief auf den Grund der Seele dringen und nicht auf
- unfruchtbaren Boden fallen. Ein Schmerz und eine Trauer, wie sie wohl
- Engel empfinden mögen, wird unserer Poesie einen mächtigen Impuls
- verleihen; sie wird tief in alle Saiten greifen, die in dem Russen
- anklingen, und selbst die rohesten Gemüter mit jenem heiligen Gefühl der
- Ehrfurcht erfüllen, das keine Kraft und kein Werkzeug dem Menschen
- einzupflanzen vermögen; sie wird unser Rußland ans Licht rufen -- unser
- russisches Rußland, nicht das, von dem uns irgendwelche Hurrapatrioten
- ein rohes Bild entwerfen und auch nicht das, das uns einzelne ihrem
- Vaterland entfremdete Russen übers Meer herüberbringen wollen, nein, das
- Rußland, das unsere Dichtung aus uns selbst heraufholen und so vor uns
- hinstellen wird, daß alle bis auf den letzten, so verschieden ihre
- Sinnesart, ihre Erziehung und ihre Anschauungen auch sein mögen,
- einstimmig ausrufen werden: »Ja, das ist _unser_ Rußland; hier fühlen
- wir uns behaglich und heimisch, jetzt sind wir wirklich zu Hause unter
- unserem heimatlichen Dach und nicht irgendwo draußen in der Fremde!«
- XXXII
- Auferstehungstag
- Der Russe nimmt einen besonders warmen Anteil an der Feier des
- Auferstehungstages. Das empfindet er mit besonderer Lebhaftigkeit, wenn
- er um diese Zeit in einem fremden Lande weilt. Wenn er sieht, wie dieser
- Tag sich überall in allen andern Ländern kaum von den andern Tagen
- unterscheidet -- alles geht seiner gewohnten Tätigkeit nach, das Leben
- nimmt seinen gewöhnlichen Lauf, auf allen Gesichtern ruht der gleiche
- alltägliche Ausdruck -- wenn der Russe das sieht, so wird er traurig und
- seine Gedanken schweifen unwillkürlich nach Rußland hinüber. Es will ihm
- so dünken, als ob dieser Tag dort schöner gefeiert wird, als ob dort der
- Mensch heiterer und besser sei, als an anderen Tagen und als ob auch das
- Leben dort ein anderes und nicht so alltägliches Gewand trage. Er denkt
- an die feierliche Mitternacht, an das Glockengeläute, das das ganze Land
- durchhallt und alle Stimmen der Erde gleichsam in einem dumpfen Ton
- verschmelzen läßt, er denkt an den Ruf »Christ ist erstanden«, der an
- diesem Tage an die Stelle aller andern Grüße tritt, an diesen Kuß, den
- man nur bei uns vernimmt, und er ist beinahe so weit, daß er ausrufen
- möchte. »Nur in Rußland wird dieser Tag so gefeiert, wie er in Wahrheit
- gefeiert werden sollte!«
- Freilich ist das nur ein Traum, der sofort verschwindet, wenn er
- tatsächlich nach Rußland versetzt wird, und sich bloß daran erinnert,
- daß dies ein Tag voll schläfrigen Hin- und Herrennens, voll törichten
- Getriebes, sinnloser Besuche, bewußten Nichtzuhausetreffens, statt eines
- Tages voll froher Begegnungen ist -- wenn man sich an diesem Tage
- wirklich einmal trifft, so hat das stets einen recht eigennützigen
- Grund; man braucht nur daran zu denken, daß sich der Ehrgeiz an diesem
- Tage weit lebhafter regt, als an allen anderen Tagen und daß nicht etwa
- von der Auferstehung Christi, sondern davon geredet wird, was für eine
- Belohnung einen jeden erwartet und was ein jeder wohl für ein Geschenk
- erhalten wird; ja daß selbst das Volk, das doch in dem Rufe steht, sich
- an diesem Tage am meisten zu freuen, sofort nach Beendigung der
- Festmesse und noch ehe die Sonne über der Erde aufgegangen ist, trunken
- über die Straße schwankt. Ein Seufzer entringt sich der Brust des armen
- Russen, wenn er an all dieses denkt [und erkennt, daß das höchstens eine
- Karikatur und ein Hohn auf diesen Festtag ist und daß es einen solchen
- Festtag gar nicht gibt]. Im besten Fall gibt ein Vorgesetzter einem
- Invaliden, um die Form zu wahren, einen schmatzenden Kuß auf die Backe,
- um den unter ihm stehenden Beamten zu beweisen, wie man seinen Bruder
- lieben muß, oder ruft irgendein [rückständiger] Patriot voll Empörung
- über unsere Jugend, die unsere alten russischen Volkssitten schlecht
- macht und behauptet, bei uns gäbe es überhaupt nichts Ordentliches,
- wütend aus: »Wir haben alles: ein schönes Familienleben, schöne
- Familientugenden, die Sitten werden bei uns heilig gehalten, wir
- erfüllen auch unsere Pflicht und Schuldigkeit, so wie dies nirgends in
- Europa geschieht, kurz, wir sind ein Volk, das die Bewunderung aller
- Menschen verdient.«
- Nein, es kommt nicht auf diese sichtbaren Zeichen und Äußerlichkeiten,
- nicht auf das patriotische Geschrei [ebensowenig wie auf den Kuß, der
- dem Invaliden verabreicht wird], sondern lediglich darauf an, daß wir an
- diesem Tage den Menschen tatsächlich wie unser höchstes Kleinod ansehen
- lernen -- und ihn so in unsere Arme schließen und an unser Herz drücken,
- wie einen unserem Herzen nahestehenden Bruder, daß wir uns so über ihn
- freuen, wie über den unerwarteten Besuch unseres liebsten Freundes, den
- wir viele Jahre lang nicht gesehen haben. Ja, noch inniger, noch stärker
- sollte unsere Freude sein. Denn die Bande, die uns mit ihm vereinigen,
- sind stärker als die irdische Blutsverwandtschaft; sind wir doch mit ihm
- durch unseren herrlichen himmlischen Vater verwandt, der uns weit näher
- steht, als unser irdischer Vater, und weilen wir doch an diesem Tage --
- in unserer wahren Familie, d. h. in Seinem Hause. Dieser Tag ist der Tag
- jenes heiligen Festes, an dem die ganze Menschheit bis auf den letzten
- unserer Brüder eine himmlische Verbrüderung feiert, und davon ist kein
- einziger Mensch ausgeschlossen.
- Wie gelegen müßte dieser Tag eigentlich unserem neunzehnten Jahrhundert
- kommen, wo der Traum vom allgemeinen Menschenglück der Lieblingsgedanke
- fast aller Menschen geworden; wo es der Lieblingswunsch des jungen
- Menschen geworden ist, die ganze Menschheit wie einen lieben Bruder zu
- umarmen, wo viele beständig davon träumen, den inneren Wert und die
- Würde des Menschen zu heben, wo die gute Hälfte der Menschen bereits
- feierlich anerkannt hat, daß nur das Christentum das vermag, wo man
- bereits fordert, daß das Gesetz Christi weit inniger mit unserem
- Familien- und Staatsleben verwachsen müsse [ja wo bereits davon
- gesprochen wird, daß alles Gemeingut werden soll: unser Haus und unser
- Grund und Boden], wo die hohen Taten des Mitleids und die den Armen und
- Unglücklichen erwiesene Hilfe bereits ein beliebter Gesprächsstoff
- unserer Salons geworden sind, ja wo uns infolge all dieser humanitären
- Anstalten [all dieser Hospize und Asyle für Obdachlose] die Erde schon
- zu eng zu werden beginnt. Wie freudig müßte eigentlich das neunzehnte
- Jahrhundert diesen Festtag begehen, der all seinen hochherzigen und
- ehrgeizigen Regungen so sehr entspricht! Aber gerade dieser Tag wird zum
- Probierstein dafür, wie matt all diese christlichen Bestrebungen, wie
- sie lediglich [schöne Träume und] bloße Ideen sind, die zu keinen Taten
- führen. Und wenn wir an diesem Tage wirklich Gelegenheit haben, einen
- unserer Brüder wie einen Bruder zu umarmen -- so tuen wir es nicht. Wir
- sehnen uns danach, die ganze Menschheit brüderlich an unseren Busen zu
- drücken, unsern Bruder aber wollen wir nicht umarmen. Es braucht sich
- nur irgendein einzelner Mensch, der uns beleidigt hat, von dieser
- Menschheit abzulösen, dem wir unsere Arme so hochherzig entgegenbreiten,
- und dem wir laut Christi Gebot sofort vergeben sollen, -- so werden wir
- ihn nicht mehr umarmen. Oder es brauchte sich von dieser Menschheit nur
- ein einzelner Mensch abzulösen, der in irgendeinem unwesentlichen Punkt,
- in irgendeiner unserer menschlich bedingten Meinungen nicht mit uns
- überstimmt -- so werden wir ihn schon nicht mehr umarmen. Oder es
- braucht sich endlich nur ein einziger Mensch von dieser Menschheit
- abzulösen, der mehr und erkennbarer als die andern an den schweren
- Schäden geistiger Fehler und Gebrechen krankt und daher weit mehr
- Anspruch auf unser Mitleid hat als sie -- so werden wir ihn von uns
- stoßen und ihn nicht umarmen wollen. Wir werden nur die in unsere Arme
- schließen, die uns noch nie beleidigt haben, mit denen wir noch nie
- zusammengestoßen sind, die wir noch nicht kennen und noch nie mit Augen
- gesehen haben. Das sind die Umarmungen, mit denen der Mensch unseres
- Jahrhunderts die ganze Menschheit beglücken will, und das sind häufig
- gerade die Menschen, die von sich glauben, daß sie wahre Menschenfreunde
- und echte Christen sind. [Christen! Sie haben Christus auf die Straße
- hinausgejagt und in die Lazarette und Krankenhäuser getrieben, statt Ihn
- bei sich in ihrem Hause, unter ihr heimatliches Dach aufzunehmen, und da
- glauben sie noch, sie seien Christen!]
- Nein, unser Jahrhundert vermag den Auferstehungstag nicht würdig, nicht
- so zu feiern, wie er gefeiert werden sollte. Dem steht ein
- schreckliches, unüberwindliches Hindernis entgegen: es heißt: _Hochmut_.
- Dieser Hochmut war auch den früheren Zeitaltern bekannt, aber jener
- Hochmut war mehr ein kindischer Stolz auf die physische Kraft, auf
- unseren Reichtum, ein Stolz auf unsere Abstammung und unsere Titel, und
- er erreichte nie diesen schrecklichen geistigen Grad wie heutzutage.
- Heute tritt er in doppelter Gestalt auf. Die erste Art dieses Hochmuts
- ist der Stolz auf unsere Reinheit.
- Hocherfreut darüber, daß sie ihre Vorfahren in vielen Beziehungen
- überholt und übertroffen hat, hat sich die Menschheit unserer Zeit
- völlig in ihre Reinheit und Schönheit verliebt. Niemand schämt sich
- mehr, sich öffentlich der Schönheit seiner Seele zu rühmen und sich für
- etwas Besseres zu halten, als die anderen Menschen. Man braucht nur
- darauf zu achten, wie sich heutzutage jeder Mensch für einen wahren
- Heros an Hochherzigkeit und Edelmut hält, wie schonungslos und mit
- welcher Schärfe er über andere Leute urteilt. Man muß nur einmal hören,
- mit was für Gründen er sich dafür rechtfertigt, daß er seinen Bruder
- nicht einmal am Auferstehungstage umarmt hat. Ohne jede Scham und ohne
- innerlich zu erbeben, erklärt er: »Ich kann diesen Menschen nicht
- umarmen, er ist schmutzig, er hat eine gemeine Seele, er hat sich durch
- ehrlose Handlungen befleckt; ich kann diesen Menschen nicht einmal in
- mein Vorzimmer hineinlassen; ich kann die Luft nicht atmen, die er
- atmet, ich mache einen großen Bogen um ihn, um ihm aus dem Wege zu gehen
- und um ihm nicht zu begegnen. -- Ich kann nicht mit gemeinen und
- verächtlichen Leuten zusammen leben -- und da sollte ich einen solchen
- Menschen wie meinen Bruder umarmen?« Ach! der arme Mensch des
- neunzehnten Jahrhunderts hat leider vergessen, daß es an diesem Tage
- weder gemeine noch verächtliche Menschen gibt und daß alle Menschen --
- Brüder, Kinder derselben Familie sind und daß jeder Mensch keinen andern
- Namen als den: _Bruder_ trägt. Er hat alles mit einem Male vergessen. Er
- hat vergessen, daß er vielleicht gerade deshalb von diesen gemeinen und
- verächtlichen Menschen umgeben ist, damit er durch ihren Anblick
- veranlaßt werde, einen Blick in sein eigenes Innere zu werfen, und
- nachzusehen, ob er nicht auf dem Grunde seiner Seele gerade das findet,
- was ihn an dem andern so sehr erschreckt hat. Er hat vergessen, daß er
- auf Schritt und Tritt und ohne es selbst zu merken, wenn auch in einer
- etwas anderen Art, eine genau so scheußliche Handlung begehen kann, die
- in den Augen der Gesellschaft nicht als schmachvoll gilt, die jedoch auf
- dasselbe hinauskommt oder wie ein russisches Sprichwort es ausdrückt,
- _derselbe Eierkuchen ist, nur auf einer andern Schüssel serviert_. Es
- ist alles vergessen! Er hat vergessen, daß die Zahl der gemeinen und
- verächtlichen Menschen vielleicht nur deshalb sehr zugenommen hat, weil
- die besten und edelsten Menschen sie in so rauher Weise von sich
- gestoßen und so dazu beigetragen haben, daß sie ihr Herz noch mehr
- verhärteten und noch verstockter wurden. Als ob es so leicht ist, die
- Verachtung anderer Menschen zu ertragen! Weiß Gott, vielleicht wird
- mancher gar nicht als ein so ehrloser Mensch geboren; vielleicht hat
- seine arme Seele, die nicht stark genug war, um den Kampf mit den
- Versuchungen aufzunehmen, um Hilfe gefleht und gerufen, vielleicht hätte
- er freudig jedem Hände und Füße geküßt, dessen Seele von Mitleid für ihn
- ergriffen, ihn daran verhindert hätte, in den Abgrund zu stürzen;
- vielleicht hätte ein einziger Tropfen Liebe ihm genügt, um ihn auf den
- rechten Weg zurückzuführen. Wie wenn es so schwer gewesen wäre, auf dem
- Wege der Liebe bis zu seinem Herzen vorzudringen! Als ob sich sein
- Inneres schon so sehr verhärtet hätte, als ob er schon so ganz zu Stein
- geworden, daß er keiner warmen Regung mehr fähig gewesen wäre, wo doch
- selbst der Räuber noch dankbar ist für ein Zeichen der Liebe und selbst
- das wilde Tier sich freundlich der Hand erinnert, die es geliebkost hat.
- Allein der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts hat alles vergessen, er
- stößt seinen Bruder von sich, wie ein Reicher einen aussätzigen Bettler
- von der Schwelle seines Hauses jagt. Was kümmern ihn die Leiden des
- andern, er will bloß seine eiternden Schwären nicht sehen. Er will nicht
- einmal sein Klagelied hören, damit seine Nase den übelduftenden Hauch,
- der aus dem Munde des Unglücklichen kommt, nicht einzuatmen braucht, er,
- der so stolz auf den Wohlgeruch seiner Reinheit ist. Und ein solcher
- Mensch sollte das Fest der himmlischen Liebe feiern können?
- Aber es gibt noch eine andere Art des Hochmuts, die noch mächtiger ist
- als die erste, -- das ist der _geistige_ Hochmut. Nie noch hat er solche
- Dimensionen erreicht, wie im neunzehnten Jahrhundert. Er kommt vor allem
- in der Furcht zum Ausdruck, für einen Dummkopf gehalten zu werden, einer
- Furcht, von der heute jeder Mensch beseelt ist. Der Mensch unserer Zeit
- kann alles ertragen: er kann es ertragen, daß man ihn einen Lumpen oder
- einen Gauner nennt; gebt ihm jeden beliebigen Namen -- es läßt ihn kalt
- -- nur den Namen Dummkopf wird er nicht dulden. Er kann jeden Spott
- ertragen, nur eins kann er nicht ertragen, daß man sich über seinen
- Verstand lustig macht. Sein Verstand ist ihm heilig. Jeder noch so
- leichte Spott über seinen Verstand genügt ihm, um seinen Bruder, wie es
- der Anstand erfordert, sich in einer gewissen Entfernung aufstellen zu
- lassen und ihm sodann, ohne mit der Wimper zu zucken, eine Kugel in den
- Kopf zu jagen. Er glaubt an nichts, das einzige, woran er glaubt, ist
- sein Verstand. Was sein Verstand nicht sieht, das existiert nicht für
- ihn. Er hat sogar vergessen, daß auch der Verstand erst fortschreitet,
- wenn alle sittlichen Kräfte des Menschen fortschreiten und sich
- entwickeln, und daß er sich sogar zurückentwickelt, wenn die sittlichen
- Kräfte sich nicht heben. Er hat ferner vergessen, daß kein Mensch
- sämtliche Verstandeskräfte in sich vereinigt, daß ein anderer Mensch
- gerade die Seele einer Sache sehen kann, die er selbst nicht sieht, und
- folglich etwas wissen kann, was er nicht zu wissen vermag. Aber das
- glaubt er nicht und alles, was er nicht selbst sieht, das ist für ihn
- eine Lüge. Sein Vernunftstolz hält jeden Schatten christlicher Demut von
- ihm fern. An allem zweifelt er: an dem Herzen eines Menschen, den er
- viele Jahre lang kennt, an der Wahrheit, ja selbst an Gott, nur an
- seinem Verstande zweifelt er nicht. Schon streitet man sich und kämpft
- man nicht mehr um irgendwelche wirkliche Rechte und auch nicht aus
- persönlichem Haß oder Feindschaft, nein, heute sind es nicht mehr die
- sinnlichen Leidenschaften, die uns beherrschen, sondern die
- Leidenschaften des Verstandes: heute bekämpft man sich und streitet man
- sich miteinander, weil man verschiedener Meinung ist, und wegen der
- Widersprüche in der Welt der Gedanken. Schon haben sich ganze Parteien
- gebildet, die sich gegenseitig verabscheuen, die persönlich noch nie
- etwas miteinander zu tun hatten, und sich dennoch glühend hassen. Ist es
- nicht merkwürdig! Schon glaubten die Menschen, mit Hilfe der Bildung Haß
- und Bosheit aus der Welt verbannt zu haben, da dringen Haß und Bosheit
- von der andern Seite wieder in die Welt ein, kommen auf den Flügeln der
- Zeitungsblätter herangeflogen und fallen wie ein verheerender
- Heuschreckenschwarm von allen Seiten über die Herzen der Menschen her.
- Schon hört man kaum noch die Stimme der Vernunft. Schon beginnen selbst
- die gescheiten Leute sogar gegen ihre eigene Überzeugung zu reden, nur
- um der gegnerischen Partei nicht das Feld zu räumen, und nur weil ihr
- Stolz es ihnen nicht erlaubt, ihren Fehler vor der Welt einzugestehen --
- schon hat die reine Bosheit statt des Verstandes die Oberhand gewonnen.
- Und der Mensch einer solchen Zeit sollte der Liebe, der christlichen
- Liebe zum Menschen fähig sein? Er sollte sich mit jener reinen
- Treuherzigkeit und Einfalt, mit jener engelhaften kindlichen Naivität
- erfüllen können, die alle Menschen zu einer großen Familie macht? Er
- sollte etwas von der Süßigkeit und Schönheit unserer himmlischen
- Brüderschaft empfinden können? Er sollte diesen Tag feiern können? Ist
- doch selbst jene äußere gütige Geste, jener Ausdruck der Güte
- verschwunden, der den alten schlichten Zeiten eigen war, und dem
- gegenüber man das Gefühl hat, als hätte der Mensch damals dem Menschen
- viel nähergestanden. Der stolze Verstand des neunzehnten Jahrhunderts
- hat ihn vernichtet und zerstört. Ohne jede Maske ist der Teufel in der
- Welt erschienen. Der Geist des Hochmuts kommt heute nicht mehr in
- verschiedenen Gestalten und schreckt keine abergläubischen Menschen
- mehr: er kommt in seiner eigenen Gestalt zu uns. Er fühlt, daß man seine
- Herrschaft anerkennt, und darum macht er nicht mehr viel Umstände mit
- den Menschen. Dreist und schamlos lacht er denen ins Gesicht, die sich
- vor ihm beugen; die törichtesten Gesetze gibt er der Welt, Gesetze, wie
- sie bisher noch nie gegeben worden sind -- und die Welt sieht es und
- wagt es nicht, sich zu widersetzen! Was bedeutet diese armselige
- sinnlose Mode, die der Mensch sich erst als eine Bagatelle, als eine
- harmlose Spielerei gefallen ließ und die jetzt als absolute Herrin und
- Herrscherin in seinem Hause gebietet und alles Gute und Wesenhafte im
- Menschen austreibt. Kein Mensch fürchtet sich noch, die wahrsten und
- heiligsten Gebote Christi zu übertreten, wohl aber fürchtet er sich, die
- unsinnigste Anordnung der Mode unerfüllt zu lassen, und er zittert vor
- ihr wie ein furchtsamer Knabe. Was hat das zu bedeuten, daß selbst die,
- die sich über sie lustig machen, wie leichtsinnige windige Gesellen nach
- ihrer Pfeife tanzen? Was bedeuten all diese sogenannten Anstandsregeln,
- die uns weit stärker binden, als die grundlegendsten fundamentalsten
- Gebote? Was bedeuten alle diese seltsamen Autoritäten, die sich neben
- den gesetzmäßigen rechtmäßigen Autoritäten installiert haben -- was
- bedeuten diese Nebenwirkungen und Nebeneinflüsse? Was hat es zu
- bedeuten, daß heute nur noch Näherinnen, Schneider und alle möglichen
- Handwerker die Welt regieren, während die Gesalbten Gottes abseits
- stehen? Namenlose unbekannte Menschen, ohne Ideen und ohne ehrliche
- Überzeugungen beherrschen die Anschauungen und die Meinungen gescheiter
- Leute, und ein Zeitungsblättchen, von dem jedermann weiß, daß es nichts
- wie Lügen verbreitet, schwingt sich unmerklich zum Gesetzgeber über die
- Menschen auf, die es verachten! Was bedeuten all die gesetzwidrigen
- Gesetze, die die unreine Macht aus der Tiefe offen und vor aller Welt
- aufrichtet? Und die ganze Welt sieht es, steht wie verzaubert da, und
- wagt's nicht, sich zu rühren? Welch furchtbarer Hohn auf die Menschheit!
- [Wozu sucht man bei diesem Lauf der Dinge überhaupt noch die heiligen
- Sitten und Zeremonien der Kirche aufrecht zu erhalten, deren himmlischer
- Beherrscher keine Macht mehr über uns hat? Oder ist das etwa ein neuer
- Streich des Geistes der Finsternis.] Wozu dieser Feiertag [der jede
- Bedeutung verloren hat.] Warum kehrt er immer [aufs neue] wieder, um die
- auseinanderstrebenden Menschen [immer dumpfer und schwächer]
- zusammenzurufen, um sie in einer Familie zu vereinigen [und, nachdem er
- sie mit einem traurigen Blick gestreift, wie ein unbekannter Fremdling
- wieder von dannen zu gehen? Ist er denn wirklich für alle ein
- unbekannter Fremdling? Aber] warum gibt es denn noch [hie und da]
- Menschen, denen es so vorkommt, als würde es an diesem Tage heller in
- ihrer Seele, und die an diesem Tage das Fest ihrer Kindheit begehen,
- jener Kindheit, von der eine himmlische Liebkosung, gleich dem Kosen
- eines ewigen Frühlings, in ihre Seele hinüberströmt, jener herrlichen
- Kindheit, die dem stolzen Menschen von heute ganz verloren gegangen ist?
- Warum hat der Mensch diese Kindheit noch nicht für immer vergessen und
- warum bewegt sie noch immer unsere Herzen gleich einem fernen Traumbild?
- Wie kommt das nur, und was hat das alles für einen Zweck? Als ob man
- wirklich nicht wüßte, was es für einen Sinn und Zweck hat? Sieht man
- denn etwa nicht, wozu das geschieht? Damit es zum mindesten den wenigen,
- die noch etwas von dem Frühlingshauch dieses Festtags verspüren,
- plötzlich so traurig ums Herz wird, auf daß sie von einer Trauer
- befallen werden, wie sie nur ein Engel des Himmels empfindet, und auf
- daß sie ihren Brüdern mit einem herzzerreißenden Aufschrei zu Füßen
- fallen, und sie anflehen, wenigstens diesen einen Tag der langen öden
- Reihe der übrigen Tage zu entreißen und nur diesen einzigen Tag nicht
- nach der Weise des neunzehnten Jahrhunderts, sondern im Geiste jenes
- ewigen Zeitalters zu verbringen, den Menschen nur ein einziges Mal zu
- umfassen und in die Arme zu schließen wie ein Freund, der sich schuldig
- fühlt, den hochherzigen alles verzeihenden Freund umarmt, selbst wenn er
- ihn schon morgen wieder von sich stoßen und ihm erklären sollte, er sei
- ihm fremd und unbekannt. Wenn auch nur, um _einmal_ diesen Wunsch zu
- fassen, wenn auch nur, um sich mit Gewalt dazu zu zwingen und sich daran
- zu klammern, wie ein Ertrinkender an eine Planke! Gott weiß, vielleicht
- wird sich schon um dieses einzigen Wunsches willen eine Leiter vom
- Himmel herabsenken und sich uns eine Hand entgegenstrecken, die uns
- hilft, an ihr emporzuklimmen.
- Aber nicht einmal diesen einen Tag will der Mensch des neunzehnten
- Jahrhunderts so verbringen. Schon ist die Erde von einem unnennbaren Weh
- und einer Trostlosigkeit ergriffen; immer bitterer, trostloser und
- nüchterner wird das Leben; alles wird kleinlich und flach, bloß das
- Riesengespenst der Langenweile wächst von Tag zu Tag bis ins Ungeheure.
- Alles ist wüst, alles ist wie ein einziges Grab. Mein Gott! Wie öde und
- schrecklich wird Deine Welt!
- Warum kommt es denn aber nur dem Russen so vor, als ob dieses Fest nur
- in seinem Vaterlande würdig gefeiert werde? Ist das etwa nur ein Traum?
- Warum sucht denn dieser Traum keinen andern auf als den Russen?
- Wirklich, was hat es zu bedeuten, daß [dieser Festtag selbst
- verschwunden ist und daß] seine sichtbaren Kennzeichen so deutlich im
- Angesicht unseres Landes erkennbar sind. Man hört die von Küssen
- begleiteten Worte: _Christ ist erstanden_; mit der gleichen
- Feierlichkeit bricht immer wieder die heilige Mitternacht an, und der
- dumpfe Ton der ewigen Glocken hallt unaufhörlich über das ganze Land
- dahin, als wollten sie uns aus dem Schlummer wecken! Wo die Geister in
- so greifbarer Deutlichkeit erscheinen, da erscheinen sie nicht
- vergebens. Wo jemand geweckt wird, da gibt es auch ein Erwachen. Die
- Sitten und Bräuche, die ewig währen sollen, können nicht vergehen. Der
- Buchstabe stirbt, aber ihr Geist lebt wieder auf. Sie können wohl
- zeitweilig verblassen, sie können zugrunde gehen und absterben für eine
- geist- und herzlose, für eine abgestumpfte Menge, aber sie erstehen neu
- gekräftigt auf in den Auserwählten, um in ihnen in hellem Lichte
- aufzustrahlen und sich über die ganze Welt zu ergießen. Kein Titelchen
- von unseren alten Sitten und Bräuchen, nichts, was an ihnen wahrhaft
- russisch ist und was von Christus selbst geheiligt ward, wird untergehn.
- Die helltönenden Saiten der Dichter werden es weiter tragen, der
- Wohllaut ausströmende Mund unserer Priester wird es weithin verkünden;
- das schon erloschene Licht wird wieder aufflammen -- und der heilige
- Auferstehungstag wird würdig gefeiert werden --, weit früher, denn von
- einem andern Volke.
- Worauf aber, auf welche fest in unseren Herzen verschlossene Tatsachen
- können wir unsere Behauptung gründen? Sind wir etwa besser als andre
- Völker? [Sind wir in unserem Lebenswandel Christus nähergekommen als
- sie? Nein, wir sind nicht bessere Menschen, und unser Leben ist noch
- weniger geordnet und geregelt als das der andern Nationen. »Wir sind
- schlimmer als alle anderen« -- so müssen wir stets von uns sagen.] Aber
- es liegt etwas in unserem Wesen, das uns solches verheißt. Gerade die
- Unordnung, die bei uns herrscht, ist eine Verheißung. Wir sind noch ein
- flüssiges Metall, das noch nicht in seine nationale Form abgegossen ist;
- wir haben noch die Möglichkeit, das, was nicht zu uns paßt, abzustoßen
- und alles in uns aufzunehmen, wozu die anderen Völker schon nicht mehr
- fähig sind, die bereits ihre eigene feste Form angenommen haben und in
- ihr erstarrt sind. Daß in unserem innersten wahren Wesen, das wir
- vergessen haben, vieles liegt, was dem Geiste des Christentums verwandt
- ist -- dafür ist schon allein das ein Beweis, daß Christus nicht mit dem
- Schwert in der Hand zu uns gekommen ist, und daß der aufgepflügte und
- wohlvorbereitete Grund unseres Herzens sich von selbst Seinem Worte
- entgegenstreckte, daß das Prinzip der christlichen Brüderlichkeit tief
- in unserer slawischen Natur begründet ist, und daß die Verbrüderung der
- Menschen untereinander uns näher am Herzen liegt, als unser heimatliches
- Dach und die Blutsverwandtschaft, daß bei uns noch nichts von jenem
- unversöhnlichen Haß der Stände und jenen gehässigen Parteiungen bekannt
- ist, die wir in Europa finden und die ein unüberwindliches Hemmnis für
- die Eintracht der Menschen und die brüderliche Liebe bilden, daß wir
- endlich Mut und Kühnheit besitzen, wie sie kein andres Volk in ähnlicher
- Stärke besitzt und daß, wenn wir uns vor eine Aufgabe gestellt sehen,
- die kein andres Volk zu lösen vermöchte, wie etwa folgende: mit einem
- Schlage alle unsere Fehler und Mängel und alles, was den hohen Sinn der
- Menschheit schändet, abzuwerfen, -- daß wir uns dann, alle unsere
- körperlichen Schmerzen und Qualen vergessend und ohne uns im geringsten
- zu schonen, aufraffen und alles, was uns befleckt und schändet, von uns
- stoßen werden, so wie die Menschen einst im Jahre 1812 schonungslos ihre
- ganze Habe, ihre Häuser und ihre irdischen Besitztümer verbrannten; dann
- wird kein einziger Mensch hinter dem andern zurückbleiben wollen; in
- solchen Augenblicken ist jeder Haß und Streit, jede Feindseligkeit
- vergessen, der Bruder drückt den Bruder an den Busen, und ganz Rußland
- ist nur ein einziger Mensch. Das ist's, worauf wir die Behauptung
- gründen können, daß der Auferstehungstag von uns früher gefeiert werden
- wird, als von den andern Völkern. Das sagt mir deutlich meine innere
- Stimme, und das ist kein bloßer Gedanke, der meiner Phantasie
- entsprungen ist. Solche Gedanken lassen sich nicht erfinden. Durch eine
- göttliche Eingebung werden sie mit einem Schlage im Herzen vieler
- Menschen zugleich geboren, die einander noch nie gesehen haben, die in
- den entlegensten Provinzen des Landes wohnen, und zu ein und derselben
- Zeit werden sie wie aus _einem_ Munde verkündet. Ich weiß es bestimmt,
- daß, obwohl ich sie nicht alle kenne, in Rußland mehr als ein Mensch
- fest daran glaubt und schon heute spricht: »Früher denn in irgendeinem
- andern Lande wird bei uns der heilige Auferstehungstag Christi gefeiert
- werden.«
- Druck von Mänicke und Jahn, Rudolstadt.
- Anmerkungen zur Transkription
- Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten. Auch
- Variationen in der Transliteration der russischen Namen wurden nicht
- verändert.
- Offensichtliche Fehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt,
- teilweise unter Verwendung des russischen Originales (vorher/nachher):
- [S. 18]:
- ... den Weg geben, und dann den Gutsherren über alles ...
- ... den Weg geben, und dann dem Gutsherren über alles ...
- [S. 25]:
- ... ich nicht Mutter eine Familie; dann könnten Sie Ihren ...
- ... ich nicht Mutter einer Familie; dann könnten Sie Ihren ...
- [S. 71]:
- ... Menschen, von Kopf bis zu den Füßen, ja bis zu ...
- ... Menschen, vom Kopf bis zu den Füßen, ja bis zu ...
- [S. 125]:
- ... der der äußeren Form nach: seine gewöhnlichen groben und
- plumpen ...
- ... der äußeren Form nach: seine gewöhnlichen groben und plumpen ...
- [S. 186]:
- ... Ich weiß nur, daß ich diesen Vorwurf sehr deulich vernommen ...
- ... Ich weiß nur, daß ich diesen Vorwurf sehr deutlich vernommen ...
- [S. 206]:
- ... besitzen Sie nicht. Sie lieben Rußland noch nicht. ...
- ... besitzen sie nicht. Sie lieben Rußland noch nicht. ...
- [S. 235]:
- ... für erste damit, mir alles mitzuteilen. Außerdem bitte ...
- ... fürs erste damit, mir alles mitzuteilen. Außerdem bitte ...
- [S. 248]:
- ... Äußere, legen Sie auch keinen Wert auf unangenehme ...
- ... Äußeres, legen Sie auch keinen Wert auf unangenehme ...
- [S. 248]:
- ... harrt, ihre himmliche Bestimmung klarzumachen: uns ...
- ... harrt, ihre himmlische Bestimmung klarzumachen: uns ...
- [S. 253]:
- ... haben, mit neuem frischeren Mut als früher an ...
- ... haben, mit neuem frischerem Mut als früher an ...
- [S. 255]:
- ... An B. I. B. ...
- ... An B. N. B. ...
- [S. 285]:
- ... Verhältns zu ihnen kommen und ihnen keine Unannehmlichkeiten ...
- ... Verhältnis zu ihnen kommen und ihnen keine Unannehmlichkeiten ...
- [S. 287]:
- ... wiederspiegelt, ein Urteil erlauben kann, schon sagt ganz ...
- ... widerspiegelt, ein Urteil erlauben kann, schon sagt ganz ...
- [S. 293]:
- ... Ich habe lange darüber nachgedacht, wen von ihnen ...
- ... Ich habe lange darüber nachgedacht, wen von Ihnen ...
- [S. 295]:
- ... der Ausgaben für die Wohnungsmiete, die Heizung; ...
- ... der Ausgaben für die Wohnungsmiete, die Heizung, ...
- [S. 310]:
- ... nicht aus jenem in einen fehlerhaften Zirkel verlaufenden ...
- ... nicht aus jenem in einem fehlerhaften Zirkel verlaufenden ...
- [S. 313]:
- ... Seele hinein, weiß Gott, vielleicht werden sie in ihr ...
- ... Seele hinein, weiß Gott, vielleicht werden Sie in ihr ...
- [S. 314]:
- ... Seelenverwandschaft ist als jede Blutsverwandtschaft ...
- ... Seelenverwandtschaft ist als jede Blutsverwandtschaft ...
- [S. 331]:
- ... in Ihrem Verkehr mit den weit entfernten ...
- ... in ihrem Verkehr mit den weit entfernten ...
- [S. 333]:
- ... sind, wenn sich nur viele von uns zuerst, wie es sichs ...
- ... sind, wenn sich nur viele von uns zuerst, wie es sich ...
- [S. 334]:
- ... dem Generalgouwerneur. ...
- ... dem Generalgouverneur. ...
- [S. 335]:
- ... aufgehoben oder doch von Grund aus umgestaltet. Daß ...
- ... aufgehoben oder doch von Grund aus umgestaltet. Das ...
- [S. 344]:
- ... Ihnen das, was ein Vater seinen Kindern ist. Ein ...
- ... ihnen das, was ein Vater seinen Kindern ist. Ein ...
- [S. 350]:
- ... und Unfähigkeit aller heutigen Institutionen und
- Einrichrichtungen, ...
- ... und Unfähigkeit aller heutigen Institutionen und
- Einrichtungen, ...
- [S. 350]:
- ... Sie lehren, ihre Bauern anzusehen wie ein Vater ...
- ... sie lehren, ihre Bauern anzusehen wie ein Vater ...
- [S. 377]:
- ... ersten Bekanntchsaft mit beiden Dichtern aufdrängt, ...
- ... ersten Bekanntschaft mit beiden Dichtern aufdrängt, ...
- [S. 380]:
- ... der voller plastischen Rundung, sie scheinen sich gleichsam ...
- ... der vollen plastischen Rundung, sie scheinen sich gleichsam ...
- [S. 380]:
- ... Schlägt mit den Dreizack nach den Schiffen, ...
- ... Schlägt mit dem Dreizack nach den Schiffen, ...
- [S. 393]: (mehrfache Fälle)
- ... wie z. B. Bayron oder selbst viele andre Dichter ...
- ... wie z. B. Byron oder selbst viele andre Dichter ...
- [S. 412]:
- ... Menschen, dem die reichsten und manigfaltigsten Talente ...
- ... Menschen, dem die reichsten und mannigfaltigsten Talente ...
- [S. 412]:
- ... Bettler. Nur eine solche Sache, die den Menschen in ...
- ... Bettlers. Nur eine solche Sache, die den Menschen in ...
- [S. 413]:
- ... Talent für radikale endgültige Folgerungen, daß dem ...
- ... Talent für radikale endgültige Folgerungen, das dem ...
- [S. 424]:
- ... singen können, daß sie keine zwei einfachen ungezierten ...
- ... singen können, daß sie keine zwei einfache ungezierte ...
- [S. 438]:
- ... oder nicht; jedesfalls aber haben sie in ihrer im Vergleich ...
- ... oder nicht; jedenfalls aber haben sie in ihrer im Vergleich ...
- [S. 450]:
- ... gibt]. Im besten Fall gibt ein Vorgesetzter einen Invaliden, ...
- ... gibt]. Im besten Fall gibt ein Vorgesetzter einem Invaliden, ...
- [S. 456]:
- ... der so stolz auf Wohlgeruch seiner Reinheit ist. Und ...
- ... der so stolz auf den Wohlgeruch seiner Reinheit ist. Und ...
- [S. 461]:
- ... ihren Brüdern mit einem herzerreißenden Aufschrei zu ...
- ... ihren Brüdern mit einem herzzerreißenden Aufschrei zu ...
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- Nikolaj Gogol
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